9,99 €
Lexi fällt aus allen Wolken: Statt mit ihr den wohlverdienten Ruhestand zu genießen, beschließt ihr Gatte Karsten, mit einer jüngeren Frau ein neues Leben in Südamerika zu beginnen. Neues Leben? Das kann sie auch. Und zwar ohne Karsten. Als Witwe zum Beispiel. Sie lässt ihn kurzerhand für tot erklären und räumt seine Konten leer. Einem feuchtfröhlichen Nachmittag in einer Hotel-Bar ist es geschuldet, dass Lexi beschließt, ihre viel zu große Wohnung mit neuen Freunden zu teilen. «Wir gründen eine Senioren-WG!», ruft sie in Champagner-Laune in die Runde. Alle stimmen begeistert zu, besonders der äußerst charmante Wolf – seines Zeichens Privatdetektiv mit einem sehr speziellen Auftrag aus Südamerika …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 277
Hortense Ullrich
Atmen Sie normal weiter
Roman
Ihr Verlagsname
«Alexa Langendorf.»
Lexi nannte nun schon zum dritten Mal ihren Namen, aber Rosita, das Mädchen hinter der Empfangstheke der gynäkologischen Praxis in der Avenida Rio Manapire in Caracas, nickte ihr nur freundlich zu und blätterte weiter in irgendwelchen Unterlagen. Parallel dazu führte sie ein Telefonat und tippte eine Nachricht in ihr Handy. Zwischendurch lächelte sie Lexi entschuldigend zu.
Lexi wollte nur ein paar Akten abholen, aber offenbar war das Ablagesystem in der Praxis nicht alphabetisch angelegt. Sie seufzte. Sie hatte sich im Lauf der Jahre an vieles gewöhnt. Sie mochte die freundliche, lebhafte und unbeschwerte Art der Südamerikaner, aber ihre deutschen Wurzeln konnte sie nicht verleugnen. Besonders wenn es um Pünktlichkeit und Organisation ging. Möglicherweise lag es auch an ihrem Alter; mit sechzig war sie vielleicht nicht mehr so chaosresistent.
Die Atmosphäre in der Praxis unterschied sich kaum von der in einem Straßencafé. Während weitere Frauen die Praxis betraten und direkt miteinander palaverten, liefen ihre Kinder umher, spielten und plapperten ebenfalls ununterbrochen. Lexis Spanisch war fließend, sie konnte mithalten, aber ihr Temperament war nach wie vor sehr deutsch.
Ob sie diesen Trubel und das bunte Leben vermissen würde, wenn sie wieder in Deutschland lebte? Das war heute ihr letzter Besuch in der Praxis von Dr. Ramirez, denn sie würde das Land verlassen. Vor zwanzig Jahren war sie mit ihrem Mann von Deutschland nach Südamerika gezogen. Erste Station: São Paulo. Im Laufe der Jahre ging es weiter, im Uhrzeigersinn einmal um die südamerikanische Küste: Montevideo, Buenos Aires, Santiago, Lima. Dann nach Ecuador, dort lebten sie in Guayaquil, von dort zogen sie in die kolumbianische Hafenstadt Cartagena. Inzwischen wohnten sie in Caracas.
Vor ein paar Wochen hatte ihr Mann sie mit der Mitteilung überrascht: «Lexi, ich werde mich aus dem aktiven Berufsleben zurückziehen. Wir gehen nach Deutschland zurück.» Lexi – das «I» hatte sich seit ihrer Teenagerzeit hartnäckig gehalten, und jeder ihrer Versuche, ihren Namen in Lexa umzuwandeln, als sie die fünfzig überschritten hatte, war gescheitert – war etwas irritiert, denn das kam für sie sehr unvermittelt. Und er hatte auch bereits eine Wohnung in Deutschland gekauft. Aber nachdem Lexi sich an den Gedanken gewöhnt hatte, freute sie sich auf den Umzug. Nicht auf den Umzug an sich, aber darauf, wieder in Deutschland zu leben. Und vor allem darauf, dass Karsten nicht mehr arbeiten würde, sie endlich sesshaft werden würden und nun gemeinsam ihr Leben genießen konnten.
Lexi versuchte erneut, die Aufmerksamkeit des Mädchens am Empfang zu bekommen. «Ich setze mich in den Wartebereich. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie meine Unterlagen gefunden haben.» Sicherheitshalber nannte sie noch einmal ihren Namen: «Alexa Langendorf.»
«¡No hay problema!»
«Von wegen: Kein Problem», dachte Lexi, nickte jedoch geduldig und nahm Platz. In Sicht- und Hörweite des Empfangs, damit sie Rosita jederzeit wieder ihren Namen zurufen könnte, falls es notwendig sein sollte.
Während sie in einer Zeitschrift blätterte, bekam sie am Rande mit, wie ein Paar aus einem der Behandlungszimmer kam und zum Empfang ging.
Lexi hörte, wie die Patientin sagte: «Dr. Ramirez meinte, Sie geben mir noch eine Liste mit Präparaten, die ich während der Schwangerschaft nehmen soll.»
Munter spulte Rosita den Text ab: «Hier ist eine Broschüre mit Verhaltensregeln und Empfehlungen. Folsäure ist sehr wichtig, und es gibt spezielle Vitaminpräparate für Schwangere. Alles Gute und herzlichen Glückwunsch.»
