Arnulf. Kampf um Bayern - Robert Focken - E-Book

Arnulf. Kampf um Bayern E-Book

Robert Focken

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Beschreibung

Karl der Große greift nach dem Herzogtum Bayern Der Krieger Arnulf hat es als Truppenführer des Frankenkönigs Karl zu Ruhm gebracht. Einst unfreiwillig in das Heer Karls geraten, wird Arnulfs Schwert nun überall gefürchtet. Folglich wählt der König Arnulf für einen verwegenen Plan aus, um seinen letzten Rivalen, den Bayernherzog Tassilo, in die Knie zu zwingen. Tassilo hat, angetrieben von seiner rachsüchtigen Frau Leutberga, einen Trumpf in seine Hand gebracht: einen totgeglaubten Neffen Karls, der seinen Thron stürzen könnte. Arnulf stößt mit wenigen Gefährten in das Herz Bayerns vor und riskiert alles, um den Karolinger-Prinzen zu fassen. Unterdessen aber ist Arnulfs Frau den tödlichen Intrigen bei Hofe schutzlos ausgeliefert. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, an dessen Ende eine Katastrophe droht. Angelehnt an die tatsächlichen Ereignisse des Jahres 787/788 lässt der Historiker Robert Focken ein schicksalsträchtiges Drama der bayerisch-deutschen Geschichte lebendig werden, dessen Folgen bis heute nachwirken.

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Robert Focken

Arnulf

Kampf umBayern

Historischer Roman

Focken, Robert : Arnulf. Kampf um Bayern, Hamburg,

acabus Verlag 2019

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-717-6

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-716-9

Print: ISBN 978-3-86282-715-2

Lektorat: ds, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: © Ksenia Lanina

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Personenregister

Arnulf

Hundertschaftsführer der Schwarzen in Karls Diensten, genannt sax hamar

Arthur

ältester Sohn Arnulfs und Erikas

Atto von 

Freising

Bischof, heimlicher Anhänger Karls

Desiderius

ehemaliger Langobardenkönig, Leutbergas Vater

Einhard

königlicher Berater (Consiliarius)

Erika

Arnulfs Ehefrau, Halbschwester Widukinds

Fago

Graf, Heerführer in Tassilos Gefolge

Fastrada

Königin, Ehefrau Karls

Fulrad von Metz

Bischof und Hofkapellan, Leiter der königlichen Amtsgeschäfte

Gallo

Krieger in Arnulfs Hundertschaft

Gerswind

Tochter Arnulfs und Erikas

Gertrud

Zofe an Tassilos Hof

Grifo

Karlmanns Sohn, Karls Neffe, an Tassilos Hof

Grimbald

jüngster Sohn Arnulfs und Erikas, genannt Grimmo

Hagano

Dirnenhändler aus Sodom bei Regensburg

Hardrad

Herzog, Thüringer Fürst, Verräter

Heden

Hundertschaftsführer der Bärenhäuter

Karl

König der Franken, genannt Der Große, Sohn König Pippins

Karlmann

Karls verstorbener Bruder

Leutberga

Ehefrau Herzog Tassilos, langobardische Königstocher

Ludwig

Sohn König Karls

Nibelung

Bayer aus Regensburg, Vogelhändler

Samo

Arnulfs Deckname in Regensburg

Schweiger

Krieger in Arnulfs Hundertschaft

Sigfrid

Krieger in Arnulfs Hundertschaft

Swabo

Krieger in Arnulfs Hundertschaft

Tassilo

Herzog der Bayern, Sohn Odilos, Nachkomme Agilos

Theodoso

Sohn von Tassilo und Leutberga

Udalrich

Graf, Fürst der Wesersachsen (Engern), Vasall Karls, genannt Der Blutgraf

Uto

Bastard Tassilos, genannt Der Sänger, Leibwache Tassilos

Virgil von Salzburg

Bayerischer Bischof, Anhänger Tassilos

Widukind

Herzog der Sachsen, Karls Gefangener auf der Insel Reichenau

Worad

Graf, Oberbefehlshaber der Panzerreiter unter Karl

Kapitel I

Worms, Mai 787

Einen Königsmord kündigt man nicht an. Der Mörder gibt sich nicht zu erkennen – bis er dem Herrscher nahe genug ist. Und zur Klinge greift.

Später fragte Arnulf sich, ob er die Attentäter hätte erkennen können: Da waren diese Kerle des Herzogs Hardrad, eines Thüringer Fürsten, die sich unter die Jagdgruppe König Karls mischten; etwa zehn Mann im grünen Jagdwams, mit Pelz am Rocksaum. Wenn sie irgendetwas von den gutgelaunten Männern um Karl herum unterschied, dachte Arnulf, dann dieses stille Nach-vorne-Starren: Männer, die in ein Gefecht ziehen, sahen so aus … Aber hätte man sie deshalb gleich totschlagen sollen?

Es war keine echte Jagd, bei der man einem Wisent mit einer Stoßlanze gegenübertritt. Eher eine Art königlicher Zerstreuung, die den Hoftag abschloss. Dieser Hoftag – Mitte Mai im Jahre des Herrn 787 – hatte Worms am Rhein mit hunderten von Besuchern überflutet. Drei Tage dauerte das Spektakel aus prunkvollen Empfängen, Gottesdiensten und klirrenden Waffenschauen. Dann, am vierten Tag, lud Karl die Gaugrafen, Bischöfe und Edelherren zum Jagdvergnügen im Königswald nahe der Stadt. Auch ausländische Würdenträger waren dabei: in helle Seide gekleidete Sarazenen, Bulgarenhäuptlinge in langen Kaftanen und sogar ein Byzantiner, ein Kaiser-Emissär aus dem alten Ostrom. Er trug Schuhe und einen Gürtel, die mit Brillanten besetzt waren. Durfte man diese Leute Wisenten und Bären aussetzen?

Wildschweine und Rotwild scheuchten die Treiber auf die Stellung der Jäger zu: eine kleine Erhebung, von der man die trichterförmige Senke überblickte, in der Keiler und Rehe sich wiederfanden. Jagdknechte der Königspfalz standen mit Bogen und Jagdspeer bereit. Aber kaum ein Krieger der Scara, der königlichen Panzerreiter, die für den persönlichen Schutz Karls verantwortlich waren! Denn sie sicherten die Königspfalz südlich der Stadt, wo Scharen von Habenichtsen und Namenlosen zusammenströmten, in der Hoffnung auf Brosamen der Edlen.

An diesem schicksalhaften Nachmittag fand nicht nur die Königsjagd statt, sondern im Rüsthof der Pfalz trafen auch zwei Ochsenwagen mit der überfälligen Jahresabgabe eines Königsgutes ein – Waffen und Rüstzeug. Dieser Zufall sorgte dafür, dass einige der Hofleute während der Jagd mit der Überprüfung von Sätteln, Pfeilen und Lanzen beschäftigt waren. Und weil die Fuhre vom Amtmann des Königsgutes selbst ausgeliefert wurde, der als überheblich und streitsüchtig galt und gerne behauptete, einst vom alten König Pippin in sein Amt eingesetzt worden zu sein, hatte der königliche Pfalzgraf auch Offiziere wie Arnulf hinzugerufen: einen Hundertschaftsführer mit kräftigem Körperbau, braunem, über die Ohren fallendem Haar und einer gewissen Ausstrahlung, die Menschen zweimal überlegen ließ, was sie sagten. Arnulf hatte auf vielen Feldzügen ahta, Ansehen und Ruhm, erworben und sein Kriegsname, sax hamar, war an der blutgetränkten Nordgrenze des Reiches fast so bekannt wie der Name Karls selbst.

