Argylle - Elly Conway - E-Book

Argylle E-Book

Elly Conway

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Beschreibung

Vergessen Sie Bond! Hier kommt Argylle, Aubrey Argylle! – Das Buch aus dem neuen Blockbusterfilm von Matthew Vaughn!

Der russische Milliardär Wassili Federov träumt davon, Russland wieder zu alter Größe zurückzuführen. Als der alte und unbeliebte Präsident zurücktritt, wähnt er seine Zeit gekommen, das Ruder zu übernehmen. Doch um das russische Volk auf seine Seite zu ziehen, bedarf es eines symbolischen Akts. Was wäre, wenn es Federov gelänge, den Russen einen einmaligen Kunstschatz zurückzugeben? Das Bernsteinzimmer! Frances Coffey, die legendäre Chefin des CIA, weiß, dass sie Federovs Machtstreben Einhalt gebieten muss. Sie muss das Bernsteinzimmer vor dem Russen finden. Doch dafür benötigt sie einen ganz besonderen Spion: Argylle – mit einem Rucksack voller Probleme und einer nicht ganz reinen Vergangenheit, aber mit den einzigartigen Fähigkeiten, die benötigt werden, um es mit einem der mächtigsten Männer der Welt aufzunehmen …

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Buch

Der russische Milliardär Wassili Federow träumt davon, Russland wieder zu alter Größe zurückzuführen. Als der alte und unbeliebte Präsident zurücktritt, wähnt er seine Zeit gekommen, das Ruder zu übernehmen. Doch um das russische Volk auf seine Seite zu ziehen, bedarf es eines symbolischen Akts. Was wäre, wenn es Federow gelänge, den Russen einen einmaligen Kunstschatz zurückzugeben? Das Bernsteinzimmer! Frances Coffey, die legendäre Chefin der CIA, weiß, dass sie Federows Machtstreben Einhalt gebieten muss. Sie muss das Bernsteinzimmer vor dem Russen finden. Doch dafür benötigt sie einen ganz besonderen Spion: Argylle – mit einem Rucksack voller Probleme und einer nicht ganz reinen Vergangenheit, aber mit den einzigartigen Fähigkeiten, die benötigt werden, um es mit einem der mächtigsten Männer der Welt aufzunehmen …

Autorin

Elly Conway ist die Autorin des mit Hochspannung erwarteten Spionagethrillers Argylle. Sie lebt in den USA und arbeitet derzeit am nächsten Band der Serie über den Superspion Aubrey Argylle.

Elly Conway

Argylle

Thriller

Deutsch von Michael Krug

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Argylle bei Bantam Press, London.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © Marv Quinn Holdings Limited 2024

First published as Argylle in 2024 by Bantam Press, an imprint of Transworld. Transworld is part of the Penguin Random House group of companies.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Penguin Random House UK

Umschlagdesign: © MinaLima

Umschlagmotiv U1: © 2024 Marv Studios Limited

StH · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-29972-9V001

www.blanvalet.de

Für Mom und Dad, die mich jeden Schritt des Wegs begleitet haben

»Die Frauen lachten und weinten, die Menge jauchzte, denn in dem Augenblick zeigte Quasimodo eine eigentümliche Schönheit. Er, die Waise, das Findelkind, der Auswurf der Menschheit, war schön.«

Victor Hugo, Der Glöckner von Notre-Dame

»Das Bernsteinzimmer repräsentiert für Russen viele der Dinge, die wir verloren haben.«

Iwan Sautow, Leiter des Katharinenpalastmuseums (zitiert in Forbes Life, »Mysteries of the Amber Room«, 29. März 2004)

Anmerkung der Autorin

Vor einigen Jahren habe ich einen schrecklichen Unfall erlitten, der mein Leben zutiefst erschüttert hat. Während ich mich erholte, suhlte ich mich in Selbstmitleid. Um mich von dem entsetzlichen Ereignis abzulenken, haben meine Eltern mir Filme und Bücher gebracht. Eines Morgens ist meine Mutter mit einem Fotobuch voller wunderschöner Landschaften aufgetaucht. Darunter befand sich eine Gebirgskette im südlichen Polen. Sie hatte keine Bedeutung für mich, trotzdem habe ich ein Ziehen verspürt, während ich sie betrachtet habe. Und in jener Nacht in einem Fiebertraum erschien mir Aubrey Argylle, bereits vollständig ausgebildet, samt Nehru-Jacke, Bürstenhaarschnitt, tief sitzender Traurigkeit und dem Drang, in Ordnung zu bringen, was die Welt immer wieder verbockt. Beim Aufwachen hatte ich ihn im Kopf, als wäre er zur Tür hereingeschlendert, hätte sich die Schuhe von den Füßen gestreift und es sich bei mir gemütlich gemacht. Ich weiß, dass Schriftsteller die Augen verdrehen, wenn Kollegen sagen: »Das Buch hat sich wie von selbst geschrieben.« Aber in dem Fall war es wirklich so (bitte hasst mich dafür nicht). Indem ich es verfasst habe, sah ich einen neuen Sinn im Leben, und von dem Zeitpunkt an begann meine Heilung. Also muss ich mich bedanken – beim Fotografen jener Aufnahme, wer es auch immer gewesen sein mag, bei meinen Eltern und vor allem bei Aubrey Argylle, weil er mich zu mir zurückgeführt und mich daran erinnert hat, dass wir das nötige Werkzeug, um uns in Ordnung zu bringen, manchmal von Anfang an in uns tragen.

Elly Conway, 2023

Prolog

Nur wenige Orte auf der Erde sind trostloser als Südostsibirien an einem beißend kalten Morgen im März. Die stacheligen Kiefernwälder der Taiga überziehen den Boden wie ein grünes Nagelbett. Hier, bei einer Kälte von minus fünfundzwanzig Grad, hört man kein Vogelgezwitscher. Nur das Tosen des Winds und gelegentlich das klägliche, ferne Geheul eines Wolfs.

Aber ein Geräusch durchbricht die Totenstille, ein leises, anschwellendes Rumpeln. Dann funkelt auf einmal etwas in der frühmorgendlichen Sonne. Ein Hochgeschwindigkeitszug. Die spitze Nase pflügt unerbittlich durch die eisige Luft. Der dichte Wald weicht sumpfigen Ebenen und windgepeitschter Tundra.

In den Standardwaggons liegen Menschen auf schmalen Pritschen und schlafen mit den Gesichtern zur Wand den Wodkarausch der vergangenen Nacht aus. Oder sie sitzen beisammen auf den unteren Betten, essen Piroschki und betrachten durch verschmierte Fenster die Landschaft. Am hinteren Ende des silbrigen Strangs jedoch befindet sich ein Waggon aus Gold mit den Initialen WF und IF, in kaiserlichem Violett miteinander verflochten.

Die Träger der Initialen – bekannt als Wassili und Irina Federow – sind alles andere als miteinander verflochten. Tatsächlich ist schwer vorstellbar, dass sich zwei Personen einen so beengten Raum mit solch großer Distanz zueinander teilen können. Irina sitzt auf einem Sessel mit hoher Rückenlehne, eigentlich eher ein Thron. Ihr linker Fuß ruht in einer Porzellanschale voller Rosenöl. An der Oberfläche treiben Blütenblätter. Auf dem Boden vor ihr kniet eine Frau in einem Trägerkleid und schrubbt kräftig ihre rechte Fußsohle. Dafür benutzt sie Seetang, kurz vor der Abfahrt des Zugs frisch aus dem Hafen in Wladiwostok geerntet.

Irina hält eine Zeitschrift in der Hand, in der sie desinteressiert blättert. Der Zug braucht weitere sechs Tage nach Moskau. Mobilfunkempfang ist trotz der versprochenen Spitzentechnologie praktisch nicht vorhanden. Sie kann weder mit ihren Freundinnen noch mit ihrer Schwester telefonieren. Irina kann ihnen nicht berichten, dass die Gefangenschaft in diesem goldenen Waggon bei ihrem Ehemann den Wunsch in ihr weckt, sich die Haut vom Leib zu kratzen. Sie kann ihnen nicht erzählen, wie sehr seine leise Stimme an ihren Nervenenden zerrt und dass sie sich wie ein aufgespießter Schmetterling fühlt, wenn er den Blick seiner farblosen, leblosen Augen hinter der randlosen Brille auf sie heftet.

