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8000 Jahre vor Beginn der irdischen Zeitrechnung: Atlan von Gonozal, Kristallprinz und offizieller Thronfolger des riesigen Arkon-Imperiums, wurde seines Thrones beraubt. Seit der Ermordung seines Vaters regiert Imperator Orbanaschol III. über Tausende von Sonnensystemen. Orbanaschol sieht sich mehr denn je vom rechtmäßigen Thronfolger bedroht und will ihn deshalb beseitigen. Er beauftragt den Magnortöter Klinsanthor, - ein gefährliches Wesen, von dem nur noch uralte Legenden und Mythen berichten - verweigert ihm aber seinen Lohn. Atlan und seine Freunde stehen nach wie vor im Bann des rätselhaften Fremden namens Akon-Akon. Der Junge von Perpandron verfügt als Zeichen der Macht über den Kerlas-Stab und kennt nun die Geschichte seiner Jugend. Um seiner Bestimmung als "Waches Wesen" nachzukommen, setzt Akon-Akon die Suche nach den Hinterlassenschaften der Akonen fort. Ziel ist das geheimnisvolle Versteck dieses Volkes. Der Weg dorthin führt über weitere Transmitterstationen. Sie alle gehören zum Erbe der Akonen ... Enthaltene ATLAN-Heftromane: Heft 239: "Duell der Agenten" von H.G. Francis Heft 244: "Der Wächter von Foppon" von Hans Kneifel Heft 245: "Mutantenhölle Saruhl" von Peter Terrid Heft 246: "Planet der Gräber" von Clark Darlton Heft 249: "Station der Killerpflanzen" von Marianne Sydow
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Seitenzahl: 709
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Nr. 38
Das Erbe der Akonen
1245. positronische Notierung, eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende Hochenergie-Explosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 3. Prago der Prikur, im Jahre 10.499 da Ark.
Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: Genau einundvierzig Personen haben gestern auf Befehl von Akon-Akon durch den Großtransmitter den Planeten Kledzak-Mikhon verlassen. Das Entstofflichungsfeld unter dem grün schimmernden Energiebogen hätte sogar ein Beiboot der ISCHTAR bequem aufnehmen können. Doch wir haben keine Beiboote; die ISCHTAR blieb zurück und soll eigenständig die Heimkehr nach Kraumon antreten. Es wird angesichts ihrer Schäden kein leichtes Unterfangen sein.
Wir haben es nicht besser getroffen. Atlan, Ra, Karmina da Arthamin, ich und die anderen. Achtzehn Mitglieder unserer Gruppe sind Frauen. Vorry, der Eisenfresser, zählt als männliches Wesen, da er sich selbst als »Mann« bezeichnet. Wir alle tragen einen flugfähigen Kampfanzug und die arkonidische Standardausrüstung; Ra und Vorry selbstverständlich Spezialkonstruktionen, die auf ihre Körpermaße abgestimmt sind. Sogar der Junge von Perpandron bat um einen Schutzanzug.
Mit den Flugaggregaten können wir große Strecken mit hoher Geschwindigkeit zurücklegen. Ob das Vakuum des Weltalls, eisige Luft oder kochendes Wasser – die Anzüge schützen vor lebensfeindlicher Umgebung. Hinzu kommen die Taschen mit weiterer Ausrüstung, Werkzeugen, Lebensmittelkonzentraten, Wasser und dergleichen mehr.
Auf Oskanjabul, der ersten Station unserer Reise, starben Tamirot, Leeron und Astalaph, weil Akon-Akon wieder einmal die Situation völlig falsch einschätzte. Auf dieser Welt sollte, so seine Aussage, der Kerlas-Stab als das Zeichen der Macht von den Meistern hinterlegt sein; sie erwarteten, dass er den Stab an sich bringt, um zu herrschen. Wieder einmal eine seiner typischen Äußerungen, die Atlan als Zauberformeln bezeichnete. Er gab Gespeichertes von sich, folgte einem Programm.
Seine Wegbeschreibung, um zum Lagerort des Kerlas-Stabes zu kommen, war exakt – nur entsprach sie leider seit langer Zeit nicht mehr den örtlichen Bedingungen. Atlan und ich schafften es dennoch, diesen Stab in vergleichsweise kurzer Zeit zu finden, und konnten ihn Akon-Akon übergeben.
Rein äußerlich handelt es sich bei dem Stab um ein Henkelkreuz, gebildet aus zwei im rechten Winkel zusammengefügten Stäben, die eine T-Form bilden, während sich oben die Schlaufe vom tropfenförmigen Umriss anschließt. Der senkrechte Stab misst etwa eineinhalb Meter, der Querbalken etwa 75 Zentimeter. Das Gebilde besteht aus einem glänzenden, schwarzen Metall, von dessen glatter Oberfläche ein geheimnisvolles Funkeln ausgeht.
Noch ist nicht abzusehen, welches Machtmittel Akon-Akon nun in Händen hält – einen ersten Eindruck gewannen wir allerdings, als wir die zweite Reisestation erreichten. Die Rematerialisation geschah in Dunkelheit; die Transmitterstation ist derart heruntergekommen, dass es fast ein Wunder sein dürfte, dass des Torbogentransmitter überhaupt noch funktioniert. Im Licht der Scheinwerfer war geborstenes und flechtenüberzogenes Material zu sehen. Bleiche Schlingpflanzen umwucherten sogar die beiden Projektorkegelstümpfe aus Metallplastik; nur die Oberteile mit den Abstrahlpolen für die Energiesäulen lagen frei.
Der Großteil des Kuppeldecke ist verschwunden, gezackte Ränder sind zu erkennen. Im Vergleich zum Nachthimmel von Oskanjabul ist die Zahl der Sterne wieder deutlich erhöht, der Raumsektor, in dem wir uns befinden, allerdings unbekannt. Akon-Akon sagte mit dumpfer Stimme, dass wir den Tagesanbruch abwarten müssten – und dann reagierte offenbar der Kerlas-Stab auf den Jungen von Perpandron. Oder er auf den Stab?
Seine Hände krampften sich jedenfalls plötzlich so fest um den geheimnisvollen Stab, dass die Knöchel weiß hervortraten. Wie alle anderen konnte ich den Blick nicht mehr von dem Stab lösen, den ich nur noch als verschwommenen Nebel sah. Schwaches rötliches Leuchten ging von den seltsamen Sternsymbole auf den Innenseiten von Akon-Akons Händen aus, füllten mein Blickfeld, rissen mich wie die anderen auf seine besondere Reise in die Vergangenheit, die uns als körperlose Zuschauer die Geschichte Akon-Akons miterleben ließ.
Es war auch die Geschichte von Caycon und Raimanja, seinen Eltern. Und die der akonischen Manipulation, die Akon-Akon als Waches Wesen sahen – bereits als Embryo manipuliert, sollte er nach einer Ausbildung im Mentorkristall nach Arkon gehen, um für die Akonen die abtrünnige Kolonie zu unterwerfen. Doch es kam anders, Raimanja überlistete die Akonen, sorgte dafür, dass ihr Sohn die achtzehn ersten Jahre nicht im Mentorkristall verbrachte. Wahrscheinlich erklärte das seine bisherigen Fehlreaktionen, denn alles, was er in jener Zeit hatte lernen sollen, hatte er nicht gelernt. Andererseits fragte ich mich, ob nicht doch wenigstens ein Teil des Wissens übermittelt wurde – in der langen Zeit des freiwilligen Tiefschlafs nach Raimanja Tod.
Akon-Akons Herkunft ist geklärt, desgleichen seine Bestimmung. Kann er sich frei entscheiden? Liegt es an ihm, was er mit sich und seine besonderen Fähigkeiten macht? Es bleibt abzuwarten, ob er sich durch die Rückerinnerung geändert hat.
Atlan blickt nach oben; Strahlen der Morgensonne fallen durch die defekte Dachwölbung der Station. »Ein neuer Tag!«
Und Akon-Akon sagt soeben: »Foppon … dieser Planet mit den vier Monden ist Foppon.«
Mit langsamer, amöbenhafter Vorsicht bewegte die Armasj einen knorrigen, braunen Tentakel. Mitten im Schlammtümpel gab es ein schmatzendes Geräusch. Das Ding, das wie eine Luftwurzel aussah, hob sich aus dem Schlick, beschrieb mit den weißen Fadenenden einen flachen Bogen und tauchte wieder, einige Entfernung zurücklegend, ebenso langsam ein. Gleichzeitig hoben sich drei andere Luftwurzeln aus dem braunen Wasser und veränderten ihren Standort. Schließlich befanden sich sämtliche rund vierzig Stelzen der Armasj in Bewegung.
Das Objekt veränderte seinen Standort in einer Geschwindigkeit, die der eines langsam schwimmenden Amphibiums entsprach. Das Ziel schienen die überschlanken, hochragenden Säulen zu sein, über denen sich im Licht der vier Monde die Bögen und Traversen spannten. Überall an den weißen Gebäuderesten, die wie gebleichte Knochen aussahen, rankten sich Klettergewächse in Spiralen und Ringen empor. Auf dem höchsten Punkt eines nur noch halb erhaltenen Bogens kauerte, sich als undeutliche Silhouette abhebend, eine bläuliche Odria.
Über dem Land strahlten die stechend hellen Sterne. Drei der vier Monde bewegten sich auf ihren Bahnen über dem flachen Land rund um Zaterpam. Der große, volle Mond mit den hell metallisch glänzenden Kratern und Rissen wurde von dem schwarzen nur zu einem Zehntel verdeckt. Der Schwarze zeigte sich auch am Tageshimmel, wenn die stechende, lodernde Flut an nahrhafter Strahlung auf die uralte Stadt und auf die Armasj und ihresgleichen herunterschlug; es war ein künstlicher Mond in beinahe geostationärer Position über der Ruinenstadt.