«Vielen Dank», sagte der Herr. «Wir freuen uns sehr auf das Kind. Es ist unser erstes.»
Beim Klang seiner Stimme durchfuhr Lexi ein heißer Schreck. Er klang wie … Nein, Unsinn. Dennoch sah sie auf und blickte zum Tresen. Das Paar verabschiedete sich und verließ die Praxis.
Lexi war wie paralysiert: Der glückliche werdende Vater sah aus wie Karsten. Ihr Ehemann!
«Señora Langendorf», tönte es in den Wartebereich.
Lexi reagierte nicht. Die Stimme wurde lauter, schließlich trat Rosita hinter der Empfangstheke hervor und kam auf sie zu: «Hola! Señora Langendorf!»
Lexi stand mechanisch auf, in ihrem Kopf rauschte und brummte es. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Rosita streckte ihr stolz einen Papierstapel entgegen. «Ich hab endlich Ihre Unterlagen gefunden!»
Lexi griff danach und murmelte geistesabwesend: «Vielen Dank.»
«¡Buena suerte!», rief ihr Rosita hinterher, als sie mit schweren Schritten die Praxis verließ.
Viel Glück? Glück? Das hatte sich gerade aus ihrem Leben verabschiedet.
Lexi versuchte, etwas zu fühlen. Irgendetwas. Nichts. Sie spürte nichts. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an. Und sie konnte nicht denken. Sie war nicht mal in der Lage, bis zwei zu zählen oder einen Gedanken, der ihr durch den Kopf huschte, festzuhalten.
Sie bewegte sich wie in Trance und schien keinen Einfluss darauf zu haben, wohin sie ging. Als sie an einer kleinen Grünfläche vorbeikam, meldete sich ihr Kreislauf. Ihr wurde übel. Oh, gut, sie lebte noch. Sie setzte sich auf eine Bank. Das flaue Gefühl ließ langsam nach. Und ihr Gehirn begann wieder zu arbeiten, sie erlangte die Kontrolle über ihre Gedanken zurück. Was ihr jedoch fehlte, war ein Gefühl. Irgendeins. Wut, Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Hass. Nichts. Sie war zu keinerlei Gefühlsregung fähig. Nun gut, eins nach dem anderen. Erst mal war Lexi froh, dass sie wieder denken konnte.
Hätte sie ihren Mann ansprechen sollen? Er hatte sie nicht gesehen. Er wusste nicht, dass sie wusste … Ein wenig war es ihr sogar unangenehm, dass sie einen so intimen Moment im Leben ihres Mannes mitbekommen hatte. Sie fühlte sich wie der Lauscher an der Wand. Vielleicht hatte sie sich ja auch geirrt? Aber wie wahrscheinlich ist es, den eigenen Ehemann, mit dem man seit fünfunddreißig Jahren verheiratet ist, nicht zu erkennen? Bei einem geschätzten Abstand von zehn Metern? Unwahrscheinlich. Sehr unwahrscheinlich.
Seine Worte echoten durch ihren Kopf: «Wir freuen uns sehr auf das Kind. Es ist unser erstes.» Ihr wurde wieder übel. Er freute sich auf ein Kind? Wie konnte das denn passieren? Er mochte keine Kinder. Keine fremden, keine eigenen. Auf Wunsch ihres Mannes war ihre Ehe kinderlos geblieben. «Zu viel Verantwortung, das bringt mein Leben durcheinander.» Ihr Kinderwunsch war nie stark genug ausgeprägt gewesen, um sich gegen Karsten durchzusetzen. Und nun wollte er mit dreiundsechzig Vater werden?
Und was war das mit dem Satz «Es ist unser erstes»?
Deutete das auf eine gemeinsame Zukunft hin? Sind noch mehr geplant?
Dann durchzuckte sie eine weitere Erkenntnis, die sie empörte. «Er hat eine Affäre!»
Die Gefühle waren zurückgekehrt! Und nun wusste sie nicht, in welcher Reihenfolge sie sich aufregen sollte beziehungsweise, was schmerzhafter war: das Kind oder die andere Frau?
Das Sirren in ihren Ohren wurde lauter. Ihr Kreislauf sackte ab. «Stabile Seitenlage», fiel ihr ein. Sie musste sich hinlegen. Ihr Atem wurde hektischer. Lexi bekam Panik.
Ein Mädchen im Teenageralter blieb neben ihr stehen. Sie aß ein Tequeño, eine frittierte Käsestange. «Alles okay?», erkundigte sie sich kauend.
Lexi reagierte nicht, sie war damit beschäftigt, nicht zu sterben.
Das Mädchen betrachtete Lexi kritisch: «Sie hyperventilieren.»
Lexi stöhnte auf.
«Kenn ich, hab ich auch manchmal», sagte das Mädchen, zog das letzte Tequeño aus der Papiertüte und reichte sie Lexi. «Atmen Sie in die Tüte.»
Lexi tat es gehorsam. Zuerst kamen ein paar Krümel und dann der Kassenzettel. Sie hustete, nahm die Tüte von Mund und Nase, spuckte den Kassenzettel aus und schüttelte die Krümel aus der Tüte.