Selbst wenn sie mit ihnen reden könnte, was würden sie schon sagen? Höchstens, dass man Irina davor gewarnt hatte, einen Außenstehenden zu heiraten, obwohl sie reichlich Auswahl unter den alten russischen Familien gehabt hätte. Generationen, die man so mühelos zurückverfolgen konnte wie die Adern am eigenen Handgelenk. Oder dass sie sich nach ihrer unglücklichen Wahl damit trösten sollte, seine Milliarden zu verprassen. Für ein Ferienhaus am Waldaisee. Ein Apartment in Knightsbridge. Eine Villa an der Côte d’Azur. Verschwenderische Einrichtung. Eine neue Jacht. Mehr Fettabsaugungen. Aufwendigere Haarverlängerungen. Mittlerweile hat sie so viele Operationen hinter sich, dass sie vor dem Spiegel das eigene Gesicht kaum noch erkennt. »Vorsicht«, hat er sie gewarnt, als sie das letzte Mal aus der Privatklinik in Beverly Hills zurückgekommen ist. Er hat am Schminktisch hinter ihr gestanden und die noch empfindliche Haut ihrer Wangen zurück zum Haaransatz gezogen. »Wenn du sie noch weiter dehnst, reißt sie wie eine alte Papiertüte.«

Die Kosmetikerin, die mittlerweile die rauere Haut an der Ferse mit einem Bimsstein bearbeitet, drückt zu fest zu. »Pass gefälligst auf!« Irinas Fuß schnellt vor. Die Frau verliert das Gleichgewicht und muss sich mit der Hand abstützen. Dabei stößt sie gegen die Porzellanwanne, aus der ein kleiner Schwall Wasser auf den weichen Teppich schwappt. »Idiotin!«

Auf der anderen Seite des Eisenbahnwagens, so weit wie möglich entfernt, schaut Irinas Ehemann auf. Falls ihn die Störung wütend, besorgt oder auch nur neugierig macht, lässt es sich nicht in seinen platten, unscheinbaren Zügen ablesen. Er sitzt am Fenster auf einem Sessel, der genauso aussieht wie der seiner Frau. Vor ihm steht ein Schreibtisch aus poliertem Holz. Darauf liegt ein Laptop in der Größe eines kleinen Aktenkoffers. Er geht gerade seine Notizen für die live ausgestrahlte Fernsehdebatte durch, an der er nach der Ankunft in Moskau teilnehmen wird. Natürlich hätten sie auch mit einem seiner beiden Privatjets fliegen können. Aber die demonstrative Reise durch von den meisten Politikern ignorierte Teile Russlands gehört mit zur Kampagne. Sie soll den enteigneten Heerscharen in den ländlichen Provinzen die Botschaft vermitteln, dass sie nicht vergessen wurden, jedenfalls nicht von ihm. So will er sich die populistischen Stimmen eines jeden unzufriedenen Bauern sichern.

Anfangs hatte er sich gegen den goldenen Waggon gewehrt. Die letzten beiden Winter in der Gegend waren hart. Die Menschen hungern. »Ich will mir nicht vorwerfen lassen, mit meinem Reichtum zu protzen«, hat er zu seinem Stabschef gesagt.

Der Mann zog darüber die Augenbrauen hoch. »Bei allem Respekt, Sie sind mit dem Fahrschein eines Bürgerlichen unterwegs zur Macht«, erwiderte er. »Der Mann, der aus dem Nichts die Welt erobert. Sie müssen für die Leute all das verkörpern, was sie nicht haben. Warum sollten sie sich von einem Mann vertreten lassen wollen, der nichts hat, wonach sie streben? Einem Mann, der immer noch genauso ist wie sie?«

Wassili Federow hat keinen Aufwand gescheut, um seine russische Herkunft zu belegen. Er hat Hunderte Millionen in technische Infrastruktur und nationale Belange investiert. Außerdem hat er sich ein Bürgermeisteramt gekauft und mit seiner bestens ausgebildeten Privatmiliz gnadenlos und systematisch auf den von ihm regierten Straßen aufgeräumt. Er hat die Tochter des Präsidenten geheiratet und engagiert sich für russische Kultur, finanziert Filme, Theaterstücke und Tanzgruppen, die ihn zu Tode langweilen, wenn er sie sich mehr als eine Minute ansehen muss. Stundenlang hat er Sprachunterricht über sich ergehen lassen, wodurch er Russisch mittlerweile fließend und nahezu akzentfrei beherrscht. Trotzdem verbleiben Probleme wie der goldene Waggon, die ihm vor Augen führen, dass er immer noch ein Außenseiter ist, ihn daran erinnern, dass er Christopher Clay nicht vollständig hinter sich gelassen hat.

Der Zug rast durch Zeitzonen – insgesamt acht, bis er sein Ziel erreicht. Sie haben längst den Baikalsee passiert, den größten und tiefsten Süßwassersee der Welt, ebenso das Arbeitslager Gulag Perm-36, wo im Verlauf der Jahre schon so viele Dissidenten festgehalten worden sind. Für sie empfindet Federow wenig Mitgefühl. Als russisches Findelkind, leider von Amerikanern adoptiert und im Mittleren Westen aufgewachsen, wo er sich immer als Außenseiter, als Freak gefühlt und nach seinem Vaterland oder vielleicht auch nur nach seiner Mutter gesehnt hat, fehlt ihm die Zeit für Menschen, die kritisieren und destabilisieren.

Der Zug hält an verschiedenen Stationen. An jeder steht neben den Straßenhändlern und den zum Einsteigen bereiten Reisenden eine Gruppe von Menschen in der Kälte, die Frauen mit Hosen unter Kleidern unter Pullovern unter Mänteln, die Männer mit vom eisigen Wind geröteten, wunden Wangen. Sie warten auf ihn. Wollen einen flüchtigen Blick auf den goldenen Waggon und den Mann darin werfen. Auf ihn, der ihnen Veränderungen versprochen hat. Den Selfmade-Milliardär, der mit nichts angefangen hat, eigentlich sogar mit weniger als nichts, und der sein Vermögen in Amerika gemacht hat, es aber in Russland auszugeben gedenkt. Nicht nur in den Städten mit den Palästen der Oligarchen, sondern auch in den trostlosen Industriekaffs und den vernachlässigten ländlichen Dörfern. Er ist der Mann, der sagt, was sie hören wollen – dass Masseneinwanderung die Ressourcen belastet und die russische Identität verwässert. Dass die Ballungszentren das Land leer saugen und nichts für alle anderen übrig lassen. Dass die Sowjetunion stärker wiederaufgebaut werden und all jene Menschen aufnehmen kann, deren Herzen noch russisch sind, obwohl sie vielleicht unter estnischer oder ukrainischer Flagge leben müssen.

Aber die Fragezeichen bleiben immer, nicht wahr? Der Akzent, den er so bemüht zu verbergen versucht. Die weichen Hände und sauberen Fingernägel. Der Anzug. Die randlose Brille. Er passt hier nicht ins politische Narrativ. Federow stammt weder von altem Geldadel ab noch ist er durch die Ränge des russischen Militärs aufgestiegen. Deshalb sind die Leute gekommen, um ihn mit eigenen Augen zu sehen.

An jeder Station muss er sich an der Tür des Zugs präsentieren. Irina muss ihre dunkle Brille und ihr verhaltenes Lächeln aufsetzen, das wie ein Schlitz in ihrem gestrafften Gesicht wirkt. Und sie müssen beide winken. Manchmal wirft er auch kleine Geschenke in die Menge – Bleistifte mit seinem Namen in Goldprägung, Süßigkeiten für die Kinder.

Mittlerweile sind sie durch den Ural und passieren Jekaterinburg, wo Zar Nikolaus II. und seine Familie umgekommen sind. Auch dafür kann Federow kein Mitgefühl aufbringen. Alles hat ein Ablaufdatum. Als sie sich Moskau nähern, wird die Landschaft draußen vor dem Fenster industrieller – qualmende Fabriken, riesige Lastwagen, graue, von Wohnblöcken umringte Ortschaften.

Irina setzt sich an den Schminktisch und frischt ihr Make-up mit einer dicken, weichen Bürste auf.

»Vergiss nicht, das Armband zu tragen«, erinnert Federow sie.

Damit hat er an diesem Tag das erste Mal mit ihr gesprochen. Sie verzieht das Gesicht, obwohl man es ihrem Spiegelbild kaum anmerkt – dank der Botox-Injektionen, die ihr Privatarzt ihr alle drei Monate verabreicht.

Sie findet das Armband zugleich faszinierend und abstoßend, obwohl sie weiß, dass es Millionen wert ist. Es besteht aus schwerem Gold und strotzt vor Diamanten, außer an einer Stelle, in die willkürlich Punkte und Schnörkel eingraviert sind, aus denen sie nicht schlau wird. »Man nennt es das Armband der Treue«, hat ihr Ehemann gesagt, als er es ihr schenkte. Für sie fühlte es sich wie eine Handschelle an, als er es ihr zum ersten Mal angelegt hat. Sie war entsetzt, als sie innen eingraviert die Initialen NC entdeckt hat. Etwas aus zweiter Hand, das an der Haut einer anderen Person angelegen hat, ist ihr ein Gräuel. Aber Federow bleibt auf die ihm eigene Weise beharrlich. Obwohl er die Stimme nicht erhebt, breitet sich eine zarte Gänsehaut über ihren Körper aus.

Sie legt das Armband an.

Irina ist die Tochter eines Präsidenten und praktisch wie eine Hochadelige in einem Haus aufgewachsen, in dem ein Diener herbeieilt, sobald man das Glas zum Trinken erhebt, und den Tisch abwischt, bevor man es wieder abstellen kann. Sie allein hat diesen Mann ausgewählt, Wassili Federow alias Christopher Clay. Deshalb kann sie nicht zugeben, dass ihr vor ihrem Ehemann der leisen Töne und seinen weichen Händen graut. In ihm klafft ein schwarzes Loch und sie hat keine Ahnung, wie tief es reicht.