Pfalzknechte entluden die ankommenden Wagen zwischen zwei scheunenartigen Lagerhäusern, während der in helles, eng geschnittenes Leinen gekleidete Amtmann dem Pfalzgrafen ungefragt von der Aufmüpfigkeit seiner Hörigen berichtete: »Ohne den Stock bringt man heute keinen mehr zum Arbeiten!« Der Pfalzgraf murmelte etwas Unverbindliches und strich sich über seinen hufeisenförmigen Schnurrbart, doch Arnulf nahm die Worte mit Stirnrunzeln auf; die Hände über der Brust verschränkt, stand er ein paar Schritte abseits und sagte nicht besonders laut, aber deutlich vernehmbar: »Ein guter Herr braucht keinen Stock.«

Der Amtmann blinzelte, fuhr sich über die kahle, hellbraune Kopfhaut und würdigte den Mann mit dem zerschrammten Schuppenpanzer eines abschätzenden Blicks. Er nahm den Waffengürtel mit dem Langschwert und der Streitaxt auf, das dunkle Leder der Unterarmschützer, den nicht besonders neuen Wollstoff der Hose, die unterhalb des Knies nach fränkischer Art in der Kreuzbindung zusammenlief. Dann erst, beim zweiten Blick, sah er die kleineren und größeren Narben in dem Kriegergesicht, die vom Schnurrbart und den Kinnstoppeln kaum verborgen wurden.

»Das ist Arnulf sax hamar «, erläuterte der Pfalzgraf beiläufig. »Er hat Widukinds Sachsen geschlagen. Seid besser nett zu ihm!« Dann begann er, die Lederschichten und Steigbügel des ersten Sattels zu untersuchen. Zwei andere, die wie Arnulf in Leder und Eisen gekleidet waren, prüften derweil die Spitzen der etwa sechs bis sieben Fuß langen Lanzen, von denen die Knechte einige Dutzend auf dem Boden verteilt hatten. Der Amtmann nickte unsicher und murmelte, dass es eine Plage sei, sich mit den sächsischen Umsiedlern herumschlagen zu müssen, die König Karl aus ihrer Heimat im Norden gerissen hatte, um ihren Widerstandsgeist für immer zu brechen.

»Die Pfeilbündel«, sagte Arnulf nur, ohne auf das Gerede einzugehen. Einer der Pfalzknechte mit kurzem Haar und einem koboldhaften Gesicht zerrte eine etwa drei Fuß hohe und ebenso lange Kiste herbei, die Pfeiltrommeln enthielt: Bündel von Pfeilen, die jeweils von zwei runden, zehnfach eingekerbten Holzscheiben auseinander gehalten wurden. Das schonte die empfindliche Befiederung der Geschosse. Der Knecht sah Arnulf mit einem Grinsen an, das andere für frech gehalten hätten. Arnulf aber erkannte den Burschen: ein Vetter dieses Mannes diente ihm, Arnulf, seit einem Jahr als Bogenschütze. »Von unten, Herr?«, fragte der Mann und packte auch schon die obersten Bündel beiseite. Arnulf nickte und grinste nun selbst – der Mann denkt mit! Er ahnte, dass der Bogner seinem Verwandten schon häufiger von schlecht verklebten Befiederungen erzählt hatte …

Arnulf klaubte einen Pfeil aus der Trommel, die der Knecht ihm reichte, und ging mit der Daumenkuppe über die weiße, gerade geschnittene Gänsefeder, gegen die Schussrichtung. Er sah den Pfalzgraf an, dann den Knecht und schließlich den Amtmann selbst. Der brachte noch einen Satz zu Ende über den hervorragenden Federschutz, der schon von König Pippin gelobt worden war.

Arnulf warf ihm das ganze Pfeilbündel vor die Füße. »Die sind schlecht geleimt«, stieß der Offizier aus. »Beim fünften, sechsten Schuss löst sich die Feder, der Pfeil flattert und verfehlt sein Ziel. Nehmt das Zeug wieder mit und bringt uns bessere Pfeile!«

Der Amtmann stemmte die Hände in die Hüften und plusterte sich auf: »Wie wollt Ihr das denn so schnell beurteilen, he?« Arnulf starrte ihn an, und was der Kerl in Arnulfs Augen sah, ließ ihn zur Seite schauen. Der Kriegsmann nickte dem Pfalzgrafen zu und machte einem der Pferdeburschen im Hintergrund ein Zeichen. Hier werde ich nicht mehr benötigt …

Mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung schwang er sich in den Sattel des Apfelschimmels, während hinter ihm ein heftiger Wortwechsel entbrannte. Als er anritt, wurde der Wortwechsel zum Geschrei. Das Letzte, was er mitbekam, war das Geräusch einer Handfläche auf einer Wange – kein Zweifel, einer der Offiziere hatte dem Amtmann seinen wahren Rang aufgezeigt, Pippin hin oder her!

Er brauchte dem Apfelschimmel nur sanft die Fersen in die Flanken zu drücken. Das Tier ließ die Gebäude der Pfalz hinter sich und schoss vorwärts, schien die helle Sonnenwärme genauso zu genießen wie er selbst. In der Luft lag ein Versprechen des Sommers. Vorwärts, zum Jagdlager! Das lag irgendwo südlich oder südwestlich der Pfalz, am Rand des Königsforstes. Der König hatte ihm zwar nicht direkt befohlen, am Geschehen teilzuhaben, aber natürlich wusste Arnulf, dass es guter Sitte entsprach, den Herrscher bei solchem Treiben zu flankieren. Man zeigte der Welt, dass der Herr der Christenheit allzeit von treuen Vasallen umgeben war! Und andersherum betrachtet, ehrte es einen wie Arnulf, nahe beim König zu stehen und als ein Vertrauter des Herrschers zu gelten.

Er durchpflügte Wiesen, Weiden, Äcker und bald hörte er das Hundegebell. Dann trieb ihm der Wind den Fleischgeruch entgegen. Am Rand eines Forstes waren mehrere Planwagen der Scara aufgefahren, in deren Mitte schuppengepanzerte Krieger eine Hirschkuh über einem Feuer drehten. Die meisten von ihnen trugen ein schwarzes Tuch um den Hals, andere hatten es um den Kopf gebunden. Sie gehörten zur schwarzen Hundertschaft, zu Arnulfs Männern. Um sie herum wimmelte eine vielköpfige Menge: das Gefolge der fremden Herren natürlich, Diener und Leibwächter, Jagdknechte in knielanger Tunika mit ledernem Unterarmschutz und eine ganze Zahl von Halbgaren – so nannte man die zwölf-, dreizehn- und vierzehnjährigen Kinder der Hofleute, die noch Freiheit zum Herumschweifen hatten. An diesem Tag hatte der Pfalzgraf sie eingeteilt, mit Wein- und Wasserkrügen unter den Wartenden zu kreisen. Arnulf wich einem Eselskarren mit Brotlaiben aus und sprang aus dem Sattel.

»Das Ross könnt Ihr bei mir lassen, Vater!« Mit breitem Grinsen griff ein halbwüchsiger Bursche nach den Zügeln des Pferdes. Der Lederpanzer ließ ihn breiter wirken als er war, höchstens zwei Zoll fehlten ihm noch bis zu Arnulfs Körpergröße. Das offene Gesicht mit den graugrünen Augen und dem breiten Mund hatte die feine, fast spitze Nase der Mutter – unmöglich, Arthur anzuschauen, ohne an Erika zu denken.

»Nimm die Hand vom Schwertgriff«, knurrte Arnulf gutmütig. »Sonst sieht jeder, wie verdammt stolz du darauf bist!« Arthur verzog den Mund und nahm die Linke vom Griff des Langschwerts, das seit wenigen Tagen an seiner Seite baumelte. Eine Waffe aus mehrfach geschmiedetem, damasziertem Stahl, die für das Töten auf dem Schlachtfeld gemacht war – als wäre er schon sechzehn und waffenfähig, statt vierzehneinhalb. In diesem Augenblick hörte er von hinten das Klirren und Knarren, das bewaffnete Reiter erzeugen. Die Thüringer Hardrads zogen an ihnen vorbei, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen. Eine seltsame Ruhe lag über der Gruppe, fand Arnulf, kein Wort fiel zwischen den Männern. Sie trugen die gleichen buschigen Schnurrbärte wie die fränkischen Krieger, ebenso die gleichen kurzgeschnittenen Kinnbärte. Kampfschilde mit rotschwarzen Mustern hingen an den Flanken der Pferde, klapperten mit jedem Schritt der Tiere.

