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Willkommen zu den jährlichen Feenspielen. Wer das Turnier gewinnt, erhält von den Herrschern der Feenwelt magische Kräfte. Wer verliert, muss sterben. Ich nehme nicht freiwillig an den Feenspielen teil. Mein Vater zwingt mich. Wenn ich gewinne, werde ich endlich die Tochter, die er sich wünscht. Und wenn ich nicht gewinne? Dann ist mein Leben vorbei. Doch ich werde gewinnen. Um jeden Preis. Auch wenn das heißt, dass ich den Jungen besiegen muss, in den ich mich verliebt habe … Die neue Fantasy Serie für Jugendliche von Bestseller Autorin Michelle Madow nimmt uns mit auf ein rasantes Abenteuer voller unvorhersehbarer Wendungen und Magie. Leser über Feenspiele: "Feenspiele lässt einen Seite für Seite umblättern, um magische Dinge zu erleben, die man niemals vorhersehen würde!" -People at Slate R. Raven, Amazon-Rezensentin ★★★★★ "Was für ein cooles, originelles Konzept!!! Eine epische Geschichte!!" -Kimberly Johnson, Amazon-Rezensentin ★★★★★ "Eine Mischung aus Percy Jackson, Tribute von Panem und antiker römischer Mythologie. Ein großartiger Anfang, wenn man sich fragt, was man nach Percy Jackson lesen soll!" -Swimgirl566, Amazon-Rezensentin ★★★★★
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Seitenzahl: 265
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Zuerst 2019 erschienen unter dem Titel The Faerie Games (Dark World: The Faerie Games 1).
Titel: Entführt – Die Feenspiele (Buch 1)
Autor: Michelle Madow
Übersetzung: Julian Kiefer und Josephine Sun
Verlag: verlag von morgen
Cover: Damonza
ISBN: 978-3-948684-36-5
Deutsche Erstveröffentlichung: Berlin 2022
© 2022 verlag von morgen, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Nachwort des Verlags
– Selena –
I
ch hatte immer gehofft, dass ich an meinem sechzehnten Geburtstag endlich meine Hexenkräfte erhalten würde. So lief das doch in all den Büchern und Filmen, oder? Man kam in ein bestimmtes Alter, irgendetwas Wichtiges passierte, und dann zack. Die Magie war entfacht.
Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen – immerhin lebte ich auf einer Insel voller übernatürlicher Wesen. Unsere Magie funktionierte anders. Doch da ich die einzige Übernatürliche auf der Insel war, die keinerlei Anzeichen von Magie aufwies, hatte ich an dieser letzten Hoffnung festgehalten. Meine leibliche Mutter war schließlich eine der mächtigsten Hexen gewesen. Davon musste doch irgendetwas auf mich abgefärbt haben.
Warum also hatte ich keine Magie?
Niemand wusste es.
Nach meiner Geburtstagsparty hockte ich in meinem Zimmer im Schloss, umgeben von Geschenken. Aber ich starrte nur auf die Einladung in meiner Hand. Sie stammte von der Magierin Iris – der Event-Koordinatorin auf Avalon. Iris bot mir an, für die nächsten zwei Jahre bei ihr in die Lehre zu gehen.
Die Einladung machte mich stinksauer.
Es klopfte an der Tür. Schon am Rhythmus des Klopfens erkannte ich, dass es meine beste Freundin Torrence war.
„Komm rein“, sagte ich und ließ die Einladung in meinen Schoß fallen.
Torrence stürmte so schnell in mein Zimmer, dass ihr langes, kastanienbraunes Haar hinter ihr herflatterte. Sie hüpfte auf die Kante meines extrabreiten Betts und ließ die Füße baumeln. „Ich wusste, dass dir das nicht gefallen würde“, sagte sie mit einem Blick auf die Einladung.
Ich schnaubte. „Iris versucht nur, mir etwas anderes zu tun zu geben … um mich aus dem Magieunterricht herauszuholen, durch den ich mich seit Jahren kämpfe.“
Zum Glück gab es bei den Prüfungen auch einen schriftlichen Teil, sonst wäre ich in meinen Magiekursen längst durchgefallen. Mit der Theorie der Magie hatte ich keine Probleme. Die Praxis hingegen war eine ganz andere Geschichte. Ich konnte lernen, so viel ich wollte. Ohne Magie würden alle Zauber für mich immer nur Träume bleiben.
„Du hast recht“, stimmte Torrence zu. „Das ist totaler Mist.“
Ich liebte es an Torrence, dass sie nie ein Blatt vor dem Mund nahm. Sie beschönigte nichts.
Ich nahm die Einladung wieder in die Hand und starrte sie frustriert an.
Auf einmal spürte ich ein Summen, ein Vibrieren in meinem Körper, das sich rasend schnell von meinen Zehen aus bis in meine Hände ausbreitete. Mein Inneres fühlte sich an wie die Äste eines Baums, der vom Blitz getroffen wurde: knisternd und knackend vor Elektrizität. Ich bündelte die Energie unter meiner Haut und ließ sie dann auf das Blatt Papier in meiner Hand los.