«Ups!» Die junge Samariterin kicherte entschuldigend.
Lexi atmete ein paar Minuten in die Tüte. Dann normalisierte sich ihre Atmung wieder. «Danke», murmelte sie und gab dem Mädchen die Tüte zurück.
«Besser?»
«Ja.»
«Kann ich noch etwas für Sie tun?»
«Nein. Das war wirklich sehr lieb von dir.»
«Kein Thema», winkte das Mädchen ab. «Ich muss jetzt gehen. Bleiben Sie noch einen Moment liegen. Und atmen Sie normal weiter.»
Nach einer Weile setzte sich Lexi wieder auf. Es ging ihr besser. Vor allem deshalb, weil ihr eingefallen war, dass es gar nicht Karsten gewesen sein konnte, den sie da eben in der Praxis gesehen hatte, denn ihr Mann war ja seit zwei Tagen in La Guaira und würde erst heute Abend wiederkommen. Karsten war überhaupt nicht in der Stadt! Wäre ihr das mal gleich in dem Moment eingefallen, als sie Karstens Doppelgänger gesehen hatte. Meine Güte, wie konnte sie nur so hysterisch reagieren?
Tatsächlich huschte nun ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. Karsten würde sich königlich amüsieren, wenn sie ihm heute Abend die Geschichte erzählte.
Heute Abend! Sie musste ja noch einkaufen. Karsten hatte sich ein deutsches Abendessen gewünscht. Er wollte sich langsam auf Deutschland einstimmen.
Lexis Ehemann hatte sich vor vielen Jahren in Südamerika selbständig gemacht. Dafür war keine Investition nötig gewesen, er brauchte lediglich ein Telefon, einen PC und ein Bankkonto. Karsten war der geheime Joker für Logistikunternehmen, die bei der Lösung von Einfuhrproblemen Hilfe brauchten. Ihn zu engagieren, war die beste Garantie für eine reibungslose Freistellung der Container und die Abwicklung der Zollmodalitäten. Karsten bot seine Dienste als «Agent» an, seine Telefonnummer wurde mit den Worten «Wir haben da einen Mann vor Ort» dezent weitergereicht.
«Unser Mann in Havanna», spottete Lexi gelegentlich. Es war das einzige Buch Graham Greenes, das ihr gefiel. Aber nach Havanna kamen sie nie. Karsten folgte der Auftragslage. Und so zogen sie alle paar Jahre um.
Bevor er sich selbständig machte, hatte er in Deutschland als Speditionskaufmann bei einer Logistikfirma im Bereich Seefracht gearbeitet. Sein Kundenkreis bestand aus Firmen, die ihre Waren nach Südamerika exportierten. Karsten war für die Organisation und Abwicklung zuständig. Alles lief gut. Doch nach einiger Zeit dauerte die Abfertigung im brasilianischen Hafen Santos auf einmal ungewöhnlich lange. Die Freigabe der Container zog sich hin. Die Zollabwicklung stockte. Von Frachter zu Frachter dauerte es länger, bis die Ladung gelöscht war und die Container für den Weitertransport verladen werden konnten. Zu lange. Ausgerechnet im größten Hafen Südamerikas gab es Probleme. Das war nicht gut. Karstens Firma fürchtete, Kunden zu verlieren, wenn es nicht gelingen würde, diesen Prozess zu beschleunigen. Karsten flog nach Santos, um herauszufinden, woran es lag.
Der Despachante, ein staatlich geprüfter Zollagent, der sich im Auftrag des dortigen Spediteurs um die Abwicklung vor Ort kümmerte, seufzte, hob hilflos beide Arme in die Höhe und jammerte: «Die Behörden! Die Bürokratie! Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften. Alles sehr kompliziert.»
Karsten wollte es konkreter wissen.
Der Despachante erklärte es ihm: zu hohes Containeraufkommen, zu wenig Fachkräfte. Hatte er die vorgeschriebene Mannschaft endlich zusammen, zog sich das Löschen der Ladung weiter in die Länge, da die meisten Arbeiter gar nicht wussten, was sie tun mussten. Anschließend tagelanges Anstehen für die erforderlichen Papiere – das verkürzte den Prozess auch nicht. Und weitere wertvolle Zeit ging verloren, da das Receita Federal, das Finanzamt, das auch für die Zollkontrolle verantwortlich war, am Wochenende nicht arbeitete.
Der Despachante zuckte die Schultern. «Was soll ich tun?»
An der Art und Weise, wie der Despachante dies sagte, erkannte Karsten, dass es keine Resignation war. Es bedeutete vielmehr: «Lass dir was einfallen. Ich bin offen für Vorschläge.»
Karsten horchte auf. Es lag also an mangelnder Motivation der beteiligten Parteien. Mangelnde Motivation kann monetär behoben werden. Er lud den Despachante auf ein paar Caipirinhas ein. Und am Ende des Abends besiegelten sie ihre Zusammenarbeit.
