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Mach dich bereit für eine Odyssee: tiefer ein in die Welt von Assassins Creed mit dem offiziellen Roman zum mit Spannung erwarteten neuen Game. Griechenland, im 5. Jahrhundert v. Chr. Kassandra ist eine Söldnerin spartanischen Geblüts, die von ihrer Familie zum Tode verurteilt und ins Exil verbannt wurde. Sie begibt sich auf eine epische Reise, um eine legendäre Heldin zu werden!
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Seitenzahl: 484
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GORDON DOHERTY
Aus dem Englischen von Robert Montainbeau
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Englische Originalausgabe:
“ASSASSIN’S CREED: Odyssey” by Gordon Doherty, published by Ubisoft and Penguin Books, England, November 2018.
© 2018 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved. Assassin’s Creed, Ubisoft and the Ubisoft logo are registered or unregistered trademarks of Ubisoft Entertainment in the U. S. and/or other countries.
No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).
Übersetzung und Lektorat: Timothy Stahl und Robert Montainbeau
Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest
Chefredaktion: Jo Löffler
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDACTP010E
ISBN 978-3-7367-9964-6
Gedruckte Ausgabe:
ISBN 978-3-8332-3717-1
1. Auflage, November 2018
www.paninibooks.de
Für meine Familie
Liste der Personen
Alexios Kassandras jüngerer Bruder, der nach einer vernichtenden Prophezeiung des Orakels von Delphi als Baby vom Taygetos-Gebirge geworfen wurde.
Alkibiades Listiger und vergnügungssüchtiger Schutzbefohlener von Perikles, dem mächtigsten Mann in Athen.
Anthousa Die oberste Hetäre im Tempel der Aphrodite in Korinth.
Archidamos Der ältere von Spartas beiden Königen.
Aristeus Der korinthische Strategos.
Aristophanes Athens vielleicht berühmtester Komödienschreiber.
Aspasia Als brillante Denkerin und Rednerin sowie Partnerin von Athens Oberhaupt Perikles bewegt sich Aspasia inmitten der pulsierenden intellektuellen Elite.
Barnabas Treuer Freund von Kassandra, ein weit gereister Seefahrer und einstiger Söldner mit einer Vorliebe für Lügengeschichten.
Brasidas Als einer von Spartas besten und tapfersten Feldherrn war Brasidas außerdem ein versierter Politiker, mit dem noblen Ziel, dabei zu helfen, den Krieg zu beenden.
Chrysis Eine Kultpriesterin, die Deimos aufgezogen hat, damit er zu einer Waffe für den Kult des Kosmos wird.
Deimos Aufgezogen im Kult des Kosmos, um dessen Held und Verteidiger zu werden, ist Deimos eine brutale lebende Waffe mit außergewöhnlichen Kräften, die ihm zu einem furchterregenden Ruf verholfen haben.
Diona Eine Kultistin aus Kythera.
Dolops Sohn von Chrysis und Priester im Heiligtum des Asklepios.
Elpenor Ein reicher, mächtiger Geschäftsmann aus Kirrha.
Erinna Eine von Anthousas Hetären.
Euneas Navarchos der naxischen Flotte.
Euripides Berühmter Athener Tragödiendichter.
Hermippos Ein Bühnendichter und Poet … mit dunklen Beziehungen.
Herodotos „Der Vater der Geschichte“, ein Chronist von Fakten und Ereignissen und trotzdem ein guter Geschichtenerzähler, der sich dazu entscheidet, Kassandra auf ihrer Reise zu begleiten.
Hippokrates Gemeinhin als Vater der modernen Medizin betrachtet, ist Hippokrates berühmt für seine wichtigen und nachhaltigen Beiträge auf diesem Feld.
Höker, der Ein Kultist, der den Schattenmarkt kontrolliert und wegen seiner Foltermethoden gefürchtet ist.
Hyrkanos Ein von den Athenern angeheuerter Söldner, der in Megaris tätig ist.
Ikaros Kassandras treuester Gefährte, seit er ein Adlerjunges war.
Kassandra Eine abgebrühte und Furcht einflößende Söldnerin.
Kleon Der machthungrige Rivale von Perikles, der glaubt, dass Athen im Krieg eine aggressive Haltung einnehmen sollte.
Leonidas Spartas legendärer König und Kassandras Großvater, der vor allem dafür berühmt ist, dass er seine dreihundert Krieger in die Schlacht bei den Thermopylen geführt hat.
Lydos Ein Leibeigener im Dienst der beiden Könige von Sparta.
Markos Ein zwielichtiger kephallenischer „Geschäftsmann“.
Myrrine Kassandras Mutter; eine leidenschaftliche Spartanerin.
Nikolaos Kassandras Vater, ein harter, rücksichtsloser General von unerschütterlicher Loyalität gegenüber Sparta.
Orakel von Delphi Das Orakel, das sowohl von gewöhnlichen Bürgern wie auch den mächtigsten Leuten in Griechenland befragt wird, liefert Prophezeiungen und Einsichten, die das Blatt der Geschichte wenden können.
Pausanias Der jüngere der beiden Könige von Sparta.
Perikles Das gewählte Oberhaupt von Athen.
Phoibe Ein junges Waisenmädchen aus Athen, das von Kassandra adoptiert worden ist.
Pythagoras Legendärer Philosoph, politischer Theoretiker und Geometer.
Roxana Eine von Anthousas Hetären.
Silanos Ein Kultist, der dank seiner seemännischen Fähigkeiten und wohlhabenden Unterstützer in Paros zu Macht gekommen ist.
Sokrates Berühmter athenischer Philosoph, der von der intellektuellen Elite Athens gefördert wird.
Sophokles Berühmter Athener Tragödiendichter.
Testikles Der talentierte und stets berauschte Pankrationsmeister von Sparta.
Thrasymachos Sokrates’ intellektueller Sparringspartner.
Thukydides Einer von Athens wichtigsten Feldherrn während des Peloponnesischen Krieges und einer der ersten Geschichtenerzähler, der eine objektive Darstellung des Konflikts verfasst hat.
Zyklop, der Mächtiger verbrecherischer Tyrann von Kephallenia.
Prolog
Sparta
Winter, 451 v. Chr.
SiebenSommerlangtrugicheinGeheimnisinmeinemHerzen.EineFlamme,wärmendundwahr.Niemandsonstkonntesiesehen,aberichwusste,siewarda.WennichzumeinerMutterundmeinemVateraufblickte,spürteichjedesMal,wiesiehellerbrannte,undwennichmeinenkleinenBruderbetrachtete,spürteichihreWärmeüberallinmeinemKörper.EinesTageswagteich,meinerMutterdavonzuerzählen.„DusprichstvonLiebe,Kassandra“,hattesiegeflüstert.IhrBlickwurdeunruhig,alsfürchtetesie,jemandkönntesiehören.„AbernichtvonjenerArt,wiesiebeiSpartanernüblichist.SpartanerdürfennurdasLand,denStaatunddieGötterlieben.“SiehieltmeineHändeumfasst,undichmussteihretwasschwören:„ErzähleniemalsirgendjemandemvondeinemGeheimnis!“
In einer Winternacht, während eines heulenden Sturmes, saßen wir alle zusammen an unserer Herdstelle, in der ein Feuer prasselte. Der kleine Alexios in Mutters Armen, ich zu Füßen meines Vaters. Vielleicht trugen wir ja alle die gleiche geheime Flamme in uns? Der Gedanke zumindest tröstete mich.
Und dann zerriss ein Geräusch die Stille in unserer warmen Zuflucht. Etwas kratzte vernehmlich an der Tür.
Vaters ruhiger, gleichmäßiger Atem verstummte. Mutter presste den kleinen Alexios an ihre Brust und starrte zur Tür, als könnte nur sie dort einen Dämon im Schatten erkennen.
„Es ist Zeit, Nikolaos“, ertönte von draußen eine Stimme, die wie knisterndes Pergament klang.
Vater erhob sich und schlang den blutroten Umhang um seinen muskelbepackten Körper. Sein dichter schwarzer Bart verhüllte jede Regung seines Gesichts.
„Warte noch einen Augenblick“, flehte Mutter ihn an, erhob sich ebenfalls und strich ihm über seine dichten, dunklen Locken.
„Wozu, Myrrine?“, entgegnete er knapp und wischte ihre Hand fort. „Du weißt, was heute Nacht geschehen muss.“
Damit wandte er sich der Tür zu und griff nach seinem Speer. Ich sah, wie die Tür knarrend geöffnet wurde. Der kalte Regen peitschte auf Vater ein, als er hinaustrat. Der Wind jaulte, und hoch über uns grollte Donner, als wir ihm, dicht an ihn gedrängt, ins Freie folgten, denn er war unser Schild.
Und dann sah ich sie.