Vor meinem inneren Auge ging die Einladung in Flammen auf.
In Wirklichkeit passierte nichts.
„Du starrst so finster auf die Einladung, als würdest du das Ding in Brand setzen wollen“, sagte Torrence lachend.
„Genau das habe ich gerade versucht“, sagte ich und seufzte. „Da war ganz sicher Magie in mir. Und sie will herauskommen. Sie ist nur irgendwie … blockiert.“ Ich zuckte mit den Schultern, denn das war nichts, was Torrence nicht schon tausendmal von mir gehört hatte. Ich hatte allen möglichen Leuten erzählt, dass ich Magie in mir trug. Dass ich sie spüren konnte, dass sie hinaus wollte. Aber wenn ich ihnen dieses elektrische Gefühl genau beschrieben hatte, hatten mir die anderen Hexen stets gesagt, dass sich ihre Magie ganz anders anfühlte.
Wahrscheinlich glaubten sie mir kein Wort.
Also hatte ich aufgehört, anderen davon zu erzählen. Außer Torrence natürlich. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, der noch an mich glaubte.
„Ich habe noch nie von einem Zauber gehört, der etwas spontan in Flammen aufgehen lässt“, sagte sie. „Aber wenn du das Gefühl hast, dass deine Magie das tun will … dann kann ich es kaum erwarten zu sehen, was passiert, wenn sie sich zeigt.“
Ich war dankbar dafür, dass Torrence die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. Aber auch ich wusste, dass es keinen Zauber gab, der Dinge aus dem Nichts in Brand setzte.
Ich pfefferte die Einladung in den Kamin. Sie verglühte binnen Sekunden zu Asche. Dann ließ ich mich in den Berg aus Kissen hinter mir fallen und starrte gedankenverloren in die Flammen.
„Also …“, sagte Torrence, und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf sie. Ihre grünen Augen funkelten. Ich kannte diesen Blick, und er hatte nur eines zu bedeuten: Schwierigkeiten.
„Die Sammlerausgabe von Stolz und Vorurteil, die ich dir geschenkt habe, war noch nicht dein richtiges Geburtstagsgeschenk.“
„Das war ein tolles Geschenk!“, sagte ich. „Was für ein ‚richtiges‘ Geschenk soll es noch geben?“
Torrence schmunzelte, hob die Hände und murmelte einen Zauberspruch, den ich gut kannte: einen Schallschutzzauber. Ihre violette Magie ergoss sich in einem Wirbel aus ihren Händen, schoss zur Decke hinauf und floss an den Wänden entlang nach unten, zurück zu uns. Das Violett verblasste schließlich, und nun konnte nichts mehr von dem, was wir in diesem Zimmer sagten, von anderen mitgehört werden.
Ein Schallschutzzauber gehörte zur Standardausstattung für jedes Zimmer im Schloss, aber wir gingen gerne auf Nummer sicher. Nur für alle Fälle.
„Und?“ Ich beugte mich erwartungsvoll vor. „Was ist es?“
Ihre linke Hand verschwand im rechten Ärmel ihres Pullovers. Als sie wieder zum Vorschein kam, hielt sie ein Fläschchen mit einem leuchtend roten Trank zwischen Daumen und Zeigefinger.
Ich traute meinen Augen kaum. „Ein Verwandlungstrank?“ Ich schaute zu ihr auf, dann wieder zum Trank und zu ihr zurück.
Sie nickte zufrieden.
„Wofür? Und woher hast du den?“
Verwandlungstränke gehörten zu den schwierigsten Zaubertränken überhaupt. Nur sehr fortgeschrittene Hexen waren in der Lage, sie zu brauen. Und ihre Wirkung verfiel nach vierundzwanzig Stunden, man konnte sie also nicht auf Vorrat produzieren.
Torrence strahlte. „Ich habe ihn gemacht, mit meinem eigenen Blut. Damit du dich in mich verwandeln kannst.“
– Selena –
„W
arum sollte ich mich in dich verwandeln wollen?“, fragte ich verwirrt.
Nichts gegen meine beste Freundin. Sie war großartig. Aber so sehr ich Torrence auch mochte, ich wollte nicht sie sein. Ich fühlte mich vollkommen wohl in meiner Haut.
Abgesehen von meiner fehlenden Magie. Aber das ließ sich auch nicht mit einem Verwandlungstrank ändern. Der Trank würde mich zwar äußerlich wie Torrence aussehen lassen, aber innerlich wäre ich immer noch ich. Ohne Magie.
„Was wünschst du dir am meisten auf der ganzen Welt – abgesehen davon, dass deine Magie sich zeigt?“, fragte Torrence.
„Avalon verlassen zu dürfen.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Aber meine Eltern werden mir das nie erlauben. Du kennst die Regeln. Ich darf nicht –“ Ich stockte und starrte auf den leuchtend roten Trank in Torrence’ Hand.
