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In dieser fesselnden Original-Saga, die in der Welt des Games Assassin's Creed Valhalla spielt, schleicht sich eine keltische Kriegerin, die ihr Volk vor Wikinger-Räubern verteidigt, zur Rettung ihres Heimatlands in eine uralte Sekte ein. Mercia, 878. Die Hexenkriegerin Niamh entdeckt, dass ein neuer Orden namens "die Verborgenen" versucht, in Lunden Fuß zu fassen. Ihr Land ist bereits von Wikingerüberfällen, blutigen Kriegen und aufeinanderprallenden Kulturen gezeichnet. Entschlossen, das zu schützen, was von ihrer Heimat übrig geblieben ist, schleicht sie sich in diese neue Gruppe ein, um herauszufinden, ob diese auf ihrer Seite steht … oder gegen sie ist. Doch als Niamh erfährt, dass die Verborgenen ein Artefakt gestohlen haben, das ihrem Volk heilig ist, wird ihre eigene Loyalität in Frage gestellt. Niamh wirft neu gewonnene Allianzen und Freundschaften über den Haufen und entdeckt bald, dass Verrat einen hohen Preis hat. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um zu überleben – wenn ihre Götter es so wollen.
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Seitenzahl: 412
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ELSA SJUNNESON
INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VON
HELGA PARMITER
Die deutsche Ausgabe von ASSASSIN’S CREED® VALHALLA – DAS SCHWERT DES WEISSEN PFERDESwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;Satz: Rowan Rüster; Layout: Cross Cult; Cover-Illustration: Alejandro Colucci,Printausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck.
Titel der Originalausgabe:
ASSASSIN’S CREED® VALHALLA – SWORD OF THE WHITE HORSEFirst published by Aconyte Books in 2022Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd
Copyright © 2022 Ubisoft Entertainment. All Rights Reserved. Assassin’s Creed, the Assassin’s Creed logo, Ubisoft and the Ubisoft logo are registered or unregistered trademarks of Ubisoft Entertainment in the U.S. and/or other countries.
German translation copyright © 2022 by Cross Cult.
Print ISBN 978-3-96658-858-4 (Mai 2022)
E-Book ISBN 978-3-96658-859-1 (Mai 2022)
WWW.CROSS-CULT.DE
Für Day,die mich dazu gebracht hat,die Klinge wieder in die Hand zu nehmen.Blinde Schwertkämpferinnen halten zusammen.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Die zerklüftete Landschaft ihrer Heimat empfing Niamh, als sie hinter dem Mann, den sie verraten musste, den Hügel hinaufstapfte. Sie hatten die Pferde am Hadrianswall zurückgelassen, da es zu riskant war, sie über die Grenze nach Kaledonien zu bringen. Sie gingen zu Fuß weiter und Niamh wusste, dass ihr Begleiter schwächer werden würde, je länger sie laufen mussten. Sie hatte einige Bedenken, den Mann körperlich zu überanstrengen, aber ihre Loyalität stand außer Frage.
Ein Teil von ihr wollte vorschlagen, dass sie trotz des Risikos zwei weitere Pferde stehlen sollten, damit Hytham keinen Rückfall erlitt, nachdem er sich gerade so mühsam erholt hatte. Aber zwei Fremde, die durch diese Teile Kaledoniens ritten, wären verdächtiger als zwei Reisende zu Fuß und Hytham hatte die Pferde auf dem Weg hier hoch ohnehin zu hart angetrieben. Niamh wusste nicht genau, was seinen Körper so geschwächt hatte, aber es hatte gereicht, um ihn lange Zeit in Ravensthorpe festzuhalten, noch bevor sie ihn getroffen hatte. Deshalb hatte Niamh versucht, ihn zu überreden, sie allein auf diese Reise gehen zu lassen. Es wäre einfacher gewesen, ohne seine wachsamen Augen, die jede ihrer Handlungen, jede Bewegung ihres Kopfes und jeden Gedanken, den er auf ihrem Gesicht ablesen konnte, analysierten. Es war keine leichte Reise nach Norden gewesen und sie war vorsichtig gewesen, hatte so weit weg von ihm geschlafen, wie sie sich traute, nur für den Fall, dass sie im Schlaf sprach.
Warum er mit seinen Verletzungen darauf bestanden hatte, mit ihr so weit nach Norden zu gehen, war ihr ein Rätsel. Vom Regen durchnässt zu werden und unter freiem Himmel zu schlafen war nicht gerade förderlich für die Heilung. Es hatte Wolfsangriffe gegeben, Banditen, denen sie ausweichen mussten – und das waren nur die äußerlichen Gefahren. Die Kälte des Moors ließ schon ihre Knöchel schmerzen, wenn sie das Schwert ergriff. Und egal was es mit seinem Bein auf sich hatte, ihm konnte es nicht viel besser gehen. Trotzdem hatte er darauf bestanden, sie zu begleiten. Und jetzt musste sie den Preis zahlen: Sie musste vorsichtig sein und mehr darauf achten, was er beobachten konnte, als ihr lieb war. Es bedeutete auch, dass sie die Kameradschaft, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, zerstören würde.
Aber wenn er müde war … wenn er abgelenkt war … wenn er nicht in Bestform war, konnte sie vielleicht das, was sie auf dieser Reise erreichen musste, schaffen, ohne dass er etwas merkte. Zumindest so lange nicht, bis sie weit genug weg war, um sich in den Sümpfen zu verstecken, oder vielleicht einige der Einheimischen überreden konnte, sie zu verstecken. Falls das Glück ihr hold war und diese Einheimischen nicht bemerkten, dass sie nicht die war, die sie zu sehen erwarteten. Es würde nicht leicht werden. Aber sie hatte für solche Abenteuer trainiert, nicht nur mit den Leuten, denen sie unterstellt war. In einem Dorf wie dem, aus dem sie stammte, war das eine Selbstverständlichkeit. Dort hatte man schon immer verstohlene Leute gebraucht, die sich in rivalisierende Dörfer schlichen, um Vorräte oder Waffen zu stehlen.
Sie kletterten weiter über moosbewachsene Felsen und wurden dabei von rothaarigen, flauschigen Kühen mit großen Hörnern beobachtet, den einzigen Zeugen ihres Eindringens in ihre Heimat. Die Kühe schienen von ihrem Erscheinen nicht sonderlich beunruhigt zu sein, nicht so wie die Füchse und Wölfe, die weiter südlich lebten. Die Kühe starrten einfach vor sich hin und kauten auf ihrem Gras. Sie bewegten sich nicht einmal.
Niamh wünschte sich, sie könnte tatsächlich nach Hause gehen – in ihr Dorf, zu ihrem Volk. Sie wünschte, sie wäre nicht so tief in diese Sache hineingeraten. Sie wünschte, sie hätte die Ruhe der Kühe und könnte einfach nur dastehen und essen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Die Abenteuer, die sie erlebt hatte, waren natürlich wunderbar. Die Chance, mehr von der Welt jenseits der Küsten ihres eigenen Dorfes zu sehen … Aber sie hatte gelernt, dass Abenteuer ihren Tribut forderten. Sie kosteten sie ihre Sicherheit, Freundschaften und ihren Verstand.
Sie beobachtete Hytham, der vorausging. Er hatte darauf bestanden, für eine Weile die Führung zu übernehmen, obwohl sie diese Gegend besser kannte als sonst jemand.
»Bist du dir ganz sicher, dass ich uns nicht führen soll, jetzt, wo wir hier sind?«, rief sie erneut, zum bestimmt hundertsten Mal.
