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Arsène Guillot ist ein psychologischer Roman von Prosper Mérimée, der im 19. Jahrhundert in Frankreich veröffentlicht wurde. Das Buch erzählt die Geschichte von Arsène Guillot, einem mysteriösen Mann, der durch seine undurchsichtige Natur die Menschen um ihn herum fasziniert. Mérimée verwendet eine klare und prägnante Sprache, um die Psyche des Protagonisten zu erforschen und die komplexen sozialen Strukturen der damaligen Zeit darzustellen. Durch seine detaillierten Beschreibungen und subtilen Nuancen fordert das Werk den Leser heraus, über Moral, Identität und Verantwortung nachzudenken. Mit seiner einzigartigen Erzählweise und tiefgründigen Charakterisierung hebt sich Arsène Guillot von anderen Werken seiner Zeit ab. Prosper Mérimée war ein renommierter französischer Schriftsteller, der für seinen Stil und seine Fähigkeit bekannt war, psychologische Tiefe in seine Werke zu integrieren. Als Experte für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts verband Mérimée historische Fakten mit fiktiven Elementen, um fesselnde Geschichten zu schaffen. Seine Erfahrung als Archäologe und Historiker spiegelt sich in seinem präzisen und detaillierten Schreibstil wider, der von Kritikern und Lesern gleichermaßen geschätzt wurde. Mérimées Faszination für die menschliche Natur und die Abgründe der Seele zeigt sich deutlich in Arsène Guillot. Für Liebhaber psychologischer Romane und klassischer französischer Literatur ist Arsène Guillot ein Muss. Mit seinem tiefgründigen Inhalt und der meisterhaften Darstellung der Charaktere bietet das Buch eine fesselnde Lektüre, die den Leser in die Welt des mysteriösen Protagonisten eintauchen lässt. Die subtile Spannung und die moralischen Dilemmas machen Arsène Guillot zu einem zeitlosen Werk, das auch heute noch relevant und packend ist.
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Seitenzahl: 81
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In Sankt Rochus war die letzte Messe eben zu Ende, und der Küster machte die Runde, um die verlassenen Kapellen zuzusperren. Er wollte das Gitter eines jener aristokratischen Kirchenstühle schließen, wo manche fromme Damen sich die Erlaubnis, vor den übrigen Gläubigen ausgezeichnet, zu Gott zu beten, erkauft haben, als er bemerkte, daß noch eine Frau darinnen war, die, wie es schien, in stille Betrachtungen versunken, den Kopf auf die Rücklehne ihres Sessels neigte. »Das ist Frau von Piennes,« sagte er sich, am Kapelleneingange verharrend. Frau von Piennes war dem Küster gut bekannt. Zu jener Zeit war es für eine junge, reiche und hübsche Dame der Gesellschaft, die in die Messe ging, Altardecken schenkte und durch ihres Pfarrers Vermittlung reiche Almosen spendete, recht verdienstvoll, fromm zu sein, wenn sie mit keinem Regierungsbeamten verheiratet, nicht mit der Frau Dauphine verbunden war, und außer ihrem Seelenheile nichts durch vieles Kirchenbesuchen zu gewinnen hatte. Und so stand es um Frau von Piennes.
Der Küster hatte große Lust zum Mittagessen zu gehn, denn solche Leute essen um ein Uhr. Wagte aber die fromme Sammlung eines in der Pfarrei von Sankt Rochus so geschätzten Wesens nicht zu stören. Er entfernte sich also, die ausgetretenen Schuhe auf den Fliesen klappern lassend, nicht ohne die Hoffnung, daß, wenn er den Rundgang durch die Kirche gemacht, er die Kapelle leer finden würde.
Er war bereits auf der anderen Chorseite, als eine junge Frau in die Kirche trat und neugierig um sich schauend, in einem der Seitenschiffe auf und abging. Altarblätter, Stationen, Weihwasserkessel, all diese Gegenstände schienen ihr ebenso fremd, wie es für Sie, gnädige Frau, die heilige Nische oder die Inschriften einer Rairenser Moschee sein könnten. Etwa fünfundzwanzig Jahre war sie alt; man mußte sie aber sehr aufmerksam betrachten, um sie nicht für älter zu halten. Obwohl ihre schwarzen Augen sehr funkelten, lagen sie tief in blauen Ringen; ihre farblosen Lippen kündigten Leiden an, während eine gewisse kecke und frohe Miene in diesem Blicke lebhaft mit solch kränklichem Aussehen in Widerspruch stand. In ihrem Anzuge würden Sie eine seltsame Mischung von Nachlässigkeit und Gesuchtheit gefunden haben. Ihr mit künstlichen Blumen geschmückter Kapotthut hätte besser für eine kleine Abendgesellschaft gepaßt. Unter einem langen Kaschmirschal, deren erste Besitzerin sie nicht war, wie das geübte Auge einer Dame der Gesellschaft erraten haben würde, verbarg sich ein etwas abgenutztes Kleid aus Kattun, die Elle zu zwanzig Sous. Ein Mann endlich würde ihren Fuß bewundert haben, wenn er auch mit gewöhnlichen Strümpfen und pflaumenblauen Schuhen bekleidet war, die seit langem die Unbilden des Pflasters zu erdulden schienen. Der Asphalt, gnädige Frau, war, wie Sie sich erinnern, noch nicht erfunden worden.
