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Warum wir uns dringend um unsere Jungs kümmern müssen
Jungs sind die Bildungsverlierer der Nation! Die Pädagogik ist einseitig geworden, weil sie auf die Bedürfnisse von Mädchen fixiert ist. Immer weniger Menschen scheinen das Geheimnis glücklicher Jungs zu kennen: Sobald ein Junge seine Grenzen austesten will, sind wir mit ihm überfordert. Wir müssen umdenken, damit Jungs wieder Jungs sein dürfen: anstrengend, energiegeladen und bewegungsfreudig.
Birgit Gegier Steiner fordert in ihrem Buch eine jungengerechte Erziehung für Kindergarten, Schule und Zuhause, die die Bedürfnisse von Jungen berücksichtigt und sie ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechend fördert und fordert. Birgit Steiner verrät außerdem, was Fußball mit Erziehung zu tun hat: Es wird Zeit für das »fußballdidaktische Prinzip«.
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Seitenzahl: 249
BIRGIT GEGIER STEINER
ARTGERECHTE HALTUNG
ES IST ZEIT FÜR EINE JUNGENGERECHTE ERZIEHUNG
GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Coverfoto: © Andy Goodwin/Corbis
ISBN 978-3-641-17396-8
www.gtvh.de
VORBEMERKUNG
Ich wünsche mir, mit meinen Beispielen aus der pädagogischen Praxis und der kritischen Auseinandersetzung mit unserer erzieherischen Realität …
• Zustimmung, aber auch • konstruktive Kritik• Diskussionsbereitschaft• Gelassenheit im Umgang mit diesem Thema• gelegentliches Schmunzeln • ein Umdenken bei Eltern und Pädagogen… zu bewirken.
Ich danke von Herzen meinem Mann Matthias, der mir half, das Rätsel »Jungen« ein bisschen zu entschlüsseln und mich ermutigte, für sie Stellung zu beziehen.
Die beschriebenen Vorgänge haben alle tatsächlich stattgefunden. Die Namen der Protagonisten wurden im Sinn des Persönlichkeitsrechts geändert.
INHALT
Vorwort – »Und wie du wieder aussiehst …«
1. JUNGEN SIND ANDERS
2. CHANCENGLEICHHEITSWAHN
3. ANFASSEN ERLAUBT
4. WENN ES BRODELT, MUSS ES RAUS – BEWEGUNG ALS KATALYSATOR
5. ZWISCHEN BAUCHGEFÜHL UND WISSENSCHAFT
6. DAS FUSSBALLDIDAKTISCHE ERZIEHUNGSPRINZIP
7. WILDE KERLE, ABENTEURER UND KLEINE FORSCHER
8. JUNGEN SIND GRENZGÄNGER
9. JUNGEN BRAUCHEN FÜHRUNG
10. HELIKOPTERELTERN UND ÜBERMÜTTER
11. AUCH DAS HABEN SÖHNE: ADHS.
12. AB HEUTE MACHEN WIR ES ANDERS!
Schlusswort
Literatur
VORWORT – »UND WIE DU WIEDER AUSSIEHST …«
Ständig schlägt sich unser Sohn das Knie auf! Nach dem Spielen sind seine Hosen durchgewetzt und schmutzig. Er ist in Prügeleien verwickelt, tobt lautstark herum und fasst alles an. Jedes Holzstück mutiert in seinen Händen zu einem Ritterschwert oder einer Laserkanone. Die Auswahl seiner Freunde erschreckt uns, die Klagen über sein Verhalten machen uns Angst!
Die Ergebnisse beim Diktat sind eine Katastrophe, die Noten peinlich schlechter als bei der kleinen süßen Luise aus dem Nachbarhaus.
Gewiss hat er ADHS oder leidet zumindest unter einer Lese-Rechtschreib-Schwäche.
Er ist ein kleiner Rebell auf kurzen Beinen – ständig in Bewegung oder in Konflikte verstrickt – so haben wir uns unser Kind nicht gewünscht! Wir sind überfordert mit der Energie, die aus ihm rund um die Uhr heraussprudelt.
