Argos - Imago - Josef Kaindl - E-Book

Argos - Imago E-Book

Josef Kaindl

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Beschreibung

Der Kreis schließt sich: die "Argos"Trilogie findet ihren Abschluß in "Argos - Imago". Erneut gelangt ein Mörder an intime psychiatrische Daten von vulnerablen Personen. Durch umfangreiches Detailwissen gelingt es dem Mörder immer wieder seine Opfer dort zu verwunden und letztlich zu töten, wo diese am verletzlichsten sind. Jedoch gibt es einen Polizei-Praktikanten, der dem Serienmörder auf die Schliche kommt. Dabei gerät der Praktikant selbst in akute Lebensgefahr. Die unerwartete Veränderung eines introvertierten Beamten, hin zu einem skrupellosen Mörder zeigt die schreckliche Metamorphose die bei jedem von uns Menschen stattfinden kann. Welches Imago steckt in Ihnen?

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Seitenzahl: 155

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Alle Personen und die Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Auf geschlechtsspezifische Schreibweise wurde im Rahmen der besseren Lesbarkeit verzichtet (immer m/w/d).

Dieses Buch ist für Leser unter 18 Jahren nicht geeignet.

Die Argos Trilogie:

Band 1: „Argos erwacht. Er weiß alles von Dir.“

Band 2: „Argos – Reloaded“

Band 3: „Argos – Imago“

Danksagung

An alle meine Lehrer, Mentoren und weisen Begleiter, für ihre wohlwollende Unterstützung auf meinem Lebensweg.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Ein Sonderling

2. Verführerische Lektüre

3. Der neue Praktikant

4. Der Beginn einer Serie?

5. Aktenordner und Aktenzeichen

6. Faszinierende Symptome

7. Vorbereitungen

8. Eine wirklich verschworene Gemeinschaft

9. Bernhards erste Diagnose

10. Ein erster Versuch

11. Mehr Routine?

12. Bernhards zweite Diagnose

13. Amphetamine und Tranquilizer

14. Überfall in trautem Heim

15. Dasselbe Krankheitsbild?

16. Gemälde können inspirieren

17. Auf (alte) Daten sollte man aufpassen

18. Es läuft wie geschmiert!

19. Sehnen und Knochen

20. Ein wirklich perfektes Verbrechen?

21. Gas und Chloroform

22. Endlich Polizeidienst

23. Fortbewegung unmöglich

24. Was Polizisten zu sehen bekommen

25. Albträume

26. Urlaubsfrühstück

27. Das gute, alte Radio

28. Ein Spaziergang

29. Diesmal durfte kein Fehler passieren

30. Re-Traumatisierung

31. Ein Funken Hoffnung

32. Fast alles bedacht

33. Point of no return

34. Prolog

Vorwort

In den ersten beiden Teilen der „Argos“-Trilogie, „Argos erwacht. Er weiß alles von Dir.“ und „Argos – Reloaded“, lag der Fokus auf den psychischen Erkrankungen der Opfer. In dem nun vorliegenden dritten und damit abschließenden Teil, liegt der Fokus diesmal auf der Persönlichkeitsstruktur des Täters und dessen psychischer Abweichung von der Norm. Er zeigt in diesem Psychothriller offensichtliche Symptome des Krankheitsbildes des Wahns und der schizoiden Persönlichkeitsstörung, kurz Schizoidie.

Dass die psychische „Erkrankung“ der schizoiden Persönlichkeitsstörung nichts mit Schizophrenie zu tun hat, möchte ich an dieser Stelle besonders betonen. Im Vergleich zur Schizophrenie mit all ihren Ausprägungen (paranoide Schizophrenie, katatone Schizophrenie, hebephrene Schizophrenie, …), ist die Schizoidie äußerst selten. Die sehr geringe Prävalenz von 0,5-1,5 Prozent in der Allgemeinbevölkerung zeigt dies eindrücklich.

