Unter der Geisterbahn - Isabel Abedi - E-Book

Unter der Geisterbahn E-Book

Isabel Abedi

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Beschreibung

Los geht die Fahrt mit der Geisterbahn in eine Welt voller echter Hexen, Vampire und Flaschengeister tief unter unserer! Alle anschnallen! Lorenzo kribbelt es vor Grusel im Bauch, Dina vor Freude, als der Waggon der Geisterbahn sich in Bewegung setzt. Aber das Lachen vergeht ihr, als in der Geisterbahn auf einmal ein richtiger Geist auftaucht. Und mit ihm ein gruseliger Teufel, der schwapp und schwupp mit Wassereimer und Schwamm alles auslöscht, was ihm in den Weg kommt - ein waschechter Putzteufel eben! Im allerletzten Moment zieht der Geist Lorenzo und Dina durch eine verborgene Luke in das Land Unter der Geisterbahn - eine Welt voller Magie, Hexen, Vampire, Flaschengeister und rotziger Riesen, die immerzu niesen. Doch auch hier in Gravalon treiben die Putzteufel ihr Unwesen. Es sind viele. Und sie sind eifrig. Wird es den beiden gelingen, die magische Welt vor dem Untergang zu retten? Erfolgsautorin Isabel Abedi entführt uns in eine fantastisch-witzige, schaurig-schöne, wild-witzige, genial-gespenstischeWelt Unter der Geisterbahn. Zum Selberlesen und auch toll für lange Familien-Vorleseabende - ein Gespenster-Spaß der Extraklasse für alle zwischen 9 und 99!

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Seitenzahl: 374

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Isabel Abedi lebt in der Oberwelt, in einem alten Bahnhof am Stadtrand von Hamburg. Sie hat zwei Kinder, zwei Enkelkinder und einen Kopf voller Ideen, die sie am liebsten schreibend verwirklicht. Ihre Kinder- und Jugendbücher wurden vielfach ausgezeichnet und sind in viele Sprachen übersetzt. Die Idee zu diesem Buch kam ihr in der Tunnelrutsche auf einem Geisterspielplatz in Hamburg.

Ich widme dieses Buch vier Kindern aus der Oberwelt:Sofia, Juju, Philipp und Hendrik.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

Überarbeitete und aktualisierte NeuauflageDieser Kinderroman erschien erstmals in anderer Ausstattung 2005 im Loewe Verlag GmbH, Bindlach.

1. Auflage 2024

© 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Text: Isabel Abedi

Cover und Innenillustrationen: Daniela Kohl

Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann

Satz: Malte Ritter

E-ISBN 978-3-401-81056-0

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

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Inhalt

Anfang

Waggon Nummer 13

Die Schrecken der Geisterbahn

Das Land unter der Geisterbahn

Ein Teufel in der Oberwelt

Unterlandeinwärts

Keiner glaubt Kate Anders

Familienangelegenheiten

Trotzige Antonella

Schlechte Nachrichten

Chaos

Schlimme Zeiten für Kate Anders

Die letzten Vorbereitungen

Kate Anders fasst einen Entschluss

Aufbruch in Gravalon

Das Ohrrakel

Rast und Abschied

Kates Abstieg

Hahati – die Gelächterschlucht

Feuerland

Glückliche Kate

Silva Oculi – Wald der tausend Augen

Rettende Medizin

Kate und der fliegende Teppich

Riesenschritte

Welche Richtung?

Gefährliches Mitgefühl

Kates Unfall in der Luft

Dschinn Finns Meisterin

Kate sieht Bilder

Nachrichten aus aller Welt

Kate ganz allein

Dinas Entscheidung

Fledis große Stunde

Warten, bis es dunkel wird

Kate erinnert sich

Der Frosch im Keller

Harinas Geschichte

Das letzte Hindernis

Lorenzo findet Worte

Weg und da

Lorenzos schönster Flug

Bereit zur Rückkehr

Wieder da

Ein Kuss für Lady Harina

Abschied von der Unterwelt

Schlussnachrichten

Anfang

Das Unheil begann im Dunkel der Nacht. Der silbergraue Regen, der in feinen Fäden vom Himmel auf den Erdboden fiel, war alles, was man sah. Zu hören war nicht das winzigste Geräusch. Der Wachdrache schlief und es schien, als hätten sich selbst die wildesten Wesen im Schutz der Dunkelheit verkrochen.

Lautlos hob die Urhexe ihre Hand. Ihr rechter Ringfinger (um den sich schleimige Würmer ringelten) schwebte träge über einem Klumpen Erde. Und ihr Wachdrache schauderte im Schlaf, als Orkulas krächzende Stimme die Stille durchbrach:

»Kommt herbei, ihr Teufel, die ich schuf

Kommt herbei und folget meinem Ruf

Entsteht aus meiner wüsten Erde

Vermehret euch zu einer Herde

Nehmt Schwamm und Eimer nun zur Hand

Marschiert hinfort ins dunkle Land

Macht halt erst bei Erdmutes Reich

Denn dort beginnt mein Hexenstreich

Putzteufelswild ist euer Zweck

Was jetzt noch ist, kommt weg vom Fleck

Den Schwamm darüber, lasst nichts aus

Ob Hex, ob Haar, ob Haus, ob Maus

Putzt alles weg, was steht und geht

Bis erst mein Rückruf euch verweht

Die Zeit verrinnt – und es beginnt:

Diaboli Depurgi!«

Da waren sie. Zogen hinfort mit Eimern und Schwämmen.

Und Orkula lachte. Lachte und lachte, bis sie sich an ihrer eigenen Schadenfreude verschluckte.

Und dann geschah es.

Waggon Nummer 13

Lorenzo fühlte sich gut als Skelett. Seine sonst so blasse Hautfarbe war verschwunden hinter totenbleichem Weiß, pechschwarzen Augenhöhlen und zittrig schwarzen Linien um den Mund. Das Knochenkostüm schmiegte sich eng an seinen dünnen Körper, den Lorenzo zum ersten Mal in seinem elfjährigen Leben gerne im Spiegel betrachtet hatte. Ja, äußerlich war alles gut – wenn nur dieser grauenhafte Ausflug endlich vorbei wäre.

Heute war Halloween und Frau Anders, Lorenzos Klassenlehrerin, war mit der Klasse 5a der Gesamtschule Köln in den Fantasiapark gefahren. Achterbahn, Todesschiff, Höllenschaukel und Kettenkarussell lagen bereits hinter ihnen. Um nicht wie immer als Feigling zu gelten, hatte Lorenzo alles mitgemacht, seinem Magen zum Trotz, der lauter Purzelbäume schlug.

Und auch die Fahrt in der Geisterbahn würde er noch überstehen, obwohl sich schon bei dem Gedanken daran seine Kehle zuschnürte. Ein verkleidetes Skelett zu sein, war eine Sache. Schreckgestalten in der gruseligsten Geisterbahn Europas zu begegnen, eine andere.

Als die Klasse auf das Kabinett des Grauens zusteuerte, holte Lorenzo tief Luft und verlangsamte seinen Schritt, während sich die anderen an ihm vorbei zur Kasse drängten.

Das Kabinett des Grauens war eine gigantische Burg, schimmelgrün gestrichen, mit sieben Stockwerken. Kopflose Geister lugten über die Brüstungen, ein riesiger Monsteraffe hielt eine weiße Frau in den Klauen und hoch oben auf dem Dach schwang Gevatter Tod seine Sense.