»Nein. Ich weiß, wohin wir gehen, und ich würde lieber als Erster mein Gesicht zeigen«, antwortete Hytham.
In diesem Moment sah sie, dass er dabei war, einen Fehltritt zu machen. Einen, den sie ihn nicht machen lassen konnte, weil er für sie ebenso gefährlich war wie für ihn.
»Wenn ich du wäre, würde ich dort nicht hintreten«, rief sie durch die Wildnis, beschleunigte ihr Tempo und eilte ihm hinterher.
Hytham wurde kaum merklich langsamer. »Schon gut, es ist nur mehr von diesem Moos, über das wir ständig laufen.«
Sie seufzte innerlich. Leute, die nicht aus diesen Teilen der Inseln stammten, sagten das immer. So endeten sie mumifiziert mitten in den Mooren und ihre Leichen gaben später hervorragenden Brennstoff ab.
»Das ist ein Moor, Hytham. Was du hier siehst, ist Torf.«
Der Geruch verriet ihr, was sie vor sich hatte. Nicht der Boden selbst, sondern der Geruch von Lehm und verrottender Vegetation, von dem sie wusste, dass er Orte ankündigte, auf die man keinen Fuß setzen sollte.
Hytham hielt inne, trat einen Schritt zurück und warf einen Blick zu ihr zurück. »Ein Moor? Aber hier gibt es kein Wasser. Nur Moos.«
Sie nickte und ging schneller, um zu ihm aufzuschließen, falls er nicht auf sie hören sollte. Er würde zwar durch ihren Verrat vermutlich sterben, aber sie fand, niemand sollte sterben, weil er versehentlich in ein Torfmoor getreten war, vor dem man ihn gewarnt hatte. Einen solchen Tod hatte niemand verdient, schon gar nicht Menschen, die sie mochte. Vielleicht verdiente die alte Mae im Dorf es, sie war gemein zu Kindern und trank zu viel Bier, um vernünftig oder nützlich zu sein. Solche Leute verdienten es, im Sumpf zu liegen.
Vielleicht verdiente Marcella es, in einem Sumpf zu liegen, wenn sie nicht kooperativ sein konnte. Aber Hytham? Hytham war lustig und vernünftig genug, um einen Tod zu verdienen, den die Morrigan würdigen konnte, und nicht einen, für den man sich im Jenseits über ihn lustig machen würde.
Sie ging um ihn herum und trat auf die braun-grüne Substanz, von der sie wusste, dass sie kein Gewicht tragen konnte. Es war matschig unter ihrem Fuß, nicht hart. »Du kannst nicht dein ganzes Gewicht darauf verlagern, aber du kannst es ausprobieren. Siehst du?«, sagte sie und bedeutete ihm, es zu versuchen.
Er tat es und erblasste, als ihm klar wurde, was er beinahe getan hätte. »Ich sehe, dass eure Länder komplizierter sind, als ich dachte, und dass es klug war, dich mitzunehmen, anstatt allein zu kommen.«
Er lächelte und Niamh spürte, wie Schuldgefühle in ihr aufstiegen. Es fiel ihr einen Moment lang schwer, zu atmen oder ihn überhaupt anzusehen, obwohl es das Wichtigste war, seinem Blick standzuhalten. Lügner sahen nicht weg, wenn sie sprachen.
»Ich bin froh, dass du mir erlaubt hast mitzukommen, obwohl ich wünschte, du wärst zurückgeblieben, um deinem Körper die Strapazen zu ersparen. Dies ist ein raues, gnadenloses Land.« Niamh fand einen Stock auf dem Boden und stocherte damit am Rand des Moors, um dessen Begrenzung zu erkunden. »Wenn du mir folgst, kann ich uns auf einen sichereren Weg bringen«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu. Sie hoffte, dass ihre hochgezogenen Schultern ihre wahren Absichten und die Zweifel, die sie plagten, nicht verrieten.
Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und kämpfte gegen den Drang an, sich umzudrehen und ihm zu sagen, er solle zurück nach Lunden gehen. Ihm von ihren Plänen zu erzählen. Alles zu gestehen. Sie durfte es nicht, sie sollte es nicht. Stattdessen stach sie auf die Erde ein, um dafür zu sorgen, dass keiner von ihnen dem Sumpf zum Opfer fiel, in den sie geraten waren, denn eines wollte sie nicht zulassen: dass sie auf die lächerlichste denkbare Weise den Tod fanden.
»Du warst eine gute Reisebegleiterin«, murmelte Hytham, als sie endlich die andere Seite des Sumpfs erreicht hatten. Er stützte sich auf den Stock, den er aufgehoben hatte, da er den Trick gelernt hatte, wie er sich schützen konnte. »Aber du bist so still. Ich glaube nicht, dass du sonst so schweigsam warst.«
Sie seufzte. Natürlich hatte er bemerkt, dass es ihr immer schwerer fiel zu sprechen, je näher sie ihrem Ziel kamen.
»Es ist seltsam, wieder zu Hause zu sein«, sagte sie langsam. »Ich dachte, wenn ich wieder hierher zurückkomme, würde ich in mein Dorf gehen, um mich auszuruhen, weil ich alt und schwach bin. Oder dass man vielleicht meine Gebeine zurücktragen würde, um sie hier zu begraben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich …«
Wie konnte sie einen Weg finden, die Wahrheit zu sagen, ohne sie auszusprechen?
»… mit jemanden auf einer Mission sein würde. Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal einen Grund haben würde, hier zu sein. Heimat ist kompliziert. Einerseits möchte ich hier sein, andererseits ganz weit weg.«
Hytham nickte. Er hatte seine eigenen Geheimnisse, soviel erkannte sie. Er sprach nicht über seine Vergangenheit oder darüber, woher er gekommen war. Das taten Marcella und alle anderen, die sie bei den Verborgenen getroffen hatte, auch nicht. Ihre Herkunft war geheimnisumwittert und sie zogen es vor, über die Gegenwart zu sprechen, über ihre Aufgabe. Sie lebten in einer Welt, in der nur ihr Auftrag zählte und nichts anderes.
Sie erklommen einen weiteren Hügel und weit in der Ferne sah sie Rauch aus einem Tal aufsteigen. Ein Lager. Vielleicht das, zu dem sie unterwegs waren? Trotz des Vertrauens, das Hytham in sie gesetzt hatte, indem er ihr erlaubte, an seiner Seite zu schlafen und ihr den Weg zu weisen, war er, wenn es um ihr eigentliches Ziel ging, zurückhaltend gewesen. Er hatte ihr nie etwas Genaues verraten wollen.
»Hytham, du wirst mir irgendwann sagen müssen, wohin wir gehen«, sagte sie jetzt verärgert.
»Genau dort, hinter dem Hügel, wo der Rauch aufsteigt. Dorthin gehen wir.« Er bestätigte ihren Verdacht und ging um sie herum. Durch seine Körpersprache machte er deutlich, auch weiterhin ihr Anführer zu sein, zumindest im Moment.
Niamh sah ihr Schicksal herannahen. Die Umsetzung der Entscheidung, die sie vor Monaten getroffen hatte, stand nun an, und sie konnte nur denjenigen gegenüber loyal sein, denen sie ein Versprechen gegeben hatte. Und Hytham hatte sie nichts versprochen.
Die Wellen brachen an der Küste und schlugen gegen den steinigen Strand im äußersten Norden Kaledoniens.