Karsten blieb ein paar Wochen vor Ort. Kam eins seiner Containerschiffe an, machte er sich mit einem gutgefüllten Umschlag auf den Weg zum Despachante, der wiederum ging mit diesem – inzwischen etwas weniger gefüllten Umschlag – zu diversen weiteren, am Prozess beteiligten Personen, und dann lief die Abwicklung wie am Schnürchen. Alles ging äußerst schnell und problemlos vonstatten. Santos war zwar teurer als die Alternativhäfen in Montevideo oder Buenos Aires, aber da die ankommenden Container nun schnellstens abgefertigt wurden, verringerte sich ihre Wartezeit auf die Verladung, was wiederum zu erheblich niedrigeren Hafenkosten führte. Die Rechnung ging auf.
Karsten gefiel der Aufenthalt in Brasilien, er konnte seine Firma davon überzeugen, dass nur mit ihm vor Ort der Despachante bei Laune gehalten werden konnte. Er zog mit Lexi nach São Paulo, knapp achtzig Kilometer von Santos entfernt. Eine äußerst lukrative Entscheidung, denn zu seinem Gehalt kamen schon bald nicht unerhebliche Nebeneinnahmen hinzu. Der Despachante hatte ihn darauf gebracht. Dieser nahm eines Tages aus dem prallgefüllten Umschlag ein paar Scheine heraus und drückte sie Karsten in die Hand; seine Art, sich für die gute Zusammenarbeit zu bedanken. Diese Geste gefiel Karsten; die Idee sogar noch besser. Er kalkulierte von nun an seinen Anteil mit ein, nahm ihn vor der Übergabe des Umschlags heraus, nahm anschließend den «Dank» des Despachante entgegen und wurde so zum Doppelverdiener. Dreifachverdiener genau genommen, denn er bezog ja auch noch sein Gehalt. Schon bald überstieg sein Nebeneinkommen sein monatliches Salär.
Doch dann führte Missmanagement in seiner Firma dazu, dass die Aufträge spärlicher wurden. Die finanziellen Einbußen bei seinen Nebeneinnahmen schmerzten Karsten sehr. Die Erkenntnis, dass andere Logistikunternehmen die gleichen Probleme hatten, und die Tatsache, dass die speziellen Gepflogenheiten in Santos kein Einzelfall waren, sondern durchaus System hatten im südamerikanischen Raum, brachte ihn auf die Idee, sich selbständig zu machen. Karsten hatte vor Ort immer schnell «seine Leute» gefunden, die dank des inzwischen legendären Umschlages dafür sorgten, dass die Container von Karstens Auftraggebern schnell und problemlos abgefertigt wurden. Karsten erledigte das sehr diskret. Zu seinem Konzept gehörte, selbst, so gut es ging, unsichtbar zu bleiben. Gelegentlich waren Wohnortwechsel nötig, die sich stets als gute Entscheidung herausstellten, da dies seinen Kundenkreis erweiterte und sein Einkommen erhöhte.
Als Lexi sich wieder gefangen hatte und von der Bank aufstand, klingelte ihr Telefon. Karsten.
«Gutes Timing», rief sie fröhlich in ihr Handy. «Ich will gerade für unser Abendessen einkaufen; hast du spezielle Wünsche?»
«Ja. Nein. Also, das ist dann ja wirklich gutes Timing, ich wollte dir nämlich sagen, dass ich erst morgen komme. Gut, dass du noch nicht eingekauft hast, mi vida.»
«Morgen erst?», echote Lexi etwas verloren. Und die hässliche Schlange des Zweifels kroch wieder unter ihrem Stein hervor. «Wieso?»
«Arbeit. Es gibt eine Verzögerung bei den Containern mit den Maschinen für die Ölförderung. Sie hängen noch im Zoll fest.»
«Oh.» Konnte doch sein, oder? Natürlich! Was hatte sie nur für zweiflerische Gedanken?! «Okay, schade. Also dann morgen?»
«Ja, bis morgen Abend. Te amo!»
«Ja», sagte Lexi nur. Und als sie sich entschlossen hatte, ihm ebenfalls ein «Ich liebe dich» zuzurufen, hatte er bereits aufgelegt.
Lexi setzte sich wieder. Das war jetzt irgendwie ungeschickt. Hatte es etwas zu bedeuten? Es wäre besser gewesen, er wäre, wie ausgemacht, heute Abend zurückgekommen.
Es verunsicherte sie. War es wirklich seine Arbeit, die ihn dort festhielt? Er war doch in La Guaira? Er hatte sie eben von dort aus angerufen. Dann konnte sie ihn nicht hier in Caracas gesehen haben. Obwohl – die Hafenstadt war nur dreißig Kilometer entfernt. Und? Was sollten all die Überlegungen?
Diese vermeintliche Begegnung in der Arztpraxis hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht. Und nun turnten alle möglichen bösen Gedanken wie wilde Affen in ihrem Kopf herum. Sie musste unbedingt damit aufhören. Er konnte es nicht gewesen sein! Aber es hatte sich so real angefühlt, ihn dort zu sehen.
Schluss jetzt!
Ihr Mann war in La Guaira und musste aus geschäftlichen Gründen noch einen weiteren Tag dort verbringen. Das war alles. So etwas kam oft vor, es war nicht ungewöhnlich. Das brachte sein Job mit sich.
Lexi hatte doch direkt eingekauft. Auch wenn das gemeinsame Essen mit Karsten erst morgen stattfinden würde. Sie hatte sich für Kohlrouladen entschieden. Während sie die Einkäufe verstaute, schossen ihr wieder die Bilder aus der Praxis durch den Kopf. Nein, nicht mehr daran denken, war doch alles geklärt. Falscher Alarm.