Diese Frau, deren soziale Stellung Sie haben erraten können, näherte sich der Kapelle, wo Frau von Piennes sich befand; und nachdem sie die einen Moment mit etwas unruhiger und verwirrter Miene betrachtet hatte, näherte sie sich ihr, als sie sie aufstehen und im Begriffe fortzugehn sah.
»Könnten Sie mir angeben, gnädige Frau,« sagte sie mit sanfter Stimme und einem schüchternen Lächeln, »könnten Sie mir angeben, wohin ich mich wenden muß, um eine Kerze zu weihen?«
Solch eine Sprache klang zu fremd in Frau von Piennes Ohren, als daß sie sie sofort verstanden hätte. Sie ließ sich die Frage wiederholen.
»Ja, ich möchte dem heiligen Rochus eine Kerze weihen; weiß aber nicht, wem ich das Geld dafür geben muß.«
Frau von Piennes besaß eine zu aufgeklärte Frömmigkeit, um in den Volksaberglauben eingeweiht zu sein. Doch respektierte sie ihn, denn jegliche Verehrungsform hat etwas Rührendes, wie plump sie auch immer sein mag. Überzeugt, es handle sich um ein Gelübde oder etwas Ähnliches, und zu mitleidig, um aus dem Anzuge der jungen Frau mit dem Rosahut Schlüsse zu ziehen, was Sie vielleicht furchtlos tun würden, wies sie sie an den näherkommenden Küster. Die Unbekannte dankte ihr und lief zu jenem Manne, der sie verstand, ohne daß sie alles zu sagen brauchte. Während Frau von Piennes ihr Messebuch nahm und ihre Schleier ordnete, sah sie die Kerzendame eine kleine Börse aus ihrer Tasche ziehen und daraus aus sehr vieler kleinen Münze ein einsames Fünffrankenstück nehmen und es dem Küster einhändigen, indem sie ihm ganz leise lange Ermahnungen machte, die er lächelnd anhörte.
Zu gleicher Zeit verließen sie beide die Kirche; die Kerzendame ging aber sehr schnell, und Frau von Piennes hatte sie bald aus dem Auge verloren, obwohl sie in der nämlichen Richtung ging. An der Ecke der von ihr bewohnten Straße begegnete sie ihr von neuem. Unter ihrem gebrauchten Kaschmir suchte die Unbekannte ein Vierpfundbrot zu verbergen, das sie in einem Nachbarladen gekauft hatte.
Als sie Frau von Piennes wiedersah, senkte sie den Kopf, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken und verdoppelte ihre Schritte. Ihr Lächeln sagte: »Was wollen Sie? Ich bin arm!« Machen Sie sich über mich lustig, ich weiß wohl, daß man in Rosakapotthut und Kaschmirschal kein Brot kauft.« Diese Mischung von Schüchternheit, Ergebung und guter Laune entging Frau von Piennes durchaus nicht.
Nicht ohne Betrübnis dachte sie an die wahrscheinliche Lage dieses jungen Mädchens. »Ihre Frömmigkeit,« sagte sie sich, »ist verdienstvoller als meine. Sicherlich ist ihre Fünffrankengabe ein viel größeres Opfer als der Überfluß, den ich, ohne mich im geringsten zu berauben, den Armen zuwende.« Dann erinnerte sie sich an die Scherflein der Witwe, die Gott angenehmer sind als die prunkenden Almosen der Reichen. »Ich tue nicht genug Gutes,« dachte sie, »tue nicht alles, was ich tun könnte.« Indem sie sich innerlich Vorwürfe machte, die sie durchaus nicht verdiente, kam sie nach Hause. Die Kerze, das Vierpfundbrot und vor allem das Opfer des einzigen Fünffrankstücks hatten Frau von Piennes Gedächtnis das Antlitz der jungen Frau, die sie für ein Beispiel der Frömmigkeit hielt, eingeprägt.