Und wir haben Angst! Angst davor, dass unser Sohn ein »Bildungsverlierer« wird. Dass andere – vor allem die Mädchen – an ihm vorbeiziehen. Wir haben Angst davor, dass er seinen Weg nicht findet und den falschen Freunden folgt. Wir haben Angst davor, dass er seine Bewegungsmotivation und seinen Drang nach Grenzüberschreitung als Hooligan, als Rechtsradikaler in Springerstiefeln oder als Dschihadist auslebt.
Wer einen Sohn hat, kennt diese bedrückenden Gedanken gewiss. Die Sorge, dass aus diesem kleinen Energiebündel ein rebellischer Nichtsnutz werden könnte, treibt uns um.
Schließlich haben wir es ja auch schwarz auf weiß: Unsere Jungs sind die Bildungsverlierer der Nation! Es war ein schleichender Prozess. In den letzten Jahrzehnten standen ausschließlich die Mädchen im Fokus. Sie waren benachteiligt. Ihnen musste geholfen werden. Sie hat man in ihrer Entwicklung unterstützt.
Und nun? Eltern, Erzieher und Lehrer suchen Rat: Weshalb konnte es so weit kommen? Was hat sich geändert? Stülpen wir den Jungen ein Erziehungsmodell über, mit dem sie nicht zurechtkommen können? Haben wir unsere Wertehaltung und Erziehung feminisiert? Es scheint so, als wollten wir das Jungenhafte in den Jungs abschaffen – weil es so anstrengend ist, weil wir bequem geworden sind, weil sich unsere Vorstellung, wie Jungs zu ticken haben, nicht mehr mit der Realität deckt.
Nicht nur die häusliche Erziehung, nein, unser ganzes Bildungssystem ist inzwischen auf die Entwicklungsförderung von Mädchen zugeschnitten. Für die Bedürfnisse unserer Jungs bleibt da kein Platz mehr!
Die schlechte Nachricht ist: Die Angst der Eltern ist berechtigt. Die Geschichte zeigt uns, dass gerade in Zeiten der Orientierungslosigkeit und der individuellen Hilflosigkeit radikale Gruppierungen großen Zulauf bekommen, weil sie eben jungen Menschen Orientierung, Führung und Zugehörigkeit versprechen.
Die gute Nachricht ist, dass eine jungengerechte Erziehung genau dem entgegenwirkt, uns und unseren Jungs Sicherheit gibt und damit die Ängste unbegründet werden.
Ich schrieb dieses Buch, um aufzuzeigen, dass wir die natürlichen Gegebenheiten in unserer Erziehung ignorieren, verändern oder gar abschaffen wollen, anstatt zuzugeben, dass Jungen nun einmal anders sind. Sie haben besondere Bedürfnisse. Nur wenn wir diese akzeptieren und berücksichtigen, können sie sich zu authentischen, zufriedenen, stolzen Persönlichkeiten entwickeln.
In dreißig Jahren Berufserfahrung als Lehrerin, Schulleiterin und Dozentin in der Weiterbildung konnte ich viele spannende, lustige, aber auch traurige und groteske Situationen beobachten – und meine Meinung dazu bilden. Auch die Rolle als Mutter von zwei eigenen Kindern und drei Stiefsöhnen sowie der Austausch mit anderen Erziehenden sensibilisierten meine Wahrnehmung. Am augenfälligsten war für mich die Beobachtung, wie bewegt und multisensorisch kleine Jungs ihre Welt und sich selbst erkunden. Aber auch wie sie körperintensiv Kontakt mit ihrem Umfeld aufnehmen und interagieren. Ich suchte die Erklärung dafür in über zwanzig verschiedenen Studien der Pädagogik, der Soziologie, der Medizin, der Biologie und der Evolutionstheorie und wurde fündig. Es überraschte mich, wie widersprüchlich die Aussagen der verschiedenen wissenschaftlichen Studien waren. Mehr als die weichgespülten soziologischen Studien überzeugten mich die Studien der Naturwissenschaften: der Biologie, der Evolutionstheorie und der Medizin. Alle drei Disziplinen belegen eindeutig: Jungen sind anders. Sie brauchen ihren eigenen Erziehungsansatz. Sie untermauern und erklären das typische Jungenverhalten. Die wichtigsten Thesen meines Lösungsansatzes münden in das fußballdidaktische Erziehungsprinzip. Es sind die Erkenntnisse aus Erfahrungen und Beobachtungen, verknüpft mit wissenschaftlichen Fakten. Ein Erziehungsansatz nur für Jungs? Nein, es ist der Erziehungsansatz. Auch Mädchen profitieren davon. Aber für Jungs ist er existenziell.