»Hat er je Hand an dich gelegt?«, hat ihre Schwester einmal gefragt, weil ihr aufgefallen war, wie Irina jedes Mal zusammenzuckte, wenn er sich ihr näherte. Und als Irina den Kopf schüttelte, meinte ihre Schwester: »Wahrscheinlich, weil er Angst vor unserem Vater hat.« »Nein«, stellte Irina richtig. »Weil er es nicht ertragen kann, mich zu berühren.«

Kurz vor der Hauptstadt verstaut Federow seinen tragbaren Computer und geht zu seinem Koffer, der offen auf dem Bett liegt. Irina beobachtet, wie seine Hände mit den sauberen, perfekt geformten Fingernägeln in die Tasche an der Seite greifen. Sie weiß, wonach er sucht. Diese Besessenheit ihres Gatten ekelt sie an. Sie kennt Männer mit Fetischen für Füße, für Bondage, für unaussprechliche sexuelle Praktiken. Aber auch dieser Spleen ihres Ehemanns verursacht ihr eine Gänsehaut. Der einst blaue Stofffetzen ist mittlerweile grau und speckig vor Alter und Abnutzung. Seine einzige Verbindung zu der Mutter, die ihn nicht nur als Säugling verstoßen hat. Nach der Geburt hat sie ihn in einer Telefonzelle abgelegt, eingewickelt in eine Decke, von der nur noch dieser elende Fetzen übrig ist. Erneut abgewiesen hat sie ihn als jungen Amerikaner, als dieser noch an Happy Ends geglaubt hat. Er war nach Russland geflogen und hatte sie in einem Hochhaus am Stadtrand von Nowosibirsk im Südwesten Sibiriens aufgespürt, wo sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Danach hatte er halb mit der Ablehnung seines Vaters gerechnet, eines ehemaligen KGB-Offiziers. Dennoch war sie tief in sein Mark eingedrungen, hatte sich darin festgesetzt wie ein Geschwür und seine Emotionen abgestumpft.

All das hat er ihr zu Beginn ihrer Ehe erzählt, als noch ein gewisses Einverständnis zwischen ihnen herrschte. Bevor Geheimnisse zu Waffen wurden, die sie gegeneinander einsetzen. Irina hätte auf ihren Vater hören sollen. Die Herkunft ist wichtig. Die Reinheit des Bluts, das durch die Adern fließt, spielt eine Rolle. Wassili Federow steht womöglich kurz davor, der mächtigste Mann des Landes zu werden. Er könnte, wie die New York Times vergangene Woche kommentiert hat, zur größten aktuellen Bedrohung der Sicherheit der Welt werden. Aber tief in seinem Inneren wird er immer beschädigt bleiben.

Auf dem Bahnsteig des Moskauer Bahnhofs Jaroslawski erwartet sie ein Begrüßungskomitee. Nicht Irinas Vater Wladimir Sokolow, sondern Anführer landesweiter rechtsextremer Bewegungen, unter anderem der Russischen Nationalen Einheit und der Bewegung gegen Illegale Einwanderung. Erfreut stellt Federow fest, dass sich auch prominente Vertreter der Freiheitlichen Partei Österreichs, der Lega Nord aus Italien und sogar von Vlaams Blok aus Belgien eingefunden haben.

Er sieht sich um, hält Ausschau nach dem Gesicht, das er am dringendsten braucht. Dem, das seinem Streben nach ultimativer Macht, der Präsidentschaft des großartigsten Landes der Welt am meisten Legitimität verleihen wird. Der Mann ist nicht da. Federow knirscht so verbissen mit den Backenzähnen, dass seine Wangen zucken. Er hat so viel investiert, alles.

»Wo ist er?«, zischt er Sergei Denisow zu. Denisow zuckt mit den Schultern. Der kleine, stämmige Mann hat sich die Haare verpflanzen lassen, wodurch sie wie neues Gras aus der Kopfhaut sprießen. Kastanienbraun gefärbt bilden sie einen Kontrast zu den dichten schwarzen Brauen. Er ist Federows rechte Hand und hat ein fleischiges Gesicht, in dem die dunklen Augen wie Kieselsteine tief in den Höhlen sitzen. Federow kann ihn nicht leiden, aber er braucht Denisows Ruf als harter Kerl mit einer langen militärischen Laufbahn. Die westliche Presse hat ihn nach den in Tschetschenien unter seinem Kommando begangenen Gräueltaten den »Schlächter von Grosny« getauft. Aber mit Angst geht Respekt einher und Denisows Leumund bildet ein gewisses Gegengewicht zu den Fragen über Federows Herkunft.

Auf einmal geht ein Raunen durch die Menge am Bahnsteig, und da kommt er, unverwechselbar mit dem kuppelartigen weißen Kopfschmuck mit dem Wappen vorn und dem goldenen Kreuz auf der Krone. Er trägt wallende schwarze Gewänder und eine schwere Goldkette. Zu beiden Seiten flankieren ihn ähnlich gekleidete Priester. Öffentliche Unterstützung durch das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche leistet Federows Hoffnungen auf die Präsidentschaft mehr Vorschub als irgendetwas sonst – was er sich mehrere Millionen Dollar an Spenden und das Versprechen eines orthodox-christlichen Sitzes im politikgestaltenden Arm der Regierung hat kosten lassen. Die beiden Männer schütteln sich die Hand unter einem Blitzlichtgewitter der versammelten Fotografen. Die Aufnahmen werden überall auf der Welt veröffentlicht werden. Die Zeitungen sprechen vom neuen Ultrakonservatismus. Federow gefällt der Begriff nicht. Seine Vision, die Desillusionierten der politischen und sozialen Randbereiche nicht nur in Russland selbst, sondern überall im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und sogar bis hinein in den Westen unter einem modernen, populistischen, immigrationsablehnenden Banner zu vereinen, ist überhaupt nicht konservativ.

Erkennt Wassili Federow alias Christopher Clay die Ironie daran, dass ein in den USA aufgewachsener Mann, der vor der amerikanischen Flagge salutiert und sich Filme mit lauter Russen als Schurken angesehen hat, nun die Schuld für alle Übel im Land seiner Geburt auf die Außenseiter, die Eindringlinge, die Enteigneten abwälzt? Nein, denn er hält sich für russischer als jene Menschen, deren Füße noch nie russischen Boden verlassen haben. Weil er entschieden hat, hierher zurückzukommen und seinen gewaltigen, aus den Adern Amerikas gesaugten Reichtum ins kränkelnde Herz des größten Feinds der USA zu injizieren. Er fühlt sich bis ins Mark russisch.

Allerdings muss es ihm gelingen, das russische Volk von seinem Engagement und Patriotismus zu überzeugen, um das Misstrauen der Menschen zu zerstreuen. Deshalb begibt er sich nach dem Fototermin am Bahnsteig in die Studios von Kanal Rossija, dem Sender seines Freunds und Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, Anatole Poletow. Eigentlich ist er nicht wirklich ein Freund, denn die Kunst der Freundschaft hat Federow nie gemeistert. Aber die beiden sind nützlich füreinander. Zudem eint sie ihr fanatisches Streben nach der neuen Weltordnung, an der sie basteln.

Auf dem Schminkstuhl ist er seltsamerweise nervös. Er muss an sich halten, um nicht den Arm der Visagistin wegzuschlagen, die ihn umschwirrt wie ein lästiges Insekt. Sie hat ihn die Brille abnehmen lassen. Dadurch fühlt er sich exponiert und verwundbar. Die Welt verbirgt sich vor ihm hinter einem verschwommenen Schleier.

»Das reicht!«, herrscht er die Frau an. Sie muss verschwinden, damit er sich darauf konzentrieren kann, was er gleich sagen wird. Was er gleich versprechen wird.

In der Beleuchtung des Studios hat er das Gefühl zu strahlen. Damit ist er im Vorteil gegenüber seinem Gegner, Vizepräsident Zhuravlev, der unübersehbar schwitzt. Federow spürt, wie sein Selbstvertrauen zurückkehrt. Das Land – sein Land – schreit nach Veränderung. Sein Schwiegervater Wladimir Sokolow hat es in Chaos abgleiten lassen. Er ist zu beschäftigt damit, sich beim Westen anzubiedern – eine Pipeline-Diplomatie, um die Taschen der ihn unterstützenden Energiebarone zu füllen – , und bemerkt nicht, dass seine Landsleute verhungern. Im Herzen der russischen Politik klafft ein Vakuum, das Federow zu füllen gedenkt. Aber zuerst muss er sich den Menschen beweisen. Und er weiß genau, wie er es anstellen wird.