„Du darfst die Insel nicht verlassen“, ergänzte sie meinen Gedanken. „Aber ich kann kommen und gehen, wann ich will. So wie an den Wochenenden, wenn ich meine Mutter in Los Angeles besuche.“
„Meinst du … meinst du wirklich, das funktioniert?“ Mein Herz raste vor Aufregung und Vorfreude.
Mein ganzes Leben lang hatten mir meine Eltern eingebläut, dass ich Avalon niemals verlassen dürfte. Meine Mutter war ein Erdenengel – der einzige auf der Welt, und sie war das Oberhaupt unserer Insel.
Es gab zu viele Wesen auf der Erde – Dämonen und Übernatürliche gleichermaßen –, die hinter mir her wären, wenn ich auch nur einen Fuß von der Insel setzen würde. In den Händen von Entführern würde ich zum mächtigen Druckmittel gegen meine Mutter. Da ich zu allem Überfluss keine Magie besaß und mich nicht verteidigen konnte, war es zu riskant für mich, die Insel zu verlassen. Das bedeutete, dass ich hier bleiben musste. Für immer.
Für immer. Das war eine lange Zeit. Dazu kam, dass die Magie der Insel den Alterungsprozess ihrer Bewohner ab Mitte zwanzig stoppte und uns praktisch unsterblich machte. Ich musste also hoffen, dass die Erde eines Tages so friedlich sein würde, dass ich sie selbst erleben konnte. Aber bis es so weit war, würde ich nur diese Insel kennen.
Ich liebte Avalon. Ich hatte ein tolles Leben hier. Aber ich wollte auch den Rest der Welt entdecken.
Und jetzt gab Torrence mir die Chance dazu.
„Ich weiß, dass es funktionieren wird.“ Torrence’ Augen funkelten wieder schelmisch. „Du kennst mich besser als jeder andere. Wenn irgendjemand meine Mutter davon überzeugen kann, ich zu sein, dann du.“
„Vielleicht“, sagte ich. „Aber wir müssen üben.“
„Dafür ist keine Zeit“, sagte sie. „Es muss dieses Wochenende sein.“
„Warum?“, fragte ich. „Ich meine, ich weiß, dass der Trank nur vierundzwanzig Stunden lang haltbar ist. Aber du hast diesen hier doch selber gebraut – könntest du keinen neuen machen?“
„Natürlich könnte ich das.“ Sie warf sich die Haare über die Schultern, als wäre es dumm von mir, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. „Aber es ist nicht nur so, dass der Trank nach vierundzwanzig Stunden verfällt. Auch die Wirkung hält nur vierundzwanzig Stunden lang an, nachdem man ihn getrunken hat. Und du kennst die Abmachung, die ich mit meiner Mutter getroffen habe.“
„Du darfst auf die Akademie auf Avalon gehen, solange du sie jedes Wochenende besuchst.“
Ich war diejenige, die Torrence vorgeschlagen hatte, ihrer Mutter dieses Angebot zu machen. Ihre Mutter hatte damals gezögert, sie hier zur Schule gehen zu lassen, aber Torrence und ich hatten uns auf Anhieb gemocht. Sie fünf von sieben Tagen hier zu haben, war besser als nichts.
„Obwohl heute Freitag ist, durfte ich ausnahmsweise hier bleiben, weil ich auf keinen Fall deinen Geburtstag verpassen wollte“, sagte sie. „Das bedeutet, dass mein Besuch zu Hause dieses Wochenende kurz ausfällt – nämlich nur einen Tag lang. Genauso lang, wie die Wirkung des Tranks anhält.“ Sie wackelte mit den Augenbrauen. „Du verstehst?“
Ich nickte langsam. Sie hatte wirklich an alles gedacht.
„Also fahre ich morgen zurück. Das heißt … du wirstmorgen zurückfahren. Als ich.“ Sie presste die Fingerkuppen zusammen, als wäre sie ein hinterhältiger Bösewicht in einem Superheldenfilm.
In meinem Kopf drehte sich alles vor Aufregung … und vor lauter Möglichkeiten, wie das Ganze schiefgehen könnte.
„Was ist los?“, fragte Torrence.
Ich hatte noch eine Menge Fragen. Aber wie ich sie kannte, hatte sie alle Antworten bereits parat.