Was hat Fußball mit Erziehung zu tun? – Lesen Sie selbst. Ich freue mich auf Ihr zustimmendes Kopfnicken, über ein Schmunzeln oder Ihre Bereitschaft, sich auf neue Diskussionen einzulassen.
Jedes Kapitel ist gespickt mit vielen selbst erlebten Geschichten. Ich zeige auf, weshalb Jungen andere »Schul-Wege« brauchen, um glücklich und erfolgreich zu sein, und wie diese aussehen könnten. Wege, die ihnen helfen, nicht abzudriften in eine Welt der Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit, die unweigerliche Aggression und unnachgiebige Gewalt nach sich zieht. Die pädagogischen, didaktischen und methodischen Ideen sind nicht nur in der Schule und der Kita, sondern auch im familiären Zusammenleben umsetzbar.
Das fußballdidaktische Erziehungsprinzip ist die Antwort für alle besorgten Eltern und Erzieher.
Es ist ein erzieherisches Leitbild, das auf Normen und Werten basiert, die Jungs wünschen, brauchen und akzeptieren.
Es respektiert den hohen Bewegungsdrang von Jungs und nimmt sie als Abenteurer und Forscher wahr – es gibt ihnen aber auch klare Grenzen und Regeln vor. Es setzt auf feste Strukturen innerhalb eines Teams, wo das Gefühl der Zugehörigkeit beim Einzelnen wachsen kann, ohne dass er seine eigene Individualität verliert.
1. JUNGEN SIND ANDERS
• WARUM EIN PLÄDOYER FÜR JUNGEN NOTTUT• WARUM WIR IN DER GENDERDISKUSSION DIE KURVE KRIEGEN MÜSSEN• WARUM JUNGEN NICHT SCHLECHTER SIND ALS MÄDCHEN – NUR EBEN ANDERS»Brauchen Jungs einen anderen didaktischen Ansatz, um Sprachen zu lernen?« Dieser Titel hatte mich sehr viel mehr angesprochen als der ganze Wust an Vortragsangeboten beim »Bundeskongress moderner Fremdsprachen« in Augsburg.
Das Vortragsthema machte mich neugierig. Ich hatte nicht erwartet, dass auf einem eher pragmatisch orientierten Fachkongress dieses Thema eine Rolle spielen würde. In meiner beruflichen Praxis aber hatte ich schon seit Längerem wahrgenommen, dass Jungen anders als Mädchen auf die aktuellen erzieherischen Ansätze und Bildungsangebote reagieren: Sie bereiten Probleme und rebellieren. Ebenso hatte ich festgestellt, dass sich unsere Erziehung zunehmend auf die Förderung von Mädchen fixiert hat – sowohl zu Hause als auch in der Schule. Unsere Pädagogik ist einseitig geworden: Weiblichkeit tritt nicht nur in der mehrheitlichen Präsenz in Erscheinung, sondern auch in der Qualität der Einflussnahme. Es gibt viel mehr Lehrerinnen als Lehrer – der männliche Standpunkt wird zu häufig gar nicht, und wenn doch, dann auf weibliche Art vermittelt. Das heißt, dass jede robustere Form des Umgangs verpönt ist und jede Konfliktsituation einfühlsam und mit vielen Worten gelöst werden muss.