Sie erwarteten uns in einem sichelförmigen Halbkreis. Die Priester mit nackter Brust und Kränzen auf der Stirn. Die grau gekleideten Ephoren – Männer, mächtiger selbst als die beiden Könige Spartas – trugen Fackeln, die im Unwetter knisterten und knackten. Das lange graue Haar des ältesten Ephoren peitschte im Wind, sein kahler Schädel glänzte im Mondlicht, während er uns mit blutunterlaufenen Augen musterte, die vom Alter langen, eng stehenden Zähne zu einem beunruhigenden Lächeln gebleckt. Er wandte sich ab und winkte uns wortlos, ihm zu folgen. Wir liefen hinter den Männern durch die Straßen von Pitana – meine Heimat und einer der fünf heiligen Orte Spartas –, und noch bevor wir das Umland erreichten, war ich nass bis auf die Haut und fror.
Die Ephoren und Priester schritten, begleitet von ihrem eintönigen Singsang, der mit dem Heulen des Sturmes wetteiferte, durch die Tiefebene. Meinem Vater gleich benutzte ich meinen Halbspeer wie einen Wanderstock. Bei jedem Schritt bohrte sich das stumpfe Ende knirschend in den Boden. Allein diese zerbrochene Lanze in der Hand zu halten, ließ mich in seltsamer Weise erschauern, denn sie hatte einst König Leonidas gehört – dem schon lange verblichenen Heldenkönig von Sparta. Jede Seele aus Lakonia verehrte unsere Familie, weil das Blut Leonidas’ durch unsere Adern floss. Mutter stammte von ihm ab, und daher tat ich es auch, ebenso wie Alexios. Wir waren die Nachfahren jenes großen Mannes, des Helden von den Heißen Quellen. Doch mein wahrer Held war Vater. Er lehrte mich, stark und flink zu sein – so zäh wie jeder spartanische Knabe. Trotzdem lehrte er mich nie die Geistesstärke, die ich bei all dem brauchen würde, was mir noch bevorstehen sollte. Doch gab es im gesamten Hellas auch nur einen Lehrer, der dazu in der Lage gewesen wäre?
Wir erklommen einen Pfad, der sich in das grau und drohend vor uns aufragende Taygetos-Gebirge hineinwand. Die tiefen Schluchten, die es durchzogen, wirkten wie Narben unter den schneebedeckten Gipfeln. Nichts an unserer seltsamen Reise schien irgendeinen Sinn zu ergeben. Mir kam das alles ganz und gar nicht richtig vor. Und so erging es mir schon, seit Mutter und Vater im Herbst nach Delphi gereist waren, um das Orakel zu befragen. Sie hatten mir nicht erzählt, was die große Seherin gesagt hatte, doch was immer es auch war, es musste etwas Düsteres gewesen sein. Vater wirkte seither stets aufs Äußerste angespannt, er war gereizt und distanziert. Mutter schien an den meisten Tagen abwesend, ihre Augen schimmerten glasig.
Im Moment lief sie streckenweise mit geschlossenen Augen, während der Regen in kleinen Bächen über ihre Wangen rann. Sie hielt Alexios fest im Arm, und alle paar Schritte küsste sie das kleine Bündel. Als sie meine ängstlichen Blicke bemerkte, schluckte sie und reichte mir das Baby. „Trage deinen Bruder, Kassandra“, sagte sie.
Ich band den Halbspeer an meinen Gürtel, nahm das Bündel und drückte es an meine Brust, während wir den jetzt steilen Pfad hinaufstiegen. Der Donner fand seine Stimme und entlud sich ganz in der Nähe. Blitze zuckten über den Himmel. Der Regen verwandelte sich in Schnee, und ich hielt ein Stück von Alexios’ Decke schützend über ihn, damit sein Gesicht trocken blieb. Seine Haut – parfümiert mit süßem Öl und dem tröstlichen Duft seines Betts aus Distelwolle – berührte warm mein frierendes Gesicht. Seine schwachen Händchen fuhren durch mein Haar. Er gluckste, und ich gurrte zurück.
Schließlich erreichten wir ein Plateau. Am anderen Ende stand ein von den Wettern abgewetzter Altar aus blau marmoriertem Stein. Eine vor der Witterung geschützte Kerze flackerte neben einem Topf mit Öl, einem Becken voller Wein, der vom Eisregen aufgepeitscht wurde, und einer Platte mit Trauben.
Mutter blieb mit einem erstickten Schluchzen stehen.
„Myrrine, zeige dich nicht zu schwach“, fuhr Vater sie an.
Ich spürte, wie Wut in ihr aufflackerte. „Schwach? Wie kannst du mich so nennen? Man braucht Mut, um sich seinen wahren Gefühlen zu stellen, Nikolaos. Schwache Männer verstecken sich hinter der Maske der Tapferkeit.“
„Das ist nicht die Art der Spartiaten“, zischte Vater mit zusammengebissenen Zähnen.
„Sammelt euch vor dem Altar“, sagte einer der Priester, während ihm der Eisregen über den knöchernen Brustkorb rann. Ich interessierte mich nicht für den uralten Altar und auch nicht für den Rand des Plateaus und den nachtschwarzen Abgrund, der dahinter lauerte – eine Senke der Schatten, die in das Innerste des Gebirges abfiel.
„Jetzt das Kind“, sagte der älteste Ephor. Sein Haarkranz tanzte im Wind, seine Augen wirkten wie glühende Kohlen. Er streckte knochige Hände nach mir aus, und nun verstand ich. Ein dunkler Mantel der Erkenntnis legte sich um meine Schultern. „Gib mir den Knaben“, beharrte er.
Mein Gaumen brannte vor Angst, alle Feuchtigkeit war mit einem Herzschlag aus meinem Mund verschwunden. „Mutter, Vater?“, wandte ich mich wimmernd an beide.
Mutter trat einen Schritt zu Vater und legte flehend eine Hand auf seine breite Schulter. Doch er stand nur da, unbeweglich, wie aus Stein gehauen.
„Das Orakel hat gesprochen“, wehklagten die Priester wie aus einem Mund. „Sparta wird fallen … wenn der Knabe nicht an seiner statt fällt.“
Wie ein scharfer Speer durchfuhr mich blankes Entsetzen. Fest umklammerte ich den kleinen Alexios und wich einen Schritt zurück. Mein kleiner Bruder war gesund und stark – es war nicht gerecht, ihn zu dem grausamen Schicksal zu verdammen, das schwachen oder missgebildeten spartanischen Neugeborenen widerfuhr. War es das, was das Orakel meinen Eltern auf ihrer Reise bestimmt hatte? Wer berechtigte es dazu, Alexios dem Untergang zu weihen? Warum spuckte Vater nicht auf einen solch grausigen Auftrag und zog seinen Speer gegen diese erbärmlichen alten Männer? Doch er stieß Mutter lediglich beiseite, sodass sie wie ein Bündel Lumpen zu Boden fiel.
„Nein … nein!“, weinte Mutter, während zwei Priester sie nach hinten zerrten. „Nikolaos, bitte, tu etwas!“
Vater starrte unbeweglich in die Ferne.
Einer der Priester trat von hinten an mich heran und griff nach meinen Schultern. Ein zweiter riss mir Alexios von der Brust und übergab das kleine Bündel dem ältesten Ephor, der meinen Bruder wie einen Schatz an sich drückte. „Mächtiger Apollo, Wahrheitsverkünder. Athena Poliachos, Große Beschützerin. Blickt auf uns herab, während wir uns demütig eurem Willen beugen, dankbar für eure Weisheit. Und jetzt … wird der Knabe sterben.“
Er hob Alexios über seinen Kopf und trat am Altar vorbei an den Rand des Abgrunds.
Mit einem heiseren Schrei, der mir das Herz zerriss, fiel Mutter auf die Knie.
AlsderEphorsichspannte,ummeinenBruderindenTodzuschleudern,zuckteeinBlitzüberdenHimmel,gefolgtvoneinemkrachendenDonner.Esfühltesichan,alshättederBlitzmichgetroffen.EineWellevonunglaublicherEnergieunddieWutaufdieseschrecklicheUngerechtigkeitdurchrastenmich.IchschrieausvollemHalsundentwandmichdemGriffdesPriesters.AusdemStandsprangichvor,verzweifelt,außermir,dieArmenachmeinemBrudergereckt.DieZeitbliebstehen.IchfingdenBlickdeskleinenAlexiosaufunderdenmeinen.HätteichdiesenMomentinBernsteinverewigenkönnen,umfürimmerdarinzuleben,hätteichesgetan,wirbeidemittenimLebenmiteinanderverbunden.UndwährenddiesesWimpernschlagshatteichimmernochdieHoffnung,ihnauffangenzukönnen,seinenSturzzuverhindern.BisichausdemTrittgeriet,stolperte,mitderSchulterdiewiderlicheFlankedesaltenEphorenrammte,hörte,wievielederMännerscharfdieLufteinsogen,sah,wiederEphorumHaltruderte,sah,wie er fiel, über den Rand des Plateaus … mit Alexios.
Die beiden stürzten in die Dunkelheit, und der Schrei des Ephoren verklang wie das Kreischen eines Dämons.
Und dann … Stille.
Am Rande des Abgrunds fiel ich auf die Knie, zitternd, während sich hinter mir ein wütender Chor von wüsten Beschimpfungen erhob.