»Haltet euch fern, ihr Sterblichen, wenn euch euer Leben lieb ist«, tönte er mit schauriger Stimme. »Doch wer die Gefahr liebt, der gebe alle Hoffnung auf und trete ein … ins Kabinett des Grauens!«

Natürlich war Lorenzo klar, dass die Sensenmannstimme von einem Tonband kam. Trotzdem lief ihm ein kalter Schauder den Rücken hinunter – und die Schilder an der Kasse machten es auch nicht besser.

Erleben Sie unsere Gruseleinlagen mit professionellen Schauspielern als Geister, Magier und Vampire, stand in blutroten Buchstaben auf einem schwarzen Plakat. Direkt daneben prangte ein Warnschild. BETRETEN DER GEISTERBAHN AUF EIGENE GEFAHR. ELTERN HAFTEN FÜR IHRE KINDER.

Darunter konnte man sich informieren, für wen das Kabinett des Grauens alles nicht geeignet war: Kinder unter 10 Jahren, Betrunkene, Schwangere, Menschen mit schwachen Nerven, Menschen mit Herzschrittmachern, Menschen mit Neigung zu Infarkten.

Dann gab es noch ein Pappschild mit der Aufschrift:

Kräftiger junger Mann als Mitarbeiter gesucht. Interessenten melden sich bitte an der Kasse.

Lorenzo wandte sich kopfschüttelnd ab. Eine einzige Fahrt war schlimm genug, aber der Gedanke daran, hier zu arbeiten, war einfach unvorstellbar.

Inzwischen hatte sich der Rest von Lorenzos Klasse in die Schlange vor dem Eingang eingereiht, während aus den Waggons der Geisterbahn gerade die letzten Leute ausstiegen. Die haben es hinter sich, dachte Lorenzo neidisch und musterte ihre Gesichter. Die meisten lachten oder schnauften erleichtert aus, aber manche sahen aus, als wäre ihnen die Angst auf den Magen geschlagen. Ein älterer Herr rang verzweifelt nach Luft.

Vor Lorenzo hatten drei seiner Mitschülerinnen die Köpfe zusammengesteckt. Valerie und Nasrin in schrillen Hexenkostümen und Dina Großmaul, verkleidet als Blutige Gräfin. Ihre langen roten Haare hatte sie zu wilden Locken aufgedreht. Am Kragen ihres schwarzen Umhangs prangte Fledi, Dinas Stofffledermaus, und unter Dinas Arm klemmte ihr Lieblingsbuch: das Lexikon der Gruselwesen, das Frau Anders ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Dina Großmaul hieß eigentlich Diana Victoria von Graurock, aber sie selbst nannte sich Dina. Den Namen Großmaul hatte Lorenzo ihr gegeben – im Stillen natürlich. Ihm fehlte nämlich genau das, was Dina im Überfluss besaß: Worte.

Gedanken, ja, die hatte er. Sie schwirrten in seinem Kopf herum, drückten ihm auf die Brust und manchmal legten sie sich auch auf seine Zunge. Aber sie wollten ihm nicht über die Lippen. Wenn Lorenzo den Mund öffnete, herrschte gähnende Leere. Heraus kam nur das Allernötigste.

»He, guckt euch das an!«, kreischte Dina plötzlich. Sie hatte sich zu Lorenzo umgedreht, zeigte mit dem Finger auf sein Ohr und pikste Nasrin in die Seite. »Unser Mamasöhnchen hat ja einen roten Kuss auf dem Gesicht. Ein geknutschter Totenkopf! Also, wenn ihr mich fragt, das ist das Grauenhafteste, was ich je gesehen habe!«

Lorenzo fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Die Stelle am linken Ohr, auf die Dina zeigte, glühte wie von innen heraus. Er musste an heute Morgen denken und sah das Gesicht seiner Mutter vor sich. Diese Mischung aus Angst und Traurigkeit in ihren Augen. Sie hatte ihn an sich gepresst, wie sie es immer tat, seit die Sache mit Papa passiert war. Jedes Mal, wenn Lorenzo das Haus verließ (und wenn es auch nur zum Einkaufen war), drückte sie ihn so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb. Und dann versuchte sie, ihn abzuküssen. Genau wie sonst war Lorenzo ihr auch heute Morgen ausgewichen, aber seine Mutter hatte ihn gerade noch am Ohr erwischt – samt Lippenstift.

Verdammt, wie hatte er das nur vergessen können! Hastig fuhr sich Lorenzo mit seinem Handballen über die Stelle, während Dina so laut kreischte, dass sich die ganze Klasse zu ihnen umdrehte.

»He, Frau Gräfin, hast du ein Problem?« Frau Anders kam zu ihnen herüber. Sie war als Fledermaus verkleidet und sah in ihrem langen schwarzen Gewand mit den gezackten Flügelarmen noch eindrucksvoller aus als Dina. Ihr dickes hellblondes Haar war unter einem schwarzen Haarnetz verborgen, ihre Lippen hatte sie blutrot geschminkt und an ihrem Handgelenk baumelte eine gigantische Gummispinne. Als Dina wieder loskreischen wollte, hob Frau Anders ihre schwarzen Schwingen, fletschte die Zähne und fauchte. Die anderen lachten, während Dina ihren Mund wieder zuklappte. Nur Lorenzo atmete erleichtert aus.

»Alles okay?«, flüsterte seine Lehrerin ihm zu. »Keiner zwingt dich übrigens, hier mitzufahren, das ist dir hoffentlich klar, oder?«

»Mhm.« Lorenzo senkte den Kopf und Frau Anders gab ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. Dann ging sie auf die Wagen zu, stieg in Nummer 11 und kitzelte ihren Sitznachbarn mit ihrer Gummispinne am Ohr. Empört drehte der fremde Herr sich zu ihr um. »Also, das ist doch … was erlauben Sie sich?«, entfuhr es ihm. Aber Frau Anders lachte nur ihr silberhelles Lachen.

Die Klasse drängte sich bereits in die Wagen vor ihr – und in Windeseile waren die Plätze besetzt. Die beiden letzten Wagen mit den Nummern 12 und 13 nahmen Valerie, Nasrin und Dina in Beschlag. Lorenzo sah sich unschlüssig um. Nur noch ein einziger Platz war frei. Zögernd machte er einen Schritt auf Dina zu.

Sie saß im Wagen Nummer 13 und wurde rot vor Wut. »Also, wenn ihr mich fragt, 13 ist eine Unglückszahl«, fauchte sie. »Wochenlang hab ich mich auf diesen Augenblick gefreut. Und jetzt sitz ich neben diesem Hosenscheißer.«

Nasrin und Valerie kicherten und Dina drehte sich nach Lorenzo um, der neben ihr auf den zerschlissenen Wagensitz rutschte. Sie zog eine winzige Taschenlampe aus ihrer Tasche, und als sie das Licht anknipste, stach der grelle Schein Lorenzo so gleißend hell in die Augen, dass er Angst hatte, mit einem Schlag zu erblinden.

»Wenn du dir vor Schiss in die Hosen machst, werf ich dich aus dem Waggon, verstanden?«, zischte Dina und knipste die Taschenlampe wieder aus.

Lorenzo blinzelte und biss sich auf die Lippen. Totenbleich zu sein hat noch einen weiteren Vorteil, dachte er. Blasser vor Angst kann ich nicht mehr werden.