Gespannt nahm ich also im Seminarraum Platz. Die junge Dame, die den Vortrag halten sollte, war Mitte zwanzig. Scheu lächelnd blickte sie in die Runde ihrer Zuhörer: Da saßen Lehrpersonen, Erzieher, Hochschuldozenten und wissenschaftliche Mitarbeiter. Jeder von ihnen zeigte Interesse an dem bevorstehenden Vortrag der Studentin. Kommilitonen beobachteten scharfsinnig, wie sie ihre Studienergebnisse präsentierte. Dozenten richteten ihren Fokus auf die Art und Weise der Präsentation. Mich dagegen interessierte vor allem der Inhalt. Die junge Dame berichtete, zunächst nervös, dann immer engagierter und lebhafter, was ihr bei ihren ersten Unterrichtsschritten aufgefallen war: Mädchen und Jungen reagierten völlig unterschiedlich auf ihre Unterrichtsangebote. Mit eindrücklichen Fotos untermauerte sie ihre Ausführungen: In einer Situation spielten die Kinder ein Wörterwettspiel. Die Jungen platzierten sich links, die Mädchen rechts im Raum. Jeweils ein Gruppenvertreter stand an einem Tafelflügel und notierte die Zurufe seiner Mitschüler. Die Mädchen saßen brav auf ihren Stühlen und kommunizierten mit ihrer Vertreterin; die Jungen hielt es nicht auf den Stühlen. Der eine kletterte auf einen Tisch und engagierte sich offensichtlich lautstark, der andere lag bäuchlings auf seinem Tisch, den rechten Arm wie ein Pfeil nach vorn gereckt, als wollte er am liebsten selbst alles an die Tafel schreiben. Schneller wollten sie sein – und besser. Die Mädchen dagegen versuchten durch regen Austausch ans Ziel zu kommen.
In einer anderen Situation experimentierten die Kinder mit Wasserfarben. Ohne konkrete Hinweise sollten sie Farben mischen, um zu neuen Farbkreationen zu kommen. Das Ergebnis war witzig: In den vier Gläsern der Mädchen schillerten wunderschöne Farben in Orange, Lila, Grün und Weinrot. In den Gläsern der Jungen war der Einheitslook dunkelgrau. Sie hatten alle Farben wild zusammengemischt. Die Aktion selbst war ihnen offenbar wichtiger als das Ergebnis.
Die junge Pädagogin stellte fest: Jungen lieben alles, was mit Bewegung und Action zu tun hat, und sind deshalb dankbar für handlungsorientierte Unterrichtsformen. Ihr Resümee: Jungen haben auch am Sprachen-unterricht Freude und zeigen Lernfortschritte, wenn man ihre Bedürfnisse bei der Planung berücksichtigt.
Ich hätte sie knuddeln können. Ihre Präsentation mag kein fachwissenschaftliches Highlight gewesen sein und ihre Datenerhebung nicht ganz den Kriterien einer wissenschaftlichen Arbeit entsprechen, aber ihre Erkenntnisse waren hautnah und vollkommen zutreffend. Mit solchen jungen Kolleginnen und ähnlich tickenden jungen Müttern könnten wir hoffnungsfroh in die erzieherische Zukunft blicken. Aber die überwiegende Realität sieht leider anders aus!
JUNGEN SIND DIE NEUEN BILDUNGSVERLIERER DER NATION
Übergangsquoten und Leistungserhebungen verdeutlichen ganz offensichtlich, dass Jungen in Sachen Bildung immer weiter zurückfallen. Es ist an der Zeit, darüber laut zu diskutieren und eine Kehrtwende in unserer Erziehung und unserem Bildungssystem einzuleiten.
Aber nein, die Genderdiskussion ist doch nichts Neues, mag ein guter Beobachter einwenden. Es gibt sie doch schon seit Jahrzehnten! Ja, Sie haben recht! Wir führen diese Diskussion mindestens seit den 1970er-Jahren intensiv – mal mehr, mal weniger sachlich.
Aber was war und ist das Hauptanliegen dieser Diskussion? Gleichberechtigung, Gendergerechtigkeit, Bewusstseinsmachung, Entwicklungsförderung, Geschlechtersensibilität und Rollenkultur. Das Thema ist unerschöpflich.