„Ein paar Dinge“, sagte ich. „Erstens, danke. Das ist ein fantastisches Geschenk.“
Sie lächelte stolz. „Ich weiß.“
„Aber wie soll ich nach Los Angeles kommen? Ich habe keine Magie. Ich kann mich nicht teleportieren.“
„Ich teleportiere dich direkt in mein Zimmer. Ich stelle sowieso immer als Erstes meine Sachen dort ab“, sagte sie. „Und am nächsten Tag komme ich zurück und bringe uns nach Hause.“
Ich nickte. „Aber der Trank ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht zaubern kann. Wird sich deine Mutter nicht wundern, wenn ich zaubern muss und es nicht kann?“
„Meine Mutter sagt mir immer, dass ich meine Magie ruhen lassen soll, damit ich frisch und ausgeruht für die Schulwoche bin.“ Torrence verdrehte die Augen. Sie liebte es, ihre Magie einzusetzen, aber lieber für den persönlichen Gebrauch als für Übungen im Klassenzimmer. „Sag ihr einfach, dass am Montag eine wichtige Prüfung ansteht und dass du deine Magie bis dahin ruhen lässt. Sie wird begeistert sein. Und das ist auch die perfekte Ausrede, warum du am Sonntag früher abhauen musst – bevor die Verwandlung nachlässt. Du musst für die Prüfung lernen.“
„In Ordnung.“ Ich nickte wieder. Langsam klang der Plan gar nicht mehr so unmöglich. Verrückt, ja, aber nicht unmöglich. „Aber was ist mit mir? Die Leute merken doch, wenn ich weg bin. Und morgen ist das große Jubiläumsessen meiner Eltern.“
„Ganz einfach“, sagte Torrence mit einem Schulterzucken. „Ich werde heute Abend noch einen zweiten Verwandlungstrank brauen, mit deinem Blut. Der ist bis morgen fertig. Ich trinke ihn und nehme deinen Platz ein, solange du weg bist.“
„Wir tauschen also die Plätze!“ Ich beugte mich vor und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
Das war eine wahnwitzige Idee. Und gleichzeitig genial. Denn wenn sich zwei Leute gut genug kannten, um die Plätze zu tauschen, dann waren das Torrence und ich.
„Genau.“ Sie lächelte wieder. „Bist du dabei?“
„Und wie!“, rief ich. Ich konnte nicht anders. Die Möglichkeit, Avalon für vierundzwanzig Stunden zu verlassen, war das Aufregendste seit … nun, eigentlich war es das Aufregendste, was mir überhaupt je passiert war. „Aber was, wenn wir erwischt werden?“
Die Antwort darauf kannte ich bereits.
Allein der Versuch, mich von Avalon wegzuschmuggeln, würde als Verrat gewertet werden. Auf Avalon gab es keine festen Strafen – sie wurden immer individuell festgelegt. Aber Verrat würde nicht auf die leichte Schulter genommen werden.
Torrence legte den Kopf schief. „Zweifelst du etwa an der Wirkung meines Zaubertranks?“
„Nein“, sagte ich. „Du bist eine der besten Hexen dieser Insel. Ich bin mir sicher, dass er funktioniert.“
„Warum siehst du dann so skeptisch aus?“
„Ich versuche nur, alle Möglichkeiten zu durchdenken“, sagte ich. „Damit wir keine Fehler machen.“
„Niemand wird merken, dass wir nicht die sind, für die wir uns ausgeben“, sagte sie. „Ich kann du sein. Du kannst ich sein. Niemand weiß, dass ich weiß, wie man einen Verwandlungstrank herstellt, also werden sie gar nicht erst auf die Idee kommen, dass wir zu so etwas in der Lage sind. Außerdem sind alle viel zu sehr mit dem Jubiläumsfest beschäftigt, als dass sie mir Aufmerksamkeit schenken würden. Und was meine Mutter angeht, sie ist meine Stimmungsschwankungen gewohnt. Sie wird nichts bemerken. Und es sind nur vierundzwanzig Stunden. Was könnte in vierundzwanzig Stunden schon passieren, dass wir erwischt werden?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich, und mein Magen schlug Purzelbäume, als mir klar wurde, dass das wirklich passieren würde.
Ich würde die Welt jenseits von Avalon sehen. Sicher, es würde nur ein Bruchteil der großen Welt da draußen sein, aber das war immer noch mehr, als ich je für möglich gehalten hatte.
„Wir müssten schon sehr viel Mist bauen, um erwischt zu werden“, sagte Torrence. „Und das werden wir nicht. Du wirst L.A. sehen, und du wirst eine tolle Zeit haben. Keiner wird je erfahren, dass du weg warst.“
„Wahrscheinlich hast du recht.“ Ich tat mein Bestes, um die aufkeimende Sorge in meinem Magen zu unterdrücken.
Das war eine einmalige Gelegenheit. Wollte ich wirklich nein sagen, nur weil ich Angst hatte?
Nein, auf keinen Fall.
Also schluckte ich meine Bedenken herunter. „Du gewinnst definitiv den Preis für das beste Geschenk aller Zeiten“, sagte ich und quietschte fast vor Vorfreude.
„Wusste ich doch, dass dir das gefallen würde.“ Sie strahlte. „Jetzt gib mir deine Hand, damit ich dir Blut abnehmen kann. Verwandlungstränke sind kein Kinderspiel, und ich muss das zweite Fläschchen bis morgen fertig haben.“
– Selena –
A
m nächsten Tag teleportierte sich Torrence gleich nach dem Mittagessen zurück in mein Zimmer. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und ein unordentliches Nest von einem Dutt auf dem Kopf, so als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Aber sie ließ grinsend ihre Tasche vor mein Bett fallen, griff hinein und holte zwei Fläschchen mit leuchtend rotem Zaubertrank heraus. Eines war mit einem T, das andere mit einem S gekennzeichnet.