Ein mürrischer Mann im schwarzen Frack und mit Vampirschminke im Gesicht kam die Reihe der Waggons entlanggeschlendert, um die Sicherheitsstangen zu überprüfen. Lorenzo zuckte zusammen, als die Stange über seinen Beinen einrastete. Dinas strahlendes Lächeln erwiderte der Mann mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Alles klar«, rief er seinem Kollegen am Schalter zu. »Kann losgehen!«

Mit einem Ruck setzten sich die Waggons in Bewegung.

»Jippiiiee!«, schrien die verkleideten Hexen, Monster, Schreckensbarone, Blutsauger und Vampirinnen in den Waggons.

»Es geht los, Fledi«, zischelte Dina aufgeregt und steckte sich ihr Plastikgebiss in den Mund.

Und dann, langsam und einer nach dem anderen, fuhren die Waggons den steilen Gleisweg nach oben, näher und näher auf das aufgerissene Drachenmaul zu, bis auch Waggon Nummer 13 von nachtschwarzer Dunkelheit geschluckt wurde.

Die Schrecken der Geisterbahn

Das Erste, was Lorenzo in der Geisterbahn empfing, war Stille. Totenstille.

Ein widerlich modriger Geruch zog ihm in die Nase und dann, ohne jegliche Vorwarnung, klappte direkt an seiner Seite ein hochgestellter Sarg auf. Rotes Licht fiel auf ein grinsendes Skelett, das einen abgehackten Wikingerkopf in der klapprigen Hand schwang. »Es geht LO-HOOOOOS!«, rief der Kopf und verdrehte die blassblauen Glupschaugen.

Der Kopf hatte nicht zu viel versprochen. Es ging los – pausenlos.

Leichen baumelten an Stricken von der Decke herab, stöhnende Zombies warfen mit Beinstümpfen um sich, scheußliche Riesenmonster fletschten ihre fauligen Zähne und aus dem Nichts heraus grapschte eine feuchte, nach kaltem Angstschweiß stinkende Hand nach allem, was sich bewegte.

Lorenzo bewegte sich nicht. Stocksteif saß er neben Dina und biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer schmerzte. Nach Luft schnappte er nur, wenn die Waggons aus einem der muffigen Stockwerke ins Freie fuhren, um gleich darauf ins nächste einzutauchen.

Die Schreckgestalten selbst sind nicht mal das Problem, dachte Lorenzo, als sie im zweiten Stockwerk an aufgespießten Totenköpfen vorbeiratterten. Das Problem sind diese grässlichen Schreckattacken.

Und davon gab es mehr als genug. Im dritten Stockwerk streiften in stockdusterer Finsternis haarige Gummifäden an Lorenzos Wange entlang, als wären es die Beine einer Riesenspinne. Im vierten Stockwerk – mit einem plötzlichen Ruck – sauste ihr Waggon in ein nebliges Loch im Boden. Im nächsten Augenblick klappten um sie herum ein Dutzend Sargdeckel auf. Vampire leckten sich die blutroten Lippen und warfen Lorenzo und Dina mit gierigen Blicken Kusshände zu.

Das sind also die Gruseleinlagen mit lebenden Menschen, dachte Lorenzo und bekam fast einen Herzstillstand, als ihn urplötzlich eine Hand an der Schulter packte. Einer der Vampire hatte sich von hinten angeschlichen.

Dina kreischte vor Vergnügen.

»Alscho, wenn du misch fragscht, Fledi, diesche Fürschten der Finschternisch schind schum Verlieben!«, nuschelte sie, während der Waggon zurück nach oben schnellte. Dann spuckte sie die Plastikzähne aus und zischte in Lorenzos Ohr: »Na, sind die Hosen noch trocken?«

Lorenzo ignorierte Dinas Frage und bemühte sich, nicht allzu sehr auf die hölzerne Tür am Ende eines dunklen Korridors zu starren. Notausgang stand auf einem kleinen Schild neben dem Rahmen. Aber das grüne Licht, das solche Schilder sonst von innen erleuchtete, war ausgeschaltet. Wenn man glaubt, jetzt passiert was, dachte Lorenzo, dann passiert es nicht – und dann passiert es doch.

Und dann passierte es auch. Wie von Geisterhand öffnete sich die hölzerne Tür und eine Gestalt trat heraus.

»Oooh«, hauchte Dina. »Der Magier.«

Der Magier war natürlich ein Mensch, aber ein ziemlich unheimlicher. Er trug einen dunklen Kapuzenumhang, der sein Gesicht verdeckte. Einen Moment lang stand er nur da, ganz nah an ihrem Waggon. Stand und stand.

Hinter ihm, dicht an seinen Mantel gedrückt, glühte etwas Helles auf. Lorenzo hatte den Eindruck, etwas flackerte feurig in der Dunkelheit.

Der Magier rührte sich noch immer nicht. Doch gerade als Lorenzo sich entspannte, schoss eine giftgrüne Schlange aus der Kapuze hervor. Sie hatte sich aufgedreht wie eine dieser eingerollten Trötenschlangen und kam einen Millimeter vor Lorenzos Nase zum Stehen.

Dina quiekste und Lorenzos Herzschlag fühlte sich an wie ein Presslufthammer, während der Magier die Schlange zurück in seinen Mund schnellen ließ und in hämisches Gelächter ausbrach. Bedrohlich hob er die Hand – und ließ sie in einer überraschten Bewegung wieder sinken. Während Waggon 13 noch immer wie festgenagelt vor dem Türrahmen des Notausgangs stand, tauchte das helle Etwas hinter dem Mantel des Magiers hervor. Es war ein geisterhaftes Wesen, dessen zierliche Gestalt auf ein etwa zehn-, vielleicht zwölfjähriges Mädchen schließen ließ.

Meine Güte, stellen die hier auch Kinder an?, dachte Lorenzo entsetzt, als er das Geistermädchen betrachtete. Es trug ein nebelblasses flatteriges Gewand. Wie eine von der Sonne ausgebleichte Gardine umspielte es den schmalen Körper. Ihre Haare waren feuerrot, aber nicht wie die von Dina. Das Haar dieses Geistermädchens schien aus echtem Feuer zu sein. Fast meinte Lorenzo, die Flammen knistern zu hören.

Waggon Nummer 13 drehte sich einmal um sich selbst, aber der Magier rührte sich nach wie vor nicht vom Fleck.

»Äh, w-w-was«, stotterte er, als das Geistermädchen an seinem Körper emporschwebte, vor seinem Gesicht zum Halten kam und ihm mit bleichen Fingern in die Nase kniff.

»Hihiii« machte es und »huhuuu«. Der Magier griff sich ans Herz und Lorenzo musste plötzlich lachen. Von solchen Einlagen könnte es ruhig mehr geben, dachte er und betrachtete fasziniert die flackernden Haare des Geistermädchens. In allen Farben des Feuers tanzten sie um ihren bleichen Kopf herum. Wie machte man so etwas?

Als das Geistermädchen Lorenzo und Dina entdeckte, deren Waggon noch immer nicht weitergefahren war, schwebte es kichernd auf sie zu.

»Mein Schaaatzi, kü-hüüsse mich!«, säuselte sie und kam einen Fingerbreit vor Lorenzos Mund in der Luft zum Stehen. Ihr Atem roch nach gebrannten Mandeln.