»Erziehung ist ein menschlicher Vorgang und sollte daher menschliche, nicht geschlechtsspezifische Qualitäten herausbilden.« So beginnt die Einführung der Lehr- und Lernmappe »Mach es gleich!« zum Thema Gender und Schule – ein von EU-Geldern finanziertes Projekt. Beim Durchblättern der Unterrichtsmappe überkommt mich das kalte Grauen: Ausführlich werden symptomatisch augenfällige Unterschiede im Verhalten von Jungen und Mädchen beschrieben, um letztlich ausschließlich darauf hinzuweisen, dass Jungen sich falsch – weil kämpferisch, aggressiv und weniger kommunikationsbereit – verhalten, während das Verhalten der Mädchen doch eigentlich vorbildlich und von sozialer Kompetenz geprägt ist, sich aber leider als wenig erfolgreich erweist. Als Konsequenz daraus verlangt man eine intensive naturwissenschaftliche und technische Förderung von Mädchen und Girlsdays, um sie für typische Männerberufe zu begeistern. Während man Jungs zur Rücksichtnahme gegenüber Mädchen ermahnt und ihnen neuerdings, um eine gewisse Pseudogerechtigkeit zu wahren, Boysdays in sozialen und pflegerischen Berufen anbietet. Diese Gendermainstreaming-Aktionen reichen aber noch nicht aus: Im Berufslebenverlangt man die Besserstellung von Frauen bei gleicher Qualifikation und Quoten für die Besetzung von Führungspositionen. Aus allen Diskussionen tröpfelt letztlich die Erkenntnis: So wie wir es gerade erleben, ist es nicht gut. Es muss etwas geändert werden – vorzugsweise für die Mädchen und Frauen! Welches Ungleichgewicht sich insbesondere auf politischer Ebene eingeschlichen hat, zeigt sich in der Implementierung neuer Ministerien: »Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend« oder »Ministerium für Kultur, Jugend, Familie und Frauen«. Welches Ministerium kümmert sich explizit um Jungen und Männer?
Hier beginnt bei mir das Stirnrunzeln: Es hat sich ganz offensichtlich schon sehr viel verändert zugunsten von Mädchen und Frauen. Sollten wir nicht einmal innehalten, nachdenken und uns besinnen?
Kann es nur darum gehen, die Chancengleichheit für Mädchen und Frauen durchzusetzen? Wäre es nicht fair, auch das männliche Geschlecht mit in den Fokus zu nehmen? Ist es nicht genauso wichtig, sich Gedanken über die Bedürfnisse von Jungen zu machen? Wir müssen in dieser Genderdiskussion die Kurve kriegen und neue Wege suchen!
Wie mit der Brechstange wird versucht, Frauen in Führungspositionen zu katapultieren und aus jungen Männern Kita-Erzieher zu formen – ohne dabei die tatsächlichen Talente, Fähigkeiten und Werte von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass sowohl Mädchen als auch Jungen spezifische Fähigkeiten und Talente haben, die zwar verschieden, aber in ihrer Qualität gleichwertig sind.
Ich möchte hier nicht den Anschein erwecken, als gehörte ich zu diesen Frauen-an-den-Herd-Verfechterinnen, die die Rolle rückwärts in längst überholte Rollenklischees vorantreiben. Nein, dazu gehöre ich nicht. Ich habe meinen Platz bereits gefunden in der wachsenden Gruppe von sich selbst verwirklichenden, Fulltime-beschäftigten Frauen, die Familie und Beruf verbinden und sich eine Führungsposition erarbeitet haben.
Und ich bin dankbar und glücklich, genau den Beruf ausüben zu können, der mir größte Freude und Befriedigung verschafft. Lehrerin wurde ich, weil es mein Herzenswunsch war, Kinder und Jugendliche zu fördern und ein Stück weit in ihrem Leben zu begleiten.
Als ich vor acht Jahren die Stelle als Rektorin einer Grundschule antrat, setzte ich mich bei der ersten Schulleitertagung des Schuljahres brav in die hinterste Reihe und staunte über die vielen männlichen, stark ergrauten Köpfe vor mir. Inzwischen wage ich es, auch in den vorderen Reihen Platz zu nehmen – und wenn ich mich umdrehe, blicke ich in die Überzahl der fröhlich lächelnden weiblichen Gesichter unter schwarzen, braunen und blonden Haarschöpfen – grau ist rar geworden, denn frau färbt ihr Haar … Insofern haben wir schon einen kleinen der vielen offensichtlichen Geschlechterunterschiede gefunden.