Die Debatte beginnt. Sie sprechen über Innenpolitik und internationale Bedrohungen. Federow erhebt den Anspruch, ein Modernisierer zu sein. Gleichzeitig warnt er vor der Geschwindigkeit des Wandels im Land. Er spricht über Drogenkonsum und Verbrecherbanden, die er mit den Usbeken und Tadschiken in Verbindung bringt. Dabei versucht er, seine amerikanische Erziehung zu seinem Vorteil zu nutzen. »Ich kann mit eigenen Augen bezeugen, wozu das endlose Streben nach Selbstverwirklichung führen kann. Ich habe gesehen, dass es zu einem Geschwür werden kann, das eine Gesellschaft von innen heraus zerfrisst.« Trotz allem achtet er darauf, nicht zu hart mit dem alten Regime ins Gericht zu gehen und Lippenbekenntnisse über Sokolows Leistungen abzulegen. Schließlich ist er in Russland.

Schweiß tropft Zhuravlev von der Stirn, als er erkennt, dass ihm die Debatte entgleitet. Also greift er seinen Gegner dort an, wo er am verwundbarsten ist. »Als Außenstehendem ist Ihnen vermutlich nicht bewusst …«, sagt er. Und: »Da Sie selbst Einwanderer sind …« Federow knirscht mit den Backenzähnen – worüber sein Zahnarzt nicht glücklich sein wird – , bewahrt jedoch eine unverbindliche Miene. Er spricht in die Kamera von der Stadt, in der man ihn als Neugeborenes gefunden hat, tief im leeren Bauch Sibiriens. Eine russische Stadt, betont er, in der echte Russen leben. Er erwähnt den Kontrast zu den westlich angehauchten Metropolen Moskau und Sankt Petersburg nicht, trotzdem ist eine unterschwellige Andeutung vorhanden. Er wiederholt seine Predigt darüber, dass er sich bewusst für dieses Land entschieden hat, im Gegensatz zu anderen, die mit einem silbernen Löffel im Mund geboren wurden und den Reichtum, den sie Mütterchen Russland verdanken, lieber in Südfrankreich, London oder Nahost ausgeben. An der Stelle hakt Zhuravlev, der dieses Jahr sieben Monate auf seiner Privatinsel vor der Küste Dubais verbracht hat, einen Finger unter den Kragen seines Hemds und lockert ihn. Womit er die Aufmerksamkeit auf die unvorteilhaft schlaffe Haut an seinem Hals lenkt.

Zhuravlev spürt, wie er an Boden verliert, und überlegt verzweifelt, welche Knochen er dem Volk hinwerfen kann – geplante Steuersenkungen, eine Erhöhung der staatlichen Rente. »Wir sorgen nicht nur für eine starke politische Führung, wir nehmen auch unsere Aufgabe als Hüter unserer Kultur ernst.« Er listet die von seiner Regierung errichteten Denkmäler auf, die von ihr finanzierten Museen. Schließlich arbeitet er auf einen Höhepunkt hin. »Der wohl deutlichste Beweis unseres Engagements für die kulturelle Bereicherung unserer großartigen Nation ist die spektakuläre, unlängst enthüllte Ausstellung, die international für Aufsehen gesorgt hat. Ich spreche natürlich von der meisterlichen Nachbildung, in die fünfundzwanzig Jahre Handarbeit und achthundert Millionen Rubel geflossen sind. Der Nachbildung des ultimativen Symbols russischer Größe und Herrlichkeit, des achten Weltwunders, das uns die Nazis vor sechs Jahrzehnten gestohlen haben, bevor es spurlos verschwunden ist. Das unvergleichliche Bernsteinzimmer.«

Sobald die Worte ausgesprochen sind, weiß Federow, dass ihm der Sieg gewiss ist. Er kann den Triumph bereits auf der Zunge schmecken. Jetzt ist es an der Zeit, ihn einzufahren. »Nachbildung?« Verachtung trieft bei dem Wort von seinen Lippen. »Wie typisch für diese Regierung, das Volk mit einer billigen Kopie des Schatzes abzuspeisen, der rechtmäßig uns gehört. Um zu beweisen, wie sehr ich dieses Land – mein Land – liebe und mich dafür engagiere, gebe ich dem russischen Volk ein feierliches Versprechen.« Er dreht sich direkt zur Kamera. »Wenn ich Ihre Unterstützung erhalte, gelobe ich, Ihnen keine Replik, keine Fälschung, keine teure Nachbildung zurückzugeben – sondern das echte Bernsteinzimmer.«

Im Studio ist kein Publikum, aber es erhebt sich aufgeregtes Gemurmel unter den Mitarbeitern. Und die unverhohlene Bestürzung in Zhuravlevs schlaffen Zügen verrät Federow alles, was er wissen muss.

TEIL 1

1

Sechstausendvierhundert Kilometer von dem Studio in Moskau entfernt, dem Schauplatz von Wassili Federows Triumph im Fernsehen, trifft der Norden Thailands in einem Gebiet Südostasiens auf Myanmar und Laos, das gemeinhin als Goldenes Dreieck bekannt ist. Dort schaukelt am Stadtrand von Chiang Saen gemächlich eine Gestalt in einer Hängematte auf der Holzveranda einer Bambushütte.

Aubrey Argylle ist Anfang zwanzig. Er besitzt lange Gliedmaßen, breite Schultern, klare Augen und ein markantes Kinn mit einem Grübchen. Das dunkle, gewellte Haar hat er mit einem braunen Gummiband zurückgebunden, das er an diesem Morgen vom Boden des Postamts in der Stadt aufgehoben hat. Die dem Band entwischten Strähnen kräuseln sich in der schwülen Hitze. Gestern ist das Thermometer auf achtunddreißig Grad geklettert. Heute ist es zwar etwas kühler, aber die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass der warme Schweiß nicht verdunsten kann und stattdessen einen klebrigen Film auf der Haut bildet.

Mit einem schmalen nackten Fuß auf dem Holzboden hält Argylle die Hängematte in Bewegung, sein restlicher Körper jedoch rührt sich nicht. Das Notizbuch, in dem er bis vor wenigen Augenblicken geschrieben hat, liegt aufgeschlagen auf seinem Bauch. Der Stift ruht vergessen in seiner Hand. Er ist nicht lange von einer Wanderung zurück, bei der er eine kleine Reisegruppe zum Wat Phra That Pha Ngao geführt hat, einem buddhistischen Tempel auf einem Hügel wenige Kilometer außerhalb der Stadt. Die Tempelanlage selbst ist nichts Besonderes, aber der Hügel bietet eine atemberaubende Aussicht über den Mekong und die gebirgigen Dschungel, die sich dahinter nach Laos erstrecken. »Ist das alles?«, haben ihn die Touristen gefragt, während sie suchend in die andere Richtung zu den zerklüfteten Hügeln von Myanmar gespäht haben, das sie immer noch Burma nennen. »Sind wir jetzt im Goldenen Dreieck?«

Argylle überrascht die Enttäuschung der Touristen nicht mehr. Sie kommen in der Erwartung her, mit Opium beladene Maultierzüge beim Überqueren der entfernten Bergrücken zu sehen. Allerdings hat sich der Opiumhandel, für den das Gebiet von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre berüchtigt war, mittlerweile weitgehend nach Afghanistan verlagert. Es gibt schon noch aktive einheimische Banden, vor allem die Warlords auf der Seite Myanmars, und es wird nach wie vor Opium von den Mohnfeldern auf den Berggipfeln über Chiang Rai und Bangkok nach Amerika und Hongkong geschleust. Aber mittlerweile handeln die verbliebenen Schieber eher mit Methamphetamin, was lukrativ ist, auch wenn es nicht den althergebrachten Zauber hat, auf den die Touristen aus sind.

Argylle könnte ihnen sagen, dass Drogenhandel rein gar nichts Zauberhaftes an sich hat.

Wenn man Argylle fragte, wie lange er sein Dasein schon hier in der tiefsten tropischen Provinz fristete, würde man eine vage Antwort erhalten. »Ein paar Jahre«, würde er vielleicht sagen, obwohl es in Wahrheit eher fünf Jahre sind. Er will sich der Tatsache nicht stellen, dass er in einer Sackgasse gelandet ist.

Er weiß, warum er hierher zurückgekommen ist – um nach Antworten zu suchen. Aber er hat keine Ahnung, warum er geblieben ist.

Er hievt sich hoch und trinkt das längst warme Bier aus. Dann betritt er die Holzhütte. Sie hat ein Dach aus Bambus sowie offene Fenster, durch die ungehindert die schwüle Luft weht. Er geht zu einem Brett, das auf zwei leeren Ölfässern ruht. Es dient ihm als Regal für eine Reihe abgegriffener Taschenbücher – einige stammen von dem Standardsortiment auf Flughäfen und werden gern unter Rucksacktouristen getauscht, die länger bleiben. Andere überraschen. Camus, Kafka, James Baldwin. Am hinteren Ende liegt ein Stapel Notizbücher, auf den Argylle jenes legt, in das er vorhin etwas hineingeschrieben hat.