„Mörderin!“
„Sie hat den Ephoren getötet!“
Ich starrte hinunter in den Abgrund, fassungslos. Der Eisregen peitschte mir ins Gesicht.
1
Das Wasser lief ihr in Rinnsalen über die Wangen. Hinter ihren geschlossenen Lidern hörte und sah sie alles erneut in schrecklicher und allzu lebendiger Deutlichkeit. Leonidas’ Blutlinie, bloßgestellt und befleckt. Zwanzig Sommer waren doch eigentlich genug, um die eigene Schuld zu vergessen, sich mit seinen Fehlern abzufinden oder mit der Vergangenheit Frieden zu schließen. „Nicht für mich“, flüsterte Kassandra, während die in der Mitte gebrochene Lanze in ihrer Hand zu vibrieren schien. Heftig stieß sie die Waffe neben sich in den Sand, und die Erinnerungen verblassten.
Langsam öffnete sie die Augen und musste sich erst wieder an das strahlende Morgenlicht dieses Frühlingstags gewöhnen. Das himmelblaue Wasser umspülte Kephallenias östliches Ufer und glitzerte wie eine Tafel voller Diamanten. Die Brandung schäumte über den Sand und verklang zu einem sanften, kühlen Gurgeln, das bis zu der Stelle hinaufrollte, an der sie saß, wo es über ihre nackten Zehen kroch. Die salzige Gischt wehte in sanften Wolken heran, kondensierte und kühlte ihre Haut. Am wolkenlosen Himmel kreisten und kreischten zankende Möwen. Ein Kormoran tauchte kopfüber in die Fluten, wobei das Wasser um ihn herum, Kristalltropfen gleich, zu explodieren schien. Direkt im Osten, nahe dem diesig verschwommenen Horizont, glitt eine schier endlose Reihe Athener Galeeren vorbei. Wie Schatten zogen sie durch das bläuliche Zwielicht, durch tiefere Gewässer und in den Golf von Korinth, um bei der Blockade von Megara zu helfen. Die hellen Segel blähten sich wie die Lungen eines Titanen, und ab und zu trug der Seewind das Knarren von Tauwerk und Holz und die kehligen Rufe der vielen Krieger an Bord herüber.
Früher im Jahr war Kephallenia, wie bereits die meisten der Inseln, in das Staatsgebiet von Athen aufgenommen worden. Und so wuchs der Krieg wie ein Krebsgeschwür. Eine kleine Stimme in ihr mahnte sie, sich wegen dieses massiven Konflikts zu sorgen, der in ganz Hellas wütete und den gewaltigen Schmelztiegel der unterschiedlichen Weltanschauungen zum Kochen brachte, wodurch die einst verbündeten Städte sich gegenseitig an die Kehle gingen. Aber was konnte sie tun? Das stolze Athen, es scherte sie wenig. Und auf der anderen Seite … das unerschütterliche Sparta.
Sparta.
Allein dieses Wort in ihrem Kopf zerriss die sanfte Idylle, die dieser Strand ihr eben noch geboten hatte. Aus dem Augenwinkel musterte sie Leonidas’ uralten Halbspeer. Der geflügelte Eisenkopf, die aufwendigen Verzierungen um den halblangen Schaft, der abgegriffen und verfärbt war nach all den Sommern und Monden der Pflege mit Ölen. Sie hatte es immer als angemessen empfunden, dass alles, was ihr aus einer kaputten Vergangenheit geblieben war, ebenfalls etwas Kaputtes war.
Ein schriller Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah den Kormoran mit einer silbrigen Makrele im Schnabel aus den Wellen auftauchen … doch ein Adler jagte direkt auf ihn zu. Der Kormoran schrie erneut, diesmal in Todesangst, ließ seinen Fang fallen und stürzte sich in wilder Flucht zurück in die See. Der Adler reckte die Klauen nach der aufgegebenen Beute, doch der Leckerbissen verschwand ebenfalls zwischen den Wellen. Mit einem mächtigen Schrei der Enttäuschung drehte der große Vogel ab und glitt Richtung Ufer, wo er sich neben Kassandra niederließ. Sie musste lächeln, denn der verdammte Speer war nicht das Einzige, was ihr aus ihrer Vergangenheit geblieben war.
„Wir haben das doch schon besprochen, Ikaros“, bemerkte sie mit einem Lachen. „Du solltest mir Makrelen bringen, die ich mir braten kann.“
Ikaros starrte sie an, sein butterblumengelber Schnabel und sein scharfer Blick verliehen ihm das Aussehen eines missbilligenden alten Mannes.
„Ich verstehe.“ Kassandra hob eine Augenbraue. „Es war die Schuld des Kormorans.“
Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, wie viele Stunden sie schon nichts mehr gegessen hatte. Mit einem Seufzer zog sie Leonidas’ Speer aus dem Sand. Einen Moment lang betrachtete sie sich in der spiegelnden Klinge. Ein klares Gesicht, wenig Humor in den haselnussbraunen Augen, und ein dicker Zopf aus rostbraunem Haar, der ihr über die linke Schulter hing. Sie hatte eine dunkelbraune Exomis an – ein Männergewand, das eine Schulter frei ließ –, bereits fadenscheinig und abgetragen. Schon wenn sie den Speer nur in der Hand hielt, erwachten die Erinnerungen erneut zum Leben, deswegen band sie die Lanze schnell an ihren Ledergürtel, stand auf und kehrte dem Meer den Rücken.
Doch etwas fiel ihr ins Auge, und sie hielt inne. Es war ein seltsamer Zufall – von jener Sorte, die aufgrund ihrer reinen Eigenart auffällt, wie ein betrunkener Mann, der sich zu benehmen weiß: Dort draußen, mitten im Dunst des Meeres, durchschnitt eine Galeere die Wellen. Es war eine von Hunderten, aber dieses Schiff kreuzte nicht um die Landzunge in der Ferne und segelte dann in den Golf von Korinth. Stattdessen kam es direkt quer über das Wasser auf Kephallenia zu. Kassandra kniff die Augen zusammen und musterte das weiße Segel – oder, um genauer zu sein, den drohenden, zur Grimasse verzerrten Drachenkopf, der es schmückte. Es war ein ausgesprochen abscheuliches Bild, mit verfärbten graugrünen Lippen, die weit zurückgezogen waren und lange Reißzähne bleckten. Die Augen glühten wie heiße Kohlen, während das Schlangennest, das der Kreatur als Haarschopf diente, sich bei jeder Bö, die das Segel blähte, zu winden schien. Eine Weile betrachtete Kassandra die grausige Fratze, und die Sage von der Medusa kam ihr wieder in den Sinn: Einst eine schöne und starke Frau, wurde sie von den Göttern betrogen und verflucht. Ein Funken Mitleid stieg in ihr auf. Aber da war auch noch etwas anderes. Sie konnte auf dem seltsamen Schiff keine Spur von einer Mannschaft entdecken, aber sie war sich sicher – und zwar absolut –, dass sie von den Decks aus beobachtet wurde. Einen Augenblick lang wurde es ihr in dem Wind und der kühlen Gischt des Meeres unbehaglich. Sie fröstelte.
Kinder aus Sparta dürfen sich niemals vor der Dunkelheit fürchten, vor der Kälte oder vor dem Unbekannten, erhob sich eine mahnende Stimme aus Kassandras Erinnerung. Seine Stimme. Sie spuckte in den Sand und wandte der See und dem seltsamen Schiff nun endgültig den Rücken zu. Die nagende Erinnerung an die Lektionen ihres Vaters war alles, was von ihrer einst so stolzen Familie geblieben war. Reisende Händler hatten düstere Geschichten mitgebracht vom gestürzten Haus des Leonidas. Myrrine habe sich, aller Hoffnung beraubt, das Leben genommen, erzählten sie, in den Tod getrieben vom Verlust nicht nur eines, sondern ihrer beiden Kinder. Nur wegen dem, was ich in jener Nacht getan habe, dachte Kassandra.
Sie verließ den Strand, lief durch die Dünen und den sich im Wind duckenden Seehafer und stieg einen steinigen Pfad hinauf. Er führte sie auf einen kleinen Felsvorsprung über der Küste, wo sich eine einfache Hütte aus Stein befand – ihr Zuhause. Die weiß verputzten Wände schimmerten im Sonnenlicht, die Pfähle und daran festgenagelten Lumpen, die als eine Art Vordach dienten, knarrten und flatterten in der Brise, und der einsame Olivenbaum daneben raschelte und wiegte sich im Wind. Grünfinken pickten zwitschernd in einer Wasserpfütze in der Nähe einer zerbrochenen Steinsäule. Die Küstenstadt Sami lag einen mehrstündigen Fußmarsch entfernt, daher vergingen die Tage hier, ohne dass man viele Menschen sah. Der perfekte Ort für eine Frau, um die ihr gegebene Zeit zu verleben und allein zu sterben, dachte Kassandra. Sie blieb stehen, drehte sich zum Meer um und starrte hinaus in die Ferne, wo verschwommen das Festland zu erkennen war. Wie würden sich die Dinge wohl heute verhalten, fragte sie sich, wäre die Vergangenheit nicht eine so grausame gewesen?