Niamh saß auf einem Felsen mit Blick auf die Brandung und betrachtete das kalte Wasser, während sie meditierte. Ihre Hände ruhten auf ihren Knien und sie klopfte den Rhythmus eines Liedes, das ihr durch den Kopf ging. Gerade noch in Reichweite lag ein ramponiertes und kampferprobtes Schwert. Ihre Augen waren halb geschlossen und ihr Blick war auf den Horizont gerichtet, ohne ihn wirklich wahrzunehmen, während sie durch die Teile ihres Geists wanderte, die befreit werden mussten, um sich mit der Energie des Ozeans zu verbinden.
Die Sonne stieg langsam hinter dem Horizont auf und tauchte den Strand in die goldenen und orangen Farben der Morgendämmerung. Ihr kastanienbraunes Haar war mit einem Band, das so orange wie ein Fuchsschwanz war, zurückgebunden, damit es ihr nicht ins Gesicht hing. Eine praktische Lösung für eine Schwertkämpferin. Während sie sich auf ihre Meditation konzentrierte, war ihr bewusst, dass nicht allzu weit von ihrem Dorf entfernt Räuber gesichtet worden waren. Wenn diese auf sie stießen, würde sie nicht nur sich selbst, sondern das ganze Dorf verteidigen müssen. Das war ihre Aufgabe als Hexenkriegerin dieser Stadt.
Deshalb hatte sie das Schwert dabei und lauschte auf ihre Umgebung, auch wenn sie beides nur zu gern hinter sich gelassen hätte. Es wäre einfacher, sich mit den Energien der Erde zu verbinden, wenn sie so tun könnte, als gäbe es in der Welt keine Gefahren. Ihre Finger strichen über die tiefgrüne Wolle ihres Kleides mit dem Schwertschlitz auf der linken Seite. Niamh von Argyll war die Art Frau, die nie unvorbereitet war, nicht einmal, wenn sie morgens am Meer meditierte.
Sie beendete ihr stilles Gebet und neigte den Kopf in Richtung des Weges, den sie zum Wasser hinuntergegangen war. Sie hörte das Geräusch schneller Schritte. Ihre Schülerin rannte den Pfad hinunter, das Gesicht vor Anstrengung gerötet. Der Anblick bereitete Niamh Sorgen – sie würde ihren ersten Kampf niemals überstehen, wenn sie nicht an ihrer Ausdauer arbeitete. Das Schwert in ihrer linken Hand bebte bei jedem ihrer Schritte. Ihre andere Hand umklammerte fest eine auf Papier geschriebene Botschaft. Niamh stellte sich kurz vor, was passieren würde, wenn die Kleine stolperte, und machte sich im Geiste eine Notiz, mit ihr am richtigen Umgang mit dem Schwert zu arbeiten. Sie sollte es schließlich erst dann ziehen, wenn es auch einen Feind gab.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte das Mädchen sie endlich und atmete schwer.
»Du kannst dein Schwert wegstecken, Mädchen«, sagte Niamh mit strenger Stimme. »Es gibt keine Feinde zu bekämpfen, keine Wölfe, die uns überraschen könnten. Es sei denn, du bist gekommen, um mich zu töten?«
Die Rolle der Mentorin war ungewohnt für Niamh und der Tadel aus ihrem Mund fühlte sich seltsam an. Aber offenbar brauchte der Lehrling ihre Strenge. Das unsinnige Herumhantieren mit dem Schwert würde eine Reihe von Menschen – einschließlich Niamh – das Leben kosten, wenn Birdie nicht vorsichtig war.
Niamh sprang von dem Felsen herunter und ging zu dem Mädchen, das mitten in den Seegräsern stand. Am besorgten Gesichtsausdruck ihrer Schülerin erkannte Niamh, dass jemand den Brief, den Birdie ihr mit der freien Hand hinstreckte, gelesen hatte. Das Kind konnte nicht lesen, was ein weiteres Problem war, das Niamh lösen musste, bevor ihre Schülerin zur weiteren Ausbildung geschickt werden konnte. Niemand wurde aus ihrer Obhut entlassen, ohne die Fähigkeit, eine Nachricht zu lesen.
»Was ist los?« Sie versuchte, gelangweilt zu klingen. Das Mädchen war überreizt, dachte womöglich, dass die Dringlichkeit des Briefes sie ebenfalls betraf, und malte sich wahrscheinlich ihre erste Aufgabe aus. Vielleicht stimmte das, falls Niamh Hilfe brauchte, aber sie nahm ungern jemanden mit, dem es nicht in den Sinn kam, sein Schwert in die Scheide zu stecken, wenn er im Laufschritt unterwegs war …
»Die Herrin bittet um deinen Rat«, sagte das Mädchen steif und die Worte klangen so gestelzt aus ihrem Mund, als hätte sie sie auf dem ganzen Weg zum Strand geübt. Es war die Art förmlicher Formulierung, die ihr der Absender des Briefes oder derjenige, der ihn ihr vorgelesen hatte, vorgegeben haben musste.
Die Herrin. Die Betonung bedeutete, dass es nur eine Frau sein konnte, die Niamh um Hilfe bat. Eine einzige Frau, die sie von überallher, von jedem Ort und zu jeder Zeit herbeirufen konnte.
Aber obwohl sie es nur ungern zugab, war Niamh müde. Sie wollte hierbleiben, in ihrem Dorf, und solchen Aufforderungen nicht nachkommen. Es fühlte sich an, als hätte sie ihr ganzes Leben lang gegen diejenigen gekämpft, die nehmen, nehmen, nehmen wollten – seien es Räuber oder Eindringlinge, die aus anderen Ländern an ihre Küste kamen. Sie würde es sich lieber in ihrem Heimatdorf gemütlich machen, die Stadt vor ständigen Plünderern und Unheil bewahren und vielleicht ein oder zwei Kinder großziehen, so die Göttin es wollte.
Stattdessen schien die Göttin sie auf einen weit weniger friedlichen Pfad zu schicken. Einen, für den Niamh trainiert hatte, so viel war sicher, aber keinen, den sie wirklich vor sich gesehen hatte. Und natürlich war dieses Mädchen, Birdie, noch nicht so weit, tief in den Süden zu gehen, wo die Herrin wohnte, oder wohin auch immer sie sie womöglich hinschicken würde.
Niamh sah auf das Papier, das ihre Schülerin ihr mit zitternder Hand reichte. Nach einem Moment erkannte sie, dass Birdie nicht nur eins, sondern zwei Blätter in ihrer Hand hielt. Das erste trug eine Handschrift, die sie nicht kannte. Es war ein Gekritzel in einer Sprache, die ihr zwar nicht völlig fremd war, die aber schwieriger zu entziffern war. Sie setzte sich zwischen Seegras und Dünen wieder und hielt sich das Papier näher vors Gesicht, um es zu lesen.
Der Absender dieser ersten Botschaft suchte eine erfahrene Kriegerin mit dem Namen Nimue. Dem Brief zufolge war sie geschickt im Umgang mit dem Schwert und konnte sich mit der Verstohlenheit eines Fuchses und der Lautlosigkeit einer Kreuzotter anschleichen. Derjenige, der diesen Brief geschrieben hatte, bat jemanden, diese Nimue zu treffen, weil sie in seinen Orden aufgenommen werden sollte.
Das Gefühl der Erschöpfung verstärkte sich, als ihr, ohne die nächste Seite lesen zu müssen, klar wurde, was man von ihr verlangen würde. Die Herrin würde sie bitten, sich als diese Kriegerin auszugeben und ihren Platz einzunehmen. Irgendwie hatte Avalon diese Nachricht abgefangen. Sie würde Nimue nie erreichen, die von dieser Einladung nichts erfahren würde. Niamh würde ihren Platz einnehmen.