Grundsätzlich ist mir bei aller Diskussion das Wichtigste: Alle, Männer wie Frauen, haben ein Recht darauf, sich ihren Fähigkeiten gemäß weiterzuentwickeln. Jungen wie Mädchen können ohne Einschränkung und Nötigung alle Möglichkeiten wahrnehmen, um sich im Rahmen ihrer Begabungen und Interessen weiterzuentwickeln. Nur das schafft Befriedigung und innere Ruhe. Förderliche, gelegentlich kritische Impulse von außen helfen dabei, mit sich zufrieden zu sein, ohne in Selbstzufriedenheit zu erstarren.
DAS »ES« AUF DEM VORMARSCH
2012 fiel mir dieser unsägliche Zeitungsartikel der New York Times International in die Hände. Eigentlich lese ich diese Zeitung nur, um mein Englisch aufzupolieren, aber der kleine Artikel hatte es in sich: Lessons in Equality start early in Sweden. Man stelle sich das vor: Da gibt es doch tatsächlich Unterricht in Gleichheit (oder Gleichmacherei?). In einer schwedischen Vorschule – mit Wartelisten! – werden Jungen und Mädchen bewusst gleich erzogen. Gut, mögen Sie denken, das ist ja nichts Verderbliches: Jungen dürfen mit Puppen spielen, Mädchen mit Autos und Baggern. »Progressive« Mütter, Väter und Erzieher von heute beschreiten diesen Weg der Chancengleichheit. Aber was in dieser schwedischen Vorschule geschieht, geht meiner Ansicht nach absolut zu weit: Nicht nur, dass unsere herrliche alte Märchenliteratur verstümmelt wird: Schneewittchen und Aschenputtel gibt es dort auch mit männlichen Pendants in den Hauptrollen zum Vorlesen. Nein, man verstümmelt auch die in vielen Jahrhunderten gewachsene Sprachenvielfalt: Die Erzieher1 vermeiden männliche und weibliche Personalpronomen wie »er« und »sie« und verwenden stattdessen das geschlechtsneutrale Pronomen hen.
Glücklicherweise wird diese gender madness auch von anderen kritisiert, wie etwa in einem Kommentar des Svenska Dagbladet, in welchem nachgehakt wird: »Und was geschieht, wenn ein Mädchen plötzlich anfängt, Blumen zu pflücken, während der kleine Junge Steine sammelt?« Genau, sie sind nämlich doch nicht alle gleich! Es gibt da viel mehr als den gewissen kleinen Unterschied … Diesen Unterschied rücken verschiedene Leistungsvergleichsstudien wie PISA und IGLU in den Blick. Galten noch vor zwanzig Jahren die Mädchen als die Benachteiligten unseres Schulsystems, vermutet man heute, dass die Jungen in der Schule benachteiligt werden, denn die Zahlen sprechen ihre eigene Sprache:
Im Jahr 2010 wurde in Nordrhein-Westfalen ein Drittel mehr Mädchen als Jungen vorzeitig eingeschult, aber 45 Prozent mehr Jungs wurden um ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt, um in Grundschulförderklassen den »Schulkindstandard« zu entwickeln. Der Anteil von Jungen, die die Förderschule besuchen, beträgt zwei Drittel! Bemängelt wird vor allem ihre geringe emotionale wie soziale Reife (83 Prozent), kritisiert wird die fehlende Sprachkompetenz (70 Prozent). Jungen wechseln häufiger die Schule oder brechen vorzeitig ab, weshalb sie in der gymnasialen Oberstufe unterrepräsentiert sind.