Sie wandte sich wieder ihrer Behausung zu und schlüpfte unter dem Türsturz hindurch ins Innere. Sofort war von der Meeresbrise nichts mehr zu spüren. Sie blickte sich in dem einzigen großen Raum um: ein hölzernes Bett, ein Tisch, ein Bogen für die Jagd, eine Truhe mit einfachen Dingen – ein kaputter Kamm aus Elfenbein und ein alter Umhang. Es gab keine Gitter vor den Ufern von Kephallenia und keine Fesseln um Kassandras Fußgelenke. Es war die Armut, die sie gefangen hielt. Nur die reichen Menschen auf dieser Insel konnten berechtigter Hoffnung sein, sie jemals zu verlassen.
Sie setzte sich am Tisch auf einen Hocker, goss sich aus einem Tonkrug einen Becher Wasser ein und packte aus, was sie zuvor in Tierhäute gewickelt hatte. Ein kleiner Laib Brot – hart wie ein Kieselstein –, ein Streifen gesalzenes Hasenfleisch von der Größe eines Fingers und ein kleiner Tontopf mit drei Oliven darin. Ein armseliges Mahl. Ihr Magen knurrte protestierend, weil er wissen wollte, wo der Rest war.
Sie blickte durch das Fenster an der Rückseite ihres Heims, wo sie das frisch ausgehobene Loch im Boden sah. Bis gestern noch hatten sich in ihrer Vorratsgrube zwei Säcke Weizen und ein ganzer gesalzener Hase, ein Ziegenkäse und ein Dutzend getrocknete Feigen befunden. Genug, um sich fünf oder sechs Tage zu ernähren. Als sie dann aber gestern ohne Fang vom Fischen zurückgekehrt war, hatte sie noch gesehen, wie sich in der Ferne zwei Schurken mit ebendiesen Vorräten davonmachten. Die beiden hatten eine gute halbe Meile Vorsprung, und sie war ohnehin viel zu hungrig gewesen, um sich an die Verfolgung zu machen. Daher hatte sie sich am Abend mit leerem Magen zur Ruhe begeben müssen.
Abwesend fuhr sie mit dem Daumen über den Rand der Klinge von Leonidas’ Speer. Sie war zu höchster Perfektion geschliffen. Kassandra spürte, wie ihre oberste Hautschicht zerteilt wurde. Wütend zischte sie den Namen ihres momentanen Peinigers – desjenigen, der die Diebe gesandt hatte. „Möge das Feuer dich verschlingen, Zyklop.“
Sie wandte sich wieder ihrem kargen Mahl zu, nahm das Brot, tunkte es in ein wenig Öl, um es weicher zu machen, und hob es an ihre Lippen. Ein erneutes Magenknurren ließ sie innehalten. Wieder knurrte es, und sie stutzte – denn das Knurren kam nicht aus ihrem Bauch. Sie blickte zum Eingang. Das Mädchen, das dort stand, starrte den kärglichen Brotlaib an wie ein Mann einen Torques aus Gold.
„Phoibe“, sagte Kassandra. „Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen.“
„Oh, kümmere dich nicht um mich, Kass“, erwiderte Phoibe, betrachtete ihre von Dreck verkrusteten Fingernägel, strich sich die dunklen Locken hinter die Ohren und spielte mit dem ausgefransten Saum ihrer schmutzigen Stola.
Kassandra richtete ihren Blick wieder auf das Brot und dann zum Fenstersims, wo plötzlich ein dunkler Schatten in ihr Blickfeld flatterte. Ikaros warf ihr erneut mit starrem Auge einen hoffnungsvollen Blick zu, sein Begehr eindeutig auf das Stück gesalzenen Hasen gerichtet. Oder mich, verstand Kassandra, als Ikaros einen Schrei ausstieß.
Mit einem nicht sehr überzeugenden Lächeln stieß sie sich vom Tisch zurück, warf Ikaros das Fleisch zu und Phoibe den Brotlaib. Sofort verwandelten sich die beiden in hastige Gierschlunde, die sich voller Genuss auf ihr jeweiliges Mahl stürzten. Phoibe, in Athen geboren und verwaist, war erst zwölf. Kassandra war dem Mädchen das erste Mal vor drei Sommern begegnet, als es in den Straßen in der Nähe von Sami bettelte. Sie hatte ihm an jenem Tag auf dem Weg in die Stadt ein paar Münzen gelassen. Auf dem Weg zurück hatte sie die Kleine dann einfach aufgehoben und mit sich nach Hause getragen, ihr zu essen gegeben und sie in ihrer Hütte schlafen lassen. Immer wenn sie das Mädchen beobachtete, wurde sie an vergangene Zeiten erinnert, an jene sanfte Wärme, diese lange verloschene Flamme in ihrem Herzen. Keine Liebe, ermahnte sie sich selbst. Niemals wieder werde ich so schwach sein.
Sie seufzte, stand auf, schlang sich den Bogen über die Schulter und griff nach einem ledernen Trinkschlauch. „Kommt, lasst uns unterwegs essen“, sagte sie, nahm sich die Oliven und schob sie sich in den Mund. Das weiche, salzige Fruchtfleisch und köstliche Öl waren verlockend und erweckten ihre Geschmacksknospen zum Leben, doch ihren Hunger stillten sie nicht. „Wenn wir nicht wollen, dass dies unser letztes Mahl war, das wir je gegessen haben, sollten wir Markos einen Besuch abstatten.“ Dieser Dreckskerl, fügte sie im Stillen hinzu, während sie sich ihre ledernen Armschienen umband. „Es ist an der Zeit, ein paar Schulden einzutreiben.“
Sie gingen nach Süden und folgten einem sonnenüberfluteten Pfad, der sich eine Zeit lang an die Uferklippen schmiegte, bevor er ins Landesinnere abbog. Die Hitze brannte, als sich der Mittag näherte, und sie durchquerten eine mit Veilchen gesprenkelte Wiese. Der Duft von Oregano und wilden Zitronenhainen lag schwer in der Luft. Das lange Gras strich um ihre Waden, blutrote, bernsteinfarbene und blaue Schmetterlinge kreuzten flatternd ihren Weg, Zikaden zirpten in der Hitze, und weder der Krieg noch die Vergangenheit hätten in weiterer Ferne sein können – bis sie Sami unter sich liegen sahen. Die Hafenstadt bestand aus einer nicht von Mauern umgebenen Ansammlung von Hütten und einfachen, weiß gestrichenen Häusern, die sich um erhabene Marmorvillen scharten. Auf den Dächern und Veranden plauderten reiche Leute und schlürften Wein. In den engen Straßen und auf dem geschäftigen Markt mühten sich Pferde und verschwitzte Arbeiter mit nacktem Oberkörper, schleppten die Olivenernte und Kiefernholz zu den Docks. Dort drängten sich Frachtschiffe, um einen Anlegeplatz am steinernen Kai zu ergattern, von wo die Güter zu den Athener Militärwerften und Versorgungslagern transportiert wurden. Glocken läuteten, Peitschen knallten, das Spiel einer Lyra wehte durch die Lüfte wie auch der helle, duftende Rauch aus den Tempeln. Kassandra betrat die Stadt immer nur, wenn es unbedingt sein musste – um Lebensmittel zu besorgen oder sonstige Vorräte, die sie sich auf anderem Weg nicht beschaffen konnte.
Und um die Aufgaben zu erledigen, die Markos ihr antrug.
Sie war eine Söldnerin, so nannte man sie. Manchmal überbrachte sie Botschaften, manchmal eskortierte sie Lieferungen mit gestohlenen Waren … viel öfter jedoch tat sie, was nur so wenige konnten. Ihr Herz schien zu versteinern, als sie an ihren letzten Auftrag dachte. Er hatte sie zu einem Verschlag an den Kais geführt, wo sich eine Gruppe berüchtigter Banditen verbarg. Der Leonidasspeer war in dieser dunklen Nacht tiefrot gewesen und die Luft geschwängert von dem Gestank aufgeschlitzter Bäuche. Jedes Mal, wenn sie tötete, schien ein weiteres Samenkorn der Schuld tief in ihrem Innern Wurzeln zu schlagen … aber nichts, was sie für Markos getan hatte, war jemals mit dem inzwischen knorrigen Gewächs zu vergleichen, das in jener Nacht ihrer Jugend am Rande des Abgrunds in ihr gepflanzt worden war, oder mit den beiden Toten, die ihr Leben für immer verändert hatten.