Die schmale Sichel des Trabanten, der eisig und bläulich leuchtete, hing noch immer über dem großen, von Gewächsen fast zugedeckten Bauwerk in der Mitte der Stadt – dort, wo die Armasj die GRENZE entdeckt hatte. Und genau über dem knolligen, wie harter Schaum aus großen Blasen aussehenden Kopf der Armasj schwebte der Mond mit dem gelbweißen Schimmer. Von ihm war nicht mehr als ein haarfeiner Kreis zu sehen; er war fast gar nicht wahrnehmbar.
Die Armasj bewegte sich zum dritten Mal, seit sie aus der zerplatzenden Samenkapsel gekrochen und endlose Jahre gewachsen war. Einmal, als sie noch klein und kaum widerstandsfähig gewesen war, veränderte sie ihren Standort von dem winzigen Moor hierher, in den seichten Teil des Flusses. Von diesem Punkt war sie vor nicht allzu langer Zeit – sie hatte kein präzisierbares Zeitgefühl – näher an die Ruinenstadt herangewandert.
Jetzt, als einer der schwächeren Sterne nach dem anderen erlosch und ein erster Streifen den Himmel grau färbte, machte sich die Armasj zum dritten Mal auf den Weg. Sie wollte bis zur GRENZE. Weiter ging es nicht. Aber das wusste die parasitäre Pflanze nicht. Sie war besessen. In ihren Nervenbahnen und den dicken Knoten hockte unsichtbar ein fremdes Etwas. Die Armasj war nicht hoch entwickelt genug, um zu spüren, dass ihre osmotischen und einfachen nervlichen Reaktionen gesteuert wurden. Sie spürte nur, dass sie sich bewegte.
Sie wurde bewegt. Ihre fast vier Dutzend Luftwurzeln arbeiteten in einem merkwürdigen Takt zusammen, zerdrückten andere Pflanzen, schoben sich zwischen Ranken hindurch, rissen große, ledrige Blätter ab und stampften die Reste in das trübe Wasser des langsam dahinziehenden Flusses.
Mehr Sterne erloschen. Der drohende Glanz des gelbweißen Mondrings wurde unsichtbar. Das Licht des metallisch leuchtenden Vollmonds wurde grau und verschmolz unmerklich mit dem immer heller werdenden Firmament. Schmatzend und mit brechenden Geräuschen bewegte sich die Armasj weiter, fast in gerader Linie, auf den Durchgang zwischen zwei der hochragenden Säulen zu. Der schwarze Mond blieb drohend am Himmel hängen.
Plötzlich erwachte, wie mit einem einzigen Schlag, der gesamte Dschungel. Auch die Armasj reagierte auf dieses Signal, das aus dem ersten Sonnenlicht und einem Spektrum charakteristischer Schallwellen bestand. Die langen, elastischen Zellen entleerten sich; der Turgor brachte sie dazu. Die Fangblase blähte sich zwischen den Knollen auf und wurde immer größer. Die einzelnen Flügelzellen blätterten auf, die Dornen waren noch feucht und elastisch.
Die Odria auf dem Halbbogen reckte die langen Arme mit den sechs muskulösen Greiffingern in den Himmel, blähte ihre Lungen auf, bis zwischen den Brustschuppen die weiße Haut sichtbar wurde. Dann schrie sie ihren ersten lang gestreckten Triller hinaus. Der Schrei wurde von Artgenossinnen im Dschungel aufgenommen, von den anderen, die nach Fischen griffen, und denen, die im Geäst nach kleinen Tieren jagten.
Nach einigen Augenaufschlägen hallten die Ruinen wider von dem hysterischen, grellen Kichern in den höchsten Frequenzen. Tausende verschiedener Vögel flatterten auf und begannen zu schreien. Die beiden Canoj, die bis zum Bauch im Sumpf standen, hoben ihre kantigen Schädel, entblößten die zweifachen Hauer und schrien zurück. Schmetterlinge spürten die Wärme und begannen zu flattern, und einige Millionen sichtbarer und unsichtbarer Insekten begannen mit ihrer kribbelnden Arbeit.
Langsam drehte sich die Odria auf dem Bogen. Sie starrte, den langem Hals gereckt, schweigend und misstrauisch auf das Gewirr grüner Blätter und vielfarbiger Blüten hinunter. Die Sonnenstrahlen hier oben waren warm, unten begann der Dschungel zu dampfen. Leichte Nebelschwaden erhoben sich und verwischten das Bild.
Die Odria begann am ganzen Körper zu zittern. Erregung schüttelte sie. Alle Instinkte des Jägers, über die sie reichlich verfügte, sagten ihr, dass dort unglaubliche Dinge geschahen. Sie passten nicht in den Kosmos aus Erfahrung, Gelerntem und Instinkthaftem, der die ganze Welt der Odria darstellte. Sie sah, wie eine Pflanze, die sich niemals bewegte, Richtung Stadt schlich wie ein Tier. In höchster Erregung stieß die Odria ihre Warnschreie aus. Sie klangen wie das Geheul einer mechanischen Alarmanlage.
Dann rannte die Odria in rasender Geschwindigkeit über den Halbbogen abwärts, daraufhin turnte in einer lang gezogenen Spirale, sich mit Zähnen, vier Gliedmaßen und dem Greifschwanz festhaltend, die Säule hinunter. Sie begann dunkel zu ahnen, dass etwas Unerwartetes und Bedrohliches nach der Ruinenstadt griff. Die Odria war nicht alt genug, um sich an einen ähnlichen Zwischenfall zu erinnern.
Ein großer Vogel mit farbenprächtigem Gefieder, der wie ein riesiger Schmetterling aussah, bemerkte als erster die zuckenden Blüten. Die Kelche, die Staubgefäße und Kolben wuchsen aus einem runden Büschel hervor. Gestern gab es diese Blüten noch nicht, die einen aufdringlichen Duft verströmten. Sie lagen voll im Sonnenlicht. Der Vogel schoss im Sturzflug in die Tiefe, huschte an der rechten Säule vorbei und gewahrte flüchtig die Odria, die mit einem riesigen Satz von der linken Säule auf den durchfedernden Ast eines alten Baumes sprang. Keine Gefahr von diesem Tier. Hunderte Insekten summten und flogen hin und her, als der Vogel seinen langen, gekrümmten Schnabel vorstreckte und sich langsam auf die Blütenpracht senkte.
Es geschah in einem Augenblick …
Die Blüten, in Wirklichkeit pflanzliches Rindengewebe, klappten zusammen. Die im Sonnenlicht hart gewordenen Dornen wurden förmlich nach vorn geschleudert. In der Fangblase erschien ein breiter Spalt, der ein betäubendes und ätzendes Gas mit einem puffenden Laut nach außen schleuderte. Der Vogel sprang erschreckt hoch, wurde von zwanzig Dornen an den verschiedensten Stellen geritzt, erstickte im Gas und fiel genau durch den Spalt ins Innere der Kugel. Dort klatschte er in die klebrige Verdauungsflüssigkeit der Armasj. Der Spalt schloss sich.
Der letzte Lichtstrahl zeigte, wie der Vogel die Flügel bewegte, den Schnabel aufriss und mit den Füßen ruderte. Dann begann die Säure ihre Tätigkeit. Zuerst an den Stellen, deren Blut sich mit der Verdauungsflüssigkeit der Pflanze vermischte. Die Armasj bewegte sich jetzt schneller und passierte die beiden Säulen. Zwischen den schlanken weißen Schäften lagen riesige Blöcke eines weißen, bearbeiteten Steines. Die schön geschwungenen Ornamente waren von rostigbraunem und orangefarbenem Moos überzogen.
Die Odria, die schnellste Jägerin ihres Rudels, hing mit einem Arm am Ast und starrte verwirrt die Armasj an, die zielstrebig an ihr vorbeitappte. Plötzlich erstarrte die wandernde Pflanze. Als die Odria aufkreischte, war es schon zu spät. Einen Augenblick lang erfasste sie eine eisige Lähmung. Noch ehe sie den Griff ihrer Finger um den borkigen Ast lösen konnte, bewegte sie sich wieder und ergriff mit der anderen Hand den Haltepunkt. Die Odria verlor augenblicklich ihre Identität. Sie war nicht mehr der lautlose blauschuppige Jäger mit den nadelfeinen Fangzähnen und den scharfen Klauen, die ihre Augen mit der Schärfe eines mehrlinsigen optischen Instruments auf einen sehr weit entfernten Punkt konzentrieren konnte.
Sie wurde von einem fremden Bewusstsein beherrscht. Sie war zum Werkzeug geworden, aber das wusste sie nicht. Ihr winziger Verstand hatte sich in einen schwarzen Winkel verkrochen. Die Odria hatte einen fremden Herrscher. Sie würde, ausgestattet mit einem der besten Körper dieser Welt, nur das tun, was der Herrscher befahl. Sie bewegte sich wieder und hangelte sich in gewohnter Schnelligkeit vom äußeren Ende des Astes bis zum Stamm und blieb dort einen Moment unsichtbar im Schatten sitzen.
Hingegen hatte die Armasj aufgehört, sich zu bewegen. Die Pflanzen, die von ihr gestreift worden waren, richteten sich wieder auf. Der MULTIPLE hatte die Pflanze verlassen und war in das Tier geschlüpft …
… und spürte genau, dass es Eindringlinge in Zaterpam gab. Fremde! Eine größere Gruppe. Sie waren durch den Transmitter gekommen. Um feststellen zu können, ob sie eine Gefahr waren oder nicht, oder ob sie vielleicht kamen, um ihn zu holen, zurückzuholen ins Versteck, zu den anderen, näherte er sich ihnen … Seine Gedanken überschlugen sich in einem rasenden Wirbel. Er verlor die Kontrolle über den Körper …
Immer wieder, seit undenklich weit zurückliegender Zeit, dachte Ziponnermanx daran, sich umzubringen. Er wusste nicht genau, warum er noch lebte. War es das winzige Fünkchen Hoffnung, dass irgendwann jemand kam und ihn aus dem Elend erlöste? Oder war es fehlender Mut? Wohl kaum, denn er hatte allein schon dadurch, dass er sich nicht umgebracht hatte, mehr Mut bewiesen als viele Lebewesen vor ihm.