Nachfolgend aufgeführte Symptome können, angelehnt an den ICD-10 ohne Anspruch auf Vollständigkeit, möglicherweise auf eine Persönlichkeitsstörung in der Ausprägung der Schizoidie hindeuten:

Einzelgängertum und Kontakthemmung, bevorzugt Aktivitäten die allein durchzuführen sind, Isoliertheit, Distanziertheit und Misstrauen gepaart zum Teil mit Moralismus, emotionale Kühle mit abgeflachtem Affekt und wirken infolgedessen „steif“, sind eher Konfliktmenschen mit schroffem und zugleich überempfindlichem Verhalten, haben eine stark eingeschränkte emotionale (!) Ausdrucksfähigkeit bis hin zur Unfähigkeit warme oder zärtliche Gefühle für andere auszudrücken, wenig bis gar kein Interesse an sexuellen Erfahrungen (problematische Sexualität), Introvertiertheit, Rückzug in eine eigene Phantasiewelt, haben ein hohes Autonomiebestreben, leben meist ohne Partner.

Erschwerend kommt im Fall der Hauptfigur in diesem Roman, Bernhard Bauer, zu der manifesten Persönlichkeitsstörung noch eine weitere psychische Erkrankung hinzu: eine wahnhafte Störung, kurz Wahn. Wenn der Wahn zu Verfolgungswahn wird, wird dies als „paranoider“ Wahn bezeichnet.

Bei den zahlreichen Arten der möglichen Wahnvorstellungen wie sie beim Menschen vorkommen können, wie organisch bedingtem Wahn, Größenwahn, Eifersuchtswahn, religiös motivierter Wahn, und den vielen möglichen weiteren Ausprägungen, ist es auch beim paranoiden Wahn möglich, dass dieser zu einer paranoiden Psychose mutieren kann. Wobei Psychosen zu den wohl schwersten psychischen Erkrankungen von Menschen gezählt werden.

Welchen Einfluss ein Wahn auf das direkte, meist familiäre Umfeld nehmen kann, zeigt beispielhaft die „induzierte“ wahnhafte Störung“. In diesem Fall, werden Symptome von der primär an Wahn erkrankten Person auf eine zuvor psychisch gesunde, nahestehende Person übertragen. Man spricht auch von einer „Folie a deux“ – Zwei im Wahn. Trennt man dieses „wahnsinnige“ Paar, kann es auch wieder zur Rückbildung der Wahnsymptome beim ursprünglich gesunden Partner dieser unguten Zweiergemeinschaft kommen.

Wenn Sie wenig mit Menschen zu tun haben, die psychische Störungen in starker Ausprägung zeigen, werden Sie vielleicht annehmen, dass es „so etwas doch nicht wirklich gibt“. Leider muss ich Ihre Vermutung entzaubern. In jeder Firma, in jedem Amt, in jedem Großraumbüro sitzen Menschen mit mehr oder weniger ausgeprägten psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten.

Vielleicht sagen Sie sich aber auch nach der Lektüre meiner Romane: „Jetzt hat das komische Verhalten meines Arbeitskollegen endlich einen Namen. Jetzt sehe ich die Kollegen mit anderen Augen. Nun sehe ich auch das „schwarze Schaf“ in unserer Familie ganz anders“.

Mein Anliegen als Autor ist es, psychische Störungen mit Hilfe von detailreichen und selbstverständlich durchweg frei erfundenen Erzählungen greifbarer, verständlicher zu machen.

Und vielleicht als Nebeneffekt, auch bei den in Ausbildung oder Studium befindlichen, angehenden Psychologen, Psychotherapeuten, Heilpraktikern für Psychotherapie, psychologischen Beratern und weiteren in diesem Umfeld Tätigen etwas zu bewirken: weg von der reinen „grauen Theorie“ in der psychologischen und psychotherapeutischen Ausbildung, hin zu plastischen Beispielen mit – hoffentlich - dem Effekt des tieferen Verstehens psychischer Erkrankungen.

Bestenfalls gelingt dem Leser nicht nur ein besseres Verständnis von psychischen Störungen, sondern auch das Nachfühlen der Gefühlswelt eines sogenannten „psychisch Erkrankten“. Damit möchte ich letztlich auch für (mehr) Toleranz gegenüber den von psychischen Störungen Betroffenen und nicht zuletzt auch deren Angehörigen werben.

1. Ein Sonderling

Es war Bernhard Bauers dritter Urlaubstag. Erst der dritte, dachte er gelangweilt und stieß einen langen Seufzer aus. Er hasste Urlaub, denn dann fehlten ihm die Struktur und die festgelegten Abläufe seines üblicherweise sehr starr geregelten Arbeitsalltags. Bernhard brauchte diese täglich immer gleiche Routine seiner Arbeitsabläufe, die feste Zeitstruktur und die starren Regeln, Vorschriften, Anweisungen und natürlich die Gesetze, an die er sich halten konnte. Er erfüllte damit wohl viele Klischees, die einem Beamten üblicherweise nachgesagt werden.