Sie schüttelte abwehrend den Kopf, damit die Erinnerungen nicht von ihr Besitz ergriffen, und konzentrierte ihre Gedanken stattdessen auf ihren leeren Geldbeutel. Markos war es wieder einmal gelungen, ihr die Zahlung schuldig zu bleiben, als sie ihn aufgesucht hatte, um von ihrer erfolgreichen Mission in dem Versteck an den Kais zu berichten. Wie viel schuldete er ihr inzwischen? Sie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Er ist ein Dreckskerl, ein Betrüger, ein widerlicher …
Eine weitere Erinnerung stahl sich in das Karussell ihrer Gedanken – an ihre ersten Momente vor zwanzig Sommern auf dieser grünen Insel. An jenen Tag, als Markos sie an dem Kieselstrand nördlich der Stadt gefunden hatte, angespült neben ihrem zerstörten Floß. Sie erinnerte sich an seine narbigen, ölig glänzenden Züge und sein lockiges, fettiges schwarzes Haar, während er sie gemustert hatte. „Du bist aber ein seltsam aussehender Fisch“, hatte er gekichert und ihr auf den Rücken geklopft, während sie Seewasser und Galle auf den Strand spuckte. Für eine Weile hatte er sie aufgepäppelt, schien sie aber unbedingt wieder loswerden zu wollen … bis er bemerkte, wie flink und stark sie war. „Wer in ganz Hellas hat dir beigebracht, dich so zu bewegen? Jemanden wie dich könnte ich brauchen“, hatte er gemeint.
Die Bilder ihrer Erinnerung verblassten, während Sami hinter ihnen in der Ferne zurückblieb. Phoibe hüpfte voraus und blickte hinauf zu Ikaros, der über ihnen seine Kreise zog, während sie selbst einen Spielzeugadler aus Holz „fliegen“ ließ und dabei durchdringende Vogelschreie ausstieß. Als sich der Weg mehrfach teilte, bog sie sofort ganz nach rechts ab. „Wir sind fast da“, zwitscherte sie über die Schulter. Verblüfft blickte Kassandra ihr nach. Jene Route führte zum Berg Ainos. Eine gebieterische, von der Sonne ausgeblichene Statue ragte auf dessen felsigen Höhen empor: Zeus, der Gott des Himmels, das eine Knie gebeugt, einen Blitz in der erhobenen Faust. Der Boden auf den unteren Hängen war reich an Mineralien, die vom Regen aus den felsigen Höhen herabgewaschen worden waren, und daher schmückten terrassenförmig angelegte Weingüter den Fuß des Bergs, jedes voll grüner Reben, Lagerhäusern aus glänzendem Stein und mit kleinen, rot gedeckten Wohnhäusern. „Sei keine Zicke, Phoibe“, rief Kassandra ihr nach und deutete auf die Abzweigung ganz links. „Markos wohnt ein Stück weiter dort hinunter, in der Nähe der südlichen Bucht und …“ Sie verstummte, als sie sah, wie Phoibe auf das nächstgelegene Weingut zustürmte. Der Besitz hatte sich schon immer dort befunden, aber die Gestalt im grün-weißen Umhang, die unten neben den Pflanzen stand, hatte sie dort noch nie gesehen.
„Markos?“, flüsterte Kassandra.
„Er hat mich gebeten, es dir nicht zu erzählen“, sagte Phoibe, als Kassandra sie am Rand des Weinguts eingeholt hatte.
„Das kann ich mir vorstellen“, murmelte Kassandra. „Warte hier!“
Sie stahl sich an zwei Arbeitern vorbei, die damit beschäftigt waren, die Reben auf der untersten Terrasse zu beschneiden. Die beiden bemerkten sie nicht einmal, ebenso wenig wie Phoibe, die ihr, ungehorsam wie immer, mit einigem Abstand folgte. Während Kassandra durch die Weinreben kletterte, hörte sie, wie Markos sich mit einem Arbeiter stritt, der es offensichtlich besser zu wissen schien.
„Wir …“, begann er und hielt dann inne, um einen Schluckauf zu unterdrücken. „Wir werden Trauben ziehen, die so groß sind wie Melonen“, erklärte Markos, bevor er den Kopf in den Nacken warf und einen tiefen Schluck aus seinem Weinschlauch nahm.
„Ihr werdet die Reben töten, Meister Markos“, erwiderte der Arbeiter und schob sich seinen Sonnenhut mit der breiten Krempe in den Nacken. „Wir dürfen die Früchte dieses oder nächstes Jahr noch nicht wachsen lassen, sonst biegen sich die Stämme unter der Last und brechen. Das dritte Jahr ist die richtige Zeit für eine erste Ernte.“
„Drei Sommer?“, spie Markos hervor. „Wann zum Hades soll ich denn dann …?“ Er verstummte, als Kassandra zwischen den Reben hervortrat. „Ah, Kassandra.“ Strahlend breitete er die Arme aus und schlug dabei fast dem Arbeiter, der es nur gut meinte, ins Gesicht.
„Du hast ein Weingut gekauft, Markos?“, fragte Kassandra fassungslos.
„Von nun an gibt es für uns nur noch die besten Weine, mein Mädchen“, schnurrte er und drehte sich mit einer ausholenden Geste im Kreis, wobei er fast das Gleichgewicht verlor. Phoibe, die zwischen den Reben herumsprang, kicherte, dann jagte sie wieder Ikaros nach. Ikaros stieß einen aufgeregten Schrei aus, aber Kassandra war mit ihren Gedanken bei ganz anderen Dingen.
„Ich will deine Trauben oder deine Reben nicht, Markos“, entgegnete sie. „Phoibe und ich brauchen etwas zu essen, Kleidung, einen Platz zum Schlafen. Ich will die Drachmen, die du mir schuldest.“
Markos sank ein wenig in sich zusammen, dann nestelte er an der Öffnung seines Weinschlauchs herum. „Ah, immer ganz die Söldnerin“, lachte er nervös. „Nun ja, weißt du, es gibt eine kleine Verzögerung, bis die Münzen ihren Weg in deine Hand finden werden.“
„Kurze drei Sommer, wie es scheint“, erwiderte Kassandra knapp. Sie warf einen Blick hinauf zu dem kreisenden Ikaros, der inzwischen lauthals schrie. Sie fühlte sich zunehmend unbehaglich. Normalerweise regte sich der Adler niemals derart auf, wenn er mit Phoibe spielte.
„Sobald die Trauben zu Wein werden“, unterbrach Markos ihre Gedanken, „werde ich Geld im Überfluss haben, meine Liebe. Aber zuerst muss ich dafür sorgen, dass ich meinen Kredit für dieses Gut zurückzahlen kann. Ich … äh … bin mit meinen Zahlungen leicht in Verzug, verstehst du?“
„Ziemlich sogar“, bemerkte der Arbeiter, während er sich wieder daranmachte, die Reben zu beschneiden und hochzubinden, „und der Zyklop mag keine säumigen Schuldner.“
Markos warf dem Mann einen strafenden Blick zu, der jedoch nur dessen Rücken traf.
„Du hast dir Geld vom Zyklopen geliehen?“, keuchte Kassandra und wich vor Markos zurück, als hätte er die Blattern. „Das hier …“ Sie deutete in die Runde. „… ist von ihm finanziert worden? Da hast du dich aber auf einen Albtraum eingelassen, Markos. Bist du verrückt geworden?“ Sie ließ ihren Blick über die schimmernden goldgrünen Hänge des Ainos gleiten, in Sorge darüber, wie weit ihre Stimme getragen worden sein mochte. „Die Handlanger des Zyklopen haben gestern Abend meine Vorräte geplündert. Er hasst mich bereits. Er hat auf dieser Insel schon eine Menge Männer getötet und auf meinen Kopf einen Preis ausgesetzt. Er weiß, dass du und ich zusammenarbeiten. In seinen Augen tragen wir diese Schuld gemeinsam. Wenn du nicht zahlen kannst, werde ich die Erste sein, die darunter zu leiden hat.“
„Nicht ganz“, ertönte da hinter ihnen eine schroffe Stimme.
Kassandra fuhr zu dem Wald aus Weinreben herum. Dort standen zwei Fremde mit breitem Grinsen im Gesicht. Einer, dessen Züge einer zertretenen Birne ähnelten, hielt die vor Angst erstarrte Phoibe gepackt. Er presste ihr eine Hand über den Mund und drückte ihr einen Dolch an die Kehle. Nun erkannte Kassandra das Duo wieder. Diese beiden hatten gestern Abend ihre Vorratsgrube geplündert.
Ikaros, warum habe ich nicht auf dich gehört?, schalt sie sich selbst, als sie sah, wie der Adler immer noch über ihnen kreiste und warnend schrie.
„Der kleinste Versuch, und ich schneide dem Mädchen den Hals durch“, drohte der zweite Schläger an und schlug die Klinge eines Kurzschwerts in seine Handfläche. Seine Brauen standen so steil wie eine Klippe und ließen seine Augen in ihrem Schatten verschwinden. „Markos hat einen ziemlichen Berg Schulden angehäuft, aber du auch, Söldnerin. Du hast ein Leck in ein Schiff meines Herrn geschlagen, du hast eine seiner Eskorten getötet. Das waren Freunde von mir. Wie wäre es also, wenn du uns begleitest? Damit wir die Dinge zur Zufriedenheit meines Herrn bereinigen können.“
Kassandra spürte, wie ihr das Blut in den Adern gerann. Sie wusste, mit den beiden zu gehen, würde für sie den Tod bedeuten und für Phoibe im besten Fall die Sklaverei. Aber sich zu widersetzen, konnte ebenso gut gleich hier auf der Stelle für sie alle zum Tod führen.