Jetzt allerdings dachte er nicht daran, sondern eine Flut kaum noch bekannter Empfindungen durchströmte ihn wie eine Flut aus abwechselnd heißer und kalter Strahlung. Er war neugierig, gespannt, ängstlich, voller zitternder Erwartung und nötigenfalls voller Entschlossenheit, einen Gegner zu vernichten – mit allen Mitteln, über die er verfügte, denn er war der Wächter.
Damals, als Ziponnermanx durch den Transmitter hierher geschleudert worden war und sich noch nicht der MULTIPLE nannte, damals … wie lange war das her? Jahrhunderte, Jahrtausende nach der Rechnung des Planeten Foppon. Oder länger? Es spielte keine Rolle mehr. Aber seine Erinnerung schwang plötzlich zurück. Der Körper erstarrte mitten in der Bewegung, aber die scharfen Sinne wachten. Nur die Gedanken gingen auf die Wanderschaft durch die Zeit.
Abgeschieden von den Gefahren der Galaxis, hatten die Akonen ein einsames, aber erstarkendes Sternenreich ausgebaut und beherrscht – bis sie gegen Abtrünnige aus den eigenen Reihen fürchterlich geschlagen wurden. Als sich die Akonen in das Versteck zurückgezogen hatten, brachen sie hinter sich keineswegs alle Brücken ab. Ziponnermanx entsann sich genau, als sei es vor einem Tag gewesen, dieser Zeit, der hektischen Jahre des Rückzugs, des Aufbruchs und der zielstrebigen Versuche, die Spuren zu verwischen.
In Gedanken seufzte Ziponnermanx; es waren unvergleichliche Jahre und Jahrzehnte gewesen. Jeder war des anderen Freund, alle arbeiteten zusammen, sämtliche Kräfte waren nach innen gerichtet. Heldentaten, die niemand verzeichnete, wurden zur Selbstverständlichkeit. Das Leben im Versteck – es war eine herrliche Zeit. Sie würde sich niemals wiederholen. Und sie wurde in der Erinnerung immer schöner und farbiger. Noch heute zitterte seine Seele im Widerhall der Erinnerungen.
Genug der Impressionen.
Die Wahrheit hatte einen ziemlich technischen Charakter. Die Akonen, die keinen Grund hatten, sich auf den Welten des Verstecks unsicher zu fühlen, hatten ein ausgedehntes Imperium zurückgelassen. Städte auf Planeten, ehemalige Rohstoffquellen, Monde, Satelliten und Anlagen, die für jedes raumfahrende Volk einen beträchtlichen Wert darstellten. Und eine große Menge riesiger Transmitterstationen, die für eine kleine Ewigkeit gebaut waren. Diese Anlagen brauchten Wächter.
Hunderte Freiwillige wurden gesucht. Sie mussten in der Lage sein, lange Zeiten der Einsamkeit zu ertragen, denn sie sollten nicht allzu schnell abgelöst werden. Ihre Aufgabe war klar definiert. Sie sollten auf den verschiedenen Welten Wache halten. Auf ehemaligen akonischen Planeten, die voller Hinweise auf die Lage des Verstecks waren. Jedem, der eine unsichtbare Grenze der Kenntnisse und Erfahrungen überschritt, musste der Weg ins Versteck verwehrt werden. Notfalls und in letzter Konsequenz mit Gewalt. Auf den aufgegebenen Welten erschienen, durch die Transmitter geschickt, die ersten von vielen Wächtern.
Und auf Foppon erschien er, Ziponnermanx.
Damit begann alles Unglück. Die Wissenschaftler im Versteck hatten einen winzigen Fehler gemacht. Ziponnermanx hatte einige Jahre seiner einsamen Zeit darauf verwendet, darüber nachzudenken und zu analysieren, welche Art von Fehler dies gewesen war – einer der Programmierung oder eine Fehlschaltung der Maschinen. Er wusste es noch heute nicht. Jedenfalls kam er hier an, mit wenig Gepäck und einigen Waffen. Auf einer Welt, die einmal den Akonen gehört hatte. Aber es gab hier keine Möglichkeit, ins Versteck zurückzukehren. Weder für ihn noch für einen anderen Eindringling, gleich welcher Art er war.
Es war ein Weg ins Inferno gewesen.
Nach etlichen Foppontagen hatte er die Gewissheit – es war ein Weg ohne die geringste Chance zur Rückkehr. Damals hatte er geglaubt, er müsse über dem tödlichen Charakter dieser Einsicht sterben oder wahnsinnig werden. Keines von beidem geschah. Ziponnermanx lebte weiter und machte irgendwann eine zweite Entdeckung. Die erste hatte ihm gezeigt, dass er verschollen und die Wahrscheinlichkeit, jemals lebend das Versteck wieder zu sehen, geradezu mikroskopisch gering war.
Die zweite Erfahrung hing mit einem Albtraum zusammen, den er hatte, als die Stadt Zaterpam langsam zu zerfallen drohte und der Dschungel jeden Tag um eine Handbreit vordrang. Jedenfalls war er ein zweitesmal zu Tode erschrocken, als er merkte, dass er seinen Geist, Verstand oder sein Ich aus seinem Körper lösen konnte. Er kam zu sich, als er wie ein Antigrav-Spionauge über der Stadt schwebte und sie betrachtete, wie ein Vogel sie sah.
Das schreckliche Gefühl der ultimativen Freiheit brachte ihn beinahe um. Er war nahe daran, wahnsinnig zu werden. Nur mit allen denkbaren Tricks der Geisteswissenschaften, der Beherrschung und einer selbst entwickelten Disziplinierungsmethode gelang es ihm, in seinen Körper zurückzukehren. Er brauchte lange, um sich ohne geistige Schäden dieser neuen Methode bedienen zu können. Während sein Körper ruhig dalag und dadurch, dass er sich nicht bewegen oder wehren konnte, sehr verletzlich wurde, schweifte der freie Geist über Foppon dahin und lernte den Planeten aus einer merkwürdigen, manchmal erschreckenden, meist aber überraschenden und lehrreichen Perspektive kennen.
Er begann sich der MULTIPLE zu nennen. Ein neuer Lebensabschnitt war damit eingeleitet. Der zweite nach den Jahren der nutzlosen Versuche, ins Versteck zurückzukehren. Es waren die Jahrzehnte des MULTIPLEN …
… und beinahe zu spät sah der MULTIPLE, eingesponnen in das trügerische und hoffnungsvolle Netzwerk seiner rasend wirbelnden Gedanken, durch die Sinne der Odria den Angriff der Dschungelkatze. Ein warnender Reflex durchdrang das Chaos, und es war der Körper der Odria, der den MULTIPLEN rettete, nicht der Verstand eines Wesens, das sich in andere Körper versetzen konnte.
Der Lammash hatte den schweren Körper mit den blauen Schuppen starr beobachtet. Wie die Odria war auch der Lammash ein Tier der Bäume, ein Raubtier, das klettern, schwimmen, laufen und schweben konnte. Unmerklich verlagerte die grünweiß gestreifte Katze ihr Gewicht auf die langen Vordertatzen und zog sich geschmeidig und geräuschlos einen Ast höher. Zugleich verschwand ihr Körper hinter dem dicken Baumstamm. Dann hangelte sich der Lammash höher, bis er um das Vierfache höher und etwa um das Zehnfache seiner Körperlänge weit von dem bewegungslosen Körper der Odria entfernt war.
Er sträubte die langen Schnurrhaare. Zwischen den beiden Bäumen stieg heiße Luft nach oben. Sie trug die verwirrenden Gerüche von Pflanzen und Blütenpilzen mit sich. Es gab keinen Wind, sonst hätte der Lammash sich gegen den Wind angeschlichen. Jetzt wand er seinen beweglichen Körper um den Stamm. Die Odria kauerte noch immer unbeweglich auf dem Aststück und blickte hinüber auf das große Gebäude, das hart war wie Fels.
Es ging wie ein Schlag durch den Körper des Lammash, als er entdeckte, dass ihm seine Beute sicher war. Er duckte sich auf dem breiten Ast und schob sich in eine Stellung, in der er die explosive Kraft seiner Hinterbeine wirkungsvoll einsetzen konnte. Dann schnellte er sich schräg nach vorn und leicht abwärts, riss die Vorderbeine auseinander. Eine dünne, ledrige Haut spannte sich von den Tatzen aller vier Gliedmaßen bis unter den Bauch. Aus dem Satz wurde ein Gleitflug, der genau an dem Punkt enden würde, an dem die Odria saß.
Blätter wurden zerfetzt, Blüten rissen ab, Ästchen und Äste brachen, als der grünweiße Körper wie ein lebendes Geschoß den Raum zwischen den beiden Bäumen durchschwebte, die Vordertatzen kippte und in Schlaghaltung brachte. Der Rachen klaffte auf und zeigte zwei Doppelreihen weißer, scharfer Zähne. Bevor die Tatzen die Odria berührten, ließ sich das blau schimmernde Tier senkrecht fallen. Vorher hatte es noch den Kopf herumgerissen und direkt in die Katzenaugen gestarrt.
Der Lammash flog knapp über den jetzt leeren Ast hinweg. Die Krallen fetzten die Rinde ab, die noch warm war und nach dem Beutekörper roch. Die Odria fiel vier Äste, fing sich in einer Reihe halsbrecherischer Verrenkungen und Griffe ab, federte schließlich an einem Ast und sprang im Zickzack auf den Mittelpunkt der Stadt zu. Auch sie hinterließ eine Spur brechender Äste und fallender Blätter. Aber da sie schnell war und mit jedem Sprung mehr Höhe gewann, war es für den Lammash sinnlos geworden, sie zu verfolgen …
Dieser Schock, der das Chaos spaltete wie ein Blitz das Dunkel, fegte sämtliche Zweifel hinweg. Die Odria raste schnell, konzentriert und unter Ausnutzung aller Kräfte und angelernten Verhaltensweisen aus dem Hochdschungel hinaus und aufs Zentrum der Stadt zu. Die GRENZE galt nur für Pflanzen und fliegende Samen. Nicht für ein affenartiges Wesen, das in der Lage war, fünf Mannslängen hohe Säulen innerhalb von wenigen Augenblicken zu erklettern.