Dina sog geräuschvoll die Luft ein. »Ein Feuergeist«, flüsterte sie ihrer Fledermaus ins Stoffohr. »Gehört nach meinem Lexikon zur Gattung der Elementargeister. Also, wenn du mich fragst, die sieht ja wirklich täuschend echt aus.«

Die fahlen Lippen des Geistermädchens waren schon zum Kuss gespitzt, als ein drittes Wesen hinter dem Kapuzenmantel hervortrat. Es gab ein schwappendes Geräusch und Lorenzo hörte den Magier murmeln: »Ich glaub, mein Schwein pfeift.«

Das Geistermädchen wirbelte herum und stieß einen schrillen Schrei aus. Zwischen Waggon 13 und dem Magier kauerte eine Kreatur. Dem Geistermädchen ging sie höchstens bis zur Hüfte und ihr Gesicht war in der Dunkelheit nicht richtig zu erkennen. Trotzdem fühlte Lorenzo, wie ein leiser Schauer auf seiner Wirbelsäule entlangspazierte. Vielleicht waren es die spitzen Hörner auf dem Kopf, die diesem Wesen eine so bedrohliche Wirkung gaben. Vielleicht war es auch das leise Röcheln, das es von sich gab, oder der Geruch, den seine verkrustete Haut ausströmte. Eine Mischung aus kaltem Rauch und trockenem Dung.

Als die Kreatur jetzt aus dem Schatten trat, schnappte Dina neben Lorenzo nach Luft. »Das ist Satan«, flüsterte sie beeindruckt.

Lorenzo nickte. Kein Zweifel, dieses Etwas war ein Teufel.

Seine ganze gedrungene Gestalt schien aus getrockneter Erde zu bestehen. Die Verkleidung wirkte genau wie die des Geistermädchens so täuschend echt, dass die kalten Schauer plötzlich in Hochgeschwindigkeit über Lorenzos Rücken rasten.

Stöhnend reckte er seinen Hals. Fuhren sie denn immer noch nicht weiter? Die anderen Waggons waren schon seit einer Ewigkeit hinter der nächsten Ecke verschwunden. Nur Waggon 13 machte nicht den geringsten Anschein, als wolle er sich in Bewegung setzen.

Wieder hörte Lorenzo das merkwürdige Schwappen.

Es kam aus dem Eimer, den der Teufel in der linken Hand hielt. Mit der anderen Hand umklammerte er einen kleinen, mit Wasser vollgesogenen Schwamm. In schnellen, eifrigen Bewegungen machte sich das Wesen an den gelackten Stulpenstiefeln des Magiers zu schaffen. Es tunkte den Schwamm in den Eimer, wischte über den linken Stiefel, und schwups!, weg war er.

Dina kicherte wieder. »Cooler Trick, was, Fledi?«, flüsterte sie begeistert.

Der Magier schien anderer Meinung zu sein. Er fiel auf die Knie, riss sich den Umhang vom Kopf und jammerte in einem sehr unmagischen Tonfall um Hilfe.

»Unglaublich«, hauchte Dina. »Also wenn du mich fragst … das ist wirklich unglaublich!«

Ja, dachte Lorenzo, als in der nächsten Sekunde auch der rechte Stiefel verschwunden war. Der Kerl hört sich an, als würden ihm tatsächlich die Füße vom Leib gewischt.

Im selben Moment knarrte es unter dem Waggon. Es war ein leichtes, beinahe zögerliches Geräusch, als fürchte sich ihr Gefährt, den Zwischenstopp zu beenden. Und doch: Mit einem Knirschen setzte sich der Waggon wieder in Bewegung und fuhr weiter. Lorenzo drehte sich um, aber die Dunkelheit verschluckte den Magier und das Teufelswesen. Nur ein jämmerlicher Hilfeschrei hallte durch die Finsternis, dann krachte es – und Lorenzo spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte.

Auch das Geistermädchen war plötzlich wie verwandelt. Ihre Augen hatten sich ungefähr um das Dreifache vergrößert. In flatterigen Bewegungen schwebte sie neben Waggon 13 her, vorbei an vierköpfigen Ungeheuern – und gefolgt von dem eifrigen Teufelswesen, das mit seinem seltsamen Putzzeug wieder aus der Dunkelheit getreten war. »Verdammt, verdammt, verdammt«, zischte das Geistermädchen, während die Fahrt weiterging. »Verdammt, verdammt, verdammt, wie konnte das passieren!«

Was in Stockwerk fünf und sechs geschah, bemerkte Lorenzo nicht mehr. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Geistermädchen gerichtet. Sie wich dem Waggon nicht von der Seite und plötzlich waren es nicht nur ihre Haare, die Lorenzo stutzig machten. Ihr rundes Gesicht mit der leicht nach oben gebogenen Stupsnase hatte menschliche Züge, aber die bleiche, beinahe durchscheinende Haut erschien ihm plötzlich nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus etwas anderem zu sein. Und wie geisterhaft groß ihre grauen Augen aus den tiefen Höhlen hervortraten!

»Verdammt, verdammt, verdammt …« Das geheimnisvolle Geschöpf fuchtelte mit den Händen und Lorenzo durchzuckte ein Gedanke, grell wie ein Geistesblitz: Das ist kein Mädchen, das einen Geist spielt, dachte er. Dieses Mädchen … ist ein Geist.

Dina schien genau dasselbe zu denken. Ihre Krallen bohrten sich schmerzhaft in Lorenzos Ärmel und ließen ihn nicht mehr los – bis in Stockwerk sieben urplötzlich der kleine Teufel auf ihren Waggon sprang, sein krustiges Gesicht tief nach unten gebeugt. Schwapp, tunkte er seinen Schwamm in den Eimer. Zog ihn wieder heraus und wischte über den giftgrünen Drachenkopf, der die Vorderseite des Waggons zierte. Schwupp. Der Drachenkopf war verschwunden. Weg. Einfach weg.

Waggon 12 war vor ihnen um die letzte Ecke gebogen. Der Teufel tunkte seinen Schwamm in den Eimer, zog ihn heraus und streckte ihn nach Dinas Umhang aus.

»AAAH!«, kreischte Dina und wich mit hoch erhobenen Händen zurück. »AAAAH! MAAAMA!«

Lorenzo rührte sich nicht. Etwas Seltsames geschah mit ihm. In seinem Inneren schien sich ein Hebel umzulegen, der bis zu diesem Augenblick auf Panik gestanden hatte. Klack machte es.

Jetzt war da plötzlich tiefe Ruhe. Die panische Angst verflog, als hätte jemand sie ebenfalls mit einem Zauberschwamm entfernt. Lorenzo sah den Teufel näher kommen, er hörte Dina nach ihrer Mama kreischen und dann fühlte er, wie ihn etwas am Kostümkragen packte.

Eine kleine, heiße Hand. Sie schien keine Knochen zu haben, trotzdem fühlte sie sich fest und beinahe tröstlich an.

»Wir müssen hier weg. Verdammt, verdammt, verdammt! Wir – müssen – hier – weg!«

Die Hand zog Lorenzo aus dem Waggon, ihn und Dina, die sich die Seele aus dem Leib schrie. »MAAAAAAAAMAA!«

Im nächsten Moment schwebten sie in der Luft.

»Verdammt, verdammt, verdammt. Warum – seid – ihr – Menschen – nur – so – SCHWER? Wir – müssen – hier – weg. Verdammt, verdammt, verdammt!«

Quer durch die Geisterbahn ging es. Lorenzo bekam kaum Luft, weil das Geistermädchen noch immer seinen Nackenkragen gepackt hielt. Aber er fürchtete sich nicht. Er staunte.