Doch sie fand keine Ruhe. Sie musste sich ablenken. Sie könnte etwas Ordnung schaffen. Die Dinge, die nicht mit umziehen sollten, aussortieren. Vielleicht fing sie bei Karstens Anzügen an. Vielleicht mussten ja einige noch zur Reinigung gebracht werden. Und bevor man Anzüge zur Reinigung gibt, leert man natürlich die Jackentaschen. Ja, das würde sie tun.
Nachdem sie, mit zunehmender Unruhe und ohne nennenswerte Ergebnisse, alle Taschen seiner Anzüge durchsucht hatte, kam sie nicht umhin, sich einzugestehen, dass sie ihrem Mann misstraute und auf der Suche nach Indizien für außereheliche Abenteuer war. O Gott! Sie benahm sich jämmerlich! Nein. Auf das Niveau würde sie nicht sinken.
Sie hielt inne, ging in die Küche, schenkte sich einen argentinischen Luigi Bosca ein und setzte sich ins Wohnzimmer. Doch auch der Rotwein brachte nicht die erhoffte Entspannung. Im Gegenteil, er senkte ihre Hemmungen derart herab, dass sie wieder aufstand und erst zögernd, dann immer zielstrebiger zunächst Karstens Schreibtischschubladen, seine Ordner und dann seinen PC durchsuchte.
Es war kurz nach Mitternacht, als sie ihre Arbeit abgeschlossen hatte und auf die Fakten ihres gemeinsamen Lebens mit ihrem Ehemann blickte. Sie hatte auf dem großen Esstisch alle relevanten Beweise ausgelegt. Akribisch, systematisch, in zeitlicher Reihenfolge. Kopien von E-Mails, Ausdrucke der geführten Telefonate, Hotelrechnungen, Restaurantquittungen. Es war, als habe sie gerade ihr Leben gepuzzelt, und das Bild, das sich ergab, war nicht das, das sie stets im Kopf gehabt hatte. Es war ein völlig anderes Leben.
Die stundenlange Detektivarbeit hatte sie gleichmütig werden lassen. Eine innere Ruhe war eingekehrt. Sie war nicht schockiert, sondern verblüfft. Es hatte etwas Irreales, so als ob es sie gar nicht betraf.
Sie öffnete die zweite Flasche Luigi Bosca. Erstaunlich, dass sie nicht betrunken war, aber die neugewonnenen Erkenntnisse hatten sie ziemlich ernüchtert.
Sie blickte auf das Etikett der Flasche und fragte: «Luigi, was tun wir jetzt?» Luigi antwortete nicht. Sie setzte das Gespräch dennoch fort. «Mein Mann ist ein Betrüger.»
Das Bild, das sich abzeichnete, war kein schönes.
Karsten hatte offensichtlich in jeder Stadt, in der sie gelebt hatten, Verhältnisse gehabt. Und wenn sie die Indizien richtig interpretierte, war der Grund, weshalb sie immer wieder umzogen, nicht geschäftlich bedingt, sondern privat: zu viele Affären in derselben Stadt; das gab Ärger. Vor allem – wie dämlich kann man sein! – waren seine Geliebten oft die Ehefrauen seiner Kontaktleute. Das ging aus den Hassmails und Drohmails hervor, die ihm seine Geschäftspartner geschickt hatten. Wenn sie ein Land verließen, war es also weniger ein Umzug als vielmehr eine Flucht gewesen.
Wieso hatte er all das Zeug überhaupt aufgehoben? Hatte er vor, seine Memoiren zu schreiben?
Lexi seufzte und sagte zu Luigi: «Mein Mann ist ein dämlicher Hund! Nein, warte, ich mag Hunde. Sagen wir Ochse. Nein, jedes Tier ist noch zu gut für ihn. Sagen wir … Wurm. Auch ein Tier. Ich hab’s: Er ist das Exkrement eines Wurms. Hach, besser noch: die Bazille auf dem Exkrement eines Wurms.»
Luigi widersprach ihr nicht.
Sie seufzte. Sie konnte also aufhören, sich einzureden, es wäre nicht Karsten gewesen, den sie mit der schwangeren Frau gesehen hatte. Es war Karsten! Mit einer anderen Frau!
Was tut man, wenn man herausfindet, dass der eigene Ehemann einen betrügt?
Natürlich wusste Lexi, was man tut. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, dass man seinen Mann in einem solchen Fall verlässt. Aber tut man das auch noch in ihrem Alter? Ändert das Alter etwas daran?