Birdie hatte ihr gesagt, dass die Herrin sie rief. Das bedeutete nur eines: Die Herrin wollte, dass sie nicht nur zum Tor, sondern nach Lunden ging. Der Brief des Fremden, der nach solch verstohlenen Kriegern suchte, hatte seinen Aufenthaltsort genannt. Obwohl Avalon in Chiffren schrieb, war die Herkunft dieser Notiz eindeutig. Niamh hatte es bei jeder ihrer Reisen in den Süden vermieden, die Stadt aufzusuchen. Der Gedanke an eine Stadt bereitete ihr Kopfschmerzen. Zu viele Menschen. Zu viel Lärm. Zu viele Dinge, die sie sich nicht vorstellen konnte, weil sie so viel Zeit in den Sümpfen, im Moor und an der Küste verbracht hatte. Sie kannte dieses Land, diese Menschen, aber bis nach Lunden zu reisen bedeutete, dass sie vielleicht nie wieder zurückkehren würde. Die Reise war so weit, dass viele nur in eine Richtung gingen und nie zurückkehrten. Eine solche Reise war mit vielen Gefahren verbunden und Niamh wusste, sie würde all ihre Fähigkeiten einsetzen müssen, um sicher anzukommen.
Sie starrte auf das ramponierte Stück Pergament, das die Reise in ihren Winkel der Welt überstanden hatte, faltete es zusammen und steckte es in den Lederbeutel an ihrer Hüfte. Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie einen Blick auf die zweite Seite warf.
Sie war von der Herrin höchstpersönlich. Sie war handgeschrieben auf dem hellsten Pergament, das Niamh je gesehen hatte, mit Tinte, die vor Magie der Insel schimmerte.
Die Herrin bat sie, ihre Heimat zu verlassen, nach Lunden zu reisen – wie Niamh es vorausgesagt hatte – und herauszufinden, wer diese Leute waren. Zu diesem Zweck sollte sie den Platz dieser Nimue einnehmen. Wer waren diese Verborgenen, die Leute wegen ihrer Verstohlenheit brauchten? Wer brauchte Leute, die sich anschleichen und morden konnten?
Die Herrin stellte klar, dass niemand ohne das Wissen oder die Zustimmung der Frauen des Nebels eine Gruppe wie diese leiten sollte. Also aktivierte sie eine ihrer besten Hexenkriegerinnen, die einzige, der sie zutraute, die Anforderungen dieser speziellen Mission erfüllen zu können. Niamh von Argyll. Die Herrin betonte, es sei hilfreich, dass sie fast den gleichen Namen trugen. Obwohl Niamh wusste, dass man Namen jederzeit ändern konnte. Es waren ihre Fähigkeiten, die sie für diese Aufgabe prädestinierten, nicht ihr Name.
Trotz der Müdigkeit und der Angst vor der Reise, die Niamh bevorstand, spürte sie auch das Wissen um ihr eigenes Können. Sie war stolz auf das, was sie im Namen von Avalon zu leisten vermochte. Sie wusste, dass sie dafür ausgebildet worden war, denn man hatte Zeit, Energie und Gebete in sie investiert. Ihr Lebensmittelpunkt war gewesen, Wege zu finden, der Göttin durch die Künste des Schwerts und des Kräuterhandwerks zu dienen. Das war es, wozu sie bestimmt war. Auch wenn sie dem langen Ritt zwiespältig gegenüberstand, kam sie nicht umhin, einen Funken Stolz zu empfinden. Sie hatte genug getan, um einer Mission würdig zu sein, zu der die Stimme der Göttin sie rief.
Und so würde sie der Herrin gehorchen und diesen gefährlichen Auftrag annehmen.
Sie hätte sich gern mehr Zeit am Wasser genommen, um sich zu verabschieden, aber ihr Lehrling schien nicht geduldig warten zu können. Birdies Füße scharrten im Sand und gruben sich weiter in die weiche Erde ein. Ihre Finger tanzten über den Knauf ihrer Klinge, bereit, zuzuschlagen, auch wenn ihre Fähigkeiten noch nicht vollkommen ausgereift waren. Zumindest war das Mädchen eifrig. Das würde es auf seinem Weg ein gutes Stück weiterbringen.
Niamh nickte, stand auf, steckte den zweiten Brief in ihren Beutel und machte sich auf den Weg zu ihrem kleinen Dorf. Sie wartete nicht, ob ihre Schülerin ihr folgte, denn sie wusste, dass das Mädchen ihr Zeichen verstand.
Birdie konnte nicht ganz mithalten. Niamhs Schritte waren lang und schnell und sie eilte mit Leichtigkeit an den Seegräsern vorbei und in den lichten Wald, der ihr Haus umgab. Trotzdem rief das Mädchen ihr hinterher, wobei ihre Worte durch den Abstand, den Niamh zwischen sie gebracht hatte, fast unverständlich waren.
Das Kind wiederholte seine Bitte und Niamh hörte, wie seine Schritte schneller wurden. Sie hielt inne, um Birdie die Möglichkeit zu geben, um sie herumzugehen, sich vor sie zu stellen und mit ihr zu sprechen. Sie war nicht gerade beeindruckt von dem Mädchen, aber es hatte das Recht, jederzeit mit seiner Mentorin zu sprechen und Fragen zu stellen.
»Wirst du mich brauchen? Soll ich mit dir kommen?«, fragte Birdie atemlos.
Niamh musterte das schmutzige kleine Mädchen, das zerbrechlich und abgemagert vor ihr stand. Sie dachte an den langen Ritt von Argyll bis zum südlichen Rand von Mercia, an die Zeit, die sie allein auf der Straße verbracht hatte, begleitet nur von ihrem Pferd. Sie dachte daran, wie hilfreich ein zweites Paar Augen wäre, und als sie in den düsteren Himmel sah, wusste sie, dass sie ihren Lehrling auf dem vor ihr liegenden Weg brauchte, auch wenn sie das Kind nicht mitnehmen wollte. Wenn sie klug genug, schnell genug und begabt genug wäre, könnte das Kind vielleicht nach Avalon geschickt werden, anstatt ein langes Leben als Wollspinnerin zu fristen. Aber Birdie hatte bisher nicht bewiesen, dass sie genug Verstand besaß, um nützlich zu sein. Es war eine schwere Entscheidung für Niamh, denn sie wusste, dass Birdies gesamte Zukunft in ihren Händen lag.
Das Leben hier oben im Norden war hart. Es war oft kurz und Mädchen erging es nicht so gut wie Jungen. Niamh hatte es zu etwas gebracht, weil sie dem entkommen war und eine Aufgabe und ein Schwert, das ihr gute Dienste leistete, gefunden hatte.
Wenn das Mädchen sich als nützlich erweisen und seine innere Stärke finden könnte, würde sich die Reise aus Argyll vielleicht lohnen. Wenn es Niamh das Leben ein wenig leichter machte, auch wenn Birdie nicht ganz so klug oder schnell war, wie Niamh es sich erhoffte … Nun ja. Sie würde ihr eine Chance geben.
»Sattle zwei Pferde, besorg uns genug Proviant für einen Zweitagesritt nach Süden und vergiss nicht, dir eine anständige Waffe zu besorgen. Du musst eine haben, wenn wir aufbrechen, und die, die du in der Hand hältst, ist nicht so scharf, wie ich es mir wünschen würde. Geh sofort zum Schmied.«
»Ich darf also mitkommen?«
»Ja, Birdie. Du darfst mitkommen.«
Das eifrige Mädchen nickte und eilte ohne ein weiteres Wort davon. Niamh blieb mit den beiden Briefen und ihren Gedanken zurück.