Es ging zurück. Zu Stockwerk sechs. Und fünf. Und vier. Zum dunklen Korridor. Zum Notausgang, aus dem vorhin der Magier getreten war. Jetzt lag nur noch der Kopf seiner Schlange am Boden. Aber Lorenzos Staunen war so groß, dass kein Gedanke, kein weiteres Gefühl mehr in ihn hineinpasste. Es war, als wäre sein ganzer Körper ein einziges Einatmen.

Die hölzerne Tür stand offen. Sie war hoch und breit, dennoch fühlte Lorenzo, wie das Geistermädchen seinen Körper dicht an ihre Seite zog, als sie mit ihnen hindurchrauschte. Hindurch … in was?

Die Dunkelheit, die sie geschluckt hatte wie ein zahnloser Riesenschlund, war noch unheimlicher als die im Drachenmaul am Eingang der Geisterbahn. Lorenzo konnte nichts sehen, aber seine Füße streiften im Flug über Stufen. Vielleicht war dies hier wirklich ein Notausgang und sie befanden sich in einem Treppenschacht, der noch zur Geisterbahn gehörte und von hier aus zurück zum Erdgeschoss führte? Lorenzo konnte die Richtung, in die sie sich bewegten, nur erahnen. Aber es schien wirklich nach unten zu gehen. Tiefer … und tiefer … und tiefer.

Es sauste und brauste in Lorenzos Ohren. Irgendwo – weit unten – glomm ein heller Punkt auf. Nein … ein Licht.

Ein silbriges Licht.

Und es kam rasend schnell auf sie zu.

Das Land unter der Geisterbahn

In einer medizinischen Fachzeitschrift hatte Lorenzo einmal einen Artikel über das menschliche Verhalten in Extremsituationen gelesen. Die Zeitschrift hatte im Wartezimmer seines Hautarztes gelegen. Lorenzos Mutter war mit ihm dort gewesen, weil sie hinter einem aufgeplatzten Pickel auf Lorenzos Stirn eine tödliche Pockenerkrankung vermutet hatte. Jetzt, Monate später, schoss Lorenzo der Artikel durch den Kopf. Als Extremsituationen wurden dort besonders außergewöhnliche Momente bezeichnet, oft gefährliche, wie ein Flugzeugabsturz, eine Entführung oder auch die Begegnung mit einem Mörder. Begegnungen mit Geistern hatten nicht zu den aufgezählten Beispielen gehört, auch nicht der Flug durch das Innere einer Geisterbahn. Aber Lorenzo war sich sicher, dass er diesen Ereignissen auf einer Liste außergewöhnlicher Momente Platz 1 und 2 gegeben hätte.

Jedenfalls schüttete der menschliche Körper – so hatte es im Artikel gestanden – in solchen Momenten Adrenalin aus, was zu ungeahnten Kräften, glasscharfer Klarheit, tiefer Ruhe und sogar Heiterkeit führen konnte.

Bei Lorenzo war es eindeutig die Ruhe gewesen, die dieses sogenannte Adrenalin ihm beschert hatte. Es war ein mächtiges, ein geradezu erhabenes Gefühl, das immer noch anhielt, nachdem das Sausen und Brausen in Lorenzos Ohren abgeebbt war. Das silbrige Licht hatte sich als eine Luke entpuppt. Eine kreisrunde Luke, durch die das Geistermädchen sie jetzt keuchend hindurchzog.

»Verdammt, verdammt, verdammt«, tönte ihre Stimme an Lorenzos Ohr. »Ich – kann – nicht – mehr. Rasputin! Bist du da? BIST DU DA? Es ist etwas SCHRECKLICHES geschehen. RASPUTIN! Verdammt, SAG DOCH WAS!«

»Ich bin hier, Antonella! Hier bin ich.«

Lorenzo sah in die Richtung, aus der die Stimme kam. Direkt hinter der Luke stand ein Vampirjunge. Der Unterschied zwischen ihm und den Geisterbahnvampiren oder der verkleideten Dina war für Lorenzo so eindeutig, als würde er einen echten Bären mit Stoffteddys vergleichen. Der Junge vor ihm war nicht geschminkt. Sein schmales Gesicht mit den hervortretenden Wangenknochen, den fledermausartigen Ohren und den sanft geschwungenen Nasenflügeln war totenbleich. Sein schulterlanges Haar hatte die gleiche Farbe wie sein Umhang – Schwarz. Und das war das Einzige, das sich mit Dinas Kostüm vergleichen ließ. Denn die beiden spitzen Zähne, die links und rechts aus den blutroten Mundwinkeln des Jungen hervorlugten, waren nicht aus Plastik. Sie waren echt – wie der Duft von Moder, der ihn umgab.

Lorenzo fühlte, wie er zu Boden plumpste. Dabei verlor er den Jungen aus dem Blick und ihm wurde zum ersten Mal bewusst, wo sie gelandet waren.

Es war nicht die Geisterbahn.

Um sie herum war eine Landschaft. Eine neblige, sonderbar silbrige Landschaft. Auf dem weichen Boden neben ihm saß das Geistermädchen. Ihr magerer Brustkorb hob und senkte sich in rasendem Tempo. Dina lag neben ihr. Sie hatte aufgehört zu schreien, aber ihr Mund stand weit offen, ihre Hände hielten das Lexikon der Gruselwesen umkrallt und ihre Augen hatten ungefähr die Größe von Tennisbällen. Irgendetwas roch komisch.

»Auch das noch«, hörte Lorenzo das Geistermädchen stöhnen. »Ich glaub, die hat die Hosen voll. Pfui Teufel, was sind die Menschen doch für Waschlappen!«

Lorenzo konnte nicht anders, er musste grinsen.

Das Geistermädchen hatte recht. Dina Großmaul hatte sich in die Hosen gemacht. Der Geruch war unverkennbar, aber Dina schien es nicht einmal zu bemerken. Ihr Mund klappte zu, so fest, dass Lorenzo ihre Zähne knacken hörte. Ihre Augen wanderten von dem Gesicht des Geistermädchens zu dem des Vampirjungen und schließlich zu Lorenzo. Und dann schien das Adrenalin auch in seiner Mitschülerin seine Wirkung zu entfalten – nur, dass es bei ihr etwas anderes als bei Lorenzo auslöste.

Dina fing an zu lachen. Sie lachte und lachte, bis ihr die Tränen die Wangen herunterrollten und sich nun das Geistermädchen und der Vampirjunge verstörte Blicke zuwarfen.

»Also«, keuchte Dina, »also, wenn ihr mich fragt, das ist ABGEFAHREN. Das ist ABSOLUT ABGEFAHREN, was, Fledi?«

Lorenzo war es gewohnt, dass Dina mit ihrer Stofffledermaus redete, als wäre sie lebendig. Das tat sie auch in der Schule ständig. Bei Klassenarbeiten saß Fledi auf Dinas Federmäppchen, in den großen Pausen schleppte Dina sie mit auf den Schulhof und einmal hatte Dina einem zwei Köpfe

größeren Jungen ihr Fischbrötchen ins Gesicht gedrückt, weil er gewagt hatte, über Fledi zu lachen.