»Reiten die nach vorn?«, fragte Arthur arglos. »Selbst der König hat sein Ross hiergelassen!« Seine Hand wies in Richtung eines aus jungen Birken geschnittenen Querholzes, wo Dutzende von Pferden unter den Bäumen spärliches Gras fraßen.

»Hochmut«, sagte Arnulf nur und strich sich über die sprießenden Kinnstoppeln. Ich werde mich rasieren, bevor Erika zurückkommt.

»Vater? Ein Kaufmann aus Worms hat erzählt, dass der Thüringer Herzog Groll auf den König hat. Der Herrscher hat seine Tochter entführt, um sie einem Vasallen zu geben. Stimmt das?«

Arnulf verzog das Gesicht. »Entführt nicht, aber …« Ein lautes Dröhnen unterbrach seinen Gedanken. Es kam aus einer Gruppe Halbgarer, die mit allerlei Fremden um ein breites, hellbraunes Ding herumstanden. »Unsere Trommeln?«, entfuhr es Arnulf. »Was soll das? Wer hat die hergeholt?« Arthur hob wie zur Entschuldigung die Hände. »Da waren ein paar Langobarden, glaube ich, die wollten was über den Spanienzug wissen …«

»Sigfrid!«, rief Arnulf. Ein Krieger mit blonder Mähne drehte den Kopf, erkannte den Offizier und kam mit federnden Schritten herbei. »Wollen die Hosenscheißer da zum Krieg rüsten?«, feixte Arnulf. Der andere lachte und wischte den Sachsenzopf aus der Stirn, einen einzelnen dünnen Zopf, der hinter dem Ohr landete. »Einer der Hundertschaftsführer hat sie geholt. Ich meine, Heden war’s. Wollte den Olivenfressern zeigen, wie eine Sarazenenpauke aussieht … Na und?«

»Trommeln heißt Alarm geben, oder?«, sagte Arnulf mit mildem Vorwurf in der Stimme. »Nehmt ihnen das Ding weg, bevor sie was anstellen … Kommt Ihr mit nach vorn?«

»Beides gleichzeitig?«, grinste der Sachse. Arnulf brummte und boxte ihn freundschaftlich gegen die Schulter, was bedeutete, dass der Sachse hier für Ordnung sorgen würde. Arnulf rief seinem Sohn noch zu, den Apfelschimmel abzureiben, dann machte er sich auf in das Halbdunkel aus Buchen und Eichen.

Seine Füße zertraten die Abdrücke der Hufeisen vor ihm. Der Weg würde ihn zum königlichen Jagdvergnügen bringen. Frisches Laubgrün wölbte sich wie ein magischer Tunnel über ihm. Ein Specht hämmerte los, hart und schnell wie ein Schmied der Bäume, dann verstummte er wieder. Das Lager hinter Arnulf war nicht mehr zu hören, die Jagd vor ihm noch nicht. Er sog die frische, duftende Luft ein und musste an einen ähnlich engen Weg denken, den er mit dem König und einigen Edlen vor genau zwei Jahren zurückgelegt hatte: Zur Pfalz von Attigny waren sie geritten, zusammen mit dem geschlagenen Sachsenherzog Widukind und seinen engsten Gefolgsleuten. Der große Widukind hatte die Taufe genommen, dem alten Glauben abgeschworen und dem König den Vasalleneid geleistet – dreizehn Jahre nach dem ersten Feldzug Karls gegen die Heiden im Norden. Blutige Jahre, die den Franken Siege auf dem Schlachtfeld brachten, aber keinen Frieden. Die sächsischen Teilstämme – Westfalen, Engern, Ostfalen – unterwarfen sich, um später ihr Wort zu brechen und erneut gegen die Frankenmacht loszuschlagen. Die Feldzüge verwüsteten ganze Landstriche – aber sie ließen auch Unbekannte wie Arnulf zu Ruhm aufsteigen: Im Jahr des Herrn 774 hatte der junge Hesse sich mit einem letzten Aufgebot zwischen Hersfeld und Fulda gegen Widukinds Heer gestemmt; längst waren die Edlen davongelaufen, denn der König stand mit seiner Armee weit weg in Italien. Mit einem gewaltigen Axthammer hatte der Krieger damals die Schildreihen der Sachsen zertrümmert, seine Kameraden mitgerissen und Widukind am Ende fast totgeschlagen. Die Erinnerung an den mörderischen Tag ließ ihn das Stechen im linken Oberarm fühlen, der damals eine tiefe Wunde davongetragen hatte. Bei Frost schmerzte diese Stelle oft. Niemals wieder hatte er jenen Hammer benutzt. Er hätte nicht einmal sagen können, wo das seltsame, mehr für den Steinbruch als den Kampf geeignete Gerät heute lag …

Ein Fuchs tauchte vor ihm auf, musterte den Menschen und verschwand mit einem Satz im Unterholz. Er dachte an Erika, die längst von der Reichenau zurück sein müsste. Sie würde staunen, dass ihr ältester Sohn schon wie ein Krieger herumstolzierte. Staunen, ohne auch nur im Geringsten erfreut zu sein! Aber kann ein gesunder Bursche etwas anderes tun, als seinem Vater nachzueifern? Er hatte den Satz laut ausgesprochen, als müsste er sich rechtfertigen – dann grinste er in sich hinein. Nein, Erika würde es verstehen … 

Seine Gedanken wanderten wieder zum König und den Besitztümern, die Karl Wochen zuvor einem neuen Vasallen im Sachsenland geschenkt hatte. Arnulf hatte es mit gespieltem Gleichmut beobachtet; unter den Truppenführern Karls galt er längst als einer, der auf ein Grafenamt oder eine andere spektakuläre Erhöhung rechnen konnte. Und spätestens seit Widukinds Kapitulation rechnete Arnulf praktisch täglich damit, dass der König ihn zur Seite nahm, um ihm den Oberbefehl über alle Scarakrieger anzutragen. Doch die Jahreszeiten gingen ins Land und Arnulf blieb der Führer einer Hundertschaft. Dass seine Schwarzen mitunter hundertfünfzig Mann oder mehr zählten, blieb eine kleine Befriedigung: Immer gab es mehr als genug Krieger, die für ihn kämpfen wollten. Sein Name zog sie an, aber auch seine Freigiebigkeit: Wenn Beute anfiel, schanzte er auch dem letzten Trossmann etwas zu. Längst hatte sich das herumgesprochen!

Ein Schrei ertönte, irgendwo hinter dem Grün vor ihm. Wie von selbst lief er schneller. Stand irgendetwas anderes bevor als ein gefälliger Nachmittag, bei dem die Jagdknechte Tiere für Männer erlegten, die dazu allein nicht fähig waren?

Da setzte das Jagdhorn ein. Ein Horn vom Auerochsen: tiefe, kurze Stöße, dreimal, viermal, fünfmal, Signale, wie er sie vom Schlachtfeld kannte. Im Geiste sah er plötzlich die Thüringer in voller Kriegsrüstung den König umringen … Er begann zu rennen.

* * *

Der Weg kurvte um einen dunklen Tümpel, er sah die Rösser spät, fast zu spät. Im Galopp trommelten sie den Waldboden entlang, trotz der Wurzeln. Auf dem ersten Pferd saßen zwei Krieger. Der hintere klammerte sich am vorderen fest. Arnulf sah dunkle Spritzer in ihren Gesichtern – Blut, Dreck? Die Augen waren weit aufgerissen, mit stampfenden Hufen dröhnte der Gaul auf ihn zu. »Halt!«, hörte er sich brüllen. Er wich nach links aus, in einen Streifen Brennnesseln – wie von selbst sprang das Langschwert in seine Hand. Fast war das vordere Ross auf seiner Höhe, da sah er die Axt mit weit vorstehender Klinge in der Hand des Reiters. Ihre Blicke kreuzten sich. Arnulf sog die Luft ein und holte aus.