Die meisten sind von der billigen Sorte, die er im Ort kauft. Nur das unterste ist anders. Dick und ledergebunden. Ganz hinten lugt die Spitze eines Lesebändchens aus Satin heraus. Er muss es nicht aufschlagen, um nachzulesen, was auf der ersten Seite steht. Die Welt ist so wunderbar, deshalb schreib alles auf. Ein Geschenk von seiner Mutter zu Weihnachten im Jahr vor ihrem Tod. Damals hat er es nicht mal aufgeschlagen, nur einen Dank gemurmelt und es dann ganz unten in seinem Koffer vergessen. Ein paar Monate später, nach all den Ereignissen, hat er es geöffnet, das dicke, cremefarbene linierte Papier glatt gestrichen und zu schreiben begonnen – über Dinge, die er gesehen hat, über aufgeschnappte Gesprächsfetzen. Und er hat nicht mehr damit aufgehört. All diese Bücher voller Worte.

Er schreibt ihr. Das ist ihm bewusst. Er schreibt ihr über die Welt, die sie nicht mehr erleben kann.

Argylle hebt das Moskitonetz an, das von einem Haken an der Decke hängt, und greift sich von der dünnen Matratze auf dem Boden eine Jeans. Als er zum ersten Mal in die Berge marschiert ist, hat er Shorts getragen. Der Fehler ist ihm seither nicht mehr unterlaufen. Auf den Stufen der Veranda steht ein Paar ausgetretene alte Sneakers – sie riechen nicht besonders gut, deshalb lässt er sie draußen. Er schlüpft hinein, ohne die Schnürsenkel zu lösen. Ein ausgebleichtes Johnny-Cash-T-Shirt vervollständigt das Outfit.

Er will mit dem Motorrad nach Norden fahren, vorbei an Sop Ruak – der Ortschaft, an der Thailand an Laos und Myanmar grenzt – und weiter in die Hügel. Genau genommen begibt er sich nach Myanmar, das immer noch unter strenger Militärherrschaft steht. Aber er hat eine Ausrede parat, sollte er je angehalten werden – er ist Fremdenführer und kundschaftet neue Routen aus. Es ist nicht mehr wie früher. Überall gibt es Anzeichen, dass sich die Region weiterentwickelt. Aber obwohl man das Image in letzter Zeit aufpoliert hat, ist sich Argylle der nach wie vor in der Gegend lauernden Gefahren durchaus bewusst. Heroin mag Methamphetamin gewichen sein, trotzdem ist der Drogenhandel nach wie vor ein tödliches Geschäft. Die Erträge sind schwindelerregend – Milliarden Dollar. Dementsprechend hoch sind die Risiken. Obwohl überall Schilder vor der Todesstrafe für jeden warnen, der beim Drogenschmuggel erwischt wird, sind internationale Verbrecherbanden in diesen Dschungeln tätig. Warlords, Triaden – sogar die russische Mafia. Keine Leute, mit denen man gern ein Bier trinken möchte. Und es ist keineswegs ungewöhnlich, dass gelegentlich ein grausig verstümmelter Leichnam gefunden wird. In das Gebiet einer rivalisierenden Gang wagt man sich auf eigene Gefahr.

Und wonach sucht Argylle eigentlich wirklich, während er sein Bike den Trampelpfad hinter Sop Ruak hinaufschindet? Was treibt ihn immer wieder zurück in den Dschungel und hält ihn in der Warteschleife gefangen, zu der sein Leben geworden ist?

Er lässt das Motorrad zurück und beginnt den Aufstieg, indem er einem kaum erkennbaren Pfad durch das zunehmend dichtere Unterholz folgt. Neben mehreren Flaschen Wasser hat er im Rucksack eine kleine Machete dabei, um sich bei Bedarf den Weg durch die dichte Vegetation freizuschlagen. Es ist eine schweißtreibende, undankbare Plackerei. Seine Füße wirbeln bei jedem Schritt roten Staub auf. Durch das Blätterdach des Regenwalds wirkt der Himmel schlammbraun. Gelegentlich stößt er auf dicke Windungen aus Stacheldraht – Myanmars Versuch, die Grenze zu sichern. Argylle ist unterwegs zu einem der Dörfer der Akha. Sie gehören zu den aus China oder Tibet vertriebenen Bergvölkern, sind in keinem der drei Länder willkommen, die hier aufeinandertreffen. Früher hat der Stamm eng mit dem Anbau von Opiummohn in Verbindung gestanden. Mittlerweile leben diese Menschen davon, selbst hergestellte Artefakte zu verkaufen und sich damit zu schmücken, um vor den Reisegruppen, die sich in die Gegend verirren, für Fotos zu posieren.

Argylle spricht neben Arabisch, Mandarin, Spanisch, Französisch, Deutsch und Russisch auch fließend Thai. Aber die Akha haben einen eigenen Dialekt. Sich mit ihnen zu unterhalten und seine Fragen zu stellen, ist mühsam. In der Tasche hat er die Fotos seiner Eltern mit den abgegriffenen Rändern.

Als sich Argylle noch eine Stunde Fußmarsch von der Lichtung entfernt befindet, auf der die charakteristischen strohgedeckten Bambushütten des Stammes auf Holzpfählen stehen, hält er abrupt an.

In das leise Zirpen der Schwalme, das Quietschen der smaragdgrünen Papageibreitrachen und die Rufe eines Seidensängers im hohen Geäst, dem Klatschen von Argylles Turnschuhsohlen auf dem staubigen Boden und dem Knacken trockener Blätter und Zweige mischt sich in der Ferne das tiefe Brummen eines Leichtflugzeugs.

Sofort fühlt sich Argylle in der Zeit zurückversetzt, als er auf einem winzigen Flugplatz im Dschungel mit nur drei oder vier Maschinen, eingepfercht in einem Cockpit, seinem Vater beim Erklären der Instrumente gelauscht hat. Er erinnert sich an den Adrenalinschub, als die Räder des Flugzeugs zum ersten Mal den Boden verlassen haben und er wusste, dass nun alles in seinen Händen lag. Die Flugplätze haben sich geändert – Brasilien, die Philippinen, Westafrika, Südspanien, wohin das Import-Export-Geschäft seine Eltern eben führte. Aber es hat immer ein Flugzeug gegeben und immer seinen Vater – ungeduldig, launisch, anspruchsvoll, liebevoll. Kompliziert.

Argylle betritt eine Lichtung, um einen Blick auf das Flugzeug am Himmel zu werfen.

Einmotorig. Vielleicht ein Sechssitzer. Mit einem Propeller. Blau-goldene Kennzeichnung. Er hat diese Maschine schon mal gesehen. Auf dem winzigen Flugplatz in Mong Hsat jenseits der Grenze in Myanmar, als sein Vater und er dort mit ihrer Cessna während eines Wochenendausflugs gelandet sind.

»Stimmt es, dass die CIA hier früher Heroinschmuggel betrieben hat?«, hat jemand aus Argylles Reisegruppe ihn zuvor gefragt. Argylle hat mit den Schultern gezuckt. Es sei möglich, sagte er. Die USA wollten den Einfluss des nur wenige Hundert Kilometer entfernten kommunistischen China von Myanmar, Laos und Thailand fernhalten. Deswegen hat man die KMT unterstützt, Chinesen im Exil, die ihr Land von den Kommunisten zurückzuerobern wollten. Finanziert wurden die Bemühungen mit Erlösen aus dem Heroinhandel. Ob die CIA direkt oder indirekt die Hand dabei im Spiel hatte, weiß niemand so genau. Sicher ist nur, dass sie Funkmasten in der Gegend aufgestellt und das winzige Rollfeld gesponsert hat, das mittlerweile außer für gelegentliche Besuche einer Gesandtschaft der CIA oder DEA kaum noch benutzt wird.

Argylle beobachtet die Flugbahn der Maschine am Himmel, immer noch gefangen in der Vergangenheit. In einem anderen Leben.

PENG! Ein ohrenbetäubendes Geräusch zerschmettert die Ruhe des Dschungels und lässt die Vögel schlagartig verstummen. Für den Bruchteil einer Sekunde stehen die Welt und alles Leben still. Das kleine Flugzeug schwebt lautlos in der Luft. Dann … folgt das unverkennbare Geräusch eines stotternden Motors.

2

Kurz darauf stürzt das Flugzeug vom Himmel. Argylle wartet auf die Explosion. Aber solche kleinen Maschinen haben so wenig Treibstoff geladen, dass der Aufprall gedämpft ausfällt.

Er sprintet los, orientiert sich an der schmalen schwarzen Rauchfahne, die zwischen den Bäumen aufsteigt. Verspätet wird ihm klar, dass der Knall, den er zuvor gehört hat, nicht von einem explodierenden Motor ausgegangen ist. Es war ein Schuss.

Nicht viele Banden in der Region besitzen ausreichende Mittel, um ihr Arsenal mit Flugabwehrwaffen zu bestücken.

Sam Gor, auch als Die Firma bekannt, ist ein kantonesisches Syndikat aus Mitgliedern fünf verschiedener Triaden und hat sich in Myanmars Shan-Staat angesiedelt, agiert aber weit über das Territorium hinaus. Mit einem Umsatz von angeblich mehreren Milliarden können sich diese Leute modernste Waffen leisten. Weil zudem ihre Lust auf Gewalt und Brutalität geradezu legendär ist, gelten sie als das mit Abstand gefürchtetste Kartell des Goldenen Dreiecks.