Sie war die Heckenhexe dieser Gemeinschaft. Ihre Aufgabe war es, über die Menschen zu wachen, die sie großgezogen hatten, ihre Wunden zu heilen, ihre Kinder zur Welt zu bringen und sie bei Gefahr mit allen Mitteln zu schützen – sei es mit dem Schwert oder mit Kräutern. Sie lehrte die Kinder, wie man Wickel machte, und meditierte jeden Morgen am Strand, um sich auf die Energie des Landes einzustimmen und zu wissen, wer dort jagte, wer dort lauerte und wer in Frieden kam.
Niamh starrte in den Wald und fragte sich, ob sie im Gegensatz zum letzten Mal, als sie ihre Heimat verlassen hatte, nicht wieder zurückkehren würde. Dieser Wald kannte sie und sie wollte nicht die Verbindung zu dem Land verlieren, auf dem sie geboren und aufgewachsen war. Ihre Familie war tot und das Einzige, was ihr geblieben war und was sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte, waren diese Bäume und dieses Land.
Sie bedauerte, dass sie sich nicht richtig verabschiedet hatte, als sie in jungen Jahren zur Ausbildung nach Avalon gegangen war. Während ihrer Zeit auf der magischen Insel hatte sie ihre Heimat sehr vermisst und sie wollte den Einfluss, den sie auf ihre Seele hatte, dieses Mal aufrichtiger würdigen.
Sie ging zurück zum Dorf und betrachtete es wie mit neuen Augen. Die kleinen Hütten hatten Strohdächer und an den Sträuchern hingen die ersten Beeren. Irgendwo blökten Schafe, die von den Hirten in die Stadt zurückgetrieben wurden. In der Ferne klopften die Frauen die Wolle aus. Zwischen den Hütten duftete es nach Gekochtem und wieder bedauerte sie, dass sie die Menschen, die sie liebte, zurücklassen würde. Sie ging an all dem vorbei. Ein anderer Ort erforderte ihre Aufmerksamkeit.
Schließlich erreichte sie die Stelle, von der sie wusste, dass sie sich dort am längsten aufhalten musste: das Steingrab etwas außerhalb der Stadt, das für die Gebeine ihrer verstorbenen Mutter errichtet worden war.
Ihre Mutter war vor ihr die Hexenkriegerin ihres Dorfes gewesen. Dieser Titel wurde von Generation zu Generation weitervererbt. Niamh hatte gedacht, sie würde vielleicht eines Tages eine Tochter haben und den Titel erneut weitergeben, aber stattdessen ging sie fort und ihre Zukunft war ungewiss. So hatte sie sich die Dinge nicht vorgestellt. Schließlich hatte ihre Mutter sie ursprünglich weggeschickt, weil sie darauf beharrt hatte, dass Niamh ihrem Volk und sich selbst am besten dienen konnte, indem sie so viel wie möglich in Avalon lernte. Um die ihr übertragene Rolle übernehmen zu können. So wie sie es getan hatte.
Zeilen aus dem Brief der Herrin schossen Niamh durch den Kopf.
Du bist aufgrund deiner Fähigkeiten am besten dazu geeignet, die Situation zu beurteilen, hatte die Herrin geschrieben. Die Göttin hat gesprochen, es ist dein Schicksal, diesen Weg zu gehen. Wir wählen dich als unsere Spionin.
Eine Spionin. Sie hatte nie gedacht, dass sie solche Fähigkeiten besaß. Die Fähigkeiten einer Kriegerin und einer Hexe, ja, aber die einer Spionin? Sie nahm an, dass diese Fähigkeiten übertragbar waren, aber es würde eine neue Herausforderung für sie sein. Sie war dazu bereit.
Sie erinnerte sich an ihren ersten Überfall. Die Nordländer waren an die Küste gekommen und hatten versucht, ihrem Dorf jeglichen Besitz zu nehmen … nicht dass es so weit im Norden viel zu holen gab. Niamh hatte sich durch das Chaos des Kampfes geschlichen und sich einen Weg zu dem Langschiff gebahnt, das die Feinde ans Ufer gebracht hatte. Sie versenkte es und ließ ihnen keine andere Wahl, als durch das Moor zurück zu ihrer dänischen Siedlung zu laufen, die sich auf gestohlenem Land im Westen befand. Und das alles ohne Nahrung und neue Felle.
Doch das war nicht das einzige Mal gewesen, dass Niamh klug reagiert hatte. Ihre Hände strichen über die rauen Steine des Steingrabs ihrer Mutter und sie dachte an ihre Zeit in Avalon zurück. Ihre Mutter hatte sie bei ihrer Abreise gewarnt, dass es mehr als nur Hartnäckigkeit brauchte, um Priesterin zu werden. Es würde Tapferkeit erfordern.
Eine der letzten Aufgaben der Frauen, die auf der nebelverhangenen Insel studierten, bestand darin, einen Spaziergang zu machen. Der Spaziergang war weder ein Spaziergang über eine Wiese mit Schafen noch ein Spaziergang an einer friedlichen Küste oder einem Flussufer. Es war ein Spaziergang in der Dunkelheit entlang der Küste, zu der Höhle, von der es hieß, sie gehöre Merlin. In der Höhle musste jede, die dem Gott und der Göttin dienen wollte, um den Segen bitten, den Weg der Hexenkriegerin beschreiten zu dürfen.
Niamh war in fast völliger Dunkelheit am Ufer entlanggelaufen. Ihre Füße waren nackt, ihr Haar offen. Sie hatte nur ihr Gehör genutzt, um sich zu orientieren, weil der Himmel so dunkel war. Irgendwie hatten keine Sterne am Himmel gestanden und der Mond war in seiner dunkelsten Phase gewesen. Selbst jetzt, als sie im Wald ihrer Heimat stand, konnte sie das gefrorene Wasser spüren, das an ihren Knöcheln geleckt hatte. Sie hatte damals gewusst, dass ein falscher Schritt ihren Tod bedeutet hätte, und dieses Risiko akzeptiert. Sie hatte die Konsequenzen in Kauf genommen, dieser Berufung bis zum bitteren Ende zu folgen.
Nachdem sie die Höhle erreicht hatte, die mit runden, vom Meer glatt geschliffenen Steinen gefüllt war, hatte sie ihr Gewand ausgezogen und war tief in das eisige Wasser gewatet, das die Höhle überflutet hatte. Sie war in das salzige Wasser eingetaucht und wieder hochgekommen, um den Segen des Wassers zu erbitten. Es brauchte beträchtlichen Mut, in dieser Höhle zu schwimmen, denn sie hatte gewusst, dass sie jeden Moment, wenn das Wasser es so wollte, ertrinken oder erfrieren oder von der Brandung gegen die Felswand geschleudert werden konnte. Dann wäre sie verloren gewesen.
Doch keine dieser Erinnerungen machte sie zu einer guten Spionin. Sie war eine gute Priesterin, eine gute Kriegerin. Sie hatte unter Bedingungen, die so mancher Hebamme die Haare zu Berge hätten stehen lassen, Babys sicher auf die Welt geholfen, aber das waren nicht die Eigenschaften von jemandem, der lügen, sich anschleichen und Unwahrheiten erzählen konnte, um zu bekommen, was die Herrin brauchte.