Fledi gab natürlich keine Antwort, aber das Geistermädchen rollte jetzt genervt die Augen. »Das ist nicht abgefahren«, erwiderte sie mürrisch und strich sich ihre flackernden Feuerhaare aus dem Gesicht. »Das ist Gravalon. Und vielleicht habt ihr es schon gemerkt, hier gibt es keine schlecht kopierten Witzfiguren wie in eurer lächerlichen Geisterbahn. Hier … wohnen wir.« Stolz streckte das Geistermädchen seine magere Brust vor. »Die Wesen der Unterwelt. Mein Name ist Antonella Fosfera von Rodenburg. Und das …«, der bleiche Arm des Geistermädchens legte sich um die Schultern des Vampirs, »ist Lord Rasputin von Radovicchio junior, mein bester Freund. Aber ihr könnt uns Antonella und Rasputin nennen, stimmt’s, Raspi?«

Der Vampirjunge schüttelte den bleichen Kopf und schob den Arm des Geistermädchens beiseite. Seine schwarzen Augenbrauen waren bis zum Haaransatz hochgezogen und in seinen dunkelblauen Augen blitzte Zorn.

»Zum zugenagelten Sargdeckel noch mal«, stieß er mit einer Stimme hervor, die vor Heiserkeit fast brach. »Wir haben keine Zeit, lange Reden zu schwingen, Antonella! Wir müssen hier weg, bevor dieser Teufel zurückkommt. Und warum in aller Unterwelt hast du die beiden da mitgebracht? Weißt du, was wir für einen Höllenärger bekommen?«

»Verdammt!«, fauchte Antonella ihn an. »Hätte ich etwa zulassen sollen, dass das Teufelsvieh sie wegputzt? Diesen lächerlichen Magier in der Geisterbahn hat es schon erwischt – oder besser gesagt: verwischt, und – aber Moment mal …« Das Geistermädchen runzelte die fahle Stirn. »Woher weißt du überhaupt von dem Teufel?«

Der Vampir wurde noch bleicher als vorhin. »Als du in die Luke geklettert bist, tauchte er plötzlich auf«, stieß er hervor. »Er kam aus dem Nichts und sah genauso aus wie die Viecher aus den Nachrichten. Ich konnte gerade noch zur Seite springen und dann ist er rein. Hinter dir her. Ich hab dir gesagt, du hättest das niemals tun dürfen!«

Lorenzo hatte noch immer kein einziges Wort von sich gegeben, aber Dina, die sich von ihrem Lachanfall erholt hatte, sprang auf die Füße. Der unangenehme Geruch zog erneut in Lorenzos Nase. Antonella und Rasputin verzogen das Gesicht und Dinas bleiche Wangen wurden für einen kurzen Augenblick feuerrot. Jetzt schien auch sie gemerkt zu haben, woher der Wind wehte. Aber im nächsten Moment hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Halt!«, sagte sie. »Halt! Also, ich wiederhol das jetzt noch mal ganz langsam zum Mitschreiben, wenn ihr erlaubt, ja? Wir, also, mein Mitschüler und meine Wenigkeit, wir befinden uns in einem Dingsda namens Gravalon und ihr beide seid keine Menschen, sondern Unterweltler namens Antonella Fosfera von Rodenburg – in meinem Lexikon der Gruselwesen bist du übrigens ein Feuergeist – und Lord Rasputin von Radovicchio junior oder auch Raspi – du bist ein Fürst der Finsternis oder Vampir oder Untoter, ich werd das später noch mal nachschlagen – und dieses … dieses teuflische Dingsdabums, das aus dem Nichts auftauchte und von dem in meinem Lexikon übrigens NICHTS zu finden ist, hat den Magier aus der Geisterbahn weg–«

Dina schnappte nach Luft, als das Geistermädchen ihr mit erhobener Hand das Wort abschnitt und sich an Lorenzo wandte. »Sag mal, quatscht die immer so viel?«

Lorenzo nickte und das Geistermädchen fuhr mit strengem Blick auf Dina fort. »Ihr habt Rasputin gehört. Wir haben keine Zeit für lange Reden.«

Mit diesen Worten klappte Antonella die Luke, durch die sie vor wenigen Minuten geschwebt waren, zu und gab den Blick auf eine eingemeißelte Inschrift frei. Zugang zur Oberwelt. Betreten nur in dringenden Notfällen oder Ausnahmesituationen gestattet und für Gravalonis unter 313 Jahren sowie für Wesen über 30 Meter Körpergröße bei Strafe verboten. Gezeichnet: Long Don Peng.

»Tja«, sagte Antonella. »Wie ihr seht, oder vielleicht nicht seht, ich habe etwas ziemlich Unerlaubtes getan. Ich bin nämlich erst 307. Und jetzt … kommt!«

Ein Wohin hatte sich gerade auf Lorenzos Zunge gelegt, als Dina mit roten Ohren einen Schritt nach hinten machte. »Ich würde mich nur gern etwas … frisch machen«, murmelte sie und verschwand hinter einem dürren Busch.

»Aber beeil dich!«, rief das Geistermädchen ihr nach, und als Lorenzo Dina hinterherschaute, nahm er die Landschaft zum ersten Mal richtig wahr.

Sie befanden sich am Fuß einer Gebirgskette. Hohe, schimmernd schwarze Berge, deren Spitzen in dichtem Dunst verschwanden, taten sich vor ihnen auf. Der Boden, auf dem Lorenzo immer noch saß, fühlte sich weich und seltsam moosig an. Die Luft war warm und auch ein wenig feucht, was wohl an dem Nebel lag, der sich in alle Richtungen ausbreitete. Wie ein heller Schleier überzog er das Land, bedeckte hagere Gräser und tintenschwarze Pflanzen, verfing sich in Büschen, geisterte durch die Äste blütenloser Bäume, ja, selbst an dem feurigen Haar des Geistermädchens schien er mit blassen Zungen lecken zu wollen.

Häuser schien es keine zu geben, jedenfalls nicht, so weit Lorenzos Auge reichte. Auch Menschen, Tiere oder sonstige Wesen sah er nicht.

Aber in der Stille hörte Lorenzo hauchzarte Töne, die vorhin ihre Stimmen übertönt haben mussten. Sie schienen vom Nebel auszugehen und klangen wie ein vielstimmiges Seufzen, schwermütig und leichtfüßig zugleich. Und dann war da noch dieses silbrige Schwirren. Tausende, vielleicht Abertausende von winzigen Lichtpunkten flirrten geräuschlos durch die Luft wie gefallene Sternschnuppen. Sie schienen zu tanzen, tauchten unter dem Nebel hervor, fügten sich zu Lichtgestalten, flirrten wieder auseinander, zusammen, auseinander …

»Wirrlichter«, sagte Antonella sanft. Sie schien sich über Lorenzos staunenden Blick zu freuen, als habe sie einem neuen Freund ihr Zimmer gezeigt. »Und die Töne, die du hörst, sind Nebelungensagen. Es sind die Stimmen des Nebels, die uns ihre traurigen Geschichten erzählen. Aber was ist eigentlich mit dir? Im Gegensatz zu dieser Plappertante hast du noch keinen Ton von dir gegeben. Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Ja, wollte Lorenzo sagen. Aber dann schlüpfte ihm doch ein ganzer Satz über die Lippen. »Wohin sollen wir denn?«

Das Geistermädchen sah zu dem Vampirjungen, der schon wieder den Kopf schüttelte. »Du willst die beiden doch nicht etwa …?«