Gab es vielleicht auch die Möglichkeit, einfach die Augen zu verschließen und so zu tun, als wüsste man es nicht? Karsten hatte sich ja viel Mühe gegeben, es vor ihr geheim zu halten, also wäre es doch logisch, dass sie keine Ahnung hatte. Meine Güte! Sie hatte ja wirklich keine Ahnung gehabt! Wieso war ihr nie etwas aufgefallen? War sie so naiv? Alles eine Lüge, ihr ganzes Leben eine einzige Lüge! Sie wollte sich nun leidenschaftlich in ein Meer von Selbstmitleid stürzen, aber es gelang ihr nicht, sie war einfach zu fassungslos. Bis heute war ihr Leben mit Karsten perfekt gewesen. Er war stets charmant und liebevoll zu ihr, sie stritten sich nie, hatten keine Geldprobleme, es gefiel ihr, immer mal wieder in einem anderen Land zu leben, sie war zufrieden, es war alles gut. Aber würde ihr das helfen, weiter mit Karsten zusammenzuleben? Nein! Jetzt ging es nicht mehr. Nachdem sie vom Apfel der Erkenntnis gekostet hatte, war sie raus aus dem Paradies. Und es führte kein Weg zurück in die Unwissenheit.
Wieso hatte Karsten das getan? Wie konnte er in dem Bewusstsein, dass er sie tagtäglich betrog, mit ihr zusammenleben? Hatte er denn kein Gewissen? Was für ein Mensch tat so etwas?
Halt! Auch diesen Weg würde sie jetzt nicht gehen. Das würde sie auf gar keinen Fall analysieren. Es ging nicht um Karsten, es ging um sie. Was sollte sie nun tun?
Rache?
Hm. Nein, dazu war sie nicht der Typ. Außerdem hatte sie auch keine geniale Idee für einen Racheplan.
Was dann?
Vielleicht die ganze Angelegenheit sachlich angehen?
Trennung. Finanzverhandlungen. Neustart.
Neustart? Mit sechzig? O Gott!
Ihr Körper zeigte eine unmissverständliche Reaktion: Panik. Besser schon mal eine Tüte zur Hand nehmen. Da sie auf die Schnelle keine Tüte fand, entschied sie sich für ein weiteres Glas Rotwein. Das ging auch.
Sie bemühte sich, noch einmal zu den Fakten zurückzukehren: Karsten betrog sie seit Jahrzehnten. Seine Belle de Jour war nun schwanger. Sie schluckte, und heiß schoss ihr das Blut durch die Adern. Aha, da saß der Stachel. Es war die Schwangerschaft und die Tatsache, dass Karsten sich offensichtlich darüber freute, was sie wütend machte. Das empfand sie als größten Betrug. Nein, das würde sie ihm nicht verzeihen. Dass er mit ihr nie Kinder wollte, sich aber jetzt mit dreiundsechzig noch einmal fortpflanzte und sich darüber auch noch freute, das war der Tropfen, der für Lexi das Fass zum Überlaufen brachte. Nein! Nicht mit ihr. Sie würde aussteigen aus der «Bis-dass-der-Tod-euch-scheidet»-Nummer. Sie wollte die Scheidung!
Als ihr klarwurde, was ihr da bevorstand, musste sie doch beruhigende Atemübungen machen. Würde Karsten einer Scheidung zustimmen? Ging es ohne Stress und Rosenkrieg? Was würde aus ihrem Umzug nach Deutschland werden?
Da schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Kopf: War der Umzug nach Deutschland auch wieder eine Flucht? Vor der Vaterschaft? Vielleicht wollte er einen echten Neuanfang in Deutschland? Ohne Affären. Ohne Kind. Nur mit ihr. Hatte ihn die Schwangerschaft vielleicht zur Vernunft gebracht? Was, wenn er ihr all seine Verfehlungen gestehen und sie um Vergebung bitten würde? Wenn er ihr sagen würde, dass er immer nur sie geliebt hat und nun mit ihr ein neues Leben anfangen wolle?
Sollte sie ihm dann verzeihen? Könnte sie das? Aber viel wichtiger war doch: Wollte sie das überhaupt?
Sie hatte keine Ahnung.
Wie würde das neue Leben denn aussehen? Was würde sich ändern? Was würde er ändern? Würde er sich ändern?
Würde sich ihr Leben denn ändern, wenn es weiterhin ein Leben mit Karsten wäre?
Er war all die Jahre der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen, hatte alle Entscheidungen getroffen, und sie hatte sich darauf beschränkt, für ihn da zu sein und ihm ein schönes Zuhause zu bieten. Sie hatte es sogar versäumt, sich Hobbys oder einen Freundeskreis zuzulegen. Sie hatte Karstens Leben mitgelebt und musste nun erkennen, dass sie nicht nur kein eigenes Leben hatte, sondern noch nicht einmal wusste, was für eine Art Leben sie eigentlich wollte. Karsten war ihr Leben.
Verflixt, wie war das denn passiert?
Lexi war nervös. Karsten würde in einer halben Stunde nach Hause kommen. Sie hatte nach einer schlaflosen Nacht und einem sehr unruhigen Tag immer noch keine Entscheidung getroffen. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte und was sie tun würde. Konnte sie sich ganz normal verhalten und abwarten? Würde er ihr ansehen, dass sie es wusste?
Karsten kam, küsste sie, machte ihr Komplimente, sagte ihr, sie sähe wundervoll aus und er habe sie vermisst. Er überreichte ihr den obligatorischen Rosenstrauß, den er, wo immer er herkam, nie vergaß, und küsste sie erneut. Unglaublich. Alles war wie immer. Er wich keinen Millimeter von seiner Routine ab.
Das Essen war fertig, der Tisch war gedeckt, Karsten nahm Platz und schnupperte genießerisch. «Riecht vielversprechend!»