Fremde sind in der Stadt! Sie werden den Transmitterbau verlassen und ihn suchen. Ihn, Ziponnermanx, der sich der MULTIPLE nennt. Aber … sind es Akonen?
Foppon: 3. Prago der Prikur 10.499 da Ark
Leise, aber deutlich sagte Akon-Akon, nachdem er sich in der durch die größtenteils zerstörte Kuppeldecke dringenden Helligkeit umgesehen und die Pflanzenwucherungen und Trümmer gesehen hatte: »Foppon … dieser Planet mit den vier Monden ist Foppon.Sieh nach, Atlan. Befindet sich die Transmitterhalle in der Wildnis?«
Die Reise in die Erinnerungen schien ihn erschöpft zu haben. Trotzdem ließ er sich keine Schwäche anmerken. Ich spürte, wie ich gehorchen musste. Aber es fiel mir leicht, denn genau dasselbe Interesse hatte ich auch.
»Sofort.« Ich stand auf, warf Fartuloon, der sein Flüstern beendet hatte, einen fragenden Blick zu und ging langsam über den mit Staub und allen möglichen pflanzlichen Abfällen bedeckten Boden auf einen Wandbereich zu. Dort schien nicht nur ein Tor zerstört, sondern ein großes Stück der Mauer ausgebrochen zu sein. Ich wich Moospolstern aus, meine Sohlen schoben knisterndes Laub zur Seite, zerbrochene Vogeleier und Gerippe kleiner Tiere lagen herum. Dann entdeckte ich im Außenteil der Halle eine Treppe.
Nach oben. Bessere Übersicht, flüsterte der Extrasinn.
Ich lief, schon allein um mir Bewegung zu verschaffen, die Stufen hinauf. Die Treppe führte aus der Halle des großen Transmitteraggregats auf eine Rampe, dann bog sie nach außen ab. Ich sah eine schmale Tür, drückte den Öffnungshebel und stemmte mich mit der Schulter gegen das unbekannte Metall. Ich schob mit der Tür eine Menge Steine, Geröll und andere Dinge zur Seite, die sich im Lauf einer kleinen Ewigkeit angehäuft hatten. Die Helligkeit des Sonnenlichts ließ mich blinzeln. Frische, von Feuchtigkeit gesättigte Luft schlug mir entgegen. Ich atmete mehrmals tief durch. Die Müdigkeit der letzten Tontas verging. Ich schob die Tür völlig auf und kletterte über einen halb mannsgroßen Steinbrocken nach draußen.
Dschungel, dachte ich. Dschungel und Gebäudetrümmer.
Eine große, strahlend gelbe Sonne stand jenseits der Bäume am Himmel. Sie war gerade aufgegangen, ihr unbarmherziges Licht ließ jeden Tautropfen auf den sattgrünen Blättern erkennen. Ich befand mich auf einer Terrasse, auf der alle möglichen Rankengewächse wucherten. Ich drehte mich herum, machte zwei Schritte ins stauberfüllte Halbdunkel zurück und rief: »Wir sind mitten im Dschungel. Um uns sind die Ruinen einer alten Stadt. Aber ich kann nichts Genaues erkennen.«
»Such weiter. Verschaff dir einen Überblick«, rief Akon-Akon zurück. Inzwischen sprach er ziemlich gut Satron; es gab kaum Verständigungsschwierigkeiten. Wir brauchten uns nicht mehr des Altarkonidischen zu bedienen. Ich hob bejahend den Arm und tappte wieder zurück. Ich versuchte, mich auf der mit Trümmern, feuchtem Humus, abgestorbenen Pflanzen und wild wachsenden Sträuchern bedeckten Terrasse nach rechts zu bewegen.
Wir waren auf einem fremden Planeten. Die Schwerkraft und die Zusammensetzung der Atemluft entsprachen den Bedürfnissen von Lebewesen, wie wir es waren, aber alles andere konnte voller geheimnisvoller Gefahren stecken. Vorsichtig tastete ich mich durch das Gewirr der Pflanzen. Etwa zweitausend Meter entfernt sah ich die Reste einer kühnen Konstruktion, die noch im Zerfall ihre Schönheit bewahrt hatten. Hohe, schlanke Säulen mit Resten von zierlichen Rundbögen. Dann erblickte ich die große, schwarzgraue Kugel, die über den Säulen schwebte.
Ein riesiger oder extrem naher Mond, sagte der Logiksektor.
Ich kletterte über die ersten größeren Trümmerbrocken, sah am Mauerwerk der geborstenen Transmitterkuppel hoch und merkte, dass diese Trümmer nicht von diesem Bauwerk, sondern von zusammengebrochenen Konstruktionen der Nachbarschaft stammen mussten. Nur langsam gewann ich einen besseren Überblick. Ich erkannte ehemalige Straßen, die einst prunkvoll, breit in verschwenderischer Schönheit ausgerichtet gewesen sein mussten. Jetzt wucherten Büsche aus Gesteinsspalten, die Alleen waren von Trümmern bedeckt, und wie faule Zähne erhoben sich entlang der freien Flächen die Reste von Gebäuden. Der Dschungel hatte alles überwuchert. Ich hörte Myriaden von Insekten summen, vorher hatte uns bei Sonnenaufgang das Kreischen von Vögeln und anderem Getier gestört. Der Himmel war kristallklar und von einem stechenden, grellen Hellblau.
An einigen Stellen sah ich weniger Grün, weniger Bäume oder Schmarotzerpflanzen. Dort schienen die Gebäude in einem besseren Zustand zu sein. Ich sah vor mir, am Ende der Terrasse, etwas wie einen halb zerfallenen Treppenturm und wagte mich mit einigen schnellen Sprüngen bis auf die oberste Plattform. Es begann unangenehm heiß zu werden. Überall regten sich die Pflanzen, aber es gab keinerlei Wind.
Der weitaus bessere Blick sagte mir, dass ich die grundsätzliche Situation klar erkannt hatte. Der Transmitter hatte uns ins Zentrum einer uralten akonischen Stadt geschleudert. Eine Stadt ohne intelligentes Leben, zerfallen und voller Ruinen. Und die Gefahren, die uns umgaben, bewegten sich in einem bestimmten, uns weitestgehend bekannten Rahmen – Dschungeltiere, giftige Dornen, Raubtiere und herabfallende Trümmer, vielleicht die eine oder andere Energiefalle, die durch Zufall noch funktionieren mochte. Und trotzdem … trotz dieser höchst relativen Beruhigung blieb in mir ein merkwürdiges Gefühl zurück.
Es gab hier etwas Unheimliches, Fremdes, das ich mir nicht vorstellen konnte. Ich hatte keine Ahnung, welcher Natur diese Gefahr war, ob sie aus dem Alter der Stadt herrührte oder ein giftiges Gas war, das die Pflanzen absonderten. Ich kannte nur dieses Gefühl, das mich nicht verließ. Ich kannte es sehr genau, trotz meiner Jugend. Vielleicht konnte Fartuloon etwas dazu sagen. Ich turnte die halsbrecherischen Stufen entlang, kletterte über die Steinbrocken und schwang mich schließlich wieder durch die Tür in die Transmitterhalle.
»Er ist zurück.« Halgarn Vil winkte. »Vielleicht hat er ein geöffnetes Gasthaus gefunden.«
Ich klopfte Blütenstaub und Blattreste vom Schutzanzug, blieb in der Mitte unserer Gruppe stehen und berichtete, was ich gesehen hatte. Jemand drückte mir etwas zu essen in die Hand und gab mir eine Flasche. Während ich trank und kaute, schilderte ich, was uns außerhalb der Transmitterstation erwartete.
»Du meinst, alles ist zerstört?« Akon-Akon kniff überlegend die Augen zusammen.
»Mehr oder weniger. Ich habe einige Stellen gesehen, die offensichtlich weniger von den Pflanzen überwuchert waren.«
»Vielleicht würde sich ein Erkundigungsgang lohnen?« Fartuloon polierte nachdenklich, aber ohne jeden Effekt seinen verbeulten Brustharnisch, den er über dem Schutzanzug trug. »Du hast den Verdacht geäußert, dass man dich beobachtet?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Kein echter Verdacht. Es war nur ein Gefühl, nichts anderes. Ich kann mich täuschen, aber bisher hat mich dieses Gefühl noch nie enttäuscht.«
Akon-Akon, der uns alle wieder im Griff seiner hypnosuggestiven Einflusssphäre hielt – die im Augenblick keineswegs unangenehm aufdringlich war! –, hob die Hand und unterbrach uns. »Ich versuche, den Kerlas-Stab einzusetzen. Er wird uns zeigen, ob es hier Spuren meines Volkes gibt. Alles andere interessiert mich nicht.«
Und euch hat es nicht zu interessieren, kommentierte der Logiksektor.
Er sah sich um, blickte Karmina etwas länger an, dann hob er langsam und nicht ohne Feierlichkeit den Henkelstab, setzte sich auf ein Gepäckstück und legte ihn vor sich auf den staubigen Boden. Schweigend starrte Akon-Akon darauf. Fartuloon sah scharf hin und knurrte etwas Unverständliches. Es klang wie eine deftige Äußerung der Skepsis. Akon-Akon zog die Brauen hoch und warf dem Bauchaufschneider einen scharfen Blick zu.
Fartuloon hob die Schultern und starrte, wie wir alle, auf den Kerlas-Stab, der noch immer unbeweglich auf dem Boden lag. Jetzt begann Akon-Akon zu murmeln; es wurde innerhalb weniger Augenblicke eine Art leiernder Gesang daraus, in einer Sprache, die keiner von uns verstand. Es war kein Altarkonidisch. Der Junge hob die Hände und spreizte die Finger. Jetzt schlug uns alle die Unwirklichkeit der Szene in den Bann. Niemand sprach. Alle starrten wir gebannt auf den Stab und die schlanken Finger, die einen schnellen Tanz über dem Stab ausführten. Das Gesicht des Jungen glühte förmlich vor schweigender Konzentration. Die Finger erstarrten, das monotone Murmeln hörte auf.