Das Hufgetrommel verschluckte das Zischen der Schwertklinge. Erdklumpen des vorbeistürmenden Rosses flogen ihm um die Ohren, er sah Hand und Axt des Angreifers in den Dreck fliegen. Ein gellender Schrei … Die Lanzenspitze des folgenden Reiters raste ihm entgegen, ohne dass er sich noch wegducken konnte. Wuchtig riss die Querstange der Lanzenspitze Arnulfs Schuppenpanzer über der Hüfte auf. Er hörte das kehlige Triumphkrächzen des Mannes, dann ließ Arnulf sein Schwert fallen und umklammerte mit beiden Händen den Holzschaft der Lanze. Der andere flog aus dem Sattel, landete krachend auf dem Waldboden und überschlug sich. Arnulf sprang vor, sein Fuß traf den Mann im Gesicht, er setzte nach, noch ein Tritt in die Rippen, doch der Panzer des Kriegers hielt das Schlimmste ab. Stimmen drangen von hinten an sein Ohr, aus Richtung der Jagd. Arnulf wirbelte herum. Zwei Kerle stürmten in vollem Lauf auf ihn zu, zu Fuß, Schwerter in den Händen, Blut an Hals und Panzer. Noch mehr Thüringer … 

Arnulfs Hand riss an der Axt, die an der rechten Seite seines Waffengürtels hing. Doch es dauerte zu lange, um sie zu werfen. Er konnte nur noch das Beil heben und den ersten Schwerthieb abwehren. Dann der zweite, schräg von oben. Arnulf blieb mit einem Fuß an einem Stein oder einer Wurzel hängen und fiel hintenüber. Er sah aus den Augenwinkeln die anderen beiden Kerle verletzt davonhinken. Wieder ging die Schwertklinge eines der Thüringer auf ihn nieder, er musste sich blitzartig zur Seite drehen, in die Brennsesseln – und dort fühlte er den Griff des eigenen Schwertes zwischen den Pflanzen! Er rappelte sich wieder auf und ging mit beiden Waffen zum Angriff über. Der andere wehrte die ersten Hiebe ab, aber dann trieb Arnulf ihn mit einem gnadenlosen Hagel aus Schwert- und Axthieben über den Weg hinaus bis zum Unterholz. Ein Schlag traf den Thüringer am Knie, er stolperte ächzend zurück, bis er mit dem Rücken an einen Baum stieß. Arnulfs Schwert schlitzte dem Thüringer den Hals auf. Aus, vorbei … Wo war der andere? Geflohen!

Schwer atmend starrte Arnulf den Weg entlang in Richtung der Jagd. Niemand, nichts. Nur das immer neue Wuuuh, wuuuh des Jagdhorns, als würde ein Wesen aus der Vorzeit zu laut Luft holen. Ich muss zum König … Seine Finger betasteten das Loch im Panzer, eine Handbreit über dem Hüftknochen. Noch kein Blut, nur scharfes Pochen. Aber hinten, auf der Lichtung, da waren Männer, die nichts Böses erwarteten. Und er sah einen schlaksigen Burschen mit einem Langschwert, der ein Held wie sein Vater sein wollte, und der diesen Kerlen entgegengehen mochte …

Arnulf begann zu rennen. Nicht in Richtung des Königs. Sondern zurück, zum Lager. Schneller und schneller wurden seine Schritte, und doch kamen sie ihm vor wie das Kriechen einer Echse.

Kapitel II

Das Waldlager südlich von Worms, Mai 787

Bedrohlich wie Brandgeruch verbreitete sich die Nachricht. In Worms läuteten die Glocken. Der Erzengel Gabriel, rief jemand, habe den König vor dem Dolch der Attentäter gerettet! Andere wollten einen grellen Schein über den Pfalzgebäuden gesehen haben. Töpfer ließen halbgeformten Ton stehen, Färber stiegen aus ihren Kesseln, Mägde ließen die gerupften Hühner fallen und liefen ihrer Herrin hinterher. Alles drängte durch das Stadttor hinaus und strömte über eine große Weide zur Königspfalz.

Der König lebt! Gelobt sei Gott!

Vor dem mit hellem Lehm verputzten, zweistöckigen Hauptgebäude lagen die Toten aufgereiht: drei Thüringer, zwei Jagdknechte und ein Krieger. Eine doppelte Kette von Scarakriegern hielt das Volk auf Abstand. Herzog Hardrad war entkommen. Gerüchte rasten durch die Menge: Hardrad selbst wollte König werden! Der Thüringer war im Bündnis mit anderen Rebellen, mit den Nordsachsen, vor allem aber mit den Bayern! Heirateten nicht beide Herzogsfamilien untereinander? Warum, Pest und Eiter, ist der Bayernherzog gar nicht erst zum Hoftag erschienen?

Plötzlich behauptete jeder Wichtigtuer, dabei gewesen zu sein: vorne bei der Jagdgrube selbst. Oder zumindest hinten, im Jagdlager. Und zwar in dem Moment, als die fliehenden Thüringer aus dem Wald brachen und sich mit Schwertern einen Weg durch den Pulk der überraschten Wartenden bahnten. Sie hatten den einen oder anderen niedergehauen, sich Pferde gegriffen und waren nach Norden davongaloppiert, in Richtung der Stadt. Wenig später dann, wie eine Erlösung, tauchte der König auf. Umringt von einem halben Dutzend seiner Getreuen erschien der Herrscher mit Schnittwunden an Hals und Schultern, wie einer, der vom Schlachtfeld kommt. Und wirklich: Karl hatte das Königsschwert durendal in der Hand, und jeder konnte sehen, dass Blut an dieser Klinge haftete! Schwarze Haarsträhnen klebten auf der schweißigen Stirn des Königs, Blutflecken auf dem zerschnittenen Jagdwams kündeten von der überstandenen Gefahr. Alle strömten zusammen und riefen »Heil!« und »Carolus magnus!«, schrien Nützliches und Unnützes durcheinander. »Die Thüringer waren das!«, brüllten einige, was Karl mit lautem »Ja, Hardrads Sippe!« bestätigte. Er sah zwei, drei Schwerverletzte oder Erschlagene herumliegen, erkannte, dass die meisten Übeltäter entkommen waren und fand zur Überraschung aller zu einem Lächeln, worauf die Heilsrufe noch lauter wurden. Dieser König von gewaltigem Wuchs überragte seine Umgebung um eine volle Haupteslänge. Aber die wahre Größe, das spürte jeder, lag in diesem kriegerisch-würdigen Lächeln nach größter Gefahr: Hier stehe ich, Allmächtiger, dank Deiner Gnade! Der Herr ist mit uns, den Franken, und mit seinem König!

Mit einer hohen, angestrengten Stimme, die nicht recht zur gewaltigen Erscheinung passen wollte, rief Karl den Leuten ein paar Brocken zu: »… den habe ich selbst durchbohrt, Leute: so …!« Durendal machte einen Stoß nach vorne. Raunen, Seufzen und Bekreuzigungen folgten: »Gelobt sei Gott!« Dann entdeckte der Herrscher einen der Truppenführer in der Menge und hielt inne. »Arnulf! Himmel, wo wart Ihr?« Alle starrten den Hundertschaftsführer an, zu dessen Füßen ein zusammengekrümmter Körper im Gras lag.

»Sie kamen mir entgegen, Herr«, stieß der Offizier mit rauer Stimme aus, in der etwas Schlimmes mitschwang. »Ich war auf dem Weg nach vorn …«

»An meiner Seite hätte ich Euch gebraucht!«, rief Karl hitzig. »Aber der Herr hat über mich gewacht, der Herr selbst!« Es hätte ein Vorwurf oder einfach nur Gotteslob sein können. Arnulfs Gesicht versteinerte, und obwohl der König ihn mit heißen, von starken Brauen überwölbten Augen anstarrte, glitt Arnulfs Blick hinab zu dem Körper im Gras. Karl sah nur ein Bein und einen Teil des Oberkörpers, ahnte aber, dass es einer war, der Arnulf nahestand. Doch es war nicht der Augenblick für Sentimentalitäten.