Urlaub hingegen fühlte sich für ihn wie Anarchie an. Er wusste in seiner Freizeit, an den Wochenenden oder eben im Urlaub, nichts mit sich anzufangen. Langeweile hasste er so sehr, dass er üblicherweise jede sich bietende Möglichkeit wahrnahm, sich in seine geliebten, einheitlich grünen Akten mit den akkurat beschrifteten Aktenrücken in Normschrift zu vertiefen.

Hätte sein Vorgesetzter nicht darauf bestanden und auf Bernhard immer wieder gebetsmühlenartig eingeredet, endlich mal Urlaub abzubauen, dann wäre er jetzt wohl immer noch in seiner Amtsstube hinter Bergen von grünen Akten.

Wo andere unter dem Anblick von schier endlosen Regalen voller Akten stöhnen würden, fühlte sich Bernhard wohl und sicher. Je voller die Regale mit den Akten waren, desto mehr gab ihm das die Sicherheit, dass die Arbeit im Amt nie ausgehen würde und dass er bis zu seiner Pensionierung in seinem vertrauten Umfeld bleiben konnte.

Ganz besonders liebte er die dunkelgrüne Farbe der amtlich vorgeschriebenen Aktenordner. Diese Farbe beruhigte ihn, denn es war für ihn ein Symbol der Kontinuität. Er war sich sicher, dass es den Staat immer geben würde. Und damit auch die Akten, die die unausweichlichen Vorgänge der Staatsmacht über den Bürger dokumentierten. Bis die seit Jahren von Politikern vollmundig angekündigte Digitalisierung in den Amtsstuben Einzug halten würde, würde er längst in Pension sein; da war er sich sicher.

Seit über dreißig Jahren war er nun beim Amtsgericht als Sachbearbeiter tätig. Die Zeit, als er sich als „Beamter auf Probe“ bewähren musste, war für ihn die schlimmste.

Da er nicht wusste, ob er als Beamter am Ende der Probezeit auch übernommen werden würde, war seine innere Anspannung zu jener Zeit durchgehend hoch. Ihm fehlte während dieser für ihn schier endlos erscheinenden Zeit der Bewährung die Sicherheit, nach der er sich doch so sehr sehnte.

Da er auch jegliche Geselligkeit oder gar unnötigen Kontakt zu Kollegen möglichst vermied, war er schnell als „komischer Kauz“ unter den Kollegen in Verruf geraten. Bis heute gilt er als Sonderling, der extrem viel Zeit am Arbeitsplatz verbringt. Als er schließlich irgendwann nicht nur fest in den Staatsdienst übernommen, sondern später auch Beamter auf Lebenszeit wurde, fiel eine wirklich große Last von ihm ab. „Jetzt bin ich in Sicherheit“, sagte er in jener Zeit einmal laut, als er im Schlaf hochschreckte.

Das Amtsgericht war sein Lebenssinn, seine Erfüllung. Wo andere verbeamtete Staatsdiener gelangweilt ihr Arbeitspensum abspulten, war für Bernhard Bauer jede neue Akte, jeder neue Fall ein Eintauchen in das Leben anderer. Sein Aufgabengebiet war die amtliche Betreuung von Erwachsenen und hier das Spezialgebiet Betreuung von psychisch kranken Erwachsenen.

Beruflich war er in Bezug auf seine Karriere am Ende der Laufbahn in dieser Außenstelle des Amtsgerichts von Fürstenfeldbruck angekommen. Er war sehr stolz auf seinen erreichten Titel: Hauptsekretär im Amtsgericht. Für einen noch höheren Posten in der Beamtenlaufbahn hätte er allerdings ein Studium nachweisen müssen. Doch daran hatte er Zeit seines Lebens kein Interesse gezeigt.

Da Bernhard mittlerweile zweiundsechzig Jahre alt war und keinerlei weitere berufliche Ambitionen hatte, fühlte er sich mit dem beruflich Erreichten durchaus wohl. Er hatte ein Einzelbüro, dadurch kaum Kontakt zu den Kollegen und er vermied auch, soweit dies möglich war, direkten Kontakt mit Betreuern und Betreuten, indem er möglichst viel über das Telefon, die Briefpost, die E-Mail oder das gute alte Fax-Gerät regelte.