Als sie die Schüsseln auf den Tisch stellte, rief er erfreut: «Kohlrouladen! Mucho gusto, mi amor!» Er nickte ihr zu und begann zu essen.
Lexi aß nichts, aber das fiel ihm nicht auf. Sie erkundigte sich nach seiner Arbeit, er berichtete Belangloses. Aufmerksam beobachtete sie ihn. War ihm irgendetwas anzumerken? Woran erkennt man, dass der Ehemann auf Abwegen ist? Gab es dafür eindeutige Anzeichen? Verhaltensveränderungen? Sie fand nichts Ungewöhnliches. Vielleicht war er tatsächlich zu routiniert, um sich durch dies oder jenes zu verraten?
Während er kaute, sagte er plötzlich: «Hör mal, vielleicht verschieben wir das mit unserem Umzug nach Deutschland noch mal.»
«Bitte?» Damit hatte sie nicht gerechnet.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit.
«Wieso?», fragte sie misstrauisch.
«Wieso was?»
«Wieso du den Umzug verschieben willst!» Sie klang unbeabsichtigt schroff und ungehalten.
Er sah erstaunt auf. «Ist was?»
«Nein. Aber wieso willst du auf einmal unsere Pläne aufgeben?»
«Nicht aufgeben. Nur fürs Erste aufschieben. Es haben sich neue Entwicklungen ergeben. Ich kann jetzt hier nicht weg. Weißt du, es ist nämlich so …»
Ihr wurde übel.
Der Grund ist das Kind, dachte sie. Wieso traf sie das so sehr? Sie wusste es doch. Aber nun hatte sie auf einmal Angst davor, dass er es aussprechen würde. Sie wollte es nicht hören, weil sie nicht darauf reagieren wollte. Plötzlich hatte sie Panik, er würde ihr alles gestehen. Um das zu verhindern, rief sie schnell: «Kein Problem. Bleiben wir halt hier.»
Er schien verblüfft, er hatte wohl mit mehr Widerstand gerechnet.
«Gut», nickte er. «Ich habe nämlich gestern noch ein paar sehr lukrative Aufträge bekommen, leicht verdientes Geld, das nehme ich noch mit.»
Lexi entspannte sich erstaunlicherweise. Aha. Er würde sie also weiter belügen.
«Wie lange, glaubst du, bleiben wir noch hier?», tastete sie sich vorsichtig vor.
«Ein paar Jahre.»
Sie verzichtete auf einen Kommentar, nickte nur.
«Und was ist mit der Wohnung?»
«Welche Wohnung?»
«Die Wohnung in Deutschland, die du gekauft hast.»
«Ach so. Die behalten wir natürlich. Für später. Ich werde den Makler anrufen und ihm sagen, er soll sie vorläufig vermieten.»
Sie nickte bedächtig.
«Also läuft alles so weiter wie bisher?», fasste sie zusammen.
Er lächelte sie liebevoll an. «Ja, mein Schatz.»
Lexi biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Sie konnte ihn nicht ansehen.
«Alles läuft so weiter wie bisher», echote es in ihrem Kopf. Sicher. Wieso auch nicht? Karsten würde an diesem für ihn perfekten Arrangement nichts ändern wollen. Ihr Leben drehte sich um Karsten, Karstens Leben drehte sich um Karsten. Ihre Gemeinsamkeit war: Sie beide wollten Karsten glücklich machen. Sie hatte das auch die ganzen Jahre für ihre Hauptaufgabe gehalten. War er unterwegs, so hatte sie sich und die Wohnung auf seine Rückkehr vorbereitet. Sie war stets bestrebt, seine Stimmung auszuloten und entsprechend darauf zu reagieren. Sie wollte ihn glücklich machen, denn wenn er glücklich war, hatte sie das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, und das war ihre Belohnung. Sie führten durchaus anregende Gespräche, deren Themen Karsten vorgab. Politik und Geschichte. Das waren seine Lieblingsthemen und deshalb auch ihre. Aber interessierte sie sich wirklich dafür? Eigentlich nicht. Aber Karsten war immer so enthusiastisch dabei, also las sie brav täglich ein paar Zeitungen, studierte Geschichtsbücher, um ihm eine perfekte Gesprächspartnerin zu sein.
Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob er eigentlich je danach gefragt hatte, wie es ihr ging. Nein. Aber da sie sich ja bemühte, stets gut gelaunt zu sein, gab es für ihn auch keinen Grund. In den wenigen Situationen, in denen sie mal schlecht gelaunt war, zog er seine Aufmerksamkeit von ihr ab – und das führte dazu, dass sie sich schlechte Laune verkniff.
Während sie also damit beschäftigt gewesen war, sich zu überlegen, wie sie sein Leben angenehm gestalten konnte, hatte er auch dafür gesorgt, sein Leben angenehm zu gestalten. Mit anderen Frauen.
Was sie jetzt besonders erschütterte, war die Tatsache, dass es ihn nicht im Geringsten belastete. Dass er sie freundlich anlächeln und über ihre gemeinsame Zukunft sprechen konnte, während eine andere Frau gerade sein Baby austrug. Wie abgebrüht er doch war! Er belog sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
Sie hielt es nicht länger aus, sie musste das Zimmer verlassen. Abrupt stand sie vom Tisch auf, rief: «Mein Handy klingelt!», und flüchtete ins Schlafzimmer.