»Holt ihn Euch, hamar !«, rief Karl endlich, wobei der Zorn seine Miene verzerrte. »Bringt mir den Thüringerherzog, tot oder lebendig !«

Karl sah, wie sich die Züge des Offiziers strafften. Im selben Augenblick tauchte ein Junge von schmalem Wuchs neben dem wuchtigen Kriegsmann auf. Karl erkannte in ihm Arnulfs jüngsten Sohn Grimbald. Arnulf packte den Knaben an der Schulter und stieß fast beschwörend ein paar kurze Sätze aus. Dann ging sein Blick zurück zum König, und Karl sah etwas wie Mordlust in den Augen des Kriegers aufblitzen. Wie das Brüllen eines Stieres drang Arnulfs Stimme über den Lärm der Lichtung – lauter, viel lauter als das Organ des Königs. Und wütender. »Auf die Pferde, Männer! Holen wir uns die Schweine, bei Gott!«

Damit schlang Arnulf rasch das schwarze Tuch um den Hals, das eben noch feucht von Blut in seiner Hand gehangen hatte und rannte zu seinem Pferd.

* * *

Königshalle nannte man den großen Raum des Hauptgebäudes der Pfalz. Eine lehmverputzte Wand wies lebensgroße Heiligenbilder auf, mittendrin der Heilige Martin in Rüstung beim Zerteilen seines Militärmantels; auf einer anderen Wand waren bunte Webbilder mit Löwen und Bären und Jägern auf Pferden. Durch zwei kleine gläserne Fenster in der Rückwand des Raums strömte das Licht des Spätnachmittags ein, hell genug für die Ärzte, um die Wunden des Königs zu versorgen. Schlimmer als Karl hatte es den Grafen Worad erwischt, den Oberbefehlshaber der Panzerreiter. Seine rechte Hand war ein blutiger Stumpf, zwei Finger hingen nur noch an Hautfetzen. Der in eisenbeschlagenes Leder gehüllte Kriegsmann saß zusammengekauert auf einem Stuhl, flankiert von zwei Ärzten oder Leuten, die sich dafür hielten. Mit weißgrauem Gesicht murmelte er religiöse Formeln sowie Verwünschungen vor sich hin. Fiebrig klang das, und jeder im Raum hatte denselben Gedanken: Wie lange konnte einer noch der oberste Leibwächter Karls sein, wenn seine Schwerthand zuschanden war?

Karl selbst hingegen stand aufrecht da, trutzige Stärke ausstrahlend. Eine bunte Zuschauerschar aus Edelherren in Jagdkluft, schmalschultrigen Kanzleischreibern und Leibdienern mit kurzem Haupthaar verfolgte die Wundversorgung des Königs aus wenigen Schritten Abstand. An zwei Stellen hatten die Schwertklingen oder Dolche der Attentäter das Jagdwams durchdrungen und blutige Risse in der Haut hinterlassen. Karls Leibarzt musste für die Versorgung ein Stück des dichten Haargekräusels wegschneiden, das fellartig die Brust und den leicht vorgewölbten Bauch des Königs überzog.

Manchen Auserwählten rief Karl etwas zu, mal mit ernstem Gesicht, mal mit hartem Lachen. Die einzige Frau im Raum – ein auffallend schönes Weib mit gleichmäßig geschwungenen Augenbrauen – saß auf einer kissenbestückten Wandbank unterhalb der Fenster. Sonnenlicht funkelte auf dem goldenen Diadem, das ihr blondes Haar band. Mit gerunzelter Stirn verfolgte sie die Verarztung ihres Mannes, während zwei halbwüchsige Jungen und ein kleines Mädchen unruhig neben ihr hin und her rutschten. Schließlich wurden ihre Lippen zu einem Strich. Ihre Stimme war hell und fest.

»Hofkapellan! Euer Gnaden?!«

Der Angesprochene wendete den Kopf. Bischof Fulrad von Metz war ein ältlicher, schwergewichtiger Mann in weinroter Robe, auf der ein silbernes Kruzifix befestigt war. Es waren nur ein paar Schritte bis zum Platz der Königin, die er mit gemächlichen Watschelschritten zurücklegte – nicht ohne sich anmerken zu lassen, dass dies für den Hofkapellan und ersten Berater des Königs eine kleine Zumutung war.

»Was soll das ganze Volk hier, Euer Gnaden?« Sie senkte die Stimme. »Warum lasst Ihr den König unter aller Augen behandeln wie ein krankes Pferd?«

Er sah sie mit trüben Augen an, die der Königin noch unheimlicher waren als sein aufgequollenes Gesicht mit der riesigen, fischartigen Unterlippe.

»Jeder muss sehen können, dass der König lebt, Herrin«, sagte Fulrad mit sanfter Stimme, und sie bemerkte die Schweißtropfen auf seiner Stirn. »Und dass die Wunden, dem Herrn sei Dank, harmlos sind. Denn wisst Ihr«, er neigte den Kopf ein wenig, und seine Stimme klang nun freundlich, »Gerüchte werden durch das Reich fliegen, schneller als Brieftauben: dass der Thüringer einen Anschlag auf des Königs Leben unternommen hat. Und Wichtigtuer werden sagen, dass Hardrads Schergen den Herrscher tatsächlich …«

»Wichtigtuer sind hier mehr als genug«, entfuhr es Fastrada. »Werft sie raus, oder muss ich das selbst tun?« Das Lächeln des Hofkapellans gefror. Er wandte sich Karl zu, dem ein Leibdiener eine saubere Tunika und ein frisches Wams übergestreift hatte. Der König bestätigte Fulrads Murmeln mit einem Nicken und fügte hinzu, laut genug für alle: »Der Kronrat soll zusammentreten, in einer Stunde.«

Fulrad wies die Anwesenden mit dürren Worten zur Tür und legte ihnen noch nahe, für die baldige Ergreifung Hardrads zu beten. Unter lautem Murmeln leerte sich die Halle, auch der verwundete Graf Worad wurde unter sanftem Druck Fulrads von Ärzten und zwei Schuppengepanzerten hinausgeleitet. Zurück blieben neben dem Hofkapellan, der Königsfamilie und ein paar Leibdienern noch ein gedrungen wirkender Edelmann mit schulterlangem Haar und wildem Bart, dessen braune Tunika über dem Schlüsselbein aufgeschlitzt war, ohne dass er offenbar eine Verletzung davongetragen hatte oder diese zur Schau stellen wollte. Und etwas abseits, mit dem Rücken zur Wand, stand der Kanzler, ein grauhaariger Mann mit tiefen Linien im Gesicht. Wie einen Schutz drückte er eine lederne Schreibmappe an seine Brust, als wäre er unsicher, ob es schon Zeit für politische Worte war, während das Blut noch trocknete.

Fastrada trat auf Karl zu und ergriff seine Hände. Sie musste zum Herrscher aufsehen, der sie um fast zwei Kopf überragte. »Das alles wegen einer Grafentochter aus dem hintersten Wald«, murmelte sie. »Der Teufel soll Hardrads Sippe holen!«

»Eine Herzogstochter, meine Liebe!«, lächelte Karl grimmig und nahm einen Weinbecher vom Tisch, auf dem eben noch die Werkzeuge des Wundarztes gelegen hatten. »Lassen wir ihr den Rang.« Er reichte seiner Frau den Becher, ein Zeichen der Hingabe, denn das war eigentlich unter der Würde eines Königs. Sie trank einen kleinen Schluck. »Es war heikel, diese Heirat gegen den Vaterwillen zu beschließen«, fuhr sie fort, nun deutlich lauter und mit einem bösen Blick auf den langhaarigen Mann in der braunen Tunika, der sich von der anderen Seite Karl genähert hatte. »Ihr hättet anderswo freien können, Sachsengraf! Wegen Euch wäre der König fast umgebracht worden!«