Das alles weiß Argylle über sie aus bitterer Erfahrung. Er wünschte, es wäre anders.

Als er sich der Absturzstelle etwa dreißig Minuten später nähert, hat ihm die Hitze schwer zugesetzt. Sein Atem dringt in abgehackten Stößen aus der Kehle. Wenn er mit seiner Vermutung über Sam Gor richtigliegt und man ihn hier erwischt, wird er den Ort nicht mehr verlassen, jedenfalls nicht aufrecht. Er verlangsamt seine Schritte und schleicht zwischen den Bäumen hindurch, entlang der dichteren Vegetation und lauscht auf Lebenszeichen.

Noch bevor er das Flugzeug sieht, riecht er es und spürt beißenden Rauch in der Lunge. In Thailand ist gerade Brandsaison. Die Bauern entfachen auf ihrem Land Feuer, um es auf den Anbau vorzubereiten. Der Rauch setzt sich in den Tälern und Bäumen fest. Aber dieser Geruch ist anders.

Hinter einem Baum hervor erblickt er zwei Personen, einen Mann und eine Frau. Sie stampfen auf Decken, um die Überreste des Brands zu löschen. Ein weiterer Mann sitzt in der Nähe auf dem Boden und hält sich den Kopf. Die drei haben rußgeschwärzte Gesichter und wirken benommen. Hinter ihnen hat sich das Flugzeug mit der Nase ins Erdreich gebohrt. Ein Flügel ist abgerissen, Trümmer liegen über die Lichtung verstreut. Bang lässt Argylle den Blick über die Umgebung wandern, entdeckt jedoch keine Spur von der für den Abschuss verantwortlichen Gang.

Die Frau hält ihr Handy hoch, sucht nach Mobilfunkempfang.

»Die haben die Funkmasten geschrottet«, sagt der Mann neben ihr mit tonloser Stimme.

»Schnell, ihr müsst weg von hier.« Die drei übel zugerichteten Passagiere erschrecken, als Argylle zwischen den Bäumen hervorstürmt. Er unternimmt einen weiteren Anlauf. »Die Leute, die euch abgeschossen haben, werden jeden Moment hier sein. Ihr müsst verschwinden. Wo sind eure Waffen?« Wieder nur verständnislose Mienen. »Kommt schon.« Er verliert die Geduld. »Ich weiß, dass ihr von der CIA seid. Wo sind eure Scheißwaffen?«

Schließlich ergreift die Frau das Wort. Dabei fällt ihm zum ersten Mal der unnatürliche Winkel ihres rechten Arms auf, den sie mit der linken Hand hält. »Nicht CIA. DEA. Charlie hat eine Knarre.«

Argylle sieht die beiden Männer an und wartet darauf, zu erfahren, welcher Charlie ist.

»Nicht sie«, sagt die Frau gereizt. »Charlie. Da drin.« Ruckartig deutet sie mit dem Kopf auf das Wrack des Flugzeugs. »Aber er ist …« Sie schüttelt den Kopf.

Argylle sieht sich um. Die Sam Gor können jeden Augenblick eintreffen. Die Bundesagenten sitzen wie auf dem Präsentierteller. Und wenn er dann noch hier ist, geht er mit ihnen unter.

Eigentlich würde jeder vernünftige Mensch in dieser Lage die Flucht ergreifen und diese armen Trottel ihrem Schicksal überlassen.

Mist.

Obwohl er weiß, dass es die wohl schlechteste Idee der Welt ist, rennt er zur Tür des Flugzeugs – oder vielmehr zu dem klaffenden Loch, wo sich die Tür befunden hat – und schwingt sich hinein. Kurz hält er inne, erstarrt beim Anblick des Piloten, der mit aufgeplatztem Schädel über das Armaturenbrett gesackt ist.

Ein leises Stöhnen reißt ihn aus seiner Benommenheit. Auf dem linken Sitz der ersten Reihe ist ein pummeliger Mann mittleren Alters angeschnallt, den Argylle ebenfalls für tot gehalten hat. Er duckt sich in dem schmalen Gang, während er das Fenster im Auge behält, durch das er die drei angeschlagenen DEA-Agenten beobachten kann, und sagt leise: »He, Charlie. Wie geht’s dir, Mann?« Allerdings sieht er selbst haargenau, wie es Charlie geht. Die Gepäckschiene ist abgebrochen und hat sich tief in seinen Bauch gebohrt.

Der Mann wird auf keinen Fall überleben. Argylle bemerkt den Griff einer Pistole an Charlies Hüfte, aber um an die Waffe ranzukommen, müsste er um den Fremdkörper im Bauch des Schwerverletzten herumgreifen.

Aus dem Augenwinkel bemerkt er draußen eine Bewegung, das Funkeln eines Sonnenstrahls auf Metall. Instinktiv duckt er sich tiefer in die Kabine. Das Blut rauscht laut durch seine Ohren. Gebrüll ist zu hören. Weil er als Kind mal in Singapur gewesen ist, versteht er Mandarin – »Runter, runter!« Nicht jedoch den Mann, der auf Kantonesisch etwas schreit. Eine Frau kreischt. Durch das Fenster sieht Argylle die drei Passagiere aus dem Flugzeug mit dem Gesicht nach unten im Dreck, die Hände auf den Köpfen, umringt von mindestens sieben Männern, alle mit Waffen im Anschlag. Der Arm der Frau ist unter ihr unnatürlich verkrümmt. Sie schaut zum Flugzeug. Ihre Augen weiten sich, als sie ihn erblickt. Er legt den Finger an die Lippen. Argylle weiß nur allzu gut, wozu diese Leute fähig sind. Der Kantonesisch sprechende Mann ruft etwas zu einem höchstens vierzehn, fünfzehn Jahre alten Jungen und deutet in die Richtung des Flugzeugs. Argylle zieht den Kopf ein. Haben sie ihn gesehen? Seine Brust schmerzt und fühlt sich wie zugeschnürt an, sein Mund staubtrocken.

Der Junge antwortet mit schriller Stimme auf Mandarin. »Ich geh da nicht rein. Das Ding stinkt nach Benzin. Es wird in die Luft gehen.« Argylle hat den unverwechselbaren Geruch von Flugzeugtreibstoff bereits registriert. Er sitzt in einem Pulverfass in der Falle.

Zwischen dem Jungen und seinem Boss entbrennt eine Diskussion. Wer sie gewinnen wird, steht außer Frage. Panisch sieht sich Argylle um. Ein Blick auf Charlie bestätigt, dass er mittlerweile tot ist. Der Kopf ist zurückgesackt, die Hände sind um die Metallstange gelegt, die ihn gepfählt hat. Hinter ihm sind zwei freie Sitze, einer auf jeder Seite des schmalen Gangs. Ganz hinten befindet sich ein einzelner Sitz. Nirgendwo eine Möglichkeit, sich zu verstecken.

Verzweifelt zwängt er sich in den kompakten Raum zwischen dem Rücksitz und dem Heck der Maschine. Weit und breit ist nichts, womit er sich verhüllen könnte, und wenn jemand in den hinteren Teil des Flugzeugs vordringt, wird er ihn auf jeden Fall entdecken.

Durch die Lücke zwischen den Sitzen beobachtet er, wie der Jungen mit der Waffe im Anschlag an Bord klettert. Argylle fällt auf, wie nervös er ist. Die Finger um den Abzugsbügel zittern. Der Treibstoffgestank ist inzwischen penetranter. Der Junge zieht sich das T-Shirt über die Nase. Den toten Piloten, dessen Schädel in einer Pfütze aus klebrigem Blut und Gehirnmasse liegt, würdigt er kaum eines Blickes, aber bei Charlie bleibt er hängen. Argylle vermutet zuerst, dass der Junge erschüttert ist. Dann jedoch greift dieser um die Gepäckstange herum nach Charlies Waffe. Das war’s, denkt Argylle. Aber der Junge bleibt über den Toten gebeugt und kramt in dessen Kleidung. Schließlich richtet er sich mit einem zufriedenen Laut auf und hält eine Brieftasche in der Hand, die er unter dem Bund seiner Hose verschwinden lässt.

Draußen brüllt der Kerl, der das Sagen hat. Mit dem T-Shirt nach wie vor über der Nase sieht sich der Junge hastig im Flugzeug um. Sein Blick verharrt im hinteren Bereich. Eine Sekunde lang ist Argylle überzeugt, dass er sich gleich in Bewegung setzen wird – nur zwei Schritte und alles wäre verloren. Stattdessen wendet sich der Junge abrupt ab und springt aus dem Wrack.

Argylle sinkt vor Erleichterung zusammen. Er rappelt sich hoch und versucht, sein wild hämmerndes Herz zu beruhigen. Durch das Fenster sieht er, wie die Geiseln mit auf den Rücken gerichteten Waffen in den Dschungel getrieben werden.

Er zwängt sich durch den schmalen Gang – und hechtet hinter Charlies Sitz, als er den Rumpf unheilvoll knarren hört.

Jemand ist zurückgekommen.