Mädchen wird schon im Grundschulalter die bessere Lesekompetenz bescheinigt – und je älter die Schüler, desto weiter klafft die Kompetenzschere zwischen Jungen und Mädchen auseinander. Lesen und Leseverständnis sind eine essenzielle Kompetenz, um sich im Leben zu bewähren. 48 Prozent der Mädchen geben Lesen als Lieblingshobby an, aber nur 15 Prozent der Jungen finden Lesen just for fun gut. Liegt es daran, dass Jungen grundsätzlich keine Lust haben zu lesen? Oder kann es sein, dass wir ihnen nicht die Bücher und Textquellen zukommen lassen, die sie interessieren? Bedeutet es, dass Mädchen mit Informationen, die sie über längere Texte erschließen müssen, besser, weil lieber, als Jungen umgehen? Schulen Jungen ihre analytischen Fähigkeiten demnach anders als Mädchen? Das würde erklären, warum Mädchen selbst mit dem herkömmlichen Frontalunterricht, bei dem die Lehrkraft ihren Vortrag mit einem Tafelanschrieb oder Textkopien unterstützt, besser zurechtkommen als Jungen. Bei dieser Form des darbietenden Unterrichtens ist ein Schüler hauptsächlich als Hörender und Zusehender gefragt: Weil er nur bedingt von sich aus etwas beitragen darf, fühlt er sich emotional unbeteiligt. Die Informatio-nen bleiben nicht so gut im Gedächtnis haften. So als würde er eine TV-Sendung anschauen, nur um sich die Zeit zu vertreiben. Der Effekt ist derselbe: Man kann sich danach an nichts Wesentliches mehr erinnern.
Computer- und Videospiele sind für Jungen dagegen interessant: Wer Computerspiele spielt, ist als Handelnder gefragt. Vor ihm spielt sich nicht nur etwas ab. Er kann Einfluss nehmen. Er steht sogar im Mittelpunkt des Computer-Szenarios und inszeniert sich als kleiner (oder großer) Held. Aber auch hierbei verzichtet er auf alle anderen Sinneskanäle, die das Lernen unterstützen und optimieren können. Da ist der Tastsinn, der seine Reize hauptsächlich über die Haut und über die Hände erfährt. Da gibt es die kinästhetische Wahrnehmung, das Bewegungsempfinden, mit dessen Hilfe wir Bewegungen unbewusst kontrollieren und steuern können sowie die sogenannte vestibulare Wahrnehmung, die uns bei der Orientierung im Raum und bei der Feststellung unserer Körperhaltung hilft. In meiner langjährigen Tätigkeit an Schulen fiel mir auf, dass insbesondere Jungen sich gern auf Situationen einlassen, die gerade diese Sinne herausfordern.
Wenn mehrere Körpersinne gleichzeitig beansprucht werden, führt das also dazu, dass Informationen besser eingeprägt werden. Dr. Manfred Spitzer, Hirnforscher und Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm, empfiehlt deshalb, unterschiedliche Annäherungsweisen an ein Sachproblem anzubieten, um allen Kindern gerecht zu werden. Spitzer bleibt in seinen neurologischen Studien neutral, was geschlechtsspezifische Besonderheiten angeht. Die Beobachtungen im Alltag bewiesen mir, dass Jungen nicht nur vom »mehr-sinnigen« Lernen profitieren, sondern dass sie es geradezu herausfordern.
Der Erziehungswissenschaftler Dr. Klaus Hurrelmann liefert für die offensichtliche Benachteiligung von Jungs ein sozialisationstheoretisches Erklärungsmodell: Mädchen hätten im modernen Bildungssystem mehr Identifikationsfiguren als Jungen, da es an männlichen Lehrern und Erziehern mangele. Prof. John Hattie stellte 2001 in seiner umfänglichen Studie fest: Beim Lernen kommt es in erster Linie auf die Fähigkeiten der Lehrenden an, nicht zuletzt auf deren Empathiefähigkeit. Ausschlaggebend ist nicht die Geschlechtszugehörigkeit. Die Frage ist: Fällt es einer Frau, selbst wenn sie über viel Empathie verfügt, genauso leicht, sich in einen Jungen hineinzuversetzen wie in ein Mädchen? Und welche Auswirkung hat die Tatsache zunehmend häufigerer Trennungen von Eltern und die geringer werdende Präsenz von Vätern für Jungs?