Kaum jemand außer der Königin hätte solche Worte an den Grafen Udalrich richten können. Der Fürst der Wesersachsen, die man auch Engern nannte, berührte mit zwei Fingern die von einer Flechte zerfressene Haut über der rechten Wange, dann die kleinen Goldkugeln, in denen ein halbes Dutzend der Bartsträhnen zusammenliefen. Sein Blick durchbohrte die Königin und war mindestens so respektlos wie ihre Worte. Die tief liegenden Augenhöhlen, an die die Flechte heranzuwachsen schien, gaben diesem Blick etwas, das den meisten Menschen Angst gemacht hätte. Er zischte den Leibdienern etwas zu und nun wanderten seine Finger, als hätte er sich auf etwas besonnen, zum goldenen Kreuzanhänger, der zusammen mit einem Bernsteinklumpen an seinem Hals hing. »Erstens, regina«, knurrte er, während ihm Wein eingeschenkt wurde, »dieser Brautplan war Eurer so viel wie meiner – die Thüringer Edlen mit den besten Geschlechtern Sachsens zu verschmelzen, so hattet Ihr selbst gesprochen! Zweitens …«

»Ich?«, rief sie schrill. »Die Treulosen mit den Unzuverlässigen zu verbinden, das war nicht meine Idee!«

»Das reicht«, sagte Karl. »Jammern wir nicht über zerschlagene Töpfe! Sagt mir lieber, welchen Nutzen wir aus der Sache ziehen können. Hat Hardrad diese Sache allein ausgeheckt? Ich kann’s mir nicht vorstellen!«

»Selbst wenn«, platzte Udalrich heraus, »ich kann tausende von Kriegern aufbieten. Ich brauche nicht mal Euren Heerbann, um die thüringischen Gaue kurz und klein zu hauen!«

»Das trauen wir Euch durchaus zu, schließlich seid Ihr unser Statthalter in den nördlichen Marken«, schnaufte Fulrad. »Nur leider« – nun schwang ein Hauch von Sarkasmus mit – »leider hätten wir herzlich wenig von solch einer Verwüstung. Es gibt aber ein viel lohnenderes Ziel, ihr Herren: Bayern!« Schwer lehnte er sich nun mit beiden Händen auf die Tischplatte. Ein Diener platzierte einen Wasserbecher vor ihm, den er mit lauten Schlucken zur Hälfte leerte. Alle blickten ihn an. »Hardrad ist nur ein Aufwiegler«, fuhr der Hofkapellan fort. »Die wirklichen Verschwörer stehen hinter ihm! Seitdem der Bayernherzog Tassilo die Heidenstämme der Südalpen unterworfen hat, hält er sich selbst für einen König. Selbst die gottlosen Awaren aus den östlichen Steppen dienern jetzt vor ihm! Und niemand anders als seine böse, hinterhältige Frau flüstert ihm täglich ein, dass er zu Höherem berufen ist. Kein Mensch unter Gottes Himmel hasst Euch, Carolus Rex, mehr als dieses Weib!«

»Warum?«, fragte Udalrich rau, den Becher an den Lippen. »Sie stammt nicht einmal aus Bayern, oder?«

»Eben drum«, sagte der König mit einem kalten Lächeln. »Sie ist eine langobardische Königstochter. Wir haben das Reich ihres Vaters in Norditalien zerstört und ihn ins Kloster gesteckt, damals, als Ihr selbst noch gegen uns gekämpft habt. Tassilo hätte uns bei dem Krieg leicht in den Rücken fallen können. Er hat’s nicht getan, weil ich ihm versprach, sein hübsches kleines Herzogtum in Ruhe zu lassen …«

Udalrichs Lächeln wirkte gezwungen. Er ruckelte an seinem Waffengurt, ein klickerndes Geräusch entstand – da war ein kleiner Beutel, in dem einige Knochen seiner Ahnen steckten, hieß es. »Auf die neue Zeit!«, prostete er dem König zu.

Der König erhob ebenfalls den Becher. »Weiter, Euer Gnaden! Ihr führt meine Gedanken gleichsam wie einen Jagdhund zur Wolfshatz … Also?!«

»Tassilos Weib will ihren Vater, ihre Eltern rächen«, stieß Fulrad aus. »Ich lege mein Hand dafür ins Feuer, Herr: Sie und Tassilo wussten von Hardrads Anschlag! Wie oft war der Thüringer im letzten Jahr in Regensburg? Mindestens zweimal, sagen meine Spione! Und mindestens einmal hat er sich mit Beratern des Bayern an einem Mainübergang getroffen, vor unserer Haustür.«

Karl nahm ein Messer auf, das die Diener mit Brot, Schmalz und Joghurt gebracht hatten. Seine Augen hatten einen kämpferischen Glanz. »Das taucht die Dinge in ein anderes Licht. Seien wir ehrlich: Allein dafür, dass Tassilo dem Hoftag fern blieb, verdient er Züchtigung!«

»So ist es, mein König«, pflichtete Fulrad eilig bei. »Ihr seid das Oberhaupt der Christenheit, Ihr seid Gottes Stellvertreter. Der Herzog der Bayern hat kein Recht, Euch zu trotzen! Gerade weil er Euer Vetter ist, der Sohn Eurer Tante, hat er das Knie vor Euch zu beugen.«

Karl prüfte mit dem Daumen die Spitze des Messers. »Seine Verwandten kann man sich nicht aussuchen, nicht wahr?« Ein Lächeln glomm auf und verschwand wieder. »Aber früher oder später muss diese Sache entschieden werden. Probleme aufzuschieben, heißt, sie wachsen zu lassen, sagte mein Vater, König Pippin, gerne. Also …« Sein Blick streifte sein Weib, den Sachsengrafen und den Kanzler, der mit geräuschlosen Schritten an den Tisch getreten war. »Eines freilich ist wichtig: Wir dürfen nicht wie die Angreifer aussehen, verstanden? Wenn der consiliarius Einhard meine vita fertiggeschrieben hat, dann muss deutlich werden, dass … «

Der König brach ab und sah sich abrupt nach links und rechts um. »Heilige Mutter Gottes – wo ist Einhard abgeblieben?«

Alle sahen einander an. Der Kanzler räusperte sich. »Ich glaube, mein König, er wollte zum Kloster Lorsch.«

Der Hofkapellan nickte und etwas Hämisches erschien in seinen Mundwinkeln. »Richtig, er suchte ein paar Bände eines alten Griechen über … über unchristlichen Geistesschwulst. Wir kennen ja seine Vorlieben.«

Kapitel III

Wormser Rheinufer, Mai 787

Die Wachen am Stadttor hatten Hardrad zum Rhein reiten sehen, zusammen mit einem halben Hundert Bewaffneter, die sich unterhalb der Stadt bereitgehalten hatten. Arnulf schlug mit seinen Leuten die Straße zur Rheinbrücke ein, einem sehr langen Bohlenweg, der sich wie auf hohen Stelzen über den mächtigen Strom dehnte. Doch was sie am anderen Ufer sahen, war wie ein Schlag in die Magengrube: Über dem Ende der Brücke hing eine dunkle Wolke. »Die Schweine haben Feuer hinter sich gelegt«, rief Sigfrid aus und zügelte sein Pferd neben Arnulfs Apfelschimmel. Er fuhr sich durch den Bart, fluchte und sah Arnulf herausfordernd an. »Vielleicht kommen wir trotzdem durch. Zu Fuß, die Pferde am Zügel?!«

Arnulf richtete sich in den Steigbügeln auf und kniff die Augen zusammen. Ein leichter Wind ging, die Rauchwolken trieben gen Osten. Die Flammen im Zentrum des Qualms waren mehr zu ahnen als zu sehen. »Versucht es, Sigfrid! Aber bringt Euch nicht um, hört Ihr?«

Der Sachse grinste, machte zwei Kriegern ein Zeichen und ritt mit ihnen im leichten Trab auf die Brücke. Ein weiterer Kampfgefährte Arnulfs brachte sein Pferd neben ihm zum Stehen, und allein durch den Weingeruch wusste Arnulf, dass es sein zweiter Truppführer war.