„Zwei Ladungen Verwandlungstrank“, sagte sie und reichte mir das Fläschchen mit dem S. „Wie versprochen.“
Obwohl sie müde aussah, wirkte sie so aufgekratzt wie immer. Eilig streifte sie T-Shirt und Hose ab und enthüllte darunter ihre hautenge, schwarze Akademieuniform. Die Uniformen waren mit einem besonderen Zauber versehen, der sie automatisch jeder Körperform anpasste. Ich trug meine bereits.
Ich öffnete mein Fläschchen und hielt es zum Anstoßen hoch. Torrence tat es mir gleich.
„Auf das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten“, sagte ich.
Torrence lächelte und prostete mir zu. „Auf vierundzwanzig Stunden voller Abenteuer.“
Wir führten die Fläschchen an die Lippen und tranken sie gleichzeitig aus.
Der Verwandlungstrank schmeckte süß, nach Himbeere, und er kribbelte auf meiner Zunge. Rasend schnell breitete sich das Kribbeln in meiner Kehle, in meinem Magen und bis in meine Finger und Zehen aus.
Torrence verschwamm vor meinen Augen, die Umrisse ihres Körpers wurden unscharf. Ihr kastanienbraunes Haar wurde blond, sie schrumpfte, und ihre aufgeweckten grünen Augen wurden violett.
Sie hatte sich in mich verwandelt.
„Wow“, sagte Torrence und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Meinen Augen. „Das ist verrückt.“
Ich stellte mich vor meinen Ganzkörperspiegel. Aber es war nicht ich, die mich in der Reflektion anschaute.
Es war Torrence.
Ich griff nach oben, um meine Wange zu berühren, und beobachtete, wie Torrence’ Spiegelbild meine Bewegung nachahmte.
„Es hat funktioniert!“, sagte ich und war überrascht von der Stimme, die aus meinem Mund kam. Es war die von Torrence, nur dass sie in ihrem Kopf etwas anders klang als sonst. Ein bisschen tiefer.
„Ich würde dir kein Geburtstagsgeschenk machen, das nicht funktioniert“, sagte sie grinsend. „Ziehst du jetzt endlich meine Sachen an? Wir haben nämlich nur vierundzwanzig Stunden Zeit, und die Uhr hat gerade eben angefangen, zu ticken.“
Nachdem ich Torrence’ Sachen angezogen hatte, teleportierte sie mich in ihr Zimmer in Los Angeles. Ich blickte mich um und entdeckte ein Regal voller Kinderbücher, eine rosa Bettdecke und dazu passende rosa Rüschenvorhänge.
Es war das Zimmer einer Zehnjährigen.
„Ich nehme an, hier hat sich nicht viel getan, seit du nach Avalon gekommen bist?“, fragte ich lachend.
„Nö.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin ja nicht so oft hier, also na ja.“
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Meine beste Freundin sah aus wie ich … aber sie hatte immer noch dieses freche Glitzern in den Augen. Meinen Augen. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich noch nie so schelmisch ausgesehen hatte.
„Tu nichts zu Verrücktes, während du ich bist“, sagte ich. „Flirte nicht mit Jungs oder so was. Klar?“
Das Letzte, was ich wollte, war nach Hause zu kommen und mich mit irgendwelchem Drama auseinandersetzen zu müssen.
„Ich verspreche, dass ich nichts so Verrücktes tun werde wie … mit Jungs zu flirten.“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme machte deutlich, dass sie Flirten nicht für besonders verrückt hielt, doch ich wusste, dass sie ihr Versprechen halten würde. „Aber ich werde Reed sagen, er sollte mal Torrence nach einem Date fragen.“ Sie zwinkerte.
„Natürlich wirst du das“, seufzte ich. Von mir aus. Torrence tat mir dieses Wochenende einen riesigen Gefallen. Wenn sie ihren Spaß haben und ein wenig mit dem heißen Magier Reed flirten wollte, dann sollte mir das recht sein.
„Er ist noch nicht verheiratet“, bemerkte sie in einem verschwörerischen Ton. „Noch ist er zu haben.“
Plötzlich riss sie den Kopf zur Seite und hob eine Hand.
Jemand ging den Flur entlang.
„Das ist meine Mutter“, zischte sie. „Ich muss abhauen. Wir sehen uns morgen!“
Sie verschwand so schnell aus ihrem Zimmer, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich zu verabschieden.
Ein paar Sekunden später klopfte Torrence’ Mutter Amber an der Tür. Ich musste daran denken, sie ‚Mom‘ zu nennen, während ich hier war.
„Komm rein“, sagte ich und versuchte, Torrence’ selbstbewussten Ton nachzuahmen.