Ein schleifendes Geräusch setzte ein. Es kam von dem Stab, der sich auf dem Boden drehte. Die Bewegung begann ganz langsam, wurde schneller, und nach einigen Drehungen hatte der Stab die Unterlage in einem Kreis gesäubert. Er drehte sich noch einmal, wurde langsamer und hob sich dann um etwa eine Handbreit. Das Schleifgeräusch brach ab. Von einer unsichtbaren Kraft angehoben und bewegt, drehte sich der Stab um seine Mittelachse.
Fast eine Zentitonta lang hielt diese Bewegung an. Dann erkannten wir im Halbdunkel des Transmittersaals, das nur durch breite Balken Sonnenlicht erhellt wurde, dass die Spitze des Stabes, das dem Ring gegenüberliegende Ende, leicht aufglühte. Gleichzeitig erzitterte der Stab und verlangsamte seine Drehung. Die Bewegungen hörten schließlich auf, der Stab schwebte glühend und regungslos in der Luft und deutete wie die Nadel eines magnetischen Kompasses in eine bestimmte Richtung.
In die erwartungsvolle Stille hinein sagte Akon-Akon mit erschöpfter Stimme: »Das habe ich nicht erwartet. Es ist verblüffend.«
Niemand wusste, was er damit meinte. Fartuloon fragte rau: »Was ist verblüffend, Akon-Akon? Deine Taschenspielerkunststücke … oder etwas anderes?«
»Dieser Stab ist«, antwortete Akon-Akon ohne jede Ironie, »unter anderem ein paramechanischer Indikator. Er hilft mir die Meister aufzuspüren. Ist euch jetzt die Funktion des Kerlas-Stabes klar? Wisst ihr, dass er wichtig ist für mich?«
Ich nickte schweigend und ahnte, dass dieses Gerät, wie immer es funktionieren mochte, gerade für den Jungen von entscheidender Bedeutung war. Noch immer wies der Stab in eine bestimmte Richtung. Es war, wenn ich genau überlegte, die Richtung, in der jenes weniger überwachsene und zerstörte Gebäude zu sehen gewesen war. Das Leuchten hörte langsam auf. Der Stab gewann sein altes Aussehen zurück. Plötzlich versagte auch das Schwebevermögen, mit einem blechern dröhnenden Geräusch prallte das Gerät auf den Boden. Gleichmütig packte es Akon-Akon, richtete sich auf und bekannte: »Ich bin mehr als überrascht.«
»Warum?«, fragte ich erwartungsvoll. Deutete diese Zeremonie darauf hin, dass es hier Akonen gab?
»Ich habe keine Hinweise auf Akonen oder auf Nachkommen von Akonen erwarten können.«
Fartuloon und ich wechselten einen kurzen Blick. Der Bauchaufschneider erkundigte sich: »Der Stab hat dir gezeigt, dass es hier Akonen gibt?«
»Ja. Ich würde sofort suchen – aber ich muss Sicherheit haben.«
Er meinte, dass er persönliche Sicherheit benötigte und sich nicht in Abenteuer stürzen durfte, die für ihn riskant ausgehen konnten. Wir ahnten, was kommen würde. Karmina da Arthamin hob die Hand. »Du wirst sicher Fartuloon und Atlan ausschicken. Ich möchte mit ihnen gehen.«
Einige andere aus unserer Gruppe drängten sich ebenfalls nach vorn. Ein gedanklicher Befehl, gegen den es keinerlei Abwehr gab, drängte sie sofort zurück. Akon-Akon deutete auf Fartuloon, Karmina und mich, dann, nach kurzem Zögern, auf Halgarn Vil, einen großen, kräftigen Mann, der uns sicher gut unterstützen würde und durch Besonnenheit und Entschlossenheit beeindruckte.
»Nehmt euch in acht«, sagte Akon-Akon im Befehlston. »Geht kein sinnloses Risiko ein! Sucht nach den Spuren der Akonen. Meldet euch immer wieder über Funk, wir bleiben hier und versuchen, diese Maschine wieder in Gang zu bringen. Dazu brauche ich euch alle.«
Fartuloon packte den Griff des Skargs. »Sollen wir lediglich suchen? Oder wie weit gestehst du uns eigene Initiative zu?«
Akon-Akon beherrschte das Instrument seiner hypnosuggestiven Befehle in geradezu beklemmender Perfektion. Wir wussten es, kannten auch die geringen Grenzen unserer Entscheidungsfreiheit. Deswegen fragte der Bauchaufschneider, während Karmina und ich unsere Waffen ebenso wie die Ausrüstung einer kurzen Überprüfung unterzogen.
»Sucht. Solltet ihr etwas gefunden, meldet euch. Dann ich werde Entscheidung haben.«
»Hoffentlich«, murmelte ich und dachte, dass es besser war, nicht über seine unvollkommene Anwendung unserer klangvollen arkonidischen Sprache zu lächeln.
»Los!«, sagte Fartuloon. »War das ein guter Weg, dort oben, Atlan?«
»Nein! Aber wir sollten uns erst einen kurzen Blick über die Szenerie gönnen, ehe wir versuchen, mehr oder weniger auf dieser Ebene auszubrechen.«
»Einverstanden, Akon-Akon?«, fragte Karmina. Sie war mir, wie viele Frauen, ein Rätsel. Entweder war sie ganz einfach launenhaft, oder ihre Stimmung schlug, was den Jungen betraf, innerhalb eines halben Pragos sechsmal um. Im Augenblick schien sie ihn wieder einmal zu hassen. Sie sah ihn mit einer Schärfe an, die niemand übersehen konnte.
»Einverstanden. Was ich will, ist höchster Wirkungsgrad!«
»Das nenne ich eine präzise Zielsetzung.« Ich packte die Sonnenträgerin am Arm und zog sie mit. »Die Sänfte wartet, liebste Freundin.«
Sie lächelte mich an, aber sie lächelte ohne eine Spur von Humor oder Begeisterung. Hintereinander gingen wir ins Freie, orientierten uns und erkannten einen Teil des Planes, der vor langer Zeit dem Bau dieser namenlosen Stadt zugrunde gelegen hatte. Der schwarze Mond war blasser geworden, aber er hing noch immer drohend über uns. Wieder spürte ich die Wirkung eines Gefühls, das ich jedes Mal hatte, wenn ich mich beobachtet fühlte.
»Du meinst die hohe Mauer mit den Kolonnaden und dem vorspringenden Dach, nicht wahr?«, fragte Fartuloon leise.
»Ja. Es ist deutlich zu sehen, dass dort weniger Pflanzen wachsen.«
»Also kennen wir unser Ziel. Ich nehme an, dass es das erste aber nicht das einzige sein wird«, bemerkte Halgarn hinter mir.
»So etwas dachte ich gerade auch.«
Karmina packte einen Steinbrocken, hob ihn hoch und warf ihn mit äußerster Wut über das Geröll hinweg in einen Busch. Ein Schwarm kleiner Vögel stob kreischend hervor und zerstreute sich. Irgendwo schrie ein großes Tier seltsam trillernd.
»Dieser verdammte Akon-Akon«, murmelte sie hasserfüllt. »Es ist unsere Zeit, unser Leben, über das er bestimmt. Und wir haben einfach keine echte Chance.«
»Beruhig dich«, sagte Fartuloon. »Alles hört einmal auf. Auch Akon-Akon ist kein Halbgott. Gehen wir.«
Wir wanderten wieder zurück in die Halle, dann suchten wir an der Basis der moosbewachsenen Mauer einen Ausgang. Wir versuchten es dort, wo Sonnenstrahlen eindrangen. Zuerst gab es ein riesiges Tor, das sich nicht einen Fingerbreit bewegen ließ. Dann entdeckten wir in halber Höhe einen Mauerriss. Nachdem wir etwa fünfzig lockere Steine und Bauelemente in die Halle und auch nach außen geworfen oder geschoben hatten, klaffte eine genügend große Öffnung.
Ich schwang mich als erster hinaus und sagte zu den anderen: »Wir haben Glück. Direkt an dieser Stelle gibt es einen massiven Baum. Er wird sogar dein Gewicht aushalten, Bauchaufschneider.«
Fartuloon murmelte eine Verwünschung und folgte mir. Wir turnten von Ast zu Ast abwärts. Akon-Akon würde uns niemals folgen, denn seine persönliche Sicherheit ging ihm über alles. Ich sprang auf den federnden Boden, der aus einer dicken Schicht von Pflanzenresten bestand. Die Luft war geradezu köstlich, verglichen mit dem abgestandenen und muffigen Geruch im Inneren der Halle. Karmina sprang und wurde von mir aufgefangen. Wie ein Ball rollte sich Fartuloon ab und half dann Halgarn. Wir blieben stehen und sahen uns um.
»Ich habe gute Lust, mich in die Sonne zu legen und zu schlafen«, sagte Fartuloon. »Aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl. Irgendjemand, irgendetwas ist hier. Kein Raubtier! Es ist eine subtilere Bedrohung. Ich glaube, wir werden mehr finden, als wir suchen.«
»Was suchen wir eigentlich?«, erkundigte sich Halgarn, den Griff der Waffe in der rechten Hand. Wir gingen langsam in die vorgeschriebene Richtung. Hier unten gab es wenig Büsche und kaum größere Pflanzen, die das Fortkommen behinderten.
»Reste, Spuren, Akonen oder Nachkommen von Akonen«, sagte ich.
Sei vorsichtig. Denk an dein Gefühl, sagte der Extrasinn, als wir schweigend zwischen den Baumstämmen, den verschieden großen Trümmern und anderen, unkenntlichen Resten der leeren Stadt entlanggingen, immer wieder nach oben und nach den Seiten sichernd. Aber das Gefühl, dass etwas Drohendes wie eine unsichtbare Wolke über unserem Zickzackweg schwebte, verließ uns keinen Schritt. Niemand sprach. Schon nach zwanzig Metern hatten wir den Eindruck, uns in einer verbotenen Zone zu befinden. Aber keins der Instrumente, die wir eingeschaltet mit uns trugen, schlug aus.