»Was macht der da?«, grunzte Gallo. Er war ein Westfranke aus Neustrien, ein Welscher also – so nannte man alle die, die nicht den ostfränkischen Dialekt sprachen.1 Er war nicht eben eine Schönheit: ein eher schmaler Kopf saß auf einem dicken Hals und fleischiger Schulterpartie, die Arme waren lang, die Beine etwas kurz, gerade im Sattel war das kein hübscher Anblick. Doch seine gute Laune war so zäh wie Büffelleder, und dafür schätzte ihn Arnulf. Ernst, das wusste der Offizier, wurde Gallo nur in völlig nüchternem Zustand. Und dies war auch an diesem Tag nicht zu befürchten. »Der Sachsenschädel will sein Pferd braten?«, lästerte Gallo. »Hätte er in der Pfalz machen können, am Feuer!«

»Schwätzer«, presste Arnulf hervor, was der Welsche in keinster Weise übel zu nehmen schien. Er wischte dicke, schwarze Haarsträhnen aus der Stirn und löste einen Trinkbeutel vom Sattelhorn. »Von hundert Leuten, hamar, kommen genau zwei auf so eine Idee: Sigfrid und Ihr selbst. Warum nicht die Fähre nehmen? Einen Trunk?«

Arnulf nahm den Beutel und trank einen Schluck: Ein Geschmack wie in Bier aufgeweichte Ziege. Schon machten die Reiter auf der Brücke kehrt – da war kein Durchkommen. Eilig ritten sie durch sumpfige Wiesen ein Stück flussaufwärts zum Fährplatz. Das Frühjahrshochwasser lag noch nicht lange zurück. Schwärme von Mücken stiegen auf. Einige Krieger brachen in lautes Fluchen aus, andere schlugen nach den Quälgeistern, die meisten aber zogen einfach die Halstücher über das Gesicht und gaben den Pferden die Sporen. Zwei Fähren setzten Arnulf und Sigfrid mit den ersten fünf Dutzend Mann über, während Gallo mit weiteren Leuten am Westufer wartete.

»Die Thüringer können noch nicht weit sein«, sagte Sigfrid und drehte den Donarhammer am Handgelenk.

»Sie haben Verwundete dabei«, nickte Arnulf. »Wenn sie die mitschleppen, haben wir den Haufen bald eingeholt.«

Sigfrid grinste kriegerisch, als freute er sich auf jenen Moment. Er ritt seit nunmehr bald vier Sommern an Arnulfs Seite. Auf der Flucht vor einer blutigen Fehde in seiner sächsischen Heimat hatte er Arnulfs Schutz angenommen. Im Gegenzug hatte er ihm giniscaft geschworen, Kriegertreue.

»Wir warten nicht auf Gallos Trupp«, stellte Arnulf grimmig fest. Schon kam das östliche Ufer auf sie zu. Er musste an seinen Sohn denken und sah dabei so besorgt aus, dass Sigfrid seine Gedanken erriet. »Das war nur eine Fleischwunde, meine ich«, murmelte der Sachse unvermittelt. »Sein Schädelknochen war intakt … In ein paar Tagen prahlt er wieder mit seinem Schwert.«

Arnulf brummte etwas und biss sich auf die Unterlippe. Die Schwertspitze des Thüringers hatte Arthur über der Stirn getroffen, vom Haaransatz bis zur Braue. Er war nicht bei Bewusstsein, als der Vater die Wunde untersuchte, aber Arnulf wollte glauben, was Sigfrid sagte. Wäre dies auch passiert, wenn ich ihm nicht schon das Schwert gegeben hätte? Hat sein Bruder ihn gleich zum Arzt schaffen lassen?

»Der Junge ist reif für den Kampf«, sagte Sigfrid halblaut. »Ich hab’ schon Achtzehnjährige gesehen, die weniger reif waren.« Arnulf knurrte etwas wie Zustimmung. Die Worte des Gefährten taten ihm gut, auch wenn er es nicht zugegeben hätte. Sigfrid mochte etwa dreißig sein, ein paar Jahre jünger als Arnulf selbst. Eine Narbe, schräg über den Lippen, bildete eine schmale Schneise im blonden Vollbart.

»Woher habt Ihr eigentlich diese Scharte?«

Graublaue Augen starrten den Offizier an, nicht mehr freundlich. »Habe ich das noch nie erzählt?«, murmelte der Sachse.

Arnulf schüttelte den Kopf. »Das waren Panzerreiter, hm? Habt Euch mit Scarakriegern rumgeschlagen, vor meiner Zeit!«

»Nein.« Es war stillschweigende Übereinkunft zwischen Sachsen und Franken, nicht über die Kämpfe zu sprechen, die man einst gegeneinander ausgefochten hatte. Sie sahen wieder nach vorn: eine halbe Bogenschussweite bis zum Ufer. Menschen mit löchriger Kleidung und ein paar Ziegen am Strick blickten ihnen misstrauisch entgegen.

»Meine Mutter«, sagte Sigfrid endlich. »Ich war ein paar Jahre jünger als Euer Sohn … Meine Mutter erwischte mich, wie ich von der Blutwurst fraß, die für den Wodanspriester bestimmt war. Sie schlug sofort zu. Mit einem Topf, glaube ich.«

»Im Ernst?« Arnulf erlaubte sich ein Grinsen. »Gut, dass wir nie gegen Eure Frauen kämpfen mussten!«

* * *

Vorwärts!

Arnulfs Ahnung trog nicht: Ein halbes Dutzend Meilen östlich des Rheins stießen sie im Kloster Lorsch auf die ersten der Fliehenden. Einen rotgesichtigen Krieger, der noch ein ledernes Jagdwams trug, sahen sie unter den Torbogen des großen Eingangs stehen. Sie gaben den Pferden die Sporen, der Mann verschwand im Hof.

Keiner hatte Augen für das prächtige Torhaus mit der Front aus weinroten und weißen Steinen, und niemand nahm Anstoß daran, dass sie durch den mittleren der drei Torbogen galoppierten, der eigentlich König und Bischöfen vorbehalten war. Hinter einer Pferdetränke sah Arnulf Mönche in langer, mit Stricken zusammengehaltener Kutte, die dort in Deckung gegangen waren. Sie gestikulierten und zeigten auf einen mageren Kerl mit strubbligem Haar, der vor der Kirchentür Aufstellung genommen hatte.

Die Franken sprangen von den Pferden. Der Magere wedelte mit den Armen und schrie laut »Asyl des Herrn!« und »Kreuz-Asyl!«, als müsste er den Verfolgern etwas erklären. Sie sahen Blut aus einem Hosenbein rinnen, der Stoff war aufgeschlitzt.

»Wo sind die anderen?«, herrschte Arnulf ihn an. Er antwortete mit neuen, noch lauteren Asylrufen. Arnulf mähte ihn mit einem Faustschlag nieder. »Asyl ist in der Kirche, nicht vor der Kirche!« Als er die Tür des Gotteshauses aufstieß, flatterten Schwalben auf. Fensteröffnungen in zehn Fuß Höhe ließen genügend Licht ein, um ein paar Gestalten am Altar zu erkennen. Eine war wimmernd zusammengesunken. Eine andere hatte die Hände vorgestreckt wie zur Abwehr. Der dritte Mann hielt ein Schwert in der Hand. »Gott ist mein Schild«, krächzte er, als Arnulf auf ihn zumarschierte. »Am Altar müsst Ihr uns verschonen!«

»Auf Gott beruft Ihr Euch?«, herrschte Arnulf ihn an. »Warum nicht gleich auf den König?« Er zog die Axt aus der Schlaufe, rechts am Gürtel, wo die meisten das Kurzschwert hatten. Schon klirrte das Schwert auf den Boden.

»Erbarmen!« Der Thüringer ging in die Knie. Arnulfs wuchtiger Tritt mit dem Reiterstiefel unterbrach sein Wimmern, keuchend krümmte der Kerl sich zusammen. Sigfrid packte ihn an den Haaren und zog seinen Dolch.

»Der Herzog ist längst weitergezogen, er hat uns hier zurückgelassen, verschont uns!« Sigfrid grunzte etwas und legte ihm das Messer an den Hals.

»Lasst ab«, sagte Arnulf eindringlich. »Nicht am Altar!«

»Weil Euer Heiland dann böse ist?«, fragte Sigfrid mit gerunzelter Stirn, die Klinge über dem Hals des Japsenden.

»Erraten.«

Sigfrid wedelte mit der Dolchhand, sein silberner Donarhammer baumelte am Handgelenk hin und her. »Sagt dem Heiland, dass ich ein Heide bin, dann drückt er ein Auge zu.«

»Schenkt Ihnen das Leben!« Eine schmächtige Gestalt eilte herbei, tauchte aus dem Halbdunkel auf wie eine Erscheinung.