Sekunden verstrichen, aber Kassandra rührte sich nicht.
„Es scheint, dass die Söldnerin nicht sonderlich erpicht darauf ist, ohne Widerstand mitzukommen“, knurrte Steilbraue. „Zeigen wir ihr, dass wir es ernst meinen.“
Kassandras Herz wurde kalt. Beobachte deinen Gegner, zischte ihr Nikolaos aus den Nebeln der Vergangenheit zu. Ihre Augen werden dir ihre Absicht verraten, noch bevor sie auch nur das Geringste unternehmen.
Sie sah, wie der Schläger, der Phoibe gepackt hielt, seinen Blick auf das Mädchen senkte und die Fingerknöchel an seiner Hand mit dem Dolch weiß wurden. Und dann passierte alles im Reflex. Kassandra warf sich nach vorn, riss gleichzeitig den Speer von ihrem Gürtel und ließ ihn vorwärtsschnellen wie eine Peitsche. Die Breitseite der uralten Klinge zuckte empor und krachte gegen die Schläfe des Schlägers. Der Mann verdrehte die Augen, Blut rann ihm aus der Nase, und er fiel wie ein umstürzender Stapel Ziegel haltlos zu Boden. Phoibe stolperte zur Seite und weinte. Kassandra riss am Strick des Speers, fing die Lanze diesmal am Schaft und hielt sie, wie es ein wahrer Hoplite tun würde.
Steilbraue ließ sie nicht aus den Augen, tänzelte, täuschte links an und warf sich dann mit Gebrüll nach rechts. Kassandra verlagerte ihr Gewicht zur Seite auf nur einen Fuß, sodass ihr Feind sich an ihr vorbeikatapultierte, und als er mühsam zum Stehen kam und abermals auf sie zustürmte, ließ sie sich in die Hocke fallen, zog ihm den Speer über den Bauch und schlitzte ihn auf. Er stolperte noch ein paar Schritte weiter, blickte mit einem verblüfften Grinsen zu Markos und Kassandra – und fiel mit dem Gesicht voran in den Staub.
„Bei den Gonaden des Zeus“, jammerte Markos und fuhr sich mit den Händen durch seine fettigen Locken, dann sank er auf die Knie und glotzte die beiden Leichen an. „Nun wird der Zyklop mich ganz sicher töten.“
Kassandra drückte die weinende Phoibe fest an sich, küsste sie aufs Haar und hielt ihr die Ohren zu, um sie vor dem folgenden Gespräch zu schützen. „Wir begraben die Leichen. Niemand wird je erfahren, was aus ihnen geworden ist.“
„Aber er wird es herausfinden“, stöhnte Markos. „Heute hast du dem Scheusal zwei Köpfe abgeschlagen, aber an ihrer Stelle werden vier neue wachsen. Und die Wut des Zyklopen wird sich verdreifachen. Wie jedem Tyrannen musst du ihm ganz und gar gehorchen … oder ihn vernichten, begreifst du das nicht?“ Er winkte ab. „Ich bin kein Lehrer. Vielleicht wirst du eines Tages einen besseren finden.“
„Und vielleicht legst du lieber deinen Weinschlauch beiseite und behältst einen klaren Kopf. Du musst einen Weg finden, um dem Zyklopen sein Geld zurückzugeben.“
Markos’ hervorquellende Augen zuckten wild, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Dann, als hätte ein unsichtbarer Blitz ihn getroffen, fuhr er zusammen, stand plötzlich auf, stapfte zu Kassandra und packte sie begeistert bei den Schultern. „Das ist es. Es gibt einen Weg.“
Kassandra schüttelte ihn ab. „Einen Weg, um auf dieser Insel einen Sack Silber zu verdienen? Das bezweifle ich.“
Seine Augen verengten sich. „Nicht Silber, meine Liebe. Obsidian.“
Kassandra starrte ihn ausdruckslos an.
„Denk nach! Was schätzt der Zyklop am meisten? Seine Männer, sein Land, seine Schiffe? Nein. Sein Obsidian-Auge.“ Er tippte hektisch unter eines seiner eigenen Augen. „Es ist sogar von Gold durchzogen. Wir stehlen das Auge, wir verkaufen es – vielleicht irgendwo auf dem Festland oder an reisende Händler. Dann haben wir unseren Sack voller Silber. Genug, um mein Weingut auszulösen, und genug, um dir zu bezahlen, was ich dir schulde. Und um Phoibe zu speisen“, rief er euphorisch, weil ihm dieses selbstlose Argument noch eingefallen war.
„Wir stehlen das Auge des Zyklopen?“, fragte Kassandra.
„Er trägt es nie. Es ist zu wertvoll. Er bewahrt es in seinem Haus auf.“
„Sein Haus gleicht einer Festung“, entgegnete sie trocken und dachte an den gut bewachten Bau auf einer kleinen Halbinsel im Westen. „Skamandrios war der Letzte, der versucht hat, dort einzudringen. Man hat ihn danach nie wieder gesehen.“
Beide hielten einen Moment inne und erinnerten sich an den wieselartigen Söldner Skamandrios, stellten sich Hunderte von möglichen Todesarten vor, die ihn ereilt haben konnten. Verbrennen, Häuten und langsames Zerstückeln waren die bevorzugten Methoden des Zyklopen, um sich seiner Feinde zu entledigen. Skamandrios’ Verschwinden war sicher kein großer Verlust für die Gesellschaft, aber er hatte sich immer gerühmt, wie unauffällig und schnell er vorzugehen verstand. Der Schatten, so hatten manche ihn genannt.
Kassandra schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. „Aber um noch einmal auf den eigentlichen Punkt zu kommen … Wir stehlen dieses Auge?“
Markos zog ein wenig den Kopf ein und hob mitleiderregend die Schultern. „Du bist die Söldnerin, meine Liebe. Ich wäre für dich nur ein Klotz am Bein. Für diesen Auftrag ist es unverzichtbar, absolut unverzichtbar, dass du nicht entdeckt wirst.“
„Ich mache mir eigentlich mehr Sorgen, dass er mich erwischt“, meinte Kassandra.
„Er wird dich nicht erwischen, denn er ist nicht zu Hause.“ Markos hob belehrend einen Finger. „Wie du weißt, ist fast jede private Galeere auf dieser Insel in die Athener Flotte einberufen worden. Die Adrasteia ist eines der letzten Schiffe, die noch übrig sind. Der Zyklop ist auf der Jagd, und die Galeere ist seine Beute. Wie ich höre, hegt er irgendeinen Groll gegen den Triearchos des Schiffes.“
Phoibe entwand sich Kassandras Griff. „Was ist hier los?“, fragte sie.
„Nichts, meine Kleine“, antwortete Markos als Erster. „Kassandra und ich haben nur darüber gesprochen, wie viel Geld ich ihr schulde. Sie muss noch einen letzten Auftrag für mich erledigen, und dann wird sie alles bekommen. Ist es nicht so, meine Liebe?“, wandte er sich an Kassandra.
„Dann können wir jeden Abend wie Königinnen speisen?“, wollte Phoibe wissen.
„Gewiss“, antwortete Kassandra leise und strich Phoibe übers Haar.
„Hervorragend“, säuselte Markos. „Ihr bleibt heute Nacht hier und gönnt euch eine richtige Mahlzeit. Gebratene Meeräsche, Oktopus, frisch gebackenes Brot, Joghurt, Honig und Pistazien, dazu etliche Krüge Wein. Und dann ein bequemes Bett, um einmal ordentlich auszuschlafen. Morgen könnt ihr aufbrechen.“ Dann flüsterte er, damit Phoibe es nicht hörte: „Und vergiss nicht, man darf dich nicht sehen, sonst wird man uns alle drei …“ Er zog einen Finger über seine Kehle und streckte dabei die Zunge heraus.
Kassandra starrte ihn erbittert an.