Bernhard vermisste sein Einzelbüro bereits jetzt, am dritten Tag seines Urlaubs. „Es gab doch noch so viele unerledigte Akten, wie kann ich da nur Urlaub machen?“, fragte er sich halblaut. Dass er heimlich einige seiner geliebten Akten mit nach Hause genommen hatte, damit er auch in seinem Urlaub das Gefühl haben konnte, am Leben anderer „nach Aktenlage“ teilzuhaben, empfand er als absolut legitim. Was es natürlich keinesfalls war, denn der Inhalt von Betreuungsakten unterliegt durchweg der Geheimhaltung.

Bernhard übersah dies für seine eigenen Zwecke geflissentlich, denn schließlich waren Moral oder Gewissen eher etwas für „Weicheier“, wie er meinte. Ob er in den intimen Angaben und Daten seiner „Kunden“ - wie er seine Fälle nannte - in seiner Amtsstube oder zu Hause „herumschnüffelte“, machte für ihn keinen Unterschied.

Er saß innerlich angespannt auf dem Balkon seiner Drei-Zimmer-Eigentumswohnung im ersten Stock eines anonymen Mehrfamilienhauses, nahm eines seiner gerade erst neu erstandenen Bücher zur Hand und hoffte, auf andere Gedanken zu kommen.

Bernhard hatte an seinem ersten Urlaubstag beim Online-Händler Amazon zwei Bücher bestellt. In eine Buchhandlung zu gehen, kam für ihn nicht in Frage, schließlich müsste man dann ja zwangsweise mit anderen Menschen sprechen; das wollte er unbedingt vermeiden, sofern irgend möglich. Einerseits wollte er so wenig Kontakt mit anderen Menschen wie möglich, andererseits nutzte er die Meinungen anderer Leser durchaus, indem er die bestellten Bücher nach deren guten Bewertungen und positiven Rezensionen aussuchte.

Immerhin musste er die Leute dann nicht treffen und mit ihnen sprechen – das wäre ihm wahrlich ein Gräuel. Wenn er überhaupt mit jemandem sprach, so waren es Selbstgespräche, die er meist halblaut oder leise flüsternd führte.

Üblicherweise führen Menschen ihre Selbstgespräche lautlos, sie finden sozusagen in deren Kopf statt. Doch Bernhard hingegen sprach seine Gedanken oftmals tatsächlich laut aus. Aber nur, wenn er alleine war. Die Worte seiner Selbstgespräche formten selten ganze Sätze. Manchmal bestanden diese Sätze aber auch nur aus Wortfetzen. Diese zum Teil künstlich wirkenden Wörter kreierte er spontan. Vor allem, wenn er unter Stress war.

„Qwa-wa-uhle“ oder „Do-lauder“ waren solche spontanen Wortgebilde, die für Außenstehende scheinbar keinerlei Bedeutung hatten. Sehr wohl allerdings für Bernhard, denn damit konnte er seine oft vorhandene innere Anspannung mindern, erträglicher machen.

Neben den scheinbar neu erfundenen Wörtern sprach er auch Wörter aus, die er mit dem zuvor Gehörten vermischte. Hörte er zum Beispiel in den Nachrichten etwas über islamistische Terroristen, die „Allahu akbar“ (Gott ist groß) in die Fernsehkamera riefen und der Reporter sprach gleichzeitig von dem „Nutzen“ einer Deeskalationsstrategie, so formte Bernhard daraus das daran angelehnte Wortgebilde „Nutzna-Mach-allah“.

Damit ging diese Wortschöpfung in seinen Sprachschatz über und er nutzte es für zukünftige Situationen, in denen er eine innere Anspannung spürte. In Gegenwart anderer Menschen benutzte er diese Worte nicht laut, sondern nur in Gedanken, denn er schämte sich vor anderen Mitmenschen sehr dafür. Scham war das ihm seit seiner Kindheit nur zu vertraute Gefühl.

Die zwei nun vor ihm liegenden Bücher waren Teil eins und zwei einer dreiteiligen Buchserie. Da beide Teile in den Leserbewertungen jeweils viele Bewertungssterne gesammelt hatten, entschied sich Bernhard gleich beide zu ordern.