»Einhard!?«, entfuhr es Arnulf. »Was treibt Ihr hier, gilerito?«

Der Gelehrte trug eine schmucklose Tunika mit einem hellen Überwurf, der vorne im Gürtel steckte; unter seinem linken Arm steckten einige Papierrollen. »Ich war in der Bibliothek, als diese … diese Burschen hier reinstürmten«, sagte der Gelehrte mit etwas angestrengtem Lächeln und fuhr sich durch das dünne, weit oberhalb der Stirn beginnende Haar. »Nun, wir sind erstmal in Deckung geblieben, was?« Die beiden schmalen, etwa zwanzig Jahre alten Burschen hinter Einhard wedelten mit weiteren Papierrollen. »Die hätten uns was antun können, Herr«, murmelten sie.

»Sie wollten dem König etwas antun, Leute«, sagte Arnulf kalt. »Es sind Meuchelmörder!«

Einhard zuckte zusammen und berührte Arnulfs röhrenartigen Unterarmschutz. »Der König lebt?«

Arnulf schilderte mit drei Sätzen, was passiert war. Einhard strich über sein Bärtchen, viele Linien durchzogen jetzt die hohe Stirn. »Sie werden es den Bayern anhängen«, sagte er, den Blick nach innen gerichtet.

Arnulf verzog das Gesicht. »Tassilo? Der Herzog war nicht in Worms.« Dazu nickte Einhard nur, als würde es seinen Gedanken bestärken. Dann fragte er noch beiläufig, ob der Hofkapellan wohlauf sei.

Arnulf kratzte sich an den Kinnstoppeln. »Bischof Fulrad war nicht bei der Hatz dabei, dem kann nichts passiert sein.«

»Gelobt sei der Herr!«, seufzte der Gelehrte. Fast klang es aufrichtig.

* * *

Als Arnulfs Männer durch das Klostertor preschten, um die Verfolgung wieder aufzunehmen, stieß Gallo mit seinen Leuten zu ihnen. Halbernst gemeinte Worte flogen den Ankömmlingen entgegen: dass die Westfranken gerne zu spät kamen, und wenn, dann betrunken.

Im straffen Galopp ging es weiter. Die Spur führte nicht nach Norden, wie Arnulf zuerst erwartet hatte, sondern ostwärts: Die von vielen Hufen aufgewühlte Straße schlängelte sich die Höhen des Odenwalds hinauf. Die Straße wurde zum Weg, bald streiften die Zweige der Bäume ihre Schultern. Vorbei ging es an aus dem Wald geschlagenen Gehöften. Sie sahen Frauen hinter Zäunen verschwinden, riefen halbnackte Arbeiter auf dem Feld an, die sofort mit der Hand nach Osten zeigten: Zum Main sind sie!

Am frühen Abend hielten sie auf einem kleinen Plateau mit einem Steinkreuz. Von hier ging der Blick weit nach Osten, und Arnulf konnte das Maintal im grünen Gewoge erkennen. Wollen die Attentäter auf ein Schiff? Sie würden gegen die Strömung segeln müssen …

Sie ritten weiter bergab, schließlich tauchte noch eine letzte Höhe vor ihnen auf, über die der Weg zum Ufer hinabzuführen schien. Arnulf befahl Halt. Rechts von ihnen war der Hang überzogen mit einem Filz aus Brombeeren, Kletterpflanzen und jungen Bäumen, zwischen ihnen sah man noch die schwarzen Stümpfe eines Waldbrandes. Dort war kein Durchkommen.

Da kam ein einzelner Krieger aus der Kolonne an den anderen Pferden vorbei nach vorn. Ein drahtig wirkender Kerl mit wettergegerbtem Gesicht und Linien um die Augen, die etwas Düsteres hatten – einer von Sigfrids Wesersachsen, die er in Arnulfs Dienst mitgebracht hatte. »Ich kann sie riechen, Herr«, sagte der Mann, ohne die Stimme zu heben. Er hielt Arnulfs Blick für die Dauer eines Herzschlags. »Sie warten auf uns!«

Arnulf folgte dem Blick, starrte wieder auf die bewaldete Höhe vor ihnen. »Ein Hinterhalt?«, grunzte Arnulf und zurrte an seinem Halstuch, um Luft an die Haut zu lassen. »Keine schlechte Stelle.« Er befahl abzusitzen. Der Hagere murmelte noch etwas zu Sigfrid und verschwand wieder nach hinten in die Kriegerkolonne.

Misstrauisch sah Gallo ihm nach. »Ist das ein Seher oder was? Der sagt doch sonst nie was!«

»Deshalb nennen wir ihn auch Schweiger«, entgegnete Sigfrid und ließ den dünnen Zopf durch die Finger gleiten. Auch er war angespannt.

»Ach, wirklich?«, murmelte Gallo. »Wie gut, wenn man Wodansanbeter dabei hat, die sprechen mit den Bäumen und den Käfern.«

Sigfrid schnaubte etwas Verächtliches und schlüpfte mit dem linken Arm in die Griffringe des Schildes, das er vom Sattel gelöst hatte. Erwartungsvoll sah er Arnulf an. Der hatte sein Tuch wieder straff um den Hals gebunden und prüfte die Axt in der Halteschlaufe am Gürtel. Ein harter Blick glitt über seine Krieger.

»Die wollen uns überraschen. Drehen wir den Spieß um!«

Kopfnicken und das Grinsen narbiger Gesichter antworteten ihm. Sie zogen die Kinnriemen der Helme fest, bekreuzigten sich und ließen die Schwertspitzen aneinander klirren: Kriegertreue, giniscaft, verhieß dieses Geräusch. Dann gab sax hamar seine Befehle.

* * *

Gallo würde mit seinen gut dreißig Mann in Richtung der Hügelkuppe weiterreiten. Als ahnten die Franken nichts … Die anderen mussten sich durch das Unterholz links des Weges auf die Kuppe zubewegen. Ihr Lärm war der einer Rinderherde im Wald – so kam es Arnulf vor, als er mit großen Schritten vorweglief. Doch nichts tat sich vor ihnen. Als das Gelände kaum noch anstieg, verharrte er einen Augenblick, sah sich nach Sigfrid um und zog die Axt. Bei einem Kampf im Unterholz war sie handlicher.

»Und jetzt?«, raunte Sigfrid und zerquetschte eine Mücke am Hals. »Geht mit Euren Leuten weiter, geradeaus, auf die andere Seite der Kuppe«, murmelte Arnulf, einer Eingebung folgend. »Ihr fangt dort alles ab, was vom Kampfort flieht.«

Sigfrids Blick ging nach vorne, versuchte das dichte Grün zu durchdringen. Schweigend nickte er. Doch ausgerechnet jetzt kam Arnulf sein ganzer Plan tollkühn und halsbrecherisch vor. Ist dieser Schweiger denn ein Hellseher? Aber einfach weiterzureiten, das wäre genauso riskant gewesen. Er drückte Sigfrids Oberarm, kurz und kräftig. Der Sachse grunzte, machte seinen Leuten Handzeichen und arbeitete sich weiter vor.

Arnulf zählte langsam bis dreißig. Er spürte die Blicke der Krieger auf sich, wusste, dass er nicht eine Spur von Zweifel zeigen durfte. Von den Sachsen war nichts mehr zu sehen, auch nichts zu hören. Vorsichtig setzten sie sich wieder in Bewegung, hielten jetzt direkt auf die Kuppe zu. Äste knackten, Krieger zischten wütend, wenn sie in Erdlöcher traten. Nichts regte sich vor ihnen. Doch Spechte arbeiteten über ihren Häuptern. Das Geräusch erinnerte Arnulf an den Vormittag, den Marsch zur Jagdstellung. Rasch verdrängte er die Gedanken wieder. Dann tauchte zwischen dem Grün vor ihnen das Rotbraun einiger Pferde auf – die Thüringergäule?! Angebunden an jungen Bäumen. Wo bleibt Gallo?