2
Trotz des versprochenen warmen und weichen Bettes schlief Kassandra aus Sorge wegen der Aufgabe, die vor ihnen lag, keine Sekunde. Wohl stundenlang betrachtete sie die Klinge ihrer Lanze, die neben ihrem Bett lag, angeleuchtet von einem Mondstrahl, bevor sie beschloss aufzustehen, obwohl es noch dunkel war. Phoibe, die an sie geschmiegt lag, rührte sich nicht. Sie küsste das Mädchen auf die Stirn, bevor sie ihre Beine aus dem Bett schwang, sich anzog und das Weingut verließ, hinaus in die ländliche Gegend, über der noch die kühle Nacht lag. Sie hielt sich dicht an der westlichen Uferlinie. In der Dunkelheit kurz vor dem Morgenrot hörte sie Wildkatzen fauchen und jaulen und behielt eine Hand immer an ihrem Jagdbogen, während sie schnell voranschritt. Bald erhob sich die Sonne über den Horizont und breitete ihre feurigen Flügel aus, über die Insel, die Berge und Auen. Von einer hohen Stelle aus sah sie die Nachbarinsel Ithaka, die in der aufsteigenden Hitze flimmerte. Die Überreste vom alten Palast des Odysseus standen dort auf einem Hügel, Finger aus Licht streiften durch die geisterhafte Ruine. Sie blickte hinüber zu dem verfallenen Gebäude, wie sie es immer tat. Und wer hätte sich diesem Anblick verweigern können? Es war das traurige Denkmal für einen lange verstorbenen Helden, einen Abenteurer, der die Welt bereist und sowohl mit seinem Verstand als auch mit seinen Waffen in einem großen Krieg gekämpft hatte. Sie ließ ihren Blick mit neu erwachter Geringschätzung über das Gestrüpp schweifen, das Kephallenia bedeckte. Hör auf zu träumen! Ich werde niemals von dieser verdammten Insel herunterkommen. Hier lebe ich, und hier werde ich sterben.
Sie ging weiter, und bald erreichte sie die Stelle, der die schroffe westliche Halbinsel entsprang und wie ein Dorn hinaus ins Meer stach. Wie ein Jäger ging sie in die Hocke, schlürfte ihr Wasser, und während sie das Land betrachtete, nahm das Zirpen der Zikaden immer mehr zu, genau wie die Hitze. Der Unterschlupf des Zyklopen stand auf einer flachen natürlichen Erhebung, ungefähr eine halbe Meile entfernt fast an der Spitze der Halbinsel. Das weitläufige Anwesen war nur dem Namen nach ein Unterschlupf – denn der Zyklop brauchte sich vor niemandem zu verbergen. Eine niedrige Mauer umschloss das Anwesen, Gras und rosafarbene Geranien sprossen aus den Rissen im verwitterten Steinwerk. Dahinter erhob sich stolz eine mit Terrakottaziegeln gedeckte Villa, die Fassade aus hellem Marmor und dorischen Säulen, die ockerfarben und meerblau gestrichen waren.
Kassandra zählte sechs der Schläger des Zyklopen auf der Außenmauer, die dort entlang der schmucklosen Brüstung auf und ab gingen und das umliegende Land beobachteten. Zwei Männer standen wie Statuen vor dem östlichen Torhaus, und Kassandra konnte an der nördlichen Seite der Mauer ein ähnliches Tor erkennen. Schlimmer noch war, begriff sie, dass das Land zwischen ihr und den Mauern des Anwesens kaum Deckung bot, um sich anzuschleichen – lediglich ein paar Zypressen und Olivenbäume, aber hauptsächlich niedriges, dünnes Buschwerk. Vier weitere Männer schlenderten über diese offene Ebene, hin und her. Sie trugen breitkrempige Hüte, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen, und hielten nach der kleinsten Bewegung Ausschau, wobei sie sich gegenseitig stets im Blick hatten, genau wie die Männer auf der Mauer. Diese ausgeschickten Wachen bildeten praktisch eine Grenze und riegelten die Landzunge ab, als wäre der Zyklop im Besitz dieses Stück Landes.
Es gab keinen Weg an ihnen vorbei.
Es gibt immer einen Weg, schnauzte Nikolaos sie an.
Also blickte sie nach Norden, die Abhänge aus Fels und Buschwerk hinunter, die zum Ufer führten. Das tiefblaue Wasser leckte dort unten an dem schmalen Kiesstrand. Einer ihrer Mundwinkel zuckte in widerstrebender Anerkennung, als ihr bewusst wurde, dass Nikolaos recht hatte. Mit dem Daumen drückte sie den Korken aus ihrem Wasserschlauch, drehte ihn um und ließ das kostbare Wasser in der ausgedörrten goldenen Erde versickern. Sie blieb geduckt hocken und beobachtete jenen ausgeschickten Wächter, der ihr am nächsten war. Dann wählte sie ihren Weg hinab zum Ufer äußerst sorgfältig.
Dort angekommen wickelte sie ihren Speer und ihren Bogen in geöltes Leder und band sich beides auf den Rücken, bevor sie in das erfrischend kühle, seichte Meer watete. Als ihr das Wasser bis zu den Brüsten reichte, stieß sie sich ab und schwamm westwärts, entlang der Küstenlinie der Halbinsel, in Richtung ihrer Spitze. Gräser und kleine Fische strichen über ihre Beine und ihren Bauch, bis sie tieferes Wasser erreichte. Immer wieder blickte sie hinüber zum Ufer auf ihrer linken Seite. Keine Spur von der Wache, die ihr am nächsten gewesen war. Plötzlich sprangen schnatternd Delfine aus den Wellen. Am Strand hörte sie das Knirschen von Stiefeln und sah einen breitkrempigen Hut, der sich näherte, um nach dem Rechten zu sehen. Sie holte tief Luft und tauchte. Im wogenden Blau um sich herum sah sie die Delfine vorbeischießen. Als sie Richtung Ufer blickte, erkannte sie die Schienbeine des Wachmannes, der ins Meer watete, um besser sehen zu können. Durch die Wasseroberfläche erschienen die Umrisse des Mannes und des Speers, den er quer vor der Brust hielt, verzerrt. Aber er ging nur bis zu den Knien ins Meer. Außer spielenden Delfinen hatte er nichts bemerkt, und er schien ganz zufrieden damit, dort zu stehen und ein wenig in der Sonne zu baden … während die Luft in Kassandras Lungen zu brennen begann. Sollte sie jetzt auftauchen, war sie so gut wie tot. Tat sie es nicht, drohte ihr das gleiche Schicksal. Am Rand ihres Blickfelds begannen schwarze Punkte zu explodieren, während kleine Blasen verbrauchter Luft über ihre Lippen entkamen wie Ratten aus einem sinkenden Schiff. Die kalte Hand der Panik versuchte, sie zu ergreifen, doch ruhig nahm sie den Daumen von ihrem luftgefüllten Wasserschlauch, atmete tief ein und schwamm mit neuen Kräften weiter.
Er hatte sie aus der Ferne beobachtet, wie sie sich Zeit genommen hatte, die Möglichkeit einzuschätzen, sich ungesehen dem Unterschlupf des Zyklopen nähern zu können. Jetzt beobachtete er, wie sie direkt unter der Spitze der Halbinsel und dem nördlichen Tor des Anwesens und zudem nicht weit entfernt von seinem Aussichtspunkt elegant die Wasseroberfläche durchstieß. Bisher wurde sie ihrem Ruf gerecht.
„Und bald werden wir sehen, ob sie so geschickt und gefährlich ist, wie behauptet wird“, sinnierte der Beobachter und verschränkte die Arme. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
Kassandra stemmte sich aus dem Wasser auf eine sonnenwarme Felsenbank. Dann kletterte sie durch das felsige Hinterland des Anwesens nach oben, wobei sie sich möglichst zwischen Büschen verbarg. Nach etwa hundert Schritten hatte die Sonne sie bereits getrocknet. Als sie sich der Nordmauer näherte, hockte sie sich hinter einen Geröllbrocken und spähte weiter nach oben, um die beiden Wachen zu mustern, die das Tor flankierten. Sie trugen Korseletts aus Leder und einer von ihnen ein rotes Stirnband. Der eine hielt einen Speer quer vor der Brust, und der andere hatte eine kleine Axt im Gürtel stecken. Durch das Tor konnte Kassandra keinerlei Bewegung um die Villa selbst ausmachen, auch keine Patrouillen auf der Dachterrasse oder Wachen am Eingang zur Diele. Der Zyklop hatte offenbar die meisten seiner Männer mitgenommen. Die äußeren Mauern waren entscheidend. Wenn sie sich dort an den Wachen vorbeischleichen konnte … war sie im unbewachten Inneren des Anwesens. Um die Posten am Tor würde sie sich kümmern müssen, doch wie sollte ihr das gelingen, ohne die anderen Männer, ein Dutzend oder mehr, zu alarmieren, die auf der Brüstung patrouillierten?
Direkt neben ihr erklang ein leises Rascheln, und vor Schreck sprang ihr fast das Herz aus der Brust. „Ikaros, bei allen Göttern!“, zischte sie. Ikaros schloss einmal die Nickhaut über seinem Auge, als wollte er ihr zublinzeln, dann erhob er sich in die Lüfte. Kassandra duckte sich. Sie spähte über den Felsbrocken und sah, wie der Adler Kurs auf das Tor nahm. Die beiden Wachen bemerkten ihn nicht, bis er sie fast erreicht hatte. Mit einem Schlag seiner mächtigen Schwingen wurde er schneller und riss mit ausgestreckten Klauen im Überflug dem einen Posten das rote Stirnband vom Kopf.
„Malákas!“, schrie der Wächter, griff sich an den Kopf und brüllte dem Vogel nach, während der in das Anwesen schoss. Ein paar der Männer oben auf der Mauer lachten und riefen irgendetwas, während sie das Spektakel beobachteten.