Die Tür schwang auf, und Torrence’ Mutter stand im Rahmen. Sie trug eine helle Jeans und ein rosafarbenes Tanktop, und ihr blondes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden.
Sie hätte locker als meine Mutter durchgehen können. Jedenfalls sah sie mir ähnlicher als alle Bilder, die ich bisher von meiner leiblichen Mutter gesehen hatte. Bis auf meine violetten Augen – niemand wusste genau, wo die herkamen. Wahrscheinlich eine genetische Mutation.
„Dachte ich mir doch, dass ich dich gehört habe“, sagte sie mit einem warmen Lächeln. „Das Frühstück ist schon fertig, aber du kommst später als erwartet. Wahrscheinlich ist es inzwischen kalt.“
„Wir sind nach Selenas Geburtstagsparty bis spät in die Nacht aufgeblieben und ich habe meinen Wecker überhört“, sagte ich mit einem Schulterzucken. Torrence und ich hatten uns die Geschichte im Voraus zurechtgelegt. „Tut mir leid.“
„Keine Sorge“, sagte Amber. „Kommst du mit nach unten? Wenn du großen Hunger hast, kann ich dir auch etwas anderes machen.“
„Eigentlich hatte ich gehofft, wir könnten brunchen gehen“, sagte ich. „Und dann vielleicht an den Strand? Wir könnten einen Mutter-Tochter-Tag machen und auf Entdeckungstour gehen, so wie früher.“
„Das ist eine tolle Idee.“ Sie lächelte. „Wann willst du los?“
„Jetzt.“ Mein erster Tag jenseits der engen Grenzen von Avalon. Ich war so aufgeregt, dass ich kaum stillstehen konnte.
Das war wirklich das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten.
– Selena –
M
ein Mutter-Tochter-Tag mit Amber war fantastisch. Sie schöpfte die ganze Zeit über nicht den geringsten Verdacht. Ich hoffte, dass es Torrence auf Avalon ebenso leicht fiel, in meine Rolle zu schlüpfen.
Als wir zurück nach Hause kamen, erwarteten uns Torrence’ Tanten – Evangeline und Doreen – bereits. Wir aßen gemeinsam zu Abend auf der Terrasse. Aber schließlich wurde es spät, und die anderen verabschiedeten sich, um ins Bett zu gehen.
Ich stapfte zurück in Torrence’ Zimmer, aber ich war zu aufgedreht, um mich bettfertig zu machen. Ich hatte nur vierundzwanzig Stunden, und ich wollte keine einzige Minute davon mit Schlaf verschwenden.
Leider war das Grundstück von Toren und magischen Schilden umgeben. Und obwohl ich Lust auf Abenteuer hatte, war ich mir bewusst, wie dumm es gewesen wäre, L.A. auf eigene Faust zu erkunden. Torrence hatte mich gewarnt, dass diese Stadt gefährlich sein konnte. Vor allem nachts.
Es sah ganz so aus, als müsste ich zu Hause bleiben.
Aber nur weil ich auf dem Grundstück festsaß, hieß das nicht, dass ich in Torrence’ Zimmer bleiben musste.
Also schlich ich den Flur entlang zur Treppe. In keinem der Zimmer brannte Licht, und es waren keine Geräusche zu hören. Die drei Hexen schliefen fest.
Draußen angekommen lief ich die Einfahrt hinunter, an einem prächtigen Brunnen vorbei, und legte meine Hände auf die Metallstäbe des großen Eingangstors. Sehr zu meiner Überraschung gab die Pforte nach. Die Gitterstäbe schwangen lautlos auf, als ob sie mich dazu einladen würden, hinauszutreten.
Ich starrte überrascht auf das Tor. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen.
Neugierig trat ich durch die Öffnung und lief weiter die Einfahrt hinunter. Ich hatte kein besonderes Ziel vor Augen, aber es würde bestimmt Spaß machen, die vorbeifahrenden Autos zu beobachten. Auf Avalon gab es keine Autos, also war die Vielfalt der Verkehrsmittel in L.A. Attraktion genug.
Aber als ich am Ende der langen Einfahrt ankam, hielt ich abrupt inne. Ich war nicht allein. Ganz in meiner Nähe, bei der Einfahrt von Torrence’ Nachbarn, stand jemand mit dem Rücken zu mir. Er war groß, hatte dunkelblondes Haar und trug Jeans und eine schwarze Lederjacke.
Er drehte sich zu mir um, und in dem Moment, in dem seine strahlend blauen Augen meine trafen, entfachte sich eine Wärme in meiner Brust. Von dort aus wanderte sie in jeden Winkel meines Körpers.
Er sah ungefähr so alt aus wie ich, vielleicht ein bisschen älter. Und so intensiv, wie er mich anstarrte, fragte ich mich, ob ich wohl die gleiche Wirkung auf ihn hatte wie er auf mich.