Ziemlich häufig noch begegnete sie ihr in der Straße bei der Kirche, doch niemals im Gottesdienst. Jedesmal, wenn die Unbekannte an Frau von Piennes vorbeiging, senkte sie den Kopf und lächelte sanft. Dies gar bescheidene Lächeln gefiel Frau von Piennes. Gern hätte sie eine Gelegenheit gefunden, sich dem armen Mädchen gefällig zu erweisen, das ihr anfangs Interesse eingeflößt hatte, jetzt aber ihr Mitleid erregte, denn sie hatte bemerkt, daß der rosa Kapotthut verblich und der Kaschmirschal verschwunden war. Zweifelsohne war er zur Trödlerin zurückgekehrt. Sankt Rochus hatte das Opfer, das man ihm dargebracht, augenscheinlich nicht hundertfältig vergolten.
Eines Tages sah Frau von Piennes, wie ein Sarg in Sankt Rochus hineingetragen wurde, dem nur ein reichlich schlechtgekleideter Mann folgte, der keinen Flor um seinen Hut trug. Er sah nach einem Portier aus. Seit mehr als einem Monate war sie der jungen Frau mit der Kerze nicht begegnet, und es kam ihr der Gedanke, sie wohne deren Beerdigung bei. Nichts war wahrscheinlicher, denn sie war so blaß und mager gewesen, als Frau von Piennes sie das letzte Mal gesehen hatte. Der befragte Küster erkundigte sich bei dem Manne, der dem Sarge folgte. Der antwortete, er sei Hausmeister in einem Hause Rue Louis-le-Grand; eine seiner Mieterinnen sei gestorben, eine Frau Guillot, und da sie weder Verwandte noch Freunde, nur eine Tochter gehabt, so wohne er aus reiner Herzensgüte, er, der Hausmeister, der Beerdigung einer Person bei, die ihn nichts angehe. Sofort stellte Frau von Piennes sich vor, ihre Unbekannte sei im Unglück gestorben, hinterlasse eine kleine Tochter ohne Beistand, und nahm sich vor, durch einen Geistlichen, den sie gewöhnlich für ihre guten Werke benutzte, Erkundigungen einziehen zu lassen.
Am übernächsten Tage hielt, als sie von Hause fortfuhr, ein quer über die Straße stehender Karren ihren Wagen einige Augenblicke auf. Als sie mit zerstreuter Miene durch den Vorhang guckte, sah sie das junge Mädchen, das sie für gestorben hielt, gegen einen Prellstein gelehnt. Mühelos erkannte sie sie wieder, obwohl sie bleicher und magerer denn je, und in Trauer gekleidet, doch ärmlich, ohne Handschuhe, ohne Hut war. Sie hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, statt ihres gewöhnlichen Lächelns waren ihre Gesichtszüge verzerrt, ihre großen schwarzen Augen blickten verstört; sie wandte sie nach Frau von Piennes hin, ohne sie jedoch zu erkennen, denn sie sah nichts. Aus ihrer ganzen Haltung ließ sich nicht Schmerz, sondern ein wilder Entschluß ersehen. Der Karren hatte sich entfernt, und Frau von Piennes Wagen fuhr in scharfem Trabe weiter; doch des jungen Mädchens Bild und sein verzweifelter Ausdruck verfolgten Frau von Piennes einige Stunden lang. Bei ihrer Rückkehr sah sie einen großen Menschenauflauf in ihrer Straße. Alle Portierfrauen waren vor ihren Türen und erzählten ihren Nachbarinnen etwas, dem sie mit lebhafter Teilnahme zuzuhören schienen. Besonders vor einem Hause, das dem von Frau von Piennes bewohnten benachbart war, drängten sich die Gruppen. Alle Augen waren auf ein offenes Fenster im dritten Stockwerke gerichtet, und in jedem kleinen Kreise erhoben sich ein oder zwei Arme, um es der allgemeinen Aufmerksamkeit kenntlich zu machen; dann senkten sich die Arme plötzlich zur Erde, und alle Augen folgten dieser Bewegung. Irgend ein ungewöhnliches Ereignis war eben geschehen.
Als Frau von Piennes ihr Vorzimmer durchschritt, fand sie ihre Dienerschaft verstört, jeder bemühte sich um sie, um als erster den Vorzug zu haben, ihr die große Neuigkeit des Viertels zu erzählen. Bevor sie aber eine Frage tun konnte, hatte ihre Kammerfrau gerufen:
»Ach, gnädige Frau! ... wenn gnädige Frau wüßten!« ...
Und mit unglaublicher Schnelligkeit die Türen öffnend, war sie mit ihrer Herrin in das »Sanctum sanctorum« will sagen ins Ankleidezimmer, eingetreten, das für das übrige Haus unzugänglich war.
»Ach! gnädige Frau,« sagte Fräulein Josephine, während sie Frau von Piennes den Schal abnahm, »ich bin ganz ab. Nimmer hab' ich etwas so schreckliches gesehn, das heißt, ich hab's nicht gesehen, obgleich ich im Augenblick hernach hingelaufen bin ... Aber trotzdem ...«
»Was ist denn nur geschehn? Erzählen Sie schnell, Kind.«