Aber wenn die Herrin es wollte, wenn die Göttin es wollte, dann sahen beide vielleicht etwas in ihr, was Niamh nicht sah. Wenn dies die Berufung war, der sie folgen sollte, dann war sie vielleicht wirklich die, für die sie sie hielten. Manchmal war es notwendig, sich von den Menschen, die einen am besten kannten, zeigen zu lassen, wer man sein konnte. Sie hatte der Herrin schon einmal vertraut, als sie sich auf den Weg zur Höhle gemacht hatte. Diese hatte ihr gesagt, sie wäre bereit dazu, auch wenn Niamh es nicht ganz geglaubt hatte.
Der Weg nach Lunden wäre genauso gefährlich wie der Weg zu Merlins Höhle.
Niamh zog die beiden Briefe aus ihrem Lederbeutel und untersuchte sie. Die Herrin hatte klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, was sie von Niamh wollte. Die Erwartungen waren klar und Niamh entging nicht, dass es sich nicht um eine Bitte handelte. Es war ein Befehl.
Der andere Brief war seltsam. Er war eher wie ein Rätsel formuliert. Sie murmelte die seltsamen Worte vor sich hin und versuchte herauszufinden, wie sie sich laut anhörten.
Wir, die wir uns in den Schatten verstecken, erbitten das Vertrauen von Nimue, die von den Inseln nördlich von Kaledonien stammt. Wir wissen, du bist so schlau wie der Fuchs und so leise wie die Kreuzotter. Du trägst die Wildheit des Wolfes und die Schnelligkeit des Hasen in dir, was ebenfalls von großem Nutzen ist.
Wir wissen, weshalb du diese Fähigkeiten besitzt. Wenn du sie weiter verfeinern möchtest, besser verstehen willst, wer du bist, dann komm zum Hawk’s Nest an der Tamesis. Steig unsere Leiter hinauf und erzähle uns, was du darüber weißt, wie man mit Schatten und Dunkelheit wandelt.
Was bedeutete es, mit Schatten zu wandeln, fragte sich Niamh. Sie hatte genug Zeit damit verbracht, die Riten der Morrigan zu studieren und Leben mit Respekt zu nehmen. Sie war gut darin, die Schattenwelt zu verstehen, aber das war nicht ganz das Gleiche wie mit Schatten zu wandeln. Sie war neugierig, was das bedeuten könnte. Sie fragte sich jedoch auch, welche Art von Vergangenheit jemanden dafür besonders geeignet machen könnte.
Sie las die Aufforderung, die sie an ihre eigenen Traditionen erinnerte, aber von jemand geschrieben war, der sie nicht verstand. Sie konnte sehen, dass der Verfasser wusste, dass ihr Volk bemüht war, die Energie der Kreaturen um es herum zu verstehen, und dass es sie respektierte. Sie glaubte jedoch nicht, dass sie den Geist einer Kreatur annehmen konnte, nur um von ihr zu lernen, wie sie es mit den anderen Energien des Waldes tat.
Aber es musste sich nicht um eine Bitte schlechter Menschen handeln. Sie konnten im Verborgenen für gute Zwecke arbeiten. Sie wusste, dass Menschen sie ausgebildet hatten, die glaubten, es sei manchmal notwendig, schwierige Dinge zu tun, um die Menschen zu schützen, die bei ihnen Führung und Unterstützung suchten. Sie wusste, sie hatte eine gute Ausbildung genossen, und sie konnte diesen Fremden ihr Volk näherbringen, wenn es ihr gelang, sich mit ihnen zu verbünden.
Sie sah ein letztes Mal auf den Brief der Herrin hinunter und las die letzten Zeilen noch einmal.
Auch wenn du ihnen Vertrauen schenkst, musst du immer noch vorgeben, diese andere Frau zu sein, und du solltest ihnen noch nicht sagen, wen du vertrittst. Erzähl ihnen die Geschichte deiner Herkunft, aber nicht, dass du eine Frau des Nebels bist. Vielleicht wissen sie nichts von uns – und wenn doch, werden sie dir weniger vertrauen, weil du eine von uns bist. Wir vertrauen auf dein Urteilsvermögen, aber wir glauben, dass sie dich auf Abstand halten werden, wenn sie wissen, dass du von unserer Gemeinschaft unterstützt wirst.
Sie würde so tun müssen, als wäre sie jemand, der sie nicht war. Sie würde ihre Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grad verleugnen müssen. Es war klar, dass diese Leute im Hawk’s Nest, wer immer sie auch waren, nicht unbedingt Freunde waren. Aber sie könnten es sein, wenn sie den Verstand besaß, sie umzustimmen.
Das Steingrab war klein, etwa so lang, wie ihre Mutter zu Lebzeiten gewesen war, kaum größer als Niamh, und breit genug, um den Körper ihrer Mutter vor Krähen und anderen Tieren zu schützen.
Niamhs Hände erinnerten sich an den Bau, jeder grob behauene Stein war durch ihre Hände gegangen, wenn auch nur kurz, denn sie hatte beim Bau geholfen. Jetzt waren die Steine im Laufe der Zeit glatt geworden, die Jahre seit dem Bau des Steinhügels hatten ihre Kanten abgeschliffen. Es war lange her, dass sie hier gewesen war, nicht weil sie nicht wollte, sondern aus Zeitmangel. Ihre Pflichten im Dorf hatten sie in den letzten Jahren seit ihrer Rückkehr aus Avalon auf Trab gehalten. Es gab immer eine schwangere Frau oder ein krankes Kind, um die sie sich kümmern musste. Ein Rudel Wölfe, das vertrieben werden musste, oder eine Wache, bei der sie aushelfen musste. Es war keine ruhige Zeit gewesen, die sie in diesen Wäldern am Meer verbracht hatte. Wenig Zeit für die Trauer um ihre Mutter, die von ihr erwartet hätte, dass sie sich um ihr Volk kümmerte. Immerhin hatte Niamh von ihr die Rolle als Hexenkriegerin des Dorfes übernommen.
Niamh schloss die Augen und dachte an die letzte Erinnerung, die sie an ihre Mutter hatte.
Während sie sich auf die Abreise nach Avalon vorbereitet hatte, war ihre Mutter krank geworden. Ihr Körper hatte geglüht und nichts hatte ihre Haut zu kühlen oder den Schweiß, der ihr die Stirn hinunterlief, aufzuhalten vermocht, ganz gleich was sie versucht hatte. Kein Kräutermittel, nichts hatte geholfen. Niamh hatte mit ihr darüber gestritten, ob sie gehen sollte, aber ihre Mutter hatte entschieden, dass Niamh nur so lange warten durfte, bis ihr Körper unter einem Steingrab lag. Man würde ihre Ankunft in Avalon erwarten, sobald sie ihre Mutter beerdigt hatte.
Niamh hatte mit den Frauen ihrer Gemeinschaft Totenwache am Schilfbett ihrer Mutter gehalten, auf dem sie unter Fellen und Decken lag, die man ihr gebracht hatte, um sie warm zu halten, obwohl sie von innen heraus verbrannte. Sie hatte die Hand ihrer Mutter gehalten, als diese durch den Schleier gegangen war. Dann hatten sie schnell ihr Steingrab gebaut, damit Niamh ohne Zeitverlust abreisen konnte.
Der Ritt nach Avalon war einsam, still und meditativ gewesen. Sie hatte gespürt, wie die Rolle ihrer Mutter auf ihre eigene Seele überging. Auch wenn sie den Verlust ihres einzigen Familienmitglieds betrauerte, hatte sie gewusst, dass sie den Geist ihrer Mutter in sich trug.
Jetzt wurden ihre Gedanken ruhiger und sie merkte, dass es langsam dunkel wurde und die Sonne jenseits des Meeres zu Bett ging. Sie hatte den ganzen Tag an diesem Ort verbracht, diese Gedanken gewälzt und versucht, ihren Platz zu finden.