Aber er riss sich davon los und schenkte mir ein teuflisches Lächeln, das mein Herz schneller schlagen ließ. „Torrence Devereux“, sagte er den Namen meiner besten Freundin.
Seine Stimme war wie Musik in meinen Ohren. Wie eine Sirene, die mich zu sich rief.
Wie kam es, dass Torrence ihren absurd heißen Nachbarn nie erwähnt hatte? Das passte überhaupt nicht zu ihr.
Vielleicht war er bis vor kurzem gar nicht heiß gewesen? Das passierte oft mit Jungs. Sie hatten eine unangenehme Phase, aus der sie herauswachsen mussten, und dann zack. Plötzlich heiß.
Mir fiel auf, dass ich ihn immer noch anstarrte. Ich musste etwas sagen – irgendetwas –, damit er mich nicht für einen stummen Freak hielt.
„Sind wir uns schon einmal begegnet?“, fragte ich, als ich meinen Verstand wieder einigermaßen beisammen hatte.
„Wir haben als Kinder immer zusammen gespielt“, sagte er. „Erinnerst du dich nicht mehr?“
„Das ist lange her.“ Eine bessere Antwort fiel mir nicht ein.
„Das ist es.“ Er nickte, wobei sein bezaubernder Blick an mir haften blieb. „Du bist nicht mehr oft hier, oder?“
„Ich gehe auf ein ganzjähriges Internat im Norden.“ Das war Torrence’ Tarngeschichte, da musste ich zum Glück nicht lange nachdenken. „Ich bin nur an den Wochenenden hier.“
„Verstehe“, sagte er. „Also … was hast du den Rest der Nacht vor?“
Ich warf einen Blick zurück auf das Haus von Torrence. Die Fenster im zweiten Stock waren nach wie vor dunkel.
„Nichts.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter und meine Tanten sind schlafen gegangen, aber ich war nicht müde.“
„Darum bist du also die Einfahrt hinuntergewandert.“ Er kicherte, ein wissendes Glitzern in seinen Augen.
„Ja.“ Meine Wangen wurden heiß, denn wenn man es so ausdrückte, klang meine Abendbeschäftigung lächerlich. Ich musste das Gespräch schnell von mir und meiner Verrücktheit ablenken. „Was ist mit dir?“, fragte ich. „Warum stehst du hier so herum?“
„Ich gehe aus, mit ein paar Freunden abhängen. Mein Taxi sollte hier sein in …“ Er hielt inne und schaute auf sein Handy. „Drei Minuten.“
„Oh.“ Die Erkenntnis, dass er bald aufbrechen würde, gab mir einen Dämpfer.
Natürlich war er unterwegs.
Normale Menschen stellten sich nicht mitten in der Nacht an ihre Einfahrt, um die vorbeifahrenden Autos zu beobachten.
Und ich war gerade sehr schlecht darin, so zu tun, als wäre ich Torrence. Torrence wusste immer, was sie zu Männern sagen musste, an denen sie interessiert war. Aber keiner der Jungs auf Avalon hatte je auf diese Weise mein Interesse geweckt, also hatte ich nie viel darüber nachgedacht.
Jetzt traf ich endlich jemanden, der mir den Atem raubte – und er war ein Mensch, der auf der Erde lebte. An einem Ort, an den ich niemals zurückkehren konnte. Und ich traf ihn als Torrence, nicht als Selena.
Ich hatte einfach so viel Pech.
„Willst du mitkommen?“, fragte er.
„Ausgehen?“ Ich blinzelte, weil ich mir sicher war, dass ich ihn falsch verstanden hatte. „Mit dir und deinen Freunden?“
„Ich kann meinen Freunden für heute absagen“, sagte er. „Ich meine, ich habe dich seit Jahren nicht gesehen. Wir haben viel zu bequatschen. Nur wir beide.“
Ich hatte das gar nicht bemerkt, aber während wir uns unterhielten, waren wir uns offenbar entgegengekommen. Jetzt standen wir nur noch ein paar Meter voneinander entfernt. Aus der Nähe leuchteten seine Augen noch viel heller. Sie waren eisblau, wirkten aber trotzdem irgendwie warm.
„Nur wir beide“, wiederholte ich und ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Warum eigentlich nicht? Ich hatte ja nichts zu verlieren. „Also ein Date?“
„Ja.“ Er zögerte keine Sekunde „Ich würde gerne mit dir auf ein Date gehen. Wenn es dir recht ist.“
Er sah mich an, als ob er mir bis in die Seele blicken könnte. Er wusste wahrscheinlich, dass mir ein Date mit ihm mehrals nur recht war.
Ich wollte ja sagen.
Aber mit einem Fremden auszugehen, war leichtsinnig.
Er ist kein Fremder, erinnerte ich mich. Er ist Torrence’ Nachbar. Sie haben zusammen gespielt, als sie noch Kinder waren.
Und er sah mich an, als würde ihm meine Antwort die Welt bedeuten.