Ein afrikanisches Sprichwort besagt ja: »Die Welt eines Kindes sind die Eltern.« Mutter und Vater also. Auch wenn Väter früher tagsüber weniger präsent waren, so lebten sie doch eine männliche Rolle vor und beschäftigten sich auf ihre Weise mit ihren Kindern, besonders mit den Jungen. In der Geborgenheit einer intakten Familie hat ein Kind, Junge oder Mädchen, die Chance, sich an verschiedenen Rollenmodellen orientieren zu können. Modelling, die Leitbild- und Vorbildfunktion, ist für die Entwicklung des Kindes von allergrößter Bedeutung. Je weniger – vor allem gleichgeschlechtliche – Identifika-tionsmodelle dem Kind zur Verfügung stehen, desto ärmer ist sein Entwicklungsangebot. Hinzu kommt, dass Jungen klare, führungsbetonte Strukturen dringend suchen, darauf gehe ich später ausführlich ein. Diese fallen aber ersatzlos weg, wenn unsere familiären Strukturen immer unstabiler werden. Wie ist der Einfluss von Vätern auf die Erziehung heute tatsächlich? Haben unsere Jungen inzwischen weniger männliche Vorbilder, weil es immer mehr geschiedene Eltern gibt? Ist der Einfluss anders, weil auch die Väter sich verändert haben? Tatsächlich treten Frauen heute sehr viel selbstbewusster auf als früher. Sie vertreten ihre Rechte und Anschauungen auch in der Erziehung. Haben wir unsere Erziehung feminisiert und stülpen den Jungs nun ein Modell über, das sich bei ihnen nicht bewähren kann? Ignorieren wir ihre Bedürfnisse?
Ich möchte Sie davon überzeugen, dass Jungs nun einmal anders sind und ein eigenes Erziehungsprogramm benötigen! Ich finde es kurios, wie häufig versucht wird, natürliche Sachverhalte grundlegend zu verändern oder gar abzuschaffen. Wir müssen akzeptieren, dass Jungen anders sind – aber keinesfalls schlechter als Mädchen.
1. Da es sich einfach besser lesen lässt, verwende ich nur die männliche Form, meine aber selbstverständlich auch die Frauen.
2. CHANCENGLEICHHEITSWAHN
• WARUM WIR FRAUEN NICHT GANZ UNSCHULDIG SIND• WARUM WIR GEFAHR LAUFEN, CHANCENGLEICHHEIT MIT GLEICHMACHEREI ZU VERWECHSELN• WARUM WIR DEN BLICK AUFS WESENTLICHE VERLIERENAuch ich gehörte zu den Müttern, die in den 80er-Jahren dem Chancengleichheitswahn verfallen waren. Das begann bereits mit der bärchenbraunen Strampelhose, in die ich meine Kinder bewusst steckte, anstatt eine blaue oder rosane zu wählen. Janine, meine Tochter, hatte kein Problem damit, einjährig, den blauen Anorak ihres Bruders oder den gelb-blauen Skianzug zu tragen. Ob mit oder ohne Pudelmütze: Es gab immer wieder ein Rätselraten darüber, ob sie nun Junge oder Mädchen war.
Dennoch trieb ich die optische Gleichmacherei nicht so weit, dass ich meinem Sohn Rüschenblüschen und Röckchen anzog. Meine Tochter jedoch trug gerne eine kurze Lederhose: die war praktisch und robust.
Konsequenter war ich beim Spielsachenangebot: Florian bekam frühzeitig sein erstes Püppchen. Ich habe alle meine Puppen generalüberholt und in sein Spielzimmer gesetzt. Dabei herrschte politische Korrektheit: Die eine Puppe war blond und hatte eine helle Haut, die andere war ein braunes Püppchen. Leider saßen die beiden weitestgehend unbeachtet auf ihren Kissen. Mein Sohn bevorzugte als steten Begleiter seinen kleinen männlichen Teddybär, den er wohl heute noch, so strapaziert und zerfleddert er auch ist, irgendwo in seinem Schlafzimmer aufbewahrt.