Sie setzte sich aufs Bett und stellte fest, dass sie zitterte.
Mist, jetzt bloß nicht heulen!
Als sie Schritte hörte, erschrak sie. Was nun? Hektisch suchte sie nach ihrem Telefon, fischte es aus ihrer Handtasche und hielt es sich ans Ohr. Da sie vor Aufregung rot wurde, drehte sie sich mit dem Rücken zur Tür. Sie sollte etwas sagen. Mit ihrem imaginären Anrufer reden.
«Aber nein, du störst nicht, ich freue mich, dass du anrufst …» Wer würde sie anrufen? Sie brauchte einen Namen. «… Benita.»
Es war der Name ihrer Friseurin. Sie hörte, wie er ins Zimmer trat, und intensivierte ihr fingiertes Gespräch. «Mir geht es blendend. Karsten ist gerade aus La Guaira zurückgekommen.»
Er umfasste sie liebevoll von hinten und drückte ihr einen Kuss auf den Nacken. Nein, das würde sie jetzt nicht ertragen. Es gab einen Ausweg.
«Jetzt gleich?», flötete sie ins Telefon. «Ich frag Karsten mal. Treffen wir uns im …»
Ihr Handy klingelte. Er ließ sie erstaunt los, sie zuckte ertappt zusammen, nahm das Gerät vom Ohr und sah es an.
«Es klingelt, während du redest?», erkundigte er sich.
Sie sah ihn hilflos an. «Versteh ich auch nicht.»
«Wer hat angerufen?»
«Benita.»
Sollte er denn jetzt nicht fragen, wer Benita war?
Das Telefon klingelte weiter.
«Willst du nicht drangehen?»
Sie sah auf das Display. Maria, ihre Haushaltshilfe, die jeden Vormittag zu ihr kam.
«Nein.» Sie drückte den Anruf weg, denn sie konnte sich denken, wieso Maria anrief. Maria behauptete in regelmäßigen Abständen, dass sie ihren Dienst nicht antreten könne, weil sie ihre kranke Mutter auf Isla Margarita besuchen müsste. Lexi wusste, dass Marias Mutter nicht auf der mondänen Insel lebte, sondern dass die Familie, für die Maria nachmittags arbeitete, dort ein Ferienhaus hatte und Maria mitnahm, wenn sie dahin fuhren.
Und da hatte sie eine Idee, wie sie kurzfristig Abstand zwischen sich und Karsten bringen könnte.
«Maria hat gefragt, ob ich mit ihr nach Isla Margarita fahre. Für drei Wochen. Ist das okay für dich?»
«Maria?»
Sie zuckte ertappt zusammen und wurde rot, als sie sich korrigierte. «Ähm, nein, Benita.»
Er überlegte.
Lexi schluckte und wartete gebannt ab.
«Sicher, fahr nur, mein Schatz», sagte er schließlich. «Was immer dich glücklich macht …»
Lexi war verblüfft, dass es so leicht ging. Kein Widerspruch? Keine weiteren Fragen? Sie war gekränkt. Es schien ihm wohl ganz recht zu sein, wenn sie nicht zu Hause war. Vielleicht würde sie morgen wirklich wegfahren. Oder in ein Hotel gehen.
Er umarmte sie wieder. Sie erstarrte. Sie hielt es nicht länger aus. Sie musste die Wohnung auf der Stelle verlassen. Sie wand sich aus seiner Umarmung und sagte: «Ich hab Benita versprochen, dass wir uns gleich noch mal treffen.»
«Heute Abend?»
«Ja. Wir fahren morgen ganz früh los.»
«Wo trefft ihr euch denn? Soll ich dich hinbringen?»
«Nein, Benita holt mich ab.»
Und bevor Karsten noch etwas sagen konnte, schnappte Lexi ihre Handtasche und stürmte aus der Wohnung.
Sie rannte immer zwei Stufen nehmend, bis ihre Knie versagten und sie sich erst mal setzen musste.
Sie hätte den Aufzug nehmen sollen. Aber das Bedürfnis, sich räumlich von Karsten so schnell wie möglich zu entfernen, ließ ein Warten nicht zu.
Der Aufzug hielt auf der Etage, auf der sie zusammengekauert auf der Treppe saß. Eine Frau trat heraus und ging zu einer der Wohnungstüren. Dann entdeckte sie Lexi und fuhr zusammen.
«Gott, haben Sie mich erschreckt.»
«Tut mir leid.»
«Alles okay?»
«Ja, ja.»
«Zu wem wollen Sie denn?»
«Ich wohne hier im Haus.»
«Aha.»
Die Frau sah Lexi abwartend an. Lexi fühlte sich zu einer Erklärung verpflichtet.
«Ich, ähm, warte auf eine Freundin.»
«Im Hausflur?»
«Ähm. Ja. Ich hatte ihr die falsche Etage genannt, auf der sie aussteigen soll. Deshalb warte ich hier auf sie.»
«Ah ja», nickte die Frau etwas unschlüssig.
Lexi lächelte ihr zu und sagte: «Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.»
Die Frau zuckte die Schultern und ging in ihre Wohnung.