Auf dem Weg zur Cyberpolis - Martin Donner - kostenlos E-Book

Auf dem Weg zur Cyberpolis E-Book

Martin Donner

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der soziale, kulturelle und politische Prozess der Digitalisierung hat neue Gemeinschafts- und Bildungsformen denkbar werden lassen, die u.a. durch drei Szenen entscheidend geprägt wurden: die kybernetisch-künstlerischen Hintergründe der PC-Kultur als Basis des Silicon Valley, die Popularisierung des Internets in den 1990er Jahren und aktuelle Entwicklungen, die unter dem Begriff des digitalen Nomadentums gefasst werden. Martin Donner und Heidrun Allert fragen vor dem Hintergrund der damit verbundenen Verschiebungen der Gemeinschaftsverständnisse nach praxistauglichen Gestaltungsmöglichkeiten der digitalen Gesellschaft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1062

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie mit Mitteln der Open Library Community Medienwissenschaft 2022 im Open Access bereitgestellt.

Die Open Library Community Medienwissenschaft 2022 ist ein Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften:

Vollsponsoren: Humboldt-Universität zu Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz | Technische Universität Berlin / Universitätsbibliothek | Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum | Universitäts- und Landesbibliothek Bonn | Staats- und Universitätsbibliothek Bremen | Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt | Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB Dresden) | Universitätsbibliothek Duisburg-Essen | Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf | Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main | Albert-Ludwigs- Universität Freiburg / Universitätsbibliothek | Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen | Universitätsbibliothek der FernUniversität in Hagen | Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek | Karlsruher Institut für Technologie (KIT) – KIT-Bibliothek | Universitätsbibliothek Kassel | Universitätsbibliothek in Landau | Universität zu Köln, Universitätsund Stadtbibliothek | Universitätsbibliothek Leipzig | Universitätsbibliothek Mannheim | Universitätsbibliothek Marburg | Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München | Fachhochschule Münster | Universitäts- und Landesbibliothek Münster | Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg | Universitätsbibliothek Siegen | Universitätsbibliothek Vechta | Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar | Jade Hochschule Wilhelmshaven/ Oldenburg/Elsfleth | Zürcher Hochschule der Künste | Zentralbibliothek ZürichSponsoring Light: Universität der Künste – Universitätsbibliothek | Freie Universität Berlin | Fachhochschule Bielefeld, Hochschulbibliothek | Hochschule für Bildende Künste Braunschweig | Fachhochschule Dortmund, Hochschulbibliothek | Technische Universität Dortmund / Universitätsbibliothek | Bibliothek der Pädagogischen Hochschule Freiburg | Hochschule Hannover – Bibliothek | Landesbibliothek Oldenburg | Akademie der bildenden Künste Wien, Universitätsbibliothek | ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, HochschulbibliothekMikrosponsoring: Filmmuseum Düsseldorf | Bibliothek der Theologischen Hochschule Friedensau | Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater Hamburg | Hochschule Hamm-Lippstadt | Bibliothek der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover | ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe Bibliothek | Hochschule Fresenius | Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF – Universitätsbibliothek | Bibliothek der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (FHWS)

Martin Donner, Heidrun Allert

Auf dem Weg zur Cyberpolis

Neue Formen von Gemeinschaft, Selbst und Bildung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Martin Donner, Heidrun Allert

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5878-1

PDF-ISBN 978-3-8394-5878-5

EPUB-ISBN 978-3-7328-5878-1

https://doi.org/10.14361/9783839458785

Buchreihen-ISSN: 2702-8852

Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

EinleitungMartin Donner und Heidrun Allert

Zu den Kapiteln

Abschließende Anmerkungen und Danksagungen

1Zur Polyvalenz von Optimierungsspielen: Kybernetik und neue künstlerisch-ästhetische Medienpraktiken in den 1960er JahrenMartin Donner

Kontexte einer medieninduzierten Ästhetik

Ken Kesey und die Merry Pranksters – Prototypen multimedialer Selbstprogrammierung

Die Aktionskunst der Pranksters als subversive Optimierung der Optimierung

Optimierungsspiele

Subjekt-Politik

Spielmächtige

2Zur Genese der Cyberpolis-Medien Internet und Personal ComputerMartin Donner

Die Stanford-Labore und Stewart Brands Metamorphose vom Teilzeit-Prankster zum ›Hacker der Zivilisation‹

Militärische Finanzierung trifft auf wissenschaftliches Know-how: Die Geburt eines neuen Managementstils und eines ›intergalaktischen Computer Netzwerks‹

Vom ARPANET zum Internet

Der PC als Selbstbildungs- und Selbstorganisationsmaschine

Die Konvergenz von Personal Computer und Internet

Zur Rolle der Computer-Counterculture für die Leitmedien einer Cyberpolis

Das Subjekt der Politik und seine Infragestellung durch die kybernetischen Medien

3Die 1990er Jahre – auf dem Weg zur CyberpolisMartin Donner

Wachstum und ›Governance‹-Strukturen des privatisierten Internets

Kybernetisches Hintergrundrauschen

Manifeste

Bedenken und kritische Analysen

Überwachung und verdeckte Formen der ›Governance‹

Adaption und Rezeption des Internets in der deutschen Netz-Community

›Hacking‹ als transformatorische Bildungsform

Warum ›Cyberpolis‹?