Kassandra ließ die beiden abgelenkten Posten, die ihr nun den Rücken zugedreht hatten, nicht aus den Augen, während sie sich aufrichtete und geduckt und katzengleich losrannte. Gerade als sie durch das Tor lief, gaben die beiden es auf, Ikaros nachzujagen, und wandten sich wieder in ihre Richtung. Wie vom Schwinger eines unsichtbaren Boxers getroffen warf Kassandra sich nach rechts und aus dem Blickfeld der Männer. Sie landete im am Fuß der Mauer sprießenden wilden Ginster. Der Strauch richtete sich wieder auf, und mit brennender Lunge beobachtete sie durch das Gestrüpp, wie die beiden Wachen direkt an ihr vorbeigingen … und wieder zurück auf ihren Platz am Tor. Auch die anderen Männer auf den Mauern wandten sich wieder der Umgebung des Anwesens zu. Sie war drin, und niemand hatte sie bemerkt.
Mit hämmerndem Herzen blickte sie hinüber zur Villa. Der Haupteingang lockte wie ein dunkler Schlund, die beiden roten Säulen, die ihn flankierten, glichen blutigen Reißzähnen. Sie suchte sich einen Weg über das Gelände, duckte sich hinter Wagen, herumstehenden Fässern, aufgestapeltem Heu und hölzernen Latrinenhäuschen, bis sie nur noch einen kurzen Pfeilschuss entfernt war. Ihre Beine zitterten. Wie sollte sie gleich ins Haus sprinten? Es war eine bittere Überlegung, die sie draußen in der Hocke verharren ließ. Ich kann überhaupt nichts erkennen im Haus, grübelte sie. Vielleicht stehen da im Schatten ein Dutzend Handlanger des Zyklopen. Sie hob den Blick.
Von der Dachterrasse führte ein Durchgang in das obere Stockwerk. Sie kroch ein Stück vor, griff nach einer Efeuranke und lief mit ihrer Hilfe außen an der Mauer der Villa hinauf. Plötzlich rutschte sie ab und trat gegen eine Pfanne der Terrakotta-Überdachung der Veranda. Die Dachpfanne zersprang, rutschte weg und stürzte in die Tiefe. Mit einer Hand ließ Kassandra die Ranke los und fing die Pfanne auf. Erleichtert atmete sie auf.
Unbemerkt, zischte Nikolaos in ihrem Kopf. Ein Spartiat muss flink sein und geräuschlos wie ein Schatten.
„Ich bin keine Spartiatin, ich bin eine Ausgestoßene“, knurrte sie, um die Stimme in sich zum Schweigen zu bringen. Dann sprang sie über die Balustrade aus Marmor. Der bogenförmige Durchgang im ersten Geschoss der Villa war genauso verschattet wie der Haupteingang. Sie holte tief Luft, dann schlich sie sich hinein. Eine Hand schwebte über dem Schaft ihres Speers, die andere hatte sie ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu wahren, sollte sie sich zur Seite rollen oder durch einen Sprung vor einem Angriff retten müssen. Einen Moment lang konnte sie in der Dunkelheit nicht das Geringste erkennen. Ihr Kopf ruckte in jede Richtung, und ihr geflochtener Zopf peitschte durch die Luft. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie grimmige Wachen sie hetzten und glänzende Klingen auf sie niederfuhren … und dann gewöhnten sich ihre Augen an die Lichtverhältnisse, und sie sah ein stilles, verlassenes Schlafgemach vor sich. Auf der weißen Grundierung der Wand befand sich eine mit leuchtenden Farben gemalte Schlachtszene, in der ein einäugiger Sieger über viele kleinere Gegner triumphierte. In einer Ecke des Raumes stand eine mächtige Schlafstatt, überladen mit üppigen Seidendecken. Hier ist nichts, entschied sie … bis sie sich umdrehte und den Kaminsims des Gemachs sah. Die Trophäen darauf ließen sie bis ins Mark erschaudern.
Drei vertrocknete Köpfe auf hölzernen Ständern, aufgereiht wie Preise für einen Wettkampf. Vorsichtig ging Kassandra hinüber, als könnten plötzlich Körper aus ihnen hervorwachsen und sie angreifen. Aber diese drei waren schon lange tot. Einer, ein Mann mit schlechten Zähnen und langem Haar, war deutlich sichtbar unter Schmerzen gestorben, wenn man von der im Tod eingefrorenen Grimasse ausging. Der Nächste war ein junger Kerl, dem man die Nase abgesägt hatte und an deren Stelle ein unschönes Loch in seinem ansonsten nun friedlichen Gesicht klaffte. Der dritte Kopf hatte einer Frau mittleren Alters gehört, deren blickloses Gesicht zu einem Schrei verzerrt war, der Mund aufgerissen, als riefe sie: Hinter dir!
Ein Bodenbrett knarrte.
Kassandra fuhr herum, die Hand am halb gezogenen Speer. Angst traf sie wie eine Feuerzunge.
Nichts.
Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet? Sie schob den Speer wieder in den Gürtel und warf den Köpfen noch einen Blick zu. Keiner von ihnen hatte Skamandrios gehört, da war sie sich sicher. Vielleicht hatte das Wiesel auch gestohlen, woran immer es interessiert gewesen war, hatte entkommen können und war nach Norden geflohen, um das Leben eines reichen Mannes zu führen. Der Gedanke ermutigte sie in gewisser Weise, und mit leicht gestärktem Selbstvertrauen kroch sie zum Eingang des Schlafgemachs. Sie schob den Kopf hinaus, um sich umzuschauen. Links sah sie nichts, auch nicht rechts, und direkt vor ihr … zwei Wachen!
Wieder griff sie nach ihrem Speer, erkannte dann aber, dass die beiden Wachen lediglich alte Rüstungen waren. Bronzene Harnische, Helme und Beinschienen, die wahrscheinlich aus den Ruinen des alten Palastes auf Ithaka geraubt worden waren. Die Helme waren im Innern voller Spinnweben, die jetzt wie alte Gesichter wirkten.
Missmutig ging sie über den Flur und ließ die beiden Türen vor sich nicht aus den Augen. Hinter einer davon befand sich gewiss der Tresor des Zyklopen. Die meisten Leute auf der Insel sagten, er würde auf seinem Gold schlafen, und diese Konstellation hier kam dem am nächsten. Sie schob sich an die linke Tür und drehte vorsichtig am Knauf. Mit einem hörbaren Knacken gab er nach, und die Tür schwang greinend auf. Das Geräusch ließ Kassandra tausend kaltfüßige Katzen mitten durch den Magen trippeln. Einen Moment lang hielt sie den Atem an … aber draußen hatte niemand etwas gehört. Erleichtert spähte sie in den Raum. Nichts – nur dunkle Steinmauern, ohne Anstrich und unverputzt, dazu ein einfacher Holzfußboden. Keinerlei Möbel außer einem schäbigen alten Schrank an der rechten Wand. Seine Türen fehlten, und er war leer.
Kassandra trat nach rechts und drehte vorsichtig den Knauf der zweiten Tür. Sie ließ sich einen Spaltbreit öffnen, und dahinter leuchtete etwas Goldenes. Ein Sonnenstrahl fiel durch ein kleines Rundfenster in der Decke. Feine Staubteilchen trieben träge durch das goldene Licht, das eine Schatzkammer beleuchtete: Elfenbeinkisten voller Münzen und Schmuck, eine Bank, bedeckt mit silbernen Armreifen, Bestecken und Bechern. Ein Regal voller Lapislazuli von geradezu hypnotisierendem Blau. Opale, Sardonyxe, Smaragde, Halsketten aus Amethystperlen. Ein mit Elektron verzierter Kriegsbogen. Und da, ganz hinten in der Kammer, wo das Sonnenlicht sich wieder dem Schatten geschlagen gab, das Auge. Sie leckte sich über die trockenen Lippen. Es war in einer Weise auf einem Sockel aus Zedernholz befestigt, dass es so wirkte, als würde es sie mit seiner goldenen Pupille anblicken. Es war der größte Schatz von allen, wertvoller als eine Tasche oder sogar ein Sack voll Münzen oder Edelsteine. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als durch den Raum zu gehen, vorbei an den anderen Reichtümern, und … es sich zu nehmen.
Nimm es!
Sie machte einen Schritt, dann hielt sie inne. Es war nur ein vages Gefühl, das sie zurückhielt. Ein Duft, der hier fehl am Platz war. Und, vermischt mit dem Geruch von Metall und Politur, ein Anflug von – Tod, Verfall. Sie ließ ihren Blick nach links und rechts gleiten. Die Steine der linken Seite des Eingangs waren zerkratzt, als wäre von einem Steinmetz ein Gitter aus Punkten hineingearbeitet worden. Der linke Türpfosten war mit Zedernholz verkleidet, nicht mit Stein. Sie kniff die Augen zusammen. Sie ging in die Hocke und streckte ihren Bogen vorsichtig in Richtung der Türschwelle aus. Mit einem leisen Geräusch drückte sie die Spitze des Bogens auf das erste Bodenbrett im Innern des Raumes.