Der Titel des ersten Teils hieß: „Argos erwacht. Er weiß alles von Dir“, der des zweiten Teils: „Argos – Reloaded“.

2. Verführerische Lektüre

Bernhard Bauer liebte Bücher. Ganz speziell Psychothriller. Sein Bücherregal war voll von Büchern dieses Genres. Darunter waren unter vielen anderen: Tess Gerritsens „Blutzeuge“ und „Die Chirurgin“ ebenso wie Thomas Harris‘ „Das Schweigen der Lämmer“ und „Hannibal Rising“.

Alle bisherigen Psychothriller, die er gelesen hatte, waren spannend, fesselnd und für ihn meist so faszinierend, dass er sie oftmals in wenigen Tagen durchgelesen hatte. Beim Lesen dieser Art von Büchern spürte er meist diesen Kick, den man verspürt, wenn man spannende, ja erschreckende Vorgänge aus sicherer Distanz erlebt.

Bernhard hatte einmal von den Untersuchungen zum Konsum von Artikeln der Regenbogenpresse durch ältere Frauen gelesen. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, warum gerade ältere Frauen von Zeitschriften wie „Das goldene Blatt“, die „Bunte“ oder „Die Aktuelle“ fasziniert waren.

Bei den wissenschaftlich fundierten Untersuchungen war ein psychologischer Effekt entdeckt worden, der Bernhards Erleben während der Lektüre eines spannenden Thrillers exakt entsprach. Der Adrenalinspiegel der Probandinnen stieg immer dann an, wenn sie eine Seite ansahen, die von Problemen der „Schönen und Reichen“ berichtete.

Große Schlagzeilen mit Wörtern wie „Scheidung – das endgültige Aus!“, „Heimliche Sex-Affäre“, „Peinlicher Auftritt“ oder „Schwanger – der Schock des Jahres!“, ließen den Blutdruck und die Hauttemperatur der Probanden regelmäßig ansteigen. Umgangssprachlich würde man das vermutlich leichtfertig als „sensationslüstern“ bezeichnen.

Aber wissenschaftlich war es ein nachweislich süchtig machender Effekt: das Teilhaben an den Sorgen, dem Unglück von Prominenten und Royals vom sicheren Wohnzimmersessel aus löst die Lust nach immer mehr Aufregung aus, nach dem immer größeren Kick.

Woche für Woche konsumierten also Heerscharen von älteren Damen diese Blätter, um ihre regelmäßige Portion an Aufregung in sicherer Umgebung und damit den Adrenalin-Kick im heimischen Sessel zu bekommen. Ja, so fühlte sich auch Bernhard, wenn er seine Lieblingslektüre las. Je blutiger und grausamer der Roman, desto stärker war der Kick für ihn!

Alle Krimis, Psychothriller oder Horrorbücher, die er bisher gelesen hatte, waren für ihn zwar oft sehr realitätsnah, aber eben noch als Fiktion erkennbar. Kreiert als Erfindung des jeweiligen Autors. Vielleicht nicht immer sofort als Phantasiegebilde des Verfassers erkennbar, aber spätestens nach Abschluss der jeweiligen Lektüre wurde klar, dass alles nur erfunden war.

Bernhard führte ab und zu auch längere Selbstgespräche. Zum einen, um sich an den besonders spannenden oder grausigen Stellen eines Buches selbst zu beruhigen mit Worten wie: „Ist ja alles nur erfunden“, oder „Gott sei Dank ist das nur ein Roman – in echt könnte das so nie stattfinden“.

Auch wenn er mitunter ganz in den einen oder anderen Roman „eintauchte“, so lösten sich die Anspannung und die zugehörigen Emotionen nach dem Weglegen des Buches nach einigen Minuten auch wieder. Manchmal gab es aber auch einen Widerhall in seinen Träumen und er schreckte dann aus dem Schlaf hoch. Doch nach ein bis zwei Nächten schien sich sein Kopfkino regelmäßig wieder zu beruhigen.

Doch das sollte sich mit dem Buch ändern, das er jetzt in Händen hielt und dessen erste Zeilen er gerade zu lesen begann.