»Sie kennen die Lage«, sagte Dankor-Falgh. Die Einsatzbesprechung war damit eröffnet. Jeder kannte die Lage und auch den Auftrag.
Es galt, den Großtransmitter auf Saruhl zu demontieren. Das war der Auftrag, den das 14. Demontagegeschwader Fereen-Tonkas zu erfüllen hatte. Für diese Aufgabe war vom Energiekommando eine Frist von sieben Saruhltagen angesetzt worden. Dann sollte ein Transporter Saruhl anfliegen und den demontierten Transmitter an Bord nehmen. Mit diesem Schiff sollte auch das Demontagegeschwader Saruhl verlassen.
Ein einfacher Auftrag, für den rund zweitausend qualifizierte Frauen und Männer abgestellt wurden. Wenn es ein Risiko gab, bestand es darin, dass bei der Demontage wertvolle Gerätschaften beschädigt oder gar zerstört wurden. Viel mehr konnte eigentlich nicht geschehen.
Eigentlich …
Saruhl
Mervet Phan war Transmitterspezialist, Fachmann für Aufbau und Demontage von Großtransmittern. Ein ungewöhnlich friedfertiger junger Akone, der sanft und still seine Arbeit verrichtete und nur durch die bestechende Qualität seiner Arbeit angenehm auffiel. Privat war das Auffälligste an ihm der stets leicht verträumte Ausdruck seiner Augen, dazu kam eine gehörige Portion linkischer Schüchternheit. Beides zusammen hatte ihn zum stillen Schwarm des weiblichen Personals gemacht.
Momentan sah der Akone wenig begeisternd aus. Das dunkle Haar war vom Schweiß durchtränkt und hing ihm in klebrigen Strähnen in die Stirn. Der linke Ärmel seines Jacketts war aufgerissen und zeigte einen Streifen blutigen Fleisches. Die Kleidung hing in Fetzen und war schmutzig. In der linken Hand hielt Mervet die Waffe. Entgeistert starrte er auf den Mann, den er vor wenigen Augenblicken getötet hatte. Im Hintergrund gingen die Kämpfe weiter, fielen Schüsse, wurde getötet und gestorben. Langsam setzte sich Mervet Phan auf den von Moos überwachsenen Stein. Das Wüten des Kampfes nahm er nicht mehr wahr.
Vor zwei Saruhltagen war Mervet Phan noch ein junger und sanftmütiger Transmittertechniker gewesen. Er hatte eine unauffällige, aber kleidsame blaue Uniform getragen und sich auf seinen ersten Einsatz außerhalb des Verstecks gefreut. Er war nervös gewesen, als er sich den Waffengurt umgeschnallt hatte. Mervet Phan hielt nichts vom Töten. Das war vor zwei Tagen gewesen …
Er wechselte den Standort, wollte den Toten nicht länger ansehen. Unter einem Baum kauerte er sich hin. Irgendwo über seinem Kopf schimpften ein paar einheimische Vögel. Er öffnete den Verschluss des Tornisters und holte das Verbandszeug hervor. Sorgfältig wusch er die Wunde am Arm aus. Er verzog das Gesicht, als er das Brennen des Desinfektionsmittels spürte. Anschließend übersprühte er die Verletzung mit Wundplasma aus der Sprayflasche. Wenn es keine Zwischenfälle gab, würde die Wunde in zwei Tagen geheilt sein.
Mervet grinste bösartig, als er daran dachte. »Zwei Tage«, murmelte er, »machen aus zweitausend hochintelligenten Akonen die Besatzung eines Tollhauses!«
Er hatte den Anschluss an seine Gruppe verloren. Gruppe war genau genommen eine viel zu aufwendige Umschreibung für einen wild zusammengewürfelten Haufen; Personen, die allesamt bewaffnet waren und auf alles schossen, was nicht sehr schnell als befreundet identifiziert werden konnte.
Missmutig kaute Mervet auf den Lebensmittelkonzentraten. Die Einsatzverpflegung war berüchtigt schlecht, und unter den extremen Bedingungen Saruhls schmeckte sie besonders fad. Wäre der Hunger nicht gewesen, Mervet hätte keinen Bissen heruntergebracht. In der Nähe des Baumes floss ein klarer Bach, an dem Mervet seinen Durst löschen konnte. Vorsichtshalber überprüfte er die Flüssigkeit mit dem Zähler. Das Wasser war strahlungsfrei, eine Seltenheit in dieser Landschaft, in der fast alles – Tiere, Pflanzen oder Steine – mehr oder minder stark radioaktiv war. Das war die erste Überraschung gewesen, auf die das Demontagegeschwader gestoßen war. Die kleinste Überraschung.
»Wenn du dich bewegst, schieße ich!«
Frauen mochten Mervet Phan, und Mervet Phan mochte Frauen – aber nicht die Sorte, die hinter einem stand und mit einer Waffe drohte.
Eine total verrückte Welt, dachte er. »Kann ich wenigstens aufstehen? In dieser Haltung werde ich in kürzester Zeit einen Muskelkrampf bekommen.«
»Meinetwegen steh auf, aber ich warne dich …«
»Bei der kleinsten falschen Bewegung wirst du schießen.« Mervet seufzte und richtete sich auf.
»Zu welcher Gruppe gehörst du?«
Mervet konnte nur die Stimme hören, und er verband sie instinktiv mit einer sehr attraktiven jungen Frau. Erschöpfung schwang darin mit; der leise Unterton von Angst und Nervosität war deutlich zu hören.
»Zu welcher Gruppe, antworte!«
Wenn er nichts sagte, würde sie ihn erschießen. Wenn er aber antwortete, standen seine Chancen fünfzig zu fünfzig: Nannte er die richtige Gruppe, hatte er eine Verbündete gefunden. Nannte er den falschen Namen, würde sie ihn kurzerhand erschießen. Eine extrem unangenehme Situation, die weit über das hinausging, was Mervet Phan zu bewältigen imstande war. »Bringen wir es hinter uns. Ich halte zu Dankor-Falgh.«
»Falsche Antwort«, sagte sie.
Eine Pause entstand, eine Pause, die fast körperlich wurde und Mervet zu ersticken drohte. Er senkte langsam und deutlich sichtbar die linke Hand, griff an den Gurt. Wenige Augenblicke später fiel der Waffengurt auf den Boden. »Darf ich mich umdrehen?«
»Was soll das? Ich muss dich erschießen, das weißt du genau. Es wäre mir lieber …« Sie beendete den Satz nicht, aber er wusste, wie sie ihn hatte fortführen wollen. Sie wollte ihm nicht ins Gesicht sehen, während sie ihn tötete. Mervet bewegte sich langsam und drehte sich um.
Sie war wirklich hübsch, ziemlich schmutzig und furchtbar ängstlich, aber auch gefährlich. Der Thermostrahler in ihrer Hand war entsichert. Mervet lächelte und sah ihr in die Augen. Hilflos zuckte er mit den Schultern. Einen winzigen Augenblick lang hielten sie sich die Waage, Liebe und Todestrieb, beide im Würgegriff der Angst. Die junge Frau lächelte unwillkürlich und ließ dabei die Waffe ein wenig sinken.
Mit dem Mut, der aus der Angst erwuchs, warf sich Mervet nach vorn. Der Thermostrahl streifte seine linke Schulter, es fühlte sich an, als würde sie in Flammen aufgehen. Mervet schrie in der Bewegung auf. Sein Schwung war groß genug, er prallte gegen die Frau, zusammen stürzten sie zu Boden. Trotz der tobenden Schmerzen brachte es Mervet fertig, ihr die Waffe abzunehmen. Sie blieb liegen, Mervet hörte ihr ersticktes Schluchzen. Er warf die Waffe zur Seite und streichelte langsam ihren Rücken. Mervet konnte das krampfhafte Zucken fühlen, und er wusste auch, welche Gedanken die Frau bewegten.
Wieder griff er zum Verbandsmaterial. Notdürftig versorgte er die Wunde an seiner Schulter. Es war nur ein Streifschuss gewesen, aber ärger konnte ein tödlicher Treffer schwerlich schmerzen. Mehrmals stöhnte Mervet unterdrückt auf. Das Weinen verebbte. Sie richtete sich auf und strich sich die Haare aus der Stirn. Einige Nadeln der umherstehenden Bäume lösten sich und fielen zu Boden. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erzeugte so eine feuchte Spur auf den staubbedeckten Wangen.
»Ich kann das besser.«
Während sie Mervet verband, musste der junge Mann daran denken, dass die gleichen schlanken Finger vor kurzer Zeit noch am Abzug des Strahlers gewesen waren und ihn auch betätigt hatten.
»Hunger?« Sie nickte, Mervet gab ihr einige seiner Konzentrate. Während sie mit großem Hunger aß, schnallte er wieder seinen Waffengurt um. Ihre Waffe steckte er in ihr Gürtelholster zurück, dann setzte er sich neben ihr auf das weiche Gras. »Mervet Phan.«
»Althea Phudor«, antwortete sie mit vollem Mund. »Ich bin Transmittertechnikerin.«
»Wer auf diesem Planeten wäre das nicht?«, kommentierte Mervet sarkastisch. »Du gehörst also zu den Leuten von Karoon-Belth?«
Sie nickte kurz.