Selbst jetzt, da die Sonne hinter den Hügeln unterging, wusste sie, dass der Geist ihrer Mutter sie auf ihrem Weg nach Süden leiten würde und dass sie die Befehle der Frauen des Nebels befolgte.
Hinter sich hörte sie in der Ferne die Trommeln, die sie zu einem letzten Tanz aufforderten, bevor sie aufbrach. Das Heidekraut und der Duft des Meeres flüsterten ihr zu und der Weg würde vor ihr liegen, sobald sie erwachte.
Niamh und Birdie verließen das Dorf bei Tagesanbruch. Bei der Nachricht ihrer Abreise hatte das ganze Dorf dem Bier reichlich zugesprochen. Niamh hatte das nicht getan, sondern dem Tanz zugesehen und ein paar Runden mitgetanzt, obwohl sie wusste, dass sie nicht nur eine Dorfbewohnerin war. Das war sie schon seit Langem nicht mehr. Ihr Pferd – ein wunderschöner brauner Hengst, den sie aus Avalon mitgebracht hatte – schnaubte ihr sanft ins Gesicht, während sie ihn sattelte und für den langen Ritt in den Süden bereit machte.
Leise ging Birdie neben ihr die Satteltaschen durch und vergewisserte sich, dass sie genug Essen und Wasser dabeihatten, um über die Runden zu kommen. Niamh war sich darüber im Klaren, dass dies kein Ritt war, bei dem sie in jedem Dorf anhalten und um Hilfe bitten konnte. Sie wollte für ihren Ritt nach Lunden so wenig Zeugen wie möglich haben. Schließlich wollten diese Fremden, dass sie mit den Schatten arbeitete. In denen würde sie sich halten, so gut sie konnte.
Niamh drehte sich nicht um, als sie schließlich auf Mathan aufsaß und ihn von ihrem Zuhause weglenkte. Sie wappnete sich. Sie durfte nicht zu sehr trauern. Auch wenn sie nicht gehen wollte, war es gut möglich, dass die Göttin sie bat, das Wissen, das sie als Hexenkriegerin erworben hatte, für mehr als nur Heckenhexerei zu nutzen. Auch wenn es eine Weile dauerte, zogen Hexenkriegerinnen am Ende immer in Abenteuer.
Birdie ritt nicht schnell. Sie hatte das Dorf noch nie für mehr als einen Tagesritt verlassen. Niamh überholte ihre Schülerin und ritt voraus, wohl wissend, dass Birdie sich tief in ihrem Herzen fragte, ob sie jemals hierher zurückkehren würde, in ihre Heimat.
Niamh konnte sie nicht beruhigen oder ihr auch nur im Ansatz eine Antwort geben. Niemand wusste, was eine solche Aufgabe mit sich brachte. Nur die Göttin, und die verriet es ihnen nicht.
Ein langer Ritt lag vor ihnen. Es war die Art von Ritt, die die Oberschenkel wund scheuerte und das Pferd ermüdete. Normalerweise hätte Niamh auf halber Strecke die Pferde getauscht und sich um des Tieres willen ein anderes von Eponas Herde – so hieß die Herde, die für Avalon gehalten und von ihren Anhängern auf der ganzen Insel gepflegt wurde – ausgeliehen, aber die Briefe hatten ihr ein Gefühl der Dringlichkeit vermittelt. Die Herrin war besorgt. Auf der Insel gab es neue Leute und sie hatten ihre Absichten nicht so deutlich gemacht, wie sie es hätten tun können.
Birdie beschleunigte das Tempo, um dicht hinter ihr zu bleiben, hartnäckig bis zum Schluss. Sie hatte sich ähnlich wie Niamh gekleidet, praktische Reithosen unter einem Rock, den sie beim Reiten hochziehen konnte. Wie angewiesen, hatte sie sich ein Schwert besorgt, das in einem besseren Zustand war als das, mit dem sie am Strand herumgefuchtelt hatte.
Doch schon am ersten Tag war klar, dass Birdie nicht an das Tempo einer langen Reise gewöhnt war. Niamh konnte anhand der Art, wie sie nachts vom Pferd rutschte, die Schmerzen in Birdies Hüfte nachfühlen und wie hundemüde sie nach einem Ritt über so vielen Meilen in diesem Tempo war. Niamh hatte sich daran gewöhnt – sie hatte schon früher solche langen Ritte gemacht –, aber sie erinnerte sich, dass es ein Schock für das System war, wenn man es zum ersten Mal erlebte. Nach ihrem ersten Ritt nach Avalon hatten ihr noch tagelang die Knochen wehgetan.
Später ritten sie an Pikten-Dörfern vorbei und Birdie beschwerte sich darüber, dass sie sie nicht um Hilfe bitten konnte. Niamh verdrehte die Augen und ritt weiter, denn sie wusste, dass ein Besuch bei ihren Nachbarn nichts bringen würde. Wenn es das falsche Dorf war, würden sie als Gefangene enden, oder noch schlimmer.
Niamh konnte nichts tun, um Birdies Muskelkater oder ihrem Bedürfnis nach Annehmlichkeiten auf der Straße Abhilfe zu schaffen. Sie ritten mit der Geschwindigkeit weiter, die Niamh für notwendig hielt. Als sie die Steinmauer erreichten, die errichtet worden war, um sie auf Abstand zu halten, blieb Niamh stehen.
»Dies ist die Grenze zwischen Kaledonien und Mercia«, sagte sie und wandte sich mit ernster Miene an Birdie. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie den Hadrianswall überquert hatte, und wusste, dass er gebaut worden war, um Leute wie sie dahinter zu halten. Er war eine Warnung. Geht nicht weiter, ihr seid hier nicht willkommen.
»Sobald du diese Mauer hinter dir gelassen hast, gibt es kein Zurück mehr«, sagte Niamh schließlich. »Zumindest nicht mit mir an deiner Seite«, fügte sie hastig hinzu, da sie wusste, dass dieser Zusatz notwendig war. Birdie könnte auf halbem Weg nach Lunden beschließen, dass sie für diese Art von Abenteuer nicht geeignet war, und dann konnte Niamh sie nicht nach Hause bringen. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Birdie schluckte hörbar, als sie einen Blick hinter sich warf und das Land betrachtete, von dem sie wusste, dass sie dort akzeptiert wurde. Niamh erkannte, wie das Mädchen seine Optionen abwog und zu entscheiden versuchte, ob es wirklich den Mut hatte, weiterzugehen.
Zu ihrer Überraschung nickte Birdie, obwohl sie ein wenig blass und mürrisch wirkte.
»Ja. In Ordnung. Ich folge dir.«
Das war die Zustimmung, auf die Niamh gewartet hatte. Sie führte sie auf der kaledonischen Seite an der Mauer entlang und suchte nach einem Loch, das breit genug für ihre Pferde war. Es dauerte mehrere Stunden, aber währenddessen hatte Niamh Gelegenheit, nachzudenken.
Kaledonien zu verlassen war ihr immer schwergefallen. Sie liebte es, wie man sie erzogen hatte, den Jahreszeiten zu folgen, die Götter und Göttinnen zu ehren und auf die Energie zu achten, die sie umgab. Sie war sich nicht so sicher, welche Rituale die Heiden im Süden befolgten, aber sie war sich sicher, dass sie am Ende mit ihnen auskommen würde.