»Doch, das will ich!«, sagte Antonella bestimmt und wandte sich an Lorenzo. »Ihr kommt jetzt erst mal mit zu uns. Zurück könnt ihr auf keinen Fall. Das ist zu gefährlich, wenn überhaupt noch was übrig ist von der Geisterbahn.«

Zurück könnt ihr auf keinen Fall? Plötzlich war die Angst wieder da und schwappte wie eine kalte Riesenwelle über Lorenzo zusammen. »Was heißt das, zurück können wir auf keinen Fall?«, stammelte er fassungslos. »Wieso nicht?«

Antonella biss sich auf die Lippen und setzte gerade zu einer Antwort an, als Dina hinter dem Busch auftauchte. Der Vampirjunge trat einen Schritt vor. »Blut und Speichel, dann nehmen wir sie eben mit«, knurrte er. »Aber jetzt müssen wir los, bevor Orkulas Teufel hier wieder auftaucht – er oder einer seiner Freunde. Alles Weitere klären wir unterwegs und jetzt lasst uns endlich die Sause machen! Ich schnapp mir das Mädchen, du nimmst den Jungen.«

Der Vampir streckte seine Hand nach Dina aus, die plötzlich ein entsetztes Japsen von sich gab. »Du … ich meine … du … beißt mich doch nicht, oder?«

Rasputin lachte heiser. »Dazu ist jetzt keine Zeit. Los, gib mir deine Hand.«

Dina reichte sie ihm. Der Vampirjunge breitete seinen Umhang aus und machte einen Senkrechtstart in die Luft.

»WAAAAAAAAAHNSINN!«, schrie Dina. »Fledi, wir fliegen!«

Das sind wir vorhin auch schon, dachte Lorenzo. Doch dieses Vorhin kam ihm plötzlich vor wie eine Ewigkeit, und als die heiße Hand des Geistermädchens nach der seinen griff, wurde er für einen Moment ganz starr.

»Stoß dich ab«, rief Antonella und der Duft nach gebrannten Mandeln zog Lorenzo beruhigend in die Nase. »Stoß dich mit den Füßen ab, dann geht es leichter. Eins, zwei, drei, los!«

Lorenzo machte einen kleinen Sprung und sie flogen. Flogen in die neblige Luft und weit, weit über die schwarzen Berge hinaus, durch eine schier unendliche Landschaft, so geisterhaft und schön, wie Lorenzo es sich in seinen tiefsten Träumen nicht hätte ausmalen können.

In Träumen war er oft geflogen, manchmal sogar bis zum Mond, und jedes Mal war er mit einem rauschenden Glücksgefühl erwacht. Aber das hier war kein Traum … oder doch?

Die Angst blieb hinter ihm zurück, als hätte sie in der Luft nichts zu suchen, und während Antonella irgendetwas von dem Fluch einer Urhexe und ihren wütenden Eltern erzählte, die sie gleich erwarten würden, machte sich ein neues Gefühl in Lorenzo breit.

Was immer dieses sonderbare Gravalon sein mochte – Lorenzo konnte sich nicht erinnern, sich je in seiner Welt so leicht und frei gefühlt zu haben wie hier und in diesem Augenblick.

Ein Teufel in der Oberwelt

Ein paar Hundert Meter über jener Landschaft, durch die Lorenzo an der Hand des Geistermädchens flog, stand Kate Anders am Ausgang der Geisterbahn und fingerte nervös an den Beinen ihrer Gummispinne herum. Irgendetwas stimmte nicht. Die Fahrt war zu Ende, die Kinder waren ausgestiegen, Nasrin und Valerie als Letzte. Aber hatten Lorenzo und Dina nicht hinter ihnen gesessen?

Kates Augen suchten die Gruppe ihrer verkleideten Schulklasse ab. Da. Dort hinten zwischen Spiderman und King Kong standen Valerie und Nasrin. Zwei kichernde Hexenmädchen, die ihre Köpfe zusammensteckten. Wo aber blieben Lorenzo und Dina?

Kate reckte den Hals. Ja, die beiden hatten hinter Valerie und Nasrin gesessen, im letzten Waggon. Verflixt, sie hätte sich die Nummern merken sollen. War es die 12 oder die 13 gewesen?

Und wann hatte Kate das letzte Mal zu ihnen zurückgeblickt? Hatte sie überhaupt zurückgeblickt? Dinas Kreischen, ja, das hatte sie einmal gehört, irgendwo bei den Vampiren, aber hatte Dina danach nicht noch einmal geschrien? Laut und panisch … nach ihrer Mama?

Dina war alles andere als schreckhaft. Was mochte sie derart aus der Fassung gebracht haben? Nervös zog Kate das Bein der Spinne in die Länge. Mit geschlossenen Augen spulte sie die Fahrt noch einmal vor ihrem inneren Auge ab. Nach den Vampiren war der Türrahmen mit dem Magier gekommen, diesem düsteren Kerl mit der Trötenschlange. Hatte hinter seinem Rücken nicht dieses seltsame Geistermädchen mit dem weißen Gewand und der feurigen Perücke gestanden? Bei Kates Anblick hatte es sich hinter den Mantel des Magiers zurückgezogen und irgendwann später hatte etwas gekracht, aber da war Kates Waggon schon im nächsten Stockwerk gewesen. Kurz darauf hatte sie Dinas Schrei gehört … oder waren es Nasrin oder Valerie gewesen?

»Zum Teufel, Kate!«, murmelte die Lehrerin. »Nun warte doch erst mal ab.« Irgendwo würden Dina und Lorenzo schon sein. Schließlich konnten sich die beiden nicht in Luft aufgelöst haben. Wahrscheinlich standen sie schon bei den anderen und Kate hatte es nur nicht bemerkt. Immer noch glühten die Gesichter der Kinder und ihre Stimmen schwirrten aufgeregt durcheinander, während sich vor der Kasse bereits eine neue Schlange bildete.

Kate Anders kam eine Idee. Vielleicht machten sich Lorenzo und Dina auch einen Scherz und versteckten sich am Kassenhäuschen? Kate wandte den Kopf und ihr Blick streifte den fremden Herrn, der neben ihr im Waggon gesessen hatte und der sich jetzt am Ausgang der Geisterbahn eine Zigarette anzündete. Eisig starrte er zurück, bevor er sich umdrehte und auf einen Losstand zusteuerte.

Kate überlegte, ob sie ihm ihre Gummispinne an den Kopf werfen sollte. Blöder Langweiler, dachte sie. Warum seid ihr Erwachsenen nur alle so verdammt langweilig? Aber Moment mal, ihr Erwachsenen, hatte sie das gerade gedacht? Kate seufzte. Zum Teufel, auch sie war erwachsen, aber sie fühlte sich nicht so. Zumindest nicht so, wie sie die Erwachsenen um sich herum erlebte. Die anderen Lehrkräfte, die jede Pause ausnahmslos dazu nutzten, sich über die anstrengenden Kinder zu beschweren. Über Kinder, die nicht richtig zuhören konnten. Kinder, die auf ihren Stühlen herumzappelten, den Unterricht störten, nicht mitkamen, zu wenig lernten oder voneinander abschrieben. Kinder, die ständig irgendwelchen Unsinn im Kopf hatten, anstatt sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren.