»Heiliges Akon«, murmelte Mervet. »Kannst du mir verraten, wie es jetzt weitergeht?«
»Wir trennen uns«, sagte Althea ruhig. »Ich gehe dorthin, du in die andere Richtung.«
»Und dabei laufen wir unseren jeweiligen Feinden vor die Mündungen. Ihr hättet euch wenigstens ein Kennzeichen beschaffen können. Man will schließlich wissen, auf wen man schießt.«
Sie schnaufte laut. »Wir haben den Streit nicht angefangen, das wart ihr!«
»Das ist die schamloseste Lüge, die ich je gehört habe. Wer hat hier rebelliert, ihr oder wir? Welche Gruppe stellt die Verräter, wir vielleicht?«
»Wir wollen auf dieser Welt leben, frei und ohne Aufsicht durch das Energiekommando. Aber ihr versucht, uns daran zu hindern. Haben wir nicht das Recht, für unsere Freiheit zu kämpfen?«
Mervet sprang auf. »Sagtest du Freiheit? Mädchen, in dieser Galaxis wütet ein Krieg gegen Wasserstoffatmer. Jederzeit können hier Feinde auftauchen, denen ihr, ob ihr wollt oder nicht, die genauen Koordinaten von Akon verraten könnt. Wir haben den Auftrag, jeden Hinweis auf das Versteck zu beseitigen, aber ihr verlangt, dass man euch in Ruhe gewähren lässt, damit ihr einen Wegweiser für den Gegner bauen könnt.«
Althea seufzte und schüttelte den Kopf. »Abgesehen davon, dass du dich irrst. Wir haben keine andere Wahl mehr, wir müssen uns verteidigen. Wenn euch einer von uns in die Hände fällt, ist er verloren. Das Energiekommando ist gnadenlos, es wird jeden einzelnen von uns zum Tode verurteilen. Wir kämpfen mit dem Rücken zur Wand.«
Mervet wusste, dass sie Recht hatte. Er kannte die akonische Gerichtsbarkeit genau. Man würde Althea im Schnellverfahren zum Tode verurteilen und sie zum Hinrichtungsschacht führen, sie hineinstoßen, und sie würde fallen – lange, kilometertief. Die Verurteilten sollten die Todesangst auskosten, bevor ihr Körper am Boden des Schachtes zerschellte.
Er versetzte dem Baumstamm einen Fußtritt, um seiner Spannung irgendwie Luft zu machen. Was er damit erreichte, war lediglich ein schmerzender Fuß. »Jedenfalls müssen wir etwas unternehmen. Ich habe keine Lust, hier sitzen zu bleiben und zu warten, bis eine der Parteien gewonnen hat. Wenn ich Pech habe, werde ich dann erschossen, aber vielleicht sind wir bis dahin auch schon verhungert.«
»In der Stadt müsste es genügend Nahrung für alle geben«, warf Althea ein. »Ich mache dir einen Vorschlag. Wir erklären uns für neutral, schließen einen Waffenstillstand und versuchen, die Stadt zu erreichen. Dort sehen wir weiter.«
»Neutral. Ein Neutraler ist ein Mann, der seinem Henker hilft, das Schwert zu schärfen.«
»Wir können die Angelegenheit auch hier ausschießen«, versetzte Althea kühl. Ihre rechte Hand schwebte über dem Griff ihrer Waffe.
»Schon gut. Machen wir uns auf den Weg. Du gehst voran, Neutrale!«
Althea grinste. Sie sah gut aus, stellte Mervet fest, nur reichlich schmutzig.
Während des Marsches überlegte sich Mervet, wie die Lage wohl aussehen mochte. Er und Althea bewegten sich im Süden der Stadt, auf der linken Seite des Flusses, der die Stadt ziemlich genau halbierte. Auf dem östlichen Ufer hatten sich die Leute um Dankor-Falgh gesammelt, die westliche Seite wurde von den Rebellen gehalten. Auf dem westlichen Gebiet lag auch, ziemlich nahe am Ufer, die große Transmitterhalle. Das Gebiet rings um die Stadt kannte Mervet nicht, aber vermutlich war es, ebenso wie weite Teile des Stadtgebiets, von Pflanzen überwuchert und unbewohnbar.
»Diese Idioten«, murmelte Mervet.
Althea drehte sich herum. »Von wem sprichst du? Meinst du etwa …«
Mervet winkte ärgerlich ab. »Ich rede nicht von euch, ich meine diese Wahnsinnigen, die offenbar nach dem Abzug der Wächter auf Saruhl zurückgeblieben sind.«
»Ich denke, Saruhl wurde schon vor langer Zeit geräumt?«
»Sicher, auch der Wächter wurde später abgezogen. Aber ein paar Leute sind offenbar hier geblieben, und deren Nachkommen müssen mit atomaren Einrichtungen gespielt haben, von denen sie nicht das geringste verstanden. Anders kann ich mir nicht erklären, warum das Stadtviertel völlig zerstört ist, in dem nach den Unterlagen der große Reaktor gestanden haben muss.«
»Unterlagen können falsch sein.«
»Diese nicht, sie stammen vom Energiekommando!«
»Auch das Energiekommando kann irren.«
Mervets Körper versteifte sich. Dass Althea eine Rebellin war, wusste er, aber er hatte nicht geahnt, dass ihr Widerstand so weit gehen würde. Die Behauptung, dass das Energiekommando Fehler machte, erfüllte den Tatbestand des Hochverrats. Das Gesetz räumte in krassen Fällen dem Zeugen das Recht ein, den Täter auf der Stelle niederzuschießen.
»Versuch es nicht«, warnte Althea leise. »Ich werde dich diesmal genau treffen!«
Mervet machte einen Schritt auf sie zu. Vielleicht wog sie nicht genug, um die Höhlung zum Einsturz zu bringen, vielleicht hatte sie auch zufällig einen Schritt gemacht, der sie über das Loch im Boden hinweggeführt hatte. Mervet jedenfalls brach ein. Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen wegsackte. Eine Wolke feinsten Staubes wirbelte hoch und nahm ihm die Sicht. Seine Füße prallten auf etwas Hartes, sein Kopf mit der Stirn auf die Kante des Lochs. Er verlor fast die Besinnung.
Langsam nur klärte sich sein Blick. Er steckte bis an die Schultern in einem engen Schacht, der gerade groß genug war, um ihn aufzunehmen. Ein dickerer Mann wäre wahrscheinlich nur bis an die Hüften eingesunken, aber diese Erkenntnis half Mervet wenig. Sein rechter Arm war mit ihm eingeklemmt, nur der linke konnte bewegt werden. Er bewegte die Beine, versuchte, sich an den Wänden des Loches in die Höhe zu stemmen. Der Versuch scheiterte, die Wände des Schachtes waren außerordentlich glatt. Das konnte nur eins bedeuten – dies war keine zufällige Höhlung im Untergrund, hier hatte jemand oder etwas eine gut getarnte Falle angelegt. Mervet konnte sich ausrechnen, dass der Erbauer dieser Falle ziemlich bald kommen würde, um nachzusehen, was sich im Schacht verfangen hatte.
»Hilf mir!«
Althea kam vorsichtig einen Schritt näher, dann stoppte sie. »Warum sollte ich?«, fragte sie kalt zurück. »Gerade erst wolltest du auf mich losgehen. Hilf dir selbst, ich sehe zu, dass ich von hier wegkomme.«
Mervet überschüttete sie mit einer Flut von Verwünschungen. »Du kannst mich doch nicht hier einfach zugrunde gehen lassen.«
»Selbstverständlich kann ich. Wer sollte mich daran hindern? Außerdem bin ich eine Rebellin.«
Er spürte, dass sich an seinen Füßen etwas tat. Es fühlte sich an, als würde der enge Schacht langsam von einer Flüssigkeit geflutet. »Lauf doch«, schrie er sie an. »Lauf doch! Aber beklag dich nicht, wenn du in einem solchen Loch verschwindest und keine Hilfe findest.«
Dieses Argument traf ins Ziel. Sie biss sich auf die Lippen, dachte kurz nach und steckte schließlich ihre Waffe weg. Sorgfältig prüfte sie die Tragfähigkeit des Bodens, während sie sich Mervet näherte. Die Flüssigkeit umspülte inzwischen Mervets Knie. Er griff nach ihrer Hand. Sie war erstaunlich kräftig, zerrte ihn langsam in die Höhe. Der unsichtbare Gegner reagierte sofort. Mervet fühlte, wie die Flüssigkeit dicker zu werden begann. Wenn er den Schacht nicht bald verließ, würde er in einem zähen Gelee stecken, aus dem es vermutlich kein Entrinnen mehr gab.
Mervets rechter Arm kam frei. So schnell er konnte, stützte er sich auf beide Arme und stemmte sich in die Höhe. Althea stand hinter ihm und zog ihn an den Schultern hoch. Gleichzeitig stieg die Zähigkeit der sich immer mehr verfestigenden Flüssigkeit an. Es war ein verzweifelter Wettkampf mit der Zeit. Zentimeter um Zentimeter kam Mervet frei, aber das Gewicht, das an seinen Beinen zerrte, wurde immer größer.
Er seufzte erleichtert auf, als er endlich wieder seine Beine bewegen konnte. Mit einem widerlichen Schmatzen lösten sich seine Füße aus dem gefährlichen Gelee, dann zog er sich dank Altheas Hilfe rasch in die Höhe. Gierig schnappte er nach Luft. Der stumme, hartnäckige Kampf hatte viel Kraft gekostet. »Danke«, keuchte er. »Ich werde mich bei passender Gelegenheit revanchieren!«
Als sich sein Blick langsam klärte, wurde Mervet bewusst, dass diese Gelegenheit nicht lange auf sich warten lassen würde.
Die Lichtung im Wald mochte eine Fläche von etwas über hundert Quadratmetern haben, teils lag der steinige Boden frei, teils wurde er von Gras und Moos bedeckt. Umgeben wurde die Lichtung von zahlreichen hohen Bäumen. Etwas hatte sich verändert seit dem Augenblick, da Mervet und Althea die Lichtung betreten hatte. Damals – es kam Mervet vor, als seien Tage vergangen – gab es große Zwischenräume zwischen den einzelnen Bäumen, breit genug, um mehrere Personen durchzulassen.
Diese Zwischenräume waren verschwunden. Außerdem hatten die Bäume beträchtlich an Höhe verloren. Mervet und Althea sahen sich einem immer dichter werdenden Gürtel aus Pflanzen gegenüber. Man konnte deutlich sehen, wie sich die Ranken entwickelten, sich mit den Ranken der benachbarten Bäume verfilzten und förmlich zusammenwuchsen. Obendrein entwickelten sich mit beängstigender Geschwindigkeit zahlreiche Dornen. Die Spitzen waren handtellerlang und glänzten feucht.