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Aber war dieses Geschenk nicht genau für solche Momente gedacht? Um Erfahrungen zu machen, die ich auf Avalon nie machen würde?
Irgendetwas – vielleicht das Schicksal – zog mich zu ihm hin und drängte mich, ja zu sagen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht stark genug gewesen, um diesem Drang zu widerstehen.
„Du hast mir gar nicht deinen Namen verraten“, stellte ich fest. „Ich kann unmöglich mit dir auf ein Date gehen, wenn ich deinen Namen nicht weiß.“
„Ich heiße Julian“, sagte er, und mir lief ein warmes Kribbeln den Rücken hinunter.
„Julian“, wiederholte ich. Sein Name fühlte sich irgendwie vertraut an, wie eine alte Kindheitserinnerung. „In Ordnung, Julian. Ich würde gerne mit dir auf ein Date gehen.“
– Selena –
W
ir stiegen in das Taxi und machten es uns auf dem Rücksitz bequem.
„Planänderung“, sagte Julian zum Fahrer. „Wir fahren zum Trevi Square.“
Der Fahrer nickte, gab das neue Ziel in sein Navigationssystem ein, und wir fuhren los.
„Warum gerade zum Trevi Square?“, fragte ich Julian.
Der Sitz in der Mitte zwischen uns war leer, und ein Teil von mir wünschte sich, ich hätte mich dorthin gesetzt, nur um ihm näher zu sein.
„Das ist ein Platz in der Nähe, mit einem Brunnen und einer Reihe von Restaurants“, antwortete er. „Es ist ein cooler Ort zum Abhängen.“
Bildete ich mir das nur ein, oder sah ich ein Aufflackern von Schuld in seinen Augen? Aber dann lächelte er, und ich wusste, dass ich es mir eingebildet haben musste.
„Ich dachte, wir könnten uns ein Dessert gönnen“, fuhr er fort. „Es gibt dort tolle Eisdielen.“
Ich lächelte zurück. „Das klingt perfekt.“
„Großartig“, sagte er. „Dann auf zu unserem Dessert.“
Der Trevi Square war genau so, wie Julian ihn beschrieben hatte – eine Reihe von Restaurants mit Blick auf einen großen Brunnen in der Mitte. Der Brunnen war eine Nachbildung des Trevi-Brunnens in Rom – er war riesig, umringt von schönen Statuen von Göttern und Kreaturen der Mythologie. Ich kannte ihn von Fotos und aus Filmen, war aber natürlich noch nie am echten Brunnen gewesen.
Wir setzten uns auf eine der Bänke, die den Brunnen säumten, aßen Eiscreme und beobachteten die Leute, die vorbeiliefen und ab und zu Münzen ins Wasser warfen.
„Also“, sagte Julian, nachdem wir uns ein wenig unterhalten hatten. „Warum gehst du ausgerechnet im Norden auf ein Internat, wenn es hier in L.A. so viele großartige Schulen gibt?“
Torrence hatte sich eine Tarngeschichte ausgedacht, die ich auswendig kannte.
Aber ich wollte mich in Julians Gegenwart nicht länger verstellen. Er hatte Torrence seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen, also hatte er keine Vorstellung davon, wie sie war.
Ich wollte, dass er mich sah. Nicht Torrence. Ich konnte nichts daran ändern, dass ich wie sie aussah, aber ich wollte, dass sich dieser Abend wenigstens auf der Gesprächsebene echt anfühlte. Ich wollte, dass Julian mich so authentisch wie möglich kennenlernte – als die Person, die ich unter der Maske meiner besten Freundin war.
Ich würde ihm so viel wie möglich über mich verraten, ohne die übernatürliche Welt zu erwähnen.
„Dieses Internat ist etwas Besonderes“, begann ich und überlegte mir die weiteren Details beim Sprechen. „Es ist sehr auf Sport ausgerichtet. Weißt du, alle in meiner Familie sind supersportlich. Das erwarten sie auch von mir.“ Wenn ‚sportlich‘ hieß, dass sie alle mit Magie begabt waren, dann stimmte das sogar.
„Aber du bist dort nicht glücklich?“ Er rückte näher und sah mich an, als würde ihm meine Antwort alles bedeuten.
„Das ist es nicht“, sagte ich. „Ich bin glücklich. Alle dort sind großartig. Und ich will tolle sportliche Leistungen erbringen, so wie sie es von mir erwarten. Aber ich bin einfach …“ Ich hielt inne und suchte nach den richtigen Worten, um nicht die ganze Wahrheit zu verraten. „Ich bin nicht so begabt wie sie. Und um ehrlich zu sein habe ich langsam das Gefühl, dass ich eine Niete bin.“
„Sport ist also nicht deine Berufung“, sagte er. „Das ist in Ordnung. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, dass man plötzlich ein völlig anderer Mensch wird. Du kannst dich nur auf das konzentrieren, worin du wirklich gut bist, und von da aus weitermachen.“ Seine Antwort klang erstaunlich einfühlsam.