Kate Anders schüttelte den Kopf. Wenn die strengen Vorgaben für den zu bewältigenden Unterrichtstoff die einzig wichtigen Dinge im Leben waren, dann konnte man genauso gut einpacken. Aus diesem Grund packte Kate auch im Unterricht oft die Geschichtsbücher weg und erzählte den Kindern stattdessen Geschichten. Dina wollte immer von Geistern, Hexen und Vampiren hören – oder die griechischen Sagen. In der letzten Geschichtsstunde hatte Kate ihnen die Sage von den Symplegaden erzählt – zwei tödlichen Felsen, die ein Held namens Iason mithilfe einer weißen Taube durchquerte.

Lorenzo hingegen faszinierten am meisten die Abenteuer der Fischerstochter Freia Fox, die im finsteren Mittelalter gelebt hatte. Kate erinnerte sich nicht, in welchem Buch sie von ihr gelesen hatte. Sie erinnerte sich nur, dass Freias Taten als ausnahmslos gut bekannt waren.

»Gut«, sagte Kate. Und noch einmal: »Gut!«

Dann machte sie einen Schritt auf das Kassenhäuschen zu und suchte in der Gruppe abermals nach Lorenzo und Dina. Aber da standen sie nicht, und beim Kassenhäuschen auch nicht – natürlich nicht. Kate verwarf ihre alberne Vorstellung, die zwei könnten ihr zusammen einen Streich spielen. So gerne sie Lorenzo und Dina hatte, gegenseitig waren sich die Kinder spinnefeind.

Kate hob ihren Kopf. Warum sah der mürrische Mann im schwarzen Frack und der lächerlichen Vampirschminke im Gesicht plötzlich so verwirrt aus? Er stand neben den leeren Waggons, besah sich den letzten, drehte sich um, schüttelte den Kopf und bohrte sich im Ohr herum, als suche er dort nach der Antwort auf eine Frage. Mittlerweile waren bestimmt drei oder vier Minuten vergangen und die Leute, die bereits die Kasse passiert hatten, warteten darauf, in die Waggons zu steigen. Einige kicherten nervös, andere traten von einem Bein aufs andere und eine ältere Dame fragte mit schriller Stimme: »Wann geht es denn endlich los?«

Ja, müsste es nicht längst wieder losgehen? Kate biss sich auf die Lippen.

»Frau Anders, wir wollen weiter!«, kam es jetzt von Nasrin. Kates Schüler blickten ungeduldig herüber, aber Kate winkte ab. Sie lief auf die Waggons zu und ihr Herz schlug plötzlich furchtbar schnell. Konnte es möglich sein, dass Lorenzo und Dina mit ihrem Waggon in der Geisterbahn stecken geblieben waren? Herrgott noch mal, warum war sie nicht gleich auf die Idee gekommen? Da, der vorletzte Waggon, es war die 11. Als Kate die blutrote Nummer auf dem giftgrünen Schlangenkopf entdeckte, erinnerte sie sich wieder ganz genau, dass sie in diesem Waggon gesessen hatte. Dahinter stand die 12, der Waggon, in den Nasrin und Valerie gestiegen waren.

Waggon 13 – fehlte. Gerade wollte Kate den Mann mit der Vampirschminke an der Schulter herumreißen, als jemand schrie.

Valerie war es. Kreidebleich war das Gesicht des Mädchens und als Frau Anders’ Blick ihrem ausgestreckten Zeigefinger folgte, blieb ihr fast das Herz stehen.

Ein kleines, völlig verkrustetes Wesen trat aus dem geöffneten Drachenmaul ins Freie. Es hatte zwei Hörner, hielt einen Eimer in der Hand und bewegte sich sonderbar mechanisch wie ein ferngesteuerter Roboter. Mit schwappenden Geräuschen trat es auf die Kasse zu, tunkte seinen Schwamm in den Eimer, zog ihn heraus und wischte über die Schilder.

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Schwapp, weg war das schwarze Plakat mit den blutroten Buchstaben. Als Nächstes verschwand das Warnschild BETRETEN DER GEISTERBAHN AUF EIGENE GEFAHR. Dann die Liste mit der Aufzählung, für wen die Geisterbahn alles nicht geeignet war, und schließlich das Pappschild, das für einen neuen Mitarbeiter warb.

All das geschah in rasender Geschwindigkeit – und im nächsten Augenblick löste sich das ganze Kassenhäuschen unter dem Schwamm des seltsamen Wesens in Luft auf.

Kate Anders ließ vor Schreck fast ihre Gummispinne fallen. Nasrin rannte auf sie zu, krallte sich an Kates Pullover und schrie. Schrie aus Leibeskräften, während der Rest der Klasse wie gelähmt vor Entsetzen auf das schwarze Ungeheuer starrte, das sich jetzt umwandte und mit mechanischen Schritten auf sie zutapste.

Ich muss etwas tun, dachte Kate. Aber auch sie war unfähig, sich zu bewegen, und erst im allerletzten Augenblick, als das schwarze Wesen – offensichtlich ein Teufel – seinen Schwamm nach Nasrins Fußspitze ausstreckte, kam Leben in Kate Anders. Sie riss Nasrin an der Hand nach hinten und brüllte.

Brüllte die Klasse an. »Haut ab. Na los, bewegt euch. HAUT AB!«

Unterlandeinwärts

Der Nebel in der Unterwelt hatte sich gelichtet. Immer klarer war die Landschaft im Lauf des Fluges geworden und verändert hatte sie sich auch. Das Licht war jetzt dunkelviolett wie der dichte Wald, über den sie gerade flogen. Ob Tag oder Nacht in dieser Gegend herrschte, hatte Lorenzo bislang nicht erkennen können. Weder Sonne noch Mond zeigten sich am silbergrauen Himmel. Aber dem glasklaren Licht nach zu urteilen, musste es irgendwo dazwischen sein. Gestochen scharf hoben sich die dunkelvioletten Baumkronen vom Boden ab. Ausladend breit waren sie, wie ausgestreckte Arme, und an ihren Zweigen hingen runde Blüten, die in ihren saftig satten Farben wie überreife Trauben aussahen.

Hinter dem Wald führte ein schmaler Kiesweg in eine weite Friedhofslandschaft. Verkrümmte Bäume und dürre Sträucher beugten sich über verfallene Gräber. Eisiger Dunst stieg aus den Gruften und um einen riesigen Grabstein tanzte eine Gruppe von Hexen. Lorenzo zuckte in der Luft zusammen, als fünf rote Augenpaare zu ihnen emporblickten und im nächsten Moment ein lautes Wehklagen ertönte. So unheilvoll klangen die Töne, dass sich Lorenzo am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Sofort stieg Antonella ein Stück höher in die Luft und beschleunigte das Tempo. Östlich der Friedhofslandschaft lag ein dunkles Moor.

»Zu mir oder zu dir?«, rief Rasputin ihnen zu.

»Zu mir«, schrie Antonella zurück und ihre Hand umschloss Lorenzos jetzt noch fester. Zu seiner Erleichterung ließen sie die Friedhofslandschaft mit den wehklagenden Hexen rechts liegen und flogen westwärts über das Moor – eine baumlose tiefschwarze Ebene, die an den Rändern in schmale Buchten auslief. Es sah aus, als hätte ein Riese über der Erde sein Tintenfass ausgeschüttet. Der silbrige Himmel verstärkte diesen Eindruck und ließ die dunkle Oberfläche so spiegelglatt schimmern, dass Lorenzo darauf ihre Schatten erkennen konnte: vier Kinder mit weit ausgebreiteten Armen.

Nördlich des Moores erstreckte sich ein hoher, ebenfalls tiefschwarzer Berg, aber Antonella steuerte weiter nach Osten.