»Es hat sich bezahlt gemacht, dass du mir geholfen hast«, murmelte Mervet. »Jetzt sitzen wir beide in der Falle.«
Er sah in das Loch, aus dem er gerade erst entkommen war. Von der merkwürdigen Flüssigkeit war nichts mehr zu sehen, aber auf dem Boden des Loches entdeckte Mervet einen metallisch glänzenden Gegenstand. Mervet brauchte nur einen flüchtigen Blick, um zu erkennen, dass es sich um ein militärisches Abzeichen handelte, allerdings war dieses Abzeichen schon vor langer Zeit abgeschafft worden. Die Person, die es getragen hatte, war offenbar nicht fähig gewesen, sich aus der tödlichen Falle zu befreien – nur das Abzeichen war übriggeblieben.
Mervet begann zu kombinieren. Die Umgebung der Stadt war lange Zeit mit harter Strahlung überflutet worden, Mutationen hatten sich herausgebildet, und offenbar war es dabei zu Lebensformen gekommen, die jedes Vorstellungsmaß überstiegen. »Die beiden sind befreundet«, stellte er erbittert fest. Sie sah ihn fragend an. »Wenn es dieser klebrigen Substanz nicht sofort gelingt, eine Beute zu machen, tritt der Partner dieser Symbiose in Aktion.«
Er deutete auf das wuchernde Dickicht. Rasch überschlug er die Abmessungen, kam zu dem Ergebnis, dass er und Althea vor der Aufgabe standen, einen fast zehn Meter dickem, dornengespickten Wall zu durchdringen. Wenn seine Vermutung zutraf, dass es sich bei dem feuchtglänzenden Stoff auf den Dornen um Gift handelte, wurde dieses Hindernis nahezu unüberwindlich.
»Wir müssen uns etwas einfallen lassen«, sagte sie. »Und das möglichst bald. Wir haben nicht viel Zeit.«
Die Falle, in der die beiden Akonen steckten, war von perfider Perfektion. Mit jedem Augenblick, der verging, verdichtete sich der Wall aus Ranken und Dornen, der Mervet und Althea eingekreist hatte. Der Durchmesser verringerte sich, dafür wuchs die Dichte.
»Wir müssen durchbrechen.« Mervet zog seine Waffe. »Wir schießen eine Gasse, vielleicht kommen wir durch.«
Augenblicke später schlugen die ersten Schüsse in dem Dickicht ein. Rauch wallte auf, brennende Ranken wurden durch die Luft gewirbelt, und in das Geräusch der unablässig feuernden Handwaffen mischte sich das anschwellende Knistern ausbrechender Brände.
»Wir haben Glück«, rief Althea. »Das Zeug geht relativ leicht in Flammen auf.«
Er nickte, obwohl er schnell erkannt hatte, dass sich diese Tatsache keineswegs positiv für die beiden Bedrängten auswirken konnte. Mervet hatte damit gerechnet, dass das Dornengeflecht so viel Zellsäfte enthielt, dass es nur an der Einschlagstelle Feuer fing. Wenn aber, was sich abzuzeichnen begann, das ganze Dickicht in Flammen stand, würde den Eingekreisten rasch der Sauerstoff ausgehen. Jetzt schon machte es sich bemerkbar, dass die immer höher steigenden Flammen riesige Mengen Sauerstoff verbrauchten.
»Wenigstens nicht bei lebendigem Leibe verdaut«, murmelte er und ließ seine Waffe sinken. Es war nicht länger nötig, auf das Dickicht zu schießen. Was brennbar war, brannte bereits.
»Sollen wir ausbrechen?« Althea stellte den Beschuss ein.
Mervet schüttelte den Kopf. »Sinnlos. Bis wir die andere Seite dieser Flammenwand erreicht haben, sind wir längst erstickt, oder wir haben so schwere Brandverletzungen, dass wir vor Schmerz ohnmächtig werden. Nein, wir müssen uns einen anderen Fluchtweg suchen, und ich habe auch schon eine Idee.«
Er deutete auf den Schacht, den er vor Kurzem erst verlassen hatte. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder braucht das Biest keinen Sauerstoff, dann haben wir Pech gehabt und werden gefressen. Braucht es aber Atemluft wie wir, hat sich der Höhlenbewohner längst in Sicherheit gebracht. Wir müssen versuchen, unter der Flammenwand durchzukommen. Vielleicht finden wir auf der anderen Seite ein Schlupfloch, wenn nicht, müssen wir uns einen Durchbruch freischießen oder graben.«
Althea schüttelte sich vor Ekel. »Du willst in dieses Loch zurück?«
»Hast du eine bessere Idee? Meinetwegen bleib hier und lass dich rösten!« Wie nötig es war, zu einer Entscheidung zu kommen, wurde ihm beim Sprechen klar. Der Sauerstoff wurde zusehends knapper. Mervet zögerte nicht lange, ließ sich in den Schacht gleiten. Vorsichtshalber hatte er die Waffe gezogen und auf den Schachtboden gerichtet. Wenn die zähflüssige Masse auftauchte, konnte er den Strahler vielleicht brauchen.
Die Falle war perfekt angelegt. Das obere Ende des Schachtes war so eng, dass sich das Opfer kaum bewegen konnte. Blieb es dort stecken, kam es weder vor noch zurück. Mervet rutschte etwas mehr als vier Meter in die Tiefe, dann hatte er den Boden des Schachtes erreicht. Dort bot sich ihm etwas mehr Bewegungsfreiheit. Die beiden Stollen, die er erkennen konnte, waren groß genug, um sie ohne besondere Schwierigkeiten durchkriechen zu können. Er schaltete den Handscheinwerfer ein und leuchtete den Stollen aus. Von dem Bewohner war nichts zu sehen. Über Mervet wurde es dunkel, offenbar war Althea inzwischen zu der Einsicht gelangt, dass es tatsächlich keine andere Fluchtmöglichkeit gab. Mervet kroch ein Stück in den Stollen, um Platz für sie zu machen. Althea schnappte keuchend nach Luft, offenbar war die Lage an der Oberfläche sehr kritisch geworden.
»Dann also vorwärts«, murmelte Mervet.
Mervet kam nur langsam voran. Die Wände des Stollens waren glatt, offenbar waren sie von der Verdauungsflüssigkeit angegriffen worden, die bereits einmal Mervets Beine umspült hatte. Immer wieder glitten seine Knie über die Fläche und brachten ihn zu Fall. Seine Brust musste von blauen Flecken übersät sein, denn er hielt in der linken Hand den Scheinwerfer und in der rechten seine Waffe. Jedes Mal, wenn er ausglitt, prallte er auf die beiden metallenen Gegenstände. Obendrein war es unangenehm warm geworden. Die Hitze, die von dem brennenden Dickicht ausging, war auch tief unter der Oberfläche zu spüren. Noch ließ sich die Wärme ertragen, aber Mervet schwitzte stark, und immer wieder lief ihm der salzige Schweiß in die Augen und brachte sie zum Tränen.
»Hier unten könnte man eine ganze Armee verstecken.« Er musste sich auf sein ziemlich gut entwickeltes Richtungsgefühl verlassen. Immer wieder verzweigte sich der Stollen, und jedes Mal hatte sich Mervet gefühlsmäßig für eine Abzweigung entschieden. Er konnte nur hoffen, dass er dabei keinen Fehler gemacht hatte. »Althea?«
»Keine Sorge, ich bin hinter dir.«
Es tat gut, ihre Stimme zu hören, selbst wenn sie krächzend klang wie in diesem Augenblick. Es tat gut zu wissen, dass er nicht allein in dieser scheußlichen Zwangslage steckte, die in jedem Augenblick eine überraschende, vielleicht tödliche Wendung nehmen konnte. Für einen Augenblick beschäftigte sich Mervet mit der plötzlichen Erkenntnis, dass angesichts der weitgehenden Verteidigungsunfähigkeit, in der er sich befand, der einzige Trost in Altheas Anwesenheit bestenfalls darin bestehen konnte, dass er nicht allein sterben würde, wenn es zum Äußersten kam.
Rasch verdrängte Mervet diesen zynischen Gedanken, konzentrierte sich auf das Wegstück, das vor ihm lag. Nach seiner groben Schätzung mussten sie den brennenden Dickichtstreifen bereits unterwandert haben. Es wurde langsam Zeit, an die Oberfläche zurückzukehren, bevor sich der Konstrukteur der Falle seiner Opfer erinnerte.
Plötzlich schrie Althea auf. »Etwas hat mich berührt! Mervet!«
Er ließ sich vornüber fallen, drehte sich hastig so herum, dass er auf den Rücken zu liegen kam. Der Scheinwerferstrahl wanderte über die Wand, streifte kurz Altheas vor Angst verzogenes Gesicht und leuchtete den hinteren Teil des Stollens aus.
»Los, klettere über mich hinweg. Beeil dich!«
Althea folgte sofort. Der Stollen war an dieser Stelle gerade hoch genug, um es ihr zu erlauben, über Mervet hinwegzurobben. Sie bewegte sich rasch und geschickt, aber sie zögerte, als er sie für einen kurzen Augenblick stoppte und sie küsste. Dann bedeutete er ihr mit einem Stoß weiter zu kriechen.
»Such nach einem Ausgang, ich halte das Biest hier fest!«
Altheas Stiefel schrammten über Mervets Kopf, dann war das Schussfeld frei. Er konnte seinen Gegner sehen, eine dunkelgrüne Masse, die den ganzen Stollen ausfüllte und sich langsam auf ihn zuschob. Mervet leuchtete dem Wesen entgegen, von dem er nicht wusste, ob es ein Tier oder eine Pflanze war. Die Strahlung, die bei den Experimenten der früheren Stadtbewohner frei geworden war, hatte fürchterliche Folgen gehabt. Von einer solchen Lebensgemeinschaft hatte Mervet noch nie etwas gehört.