Der Mann, der an Bord klettert, ist korpulent – zu Argylles Glück, denn dadurch hat er sich verraten. Hinter dem Sitz presst er die Lider zu und wartet auf die unvermeidliche Entdeckung.

Als sie ausbleibt, öffnet er die Augen wieder. Charlies linker Arm, den der Junge verschoben hat, hängt seitlich über den Sitz. Argylle bemüht sich, nicht auf den Ehering zu achten, nicht an die Frau und eventuell vorhandene Kinder zu denken. Zwischen dem Arm und dem Sitz ist ein Spalt, durch den er den untersetzten Mann sehen kann, der immer noch vorn in der Maschine steht, wo er eingestiegen ist. Er lehnt sich über den toten Piloten, um etwas aus dem Armaturenbrett zu lösen, eine kleine quadratische Blackbox mit einer oben herausragenden Antenne. Argylle erkennt sie auf Anhieb als den Transponder des Flugzeugs.

Die tragbare Box wird mit dem unverwechselbaren sogenannten Squawk der Maschine codiert, damit Fluglotsen ihr Radarsignal verfolgen und sicherstellen können, dass sie mit nichts kollidiert. Der Mann fingert an einem Knopf herum. Weil Argylle mit seinem Vater viel Zeit in der Luft verbracht hat, weiß er, dass der Mann den Transponder ausschalten wird, damit keine seinen Standort verratenden Signale mehr übertragen werden.

Dann schaut der Mann zu Charlie, und Argylle wird es mulmig, denn er vermutet, dass der Unbekannte wie zuvor der Junge an Charlies Brieftasche denkt. Wenn er sich nur einen weiteren Schritt nähert, ist Argylle erledigt.

Von draußen ertönt ein Ruf. Trotzdem rührt sich der Mann nicht. Der Moment scheint sich ewig hinzuziehen. Die harten schwarzen Augen des Kerls starren genau auf die Stelle, an der Argylle hockt. Dann bewegt ihn ein zweiter, lauterer Ruf zu einer spontanen Entscheidung. Brummelnd wendet er sich ab und lässt sich schwerfällig aus dem Flugzeug fallen.

Die Erleichterung ist so überwältigend, dass Argylle sie förmlich schmecken kann.

Sobald die Männer draußen die Amerikaner mit vorgehaltenen Waffen vor sich her von der Lichtung getrieben haben und verschwunden sind, bahnt sich Argylle den Weg in den vorderen Bereich der Maschine. Er sollte verduften. In die entgegengesetzte Richtung flüchten. Die CIA hatte das Flugzeug bestimmt geortet und wahrscheinlich ist bereits Verstärkung unterwegs.

Allerdings wird es zu spät sein, wenn sie eintrifft. Der Dschungel in der Gegend ist dicht und nur die Sam Gor kennen sich darin aus.

Aber das ist nicht sein Problem. Er ist diesen Leuten nichts schuldig.

Vor seinem geistigen Auge sieht Argylle die auf dem Boden liegende Frau mit dem gebrochenen, verrenkten Arm unter sich, während ihr eine Träne über die Wange rollt.

Er schnappt sich den Transponder.

3

Frances Coffey nimmt einen langen, unbefriedigenden Zug von ihrem Nikotininhalator. Wer auch immer beschlossen hat, ein Plastikröhrchen wäre ein guter Ersatz für Zigaretten, hat eindeutig nie selbst geraucht.

Ich bin jemand, der nicht raucht, hält sich Coffey vor Augen, wie ihr Therapeut es ihr eingetrichtert hat. Ich bin jemand, der nicht raucht … trotzdem würde ich für eine Marlboro Light glatt morden.

»Sagen Sie mir noch mal genau, wann wir das Signal verloren haben?«

Mike Randall dreht sich wieder zu seinem Monitor um. »Vor sechs Minuten … jetzt sieben.«

»Was um alles in der Welt ist da draußen passiert?«

Randall zuckt mit den Schultern und wirft einen Blick zu seinem Kollegen und Freund, Agent Joe Quintano. Insgeheim haben sich beide eingestanden, dass sie sich trotz zusammengenommen einundzwanzig Jahren Diensterfahrung bei der Agency durch ihre Chefin manchmal vorkommen, als wären sie wieder in der Ausbildung und müssten überspielen, dass sie die Antwort nicht kennen. Durch die Kombination aus enzyklopädischem Wissen, das sie sich während ihrer jahrelangen Arbeit in Archiven erworben hat, und einer ausgeprägten emotionalen Intelligenz ist sie in der Lage zu erahnen, wie die Beteiligten eines beliebigen Szenarios reagieren könnten.

»Die Maschine ist wie geplant in Mong Hsat gestartet. In der einen Minute war noch alles normal, in der nächsten ist sie vom Himmel gestürzt.«

»Ein Unfall?«

»Möglich«, meint Quintano und tippt sich mit den Fingern ans Kinn.

»Vielleicht ein Triebwerksausfall. Nur …«

»… warum hat sich der Transponder plötzlich abgeschaltet, nachdem die Maschine abgestürzt ist?«

In der geheimen CIA-Einrichtung unter einer Agrarchemikalienfabrik im ländlichen Delaware saugt Frances Coffey, Chief Operating Officer der CIA, erneut tief an ihrer Plastikzigarette. Sie ist eins zweiundsechzig groß, hat einen adretten braunen Pagenkopf und trägt eine Schildpattbrille. Ihre sanften grauen Augen besitzen die Eigenart, bei Empfängern ihres Blicks den Wunsch zu wecken, sich besser anzustellen, besser zu werden.

»Wir müssen wohl davon ausgehen, dass sie vorsätzlich runtergeholt worden sind«, sagt Randall.

»Wissen wir, welche Syndikate in der Region operieren?« Quintano dreht sich zum Computer und gibt einige Befehle ein.

»Sieht nicht gut aus, Boss«, meldet er mit verkniffener Miene.

Coffey tritt zu ihm und betrachtet den Bildschirm. Ihr immer blasses Gesicht wird sichtlich noch bleicher.

»Wer?«, fragt Randall.

»Sam Gor«, antwortet Quintano. »Die Firma. Neben deren Kopf, Tse Chi Lop, nimmt sich Pablo Escobar wie Mary Poppins aus.«

»Und Sie denken, die DEA hat es auf diese Leute abgesehen?«

Coffey nickt. »Muss so sein. Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass wir uns hier in den USA im Würgegriff einer regelrechten Methamphetamin-Epidemie befinden. Und der Großteil des Meth stammt aus ausländischen Labors von Syndikaten wie …«

»Sam Gor«, sagt Randall. »Schon klar. Sie denken also, dieser Tse hat unser Flugzeug abgeschossen, weil die DEA zu viele Fragen gestellt hat?«

Coffey nickt erneut. »Sieht so aus.«

Die drei verstummen und überlegen, was das bedeutet. Dann betrachtet Coffey durch die Gleitsichtgläser ihrer Brille mit zusammengekniffenen Augen etwas, das auf dem Bildschirm blinkt.

»Was ist los?« Quintano wirbelt herum.

»Was zum … Der Transponder ist wieder eingeschaltet. Die Maschine scheint sich zu bewegen.«

»Sie fliegt wieder?« Äußerlich merkt man Coffey die Aufregung nur an den weiß hervortretenden Knöcheln ihrer Hand an, mit der sie die Rückenlehne von Quintanos Stuhl umklammert.

Quintano schüttelt den Kopf.

»Aber Sie haben gerade gesagt, die Maschine ist in Bewegung.«

»Ist das Signal auch, aber …«

»Aber?«

»Es bewegt sich, als würde es … gehen, Ma’am.«

Coffeys Verstand rotiert, geht die Möglichkeiten durch. Gedankenverloren greift sie in die Jackentasche nach einem Päckchen Zigaretten und seufzt, als ihre Finger auf Leere treffen.

Ich bin Nichtraucherin, erinnert sie sich, während sie das sich fortbewegende, blinkende Signal am Bildschirm verfolgt.

Was zum Geier ist dort los?

4

Tief im tückischen Dschungel des Shan-Staats auf der falschen Seite der Grenze zu Myanmar folgt Argylle der Gruppe der Geiseln. Den Transponder hat er sich unter den Arm geklemmt.

Nach fünf Jahren in diesem Teil der Welt ist Argylle an das Terrain, die Insekten und die Hitze auf der Haut gewöhnt. Im Februar und im März verbrennen die Bauern die Überreste der letzten Ernte, um die Felder auf eine neue Aussaat vorzubereiten. Dann herrscht durch ihre Feuer und die Waldbrände, die zusammen die Verschmutzung in die Höhe treiben, immer besonders dicke Luft. Argylles Körper fühlt sich an, als würde sich jede einzelne Zelle am liebsten abschalten. Dass er alle paar Meter stehen bleiben und sich mit der Machete einen Weg durch die dichte Vegetation schlagen muss, kennt er hinlänglich – nicht jedoch, wenn er dabei leise sein muss und eine schwarze Box trägt, kleiner als ein Schuhkarton und dennoch in der Gluthitze schwer und glitschig.