„Verdammt, das sind doch Parallelen zu meiner Arbeit, die da beschrieben werden“, entfuhr es ihm. Im ersten Kapitel des Buches „Argos erwacht“ wurde beschrieben, wie die Krankenakten von psychisch auffälligen Kindern in die Hände eines Psychopathen gelangten. Bernhard war überzeugt, dass er selbst natürlich kein Psychopath war. Aber auch er sichtete beruflich regelmäßig Krankenakten, psychopathologische und psychiatrische Gutachten.

In Bernhards Arbeitsstelle, dem Amtsgericht von Fürstenfeldbruck, waren vor einigen Jahren einmal mehrere Akten verschwunden. Vermutlich waren sie von einem Betreuer oder einem von Betreuung Betroffenen entwendet worden. Es konnte nie aufgeklärt werden, wer diese Akten des Betreuungsgerichts mit durchaus prekären Inhalten zum Gesundheitszustand der betreuten Personen gestohlen hatte. Teilweise enthielten die amtlichen Aktenordner detaillierte psychiatrischen Gutachten, die intime und oftmals sehr beschämende Details enthielten.

Von jenem Zeitpunkt an wurde eine strenge Vorschrift zum Verschließen der Amtszimmer erlassen. Bei jedem Verlassen des Amtszimmers musste Bernhard nun die Türe seines Büros abschließen, was ihm sehr entgegenkam: damit konnte keiner seiner Kollegen ohne sein Wissen in sein Reich eindringen und eventuell herumschnüffeln.

Ähnlich wie im Buch „Argos erwacht“, in dessen Handlung die Aufzeichnungen eines Psychiaters abhandenkommen, kümmerte sich bei dem Vorfall damals im Amtsgerichtsgebäude nach einiger Zeit ebenfalls niemand mehr um den Verbleib der abhandengekommenen Dokumente.

Doch es sollte nicht die einzige Parallele zwischen Bernhards Arbeitsstelle und den Protagonisten in „Argos erwacht“ bleiben. Bereits bei der ersten Schilderung einer Entführung einer Frau, der nachfolgenden Folter und schließlich des grausamen und kaltblütigen Mordes durch den Serienmörder Alex im Buch, sprach Bernhard zu sich: „Das kenne ich doch alles – wie kann das in einem Roman genau so beschrieben sein? Das stand so, oder so ähnlich in einem Polizeibericht zu einer Betreuungs-Akte, die ich vor längerer Zeit zu bearbeiten hatte. Das ist doch unglaublich. Es kann doch nicht so einfach sein, einen Menschen zu entführen und dann nach Belieben zu quälen und letztlich zu töten?“

Bernhard war einerseits fasziniert und gleichzeitig angewidert von dem, was er da las. Andererseits waren die exakt geplanten Schritte der Hauptfigur im Buch so authentisch für Bernhard, dass er sich nicht nur sicher war, dass er bei jedem Schritt der beschriebenen Tatausführung dasselbe getan hätte wie der „Romanheld“, sondern erschreckenderweise auch ähnliche Emotionen verspürte. Und das, obwohl er doch so selten Emotionen verspürte.

Bernhard spürte körperlich das Gefühl der Macht über einen anderen Menschen, während er die Zeilen im Buch las, die die Ohnmacht des Opfers beschrieben. Er spürte sogar so etwas wie die Lust am Töten, als im Buch detailliert beschrieben wurde, wie das erste Opfer grausam und kaltblütig getötet wurde. Plötzlich erschrak Bernhard zutiefst über sich und die Gefühle, die er empfand.

Er nahm seinen beschleunigten Herzschlag an den Handgelenken und am Hals wahr. Er spürte, dass es ihm nicht nur „heiß“ geworden war, sondern dass er Schweiß auf der Stirn hatte. So oder so ähnlich musste das wohl für die älteren Damen sein, wenn sie die marktschreierischen Schlagzeilen der Boulevardpresse lasen.

Dass er selbst jedoch körperlich so stark auf die Schilderungen in „Argos erwacht“ reagierte, war ihm unheimlich. Aber es war auch irgendwie lustvoll, aufregend und, trotz aller Überraschung über seine heftigen Reaktionen, auch geil. Erst jetzt stellte er fest, dass er eine Erektion hatte.

Er legte das Buch mit gebührendem Respekt zur Seite und betrachtete es eingehend aus einer Armlänge Entfernung. Er musterte das Cover und erkannte hinter dem darauf abgebildeten Scheunentor ein ängstlich wirkendes Auge.