Es waren die anderen, die sie beunruhigten. Die Christen, die die Gebräuche auf diesen Inseln völlig verändern wollten. Die Dänen, die mit ihrer eigenen Magie und ihren eigenen seltsamen Göttern kamen. Neue Glaubensvorstellungen und neue Gottheiten vermischten sich mit den alten Bräuchen und verunsicherten Niamh. Die alten Bräuche, die sie kannte, waren zwar nicht auf kleine Dörfer beschränkt, aber die in den Städten lebenden Praktizierenden wurden von den Eindringlingen aktiv gejagt.
Kaledonien zumindest schien von allem weit genug entfernt zu sein, dass sie und ihr Volk größtenteils ihrer eigenen Wege gehen konnten. Sie konnten vergessen, dass der Wandel den Süden erfasste und ihn mit Mythen und Geschichten erfüllte, von denen man zuvor nichts gehört hatte.
Schließlich fanden sie ein Loch in der Mauer und schoben sich hindurch. Niamh sah sich um, besorgt, dass eine Wache sie angreifen oder rufen könnte, aber es kam keine solche Warnung. Sie atmete tief durch und gemeinsam ritten sie und Birdie nach Mercia.
Diese Nordlande unterschieden sich nicht so sehr von Kaledonien, da sich die Geografie zunächst nicht sehr stark veränderte. Nachdem sie sich weit genug von der Mauer entfernt hatten, an der bekanntermaßen oft Konflikte herrschten, fand Niamh einen Fluss zum Fischen für sie.
Birdie kümmerte sich um das Feuer, während Niamh ihnen Essen besorgte, und sie aßen und tranken in aller Ruhe. Birdies Nervosität war allerdings noch immer greifbar.
»Es ist in Ordnung, Angst zu haben«, sagte Niamh, nachdem sie gegessen hatten. Sie war selbst nervös. »Die Angst sagt uns Dinge, die wir hören müssen. Ich hatte Angst, als ich Argyll zum ersten Mal verließ. Ich hatte Angst, als ich zum ersten Mal nach Avalon ging. Aber die Angst darf dich nicht verzehren und ich sehe, dass du sie bekämpfst.«
Birdie starrte sie an und kaute auf den letzten Resten des Fischs herum.
»Die Dinge auf diesen Inseln haben sich sehr verändert …«, fuhr Niamh fort und sah sich um. »Wir werden an Siedlungen voller Dänen vorbeireiten, Menschen, die aus einem anderen Land hierhergekommen sind – einem kälteren als dem unseren. Und ja, einige von ihnen sind unsere Feinde, aber nicht alle. Es gibt auch Sachsen. Und Normannen und Pikten … und andere Clans als unseren. Es wird Heiden geben, die mit unseren Göttern und Göttinnen anders umgehen.« Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie die Mittsommerfeiern in einer Siedlung gesehen hatte, die sich mit Dänen zusammengeschlossen hatte. »Aber das ist alles nicht schlimm, solange die alten Bräuche respektiert werden. Solange man Menschen wie uns ihren Frieden lässt.«
Birdie starrte sie weiterhin an. Niamh wünschte sich, sie würde lernen, schneller zu sprechen, denn sie wusste, dass weniger schlagfertige Menschen es auf der Welt schwerer hatten.
»Du musst lernen, schneller mit deiner Stimme zu sein als jetzt«, sagte sie und unterbrach die Stille ein weiteres Mal. »Du wirst auf Leute treffen, die eine Antwort erwarten und dein Schweigen nicht gutheißen.«
Birdie überlegte lange, bevor sie sprach, aber schließlich, nachdem die Sonne untergegangen war, tat sie es doch.
»Ich weiß nicht, ob ich so mutig bin wie du, Niamh. Aber ich werde es versuchen. Ich möchte mehr sehen als unser Dorf und ich möchte unserem Volk so dienen können, wie du es jetzt tust. Ich weiß, dass du niemanden hast, der deine Rolle erbt, und ich hoffe, dass ich es tun kann, wenn es so weit ist.«
Niamh sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Wenn du so sein willst wie ich und Avalon dienen willst, musst du dorthin gehen, wohin sie dich schicken, egal was passiert.«
»Das weiß ich, und ich glaube, dass ich es lernen werde.«
Niamh war sich nicht sicher, ob sie diesem Mädchen, so dürr und außer Form wie es war, das zutraute. Aber sie sollte es versuchen.
Das war mehr als genug.
Sie ritten weiter nach Mercia hinein, ließen das kalte und feuchte Hochland hinter sich, verließen die Torfmoore und den Geruch des Regens und fanden sich in Wäldern wieder, in denen es von wilden Tieren wimmelte – Wölfe, Füchse, sogar ein oder zwei Bären.
Irgendwann wusste Niamh, dass sie an Siedlungen der Dänen vorbeiritten, und sie konnte ihre Abneigung gegen sie nicht unterdrücken. Sie hatten ihrem Volk so viel Leid zugefügt, so viel Gewalt. Und sie wusste, dass es für sie nicht sicher war, in diesen Dörfern anzuhalten, denn wenn einer von ihnen ihr Dorf überfallen hatte, würden sie wissen, wer sie war. Sie würden wissen, dass sie gegen sie gekämpft hatte und dass sie einmal ihr Schiff versenkt hatte, damit sie gestrandet waren und auf der Flucht in ihre Heimat womöglich abgeschlachtet wurden. Sie konnte ihnen nicht vergeben. Sie hatte gegen viele Menschen auf dem Schlachtfeld gekämpft und es war wichtig, dass sie von diesen früheren Feinden nicht gesehen wurde. Sie wollte keine unwillkommene Aufmerksamkeit, während sie sich auf die Suche nach dem Hawk’s Nest machte.
Niamh entdeckte zwischen den dichten Bäumen eine Wiese, die so aussah, als hätte an dieser Stelle schon einmal jemand sein Lager aufgeschlagen. Das war allerdings lange her und derjenige war seiner Wege gezogen. Die Lichtung war groß genug, um ein Feuer zu machen, ohne den Wald zu gefährden.
»Ich glaube, du hast genug gelernt, um heute Abend ein wenig die Umgebung auszukundschaften«, sagte Niamh zu Birdie und bedeutete ihr, dass sie selbst das Feuer machen und das Abendessen zubereiten würde. Birdies Miene heiterte sich angesichts dieser Gelegenheit auf und sie machte sich eifrig auf den Weg in den Wald, um nach Räubern, seien sie menschlicher oder tierischer Natur, Ausschau zu halten.
Nachdem sie außer Sicht war, ließ Niamh ihren Blick trotzdem über die Lichtung schweifen und entdeckte etwas, das ihr fehl am Platz vorkam. Frische Asche am Rand der Lichtung. Es war nichts Unheimliches, aber es bedeutete, dass wohl doch erst kürzlich hier jemand geschlafen hatte. Aber sie erinnerte sich daran, dass nur wenige Menschen gern lange im Wald rasteten. Man mochte sagen, dass es an den Wölfen lag, aber sie wusste, dass es an den Wäldern selbst lag. Sie konnte ihre Feindseligkeit gegenüber den Menschen spüren.
Birdie kam zurück und stampfte hinter Niamh zwischen den Bäumen hindurch, laut wie ein Bär.
»Du musst lernen, deine Schritte zu dämpfen, Mädchen«, tadelte Niamh, frustriert, weil das Mädchen nicht darauf achtete, nicht aufzufallen. Das würde eines Tages zum Problem werden.
Birdie sah sie beschämt an. Offensichtlich war das nicht der Tonfall, den sie sich von ihrer Mentorin erhofft hatte.
»Es scheint alles sauber zu sein«, sagte sie und klang nicht sehr überzeugt von ihrer eigenen Leistung.