Dieses Gebiet ist ihm neu. Es gehört zu den unbekannten Landstrichen, bei denen seine thailändischen Freunde auf die Karte zeigen und warnend den Kopf schütteln würden.

In diesen Gefilden treibt man sich nicht herum. Man schießt keine Fotos.

Hier sind die von Gangs mit eigenen Milizen betriebenen Drogenlabors angesiedelt. Die Behörden schauen dabei im Gegenzug für militärische Unterstützung und einen Anteil am Gewinn gern weg.

Argylle ist bewusst, dass er höchstwahrscheinlich als einer der zahlreichen Verschwundenen endet, wenn er hier entdeckt wird – Menschen, die sich zu weit in den Graubereich der Landkarte wagen und von denen man nie wieder etwas hört. Oder die zerstückelt aufgefunden werden. Ein Bild erscheint vor seinem geistigen Auge. Zwei Särge nebeneinander. Er verdrängt es.

Was denkt er sich eigentlich dabei, sein Leben für eine Gruppe Wildfremder aufs Spiel zu setzen? Darauf hat er keine Antwort. Er weiß nur, dass er sich die letzten fünf Jahre gefühlt hat, als lebe er wie betäubt in einem gepolsterten Zimmer, in dem nichts, was um ihn herum geschieht, zu ihm durchdringt. Nun jedoch, in diesem Moment, ist er endlich lebendig.

Vor ihm lichten sich die Bäume. Er verlangsamt seine Schritte an einer Lichtung, auf der er eine Gruppe von Leuten vor irgendeinem Gebäude ausmachen kann. Er hört durchdringendes Geschrei und verspürt ein ängstliches Kribbeln, als ihm das volle Ausmaß seiner gefährlichen Lage klar wird. Wenn es sich um ein Labor handelt, zu dem die Gang die Geiseln gebracht hat, kommt hier niemand lebend raus. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Falls sein Lotteriespiel mit dem Transponder funktioniert hat und Verstärkung durch die CIA unterwegs ist, werden sie in eine Todesfalle laufen.

Er sieht sich um, wägt die Situation ab, bis er einen knorrigen alten Teebaum entdeckt, der ihm einen Aussichtspunkt bietet. Argylle versteckt den Transponder im Unterholz, klettert den rauen, stacheligen Stamm hinauf und dankt stumm den Jeans, die schützend seine Oberschenkel bedecken. Seine Hände haben weniger Glück. Als er die oberen Äste erreicht, sind sie zerkratzt und bluten. Trotzdem kann er immer noch nicht ganz die Lichtung überblicken, von der die Stimmen zu ihm dringen. Fast völlig flach ausgestreckt schiebt er sich langsam einen Ast entlang und betet, dass er sein Gewicht tragen kann. Einen Moment lang neigt er sich erschreckend unter ihm und Argylle ist überzeugt davon, dass er abbrechen wird. Sein Magen krampft sich zusammen, doch wie durch ein Wunder bleibt der Ast intakt.

Nun kann er über die Baumkrone hinweg direkt auf die Lichtung sehen. Erleichterung durchströmt ihn, als er nicht die charakteristischen Anzeichen eines Industrielabors erblickt, sondern eine Handvoll wackeliger Hütten, ein provisorisches Lager.

Man hat die Geiseln gezwungen, sich auf den Boden zu setzen, während die bewaffneten Bandenmitglieder aufgeregt mit drei anderen reden, die aus den Hütten gekommen sind. Der DEA-Agent, der auf dem Boden gelegen hat, als Argylle vorhin eintraf, scheint in übler Verfassung zu sein. Er kippt auf die Seite. Die Gangmitglieder lachen. Der Bursche, der so jung und nervös zu sein schien, als er vorhin im Flugzeug Charlies Brieftasche gestohlen hat, schlendert zu dem Mann hin und tritt ihm mir nichts, dir nichts in den Bauch.

Die Frau, die sich immer noch behutsam den Arm hält, schaut weg.

Manche Drogenkartelle in der Gegend wollen keinen Ärger. Einige hätten sich einfach woanders niedergelassen, wenn sie Wind davon bekommen hätten, dass die US-Regierung ihre Organisation im Visier hat.

Nicht so diese Kerle.

Zu seinem Leidwesen weiß Argylle, was diese Gruppierung mit Menschen anstellt, von denen sie sich auf den Schlips getreten fühlen.

Er späht hinunter zum Unterholz, wo er den Transponder versteckt hat, und drängt einen Anflug von Verzweiflung zurück. Auf einmal erscheint ihm sein Plan weit hergeholt, zumal er voraussetzt, dass die CIA einerseits das Flugzeug überhaupt ortet und andererseits das Signal zuverlässig übertragen wird.

Die Gang ist ein bunter Haufen. Mehreren Mitgliedern fehlen Zähne, ihre Haut ist zornig gerötet und von Wundstellen übersät, die Augen sind groß und wirken wirr. Bei ihnen ist die Botschaft, dass man tunlichst die Finger vom eigenen Stoff lässt, eindeutig nicht angekommen. Obwohl ein Großteil der in der Region hergestellten Drogen verschifft wird, bleibt in der Gegend genug im Umlauf, und Argylle kennt die Anzeichen von Meth-Abhängigkeit. Die schlechte Nachricht ist, dass Meth-Süchtige als notorisch unberechenbar gelten und zu extremer Gewalt neigen, wenn sie von einem Trip runterkommen.

Sein Blick fällt auf den Jungen, dessen Teenagerhaut gezeichnet von Akne und vom Drogenkonsum ist, und er verspürt einen unerwarteten Anflug von Mitleid angesichts der hoffnungslosen Zukunft, die vor dem Burschen liegt.

Der Agent auf dem Boden stöhnt. Der andere DEA-Mann, der einen Bart und einen markanten weißen Fleck im dunklen Haar hat, wendet sich an einen kleinen, gedrungenen Kerl, eindeutig der Anführer dieser Gruppe. »Er braucht Hilfe«, sagt er gestikulierend. Der Anführer nickt, geht zu dem ausgestreckt am Boden liegenden Amerikaner und schießt ihm seelenruhig in den Kopf.

O Scheiße. O Gott.

Argylle schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, sieht er, dass die Frau mit dem Blut ihres Kollegen bespritzt ist. Auch ein wenig graue Gehirnmasse hat sich in ihrem Haar und an ihrer Kleidung verfangen.

Wieder schaut er hinunter zu dem niedrigen Gebüsch, in dem sich der Transponder befindet. Wahrscheinlich wird überhaupt niemand kommen. Kann dem Transponder der Saft ausgegangen sein? Erdrückende Niedergeschlagenheit überfällt Argylle. Dennoch kann er sich nicht dazu durchringen, sich abzuwenden und davonzuschleichen.

Minuten vergehen. Als Argylle sich für das sicher scheinende Blutbad stählt, hört er im Dickicht unmittelbar unter seinem Aussichtspunkt ein leises Rascheln. Zu seinem Erstaunen stellt er fest, dass es unter seinem Baum von Gestalten in Tarnanzügen wimmelt, die mit Sturmgewehren langsam zu der Lichtung vorrücken. Einer der Männer hält den Transponder in der Hand.

Nach dem Schweiß zu urteilen, der ihnen über das Gesicht strömt, haben sie bereits einen längeren Marsch hinter sich. Argylle sieht sich nach einer Möglichkeit um, sie auf ihn aufmerksam zu machen, ohne sie zu erschrecken.

Die Blätter des Teebaums, auf dem er kauert, sind größer als eine menschliche Hand. Argylle schiebt sich auf dem Ast rückwärts, reißt ein Blatt ab und lässt es auf den Kopf des Mannes unter ihm hinabrieseln. Schlagartig werden mehrere Waffen auf ihn gerichtet. Er hebt die Hände, um zu zeigen, dass er nicht bewaffnet ist. Zuerst deutet er auf den Transponder, dann auf sich selbst. Der Mann unten nickt. Die Stimmen der Gangmitglieder sind bisher ein leises Brummen im Hintergrund gewesen, nun jedoch dringt grölendes Gelächter durch die Bäume. Wie weit?, fragt der Befehlshaber lautlos.

Argylle deutet dorthin, wo er gerade noch die Dächer der Hütten ausmachen kann, dann bewegt er zweimal beide Hände auf und ab. Zwanzig Meter?, kommt es stumm von dem Befehlshaber. Er zeigt auf zwei seiner Männer und gestikuliert eine Anweisung, die Argylle nicht versteht. Die beiden nicken. Einer zieht eine Granate aus einer Innentasche seiner Armeejacke.

Der Befehlshaber macht mit der Hand eine kreisende Bewegung und die Männer verschwinden leise im Unterholz. Eine weitere Gruppe schickt er in die andere Richtung. Im Gegensatz zum Befehlshaber sehen die Männer wie Thailänder aus. Argylle fragt sich, woher sie gekommen sind. Er erinnert sich an Gerüchte über ein inoffizielles Gefängnis irgendwo im Dschungel Thailands, wohin die Amerikaner Gefangene schaffen, die sie verhören wollen, um sie vor den wachsamen Augen der Welt zu verbergen....Ende der Leseprobe