42022: Selbstregieren als Cyberpolis – eine StudieHeidrun Allert

Einführung

Die Lebenspraxis Digitaler Nomad:innen

Inhärente Logik und theoretische Axiome

Gesellschaftlich sein

5Formen von Gesellschaft, Selbst und BildungMartin Donner

Drei Dekaden der Kybernetisierung unter dem Primat der Ökonomie

Zur Fiktion der Autonomie: Metakybernetik und Selbst

Soziotechnische Gesellschaftsvisionen

Bildungsvisionen

Verzeichnis der Abkürzungen

Abbildungsverzeichnis

Dokumentationen und YouTube-Quellen

Literatur

Einleitung

Martin Donner und Heidrun Allert

Die gesellschaftliche Transformation durch vernetzte digitale Technologien ist überall greifbar: in Lebenspraxen, Selbstentwürfen, Weltzugängen, Metaphern, Denkschemata und allerlei propagierten Gesellschaftsvisionen. Verantwortlich für diese Transformation und das damit einhergehende neue »Sinnregime« ist nach Erich Hörl eine »kybernetische Umwälzung der menschlichen Wirklichkeit« durch hochtechnologische Objektkulturen und Infrastrukturen, »die nunmehr das Gesicht und die Logik der Kybernetisierung auszeichnen«.1 Das vorliegende Buch geht dieser Umwälzung nach, indem es mit Blick auf konkrete Praktiken, Lebensstile und Visionen einige Szenen beleuchtet, in denen sich die kybernetische Transformation von Gesellschaft, Selbst und Bildung im Kontext von historisch situierten soziotechnischen Konstellationen emergent entfaltet. In den Blick genommen werden dabei insbesondere das Internet und die Möglichkeitsbedingung seiner Verbreitung, der Personal Computer. Durch das Erinnern an deren Entwicklungskontexte und die damit verbundenen Visionen wird klar, dass es sich beim Weg zu einer ›Cyberpolis‹ um eine hochgradig polyvalente Entwicklung handelt, die von sozioökonomischen Bedingungen und Machtverhältnissen geprägt aber nicht determiniert wird. Gerahmt werden die vorgestellten Szenen mit aktuellen Diskursen, kultur- und medientheoretischen Hintergründen sowie mit soziologischen, gesellschaftspolitischen und bildungstheoretischen Perspektiven. Denn auch Rechtfertigungsordnungen, Selbstbeschreibungen und Zukunftsvisionen wirken performativ an den emergierenden soziotechnischen Konstellationen mit.

Ohne die als ›Kybernetisierung der Gesellschaft‹ gerahmten Szenen und ihre jeweiligen Hintergründe wird die gegenwärtige Kultur der Digitalität nur schwer verständlich.2 Auch die Kybernetik selbst scheint erst durch den Blick auf ihre konkrete soziotechnische Kontextualisierung in ihrer ganzen Vieldeutigkeit und ihrer Produktivität auch hinsichtlich möglicher Alternativen zum Status quo auf. Der Blick auf die historischen Kontexte zeigt zum einen, dass die Technologien und Theorien, die zur Grundlage von kybernetischen Poleis werden, engstens mit Fragen und Praktiken der (Selbst-)Bildung und Visionen einer ›Reprogrammierung der Gesellschaft‹ verbunden sind. Zum anderen wird klar, dass diese Visionen stark divergieren und sowohl emanzipatorisch-egalitäre als auch höchst totalitäre Züge tragen können. In einer Zeit, die so sehr von der hektischen Betriebsamkeit des Status quo dominiert wird, dass sie historische Zusammenhänge und Entwicklungslinien oft kaum mehr zur Kenntnis nehmen kann, geht es uns darum, diese in kompakter Form wieder ins Bewusstsein zu rufen und sie für wichtige aktuelle Debatten fruchtbar zu machen. Dadurch erhoffen wir uns, dass der Status quo der Digitalisierung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen besser eingeordnet, in historisch informierter Weise diskutiert und vor diesem Hintergrund auch in Bezug auf alternative Gestaltungsmöglichkeiten reflektiert werden kann, was insbesondere im letzten Kapitel entwickelt wird.

Die Kapitel sind so geschrieben, dass sie nicht unbedingt der Reihe nach gelesen werden müssen. Wer mediengeschichtlich versiert ist, wird sicher einiges wiedererkennen, aber durch die spezifische Rahmung auch neue Perspektiven entdecken. Wer bislang vor allem an gesellschaftspolitischen und bildungstheoretischen Fragen interessiert war, wird diese stellenweise neu kontextualisiert sehen und sie besser mit medienwissenschaftlichen Debatten in Verbindung bringen können. Wir sind uns der Gefahr, die mit dieser perspektivischen Breite einhergeht, durchaus bewusst, halten es aber angesichts der »technologischen Bedingung« unserer Zeit für unabdingbar, dieses Risiko einzugehen.3 Denn auch die Kybernetik selbst ist schließlich als eine Universalwissenschaft und als ein ›epistemologisches Projekt‹ angetreten, das nicht mehr grundlegend zwischen den Domänen des Technischen und des Sozialen differenziert. Will man die Effekte dieser Grenzverwischung in den Blick bekommen, so muss man unweigerlich auf beiden Seiten recherchieren, da die eine nicht ohne die andere zu denken ist. Mit dem Ziel, eine umfassende aber dennoch kompakte Darstellung zu generieren, ist dies nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt. Dabei ist klar, dass es im Detail immer noch mehr zu sagen gäbe. Insofern will sich das vorliegende Buch zum einen als Überblick über zentrale Szenen verstanden wissen, die die gegenwärtige Kultur der Digitalität und ihre Vorstellungen von Gemeinschaft, Selbst und Bildung geprägt haben und prägen. Zum anderen eröffnet es neue Perspektiven, die als interdisziplinäre Gedankenanregung und Hinweisgeber auf die umfangreich referenzierte Literatur dienen mögen. Da es hilfreich ist, bei einem abstrakten epistemologischen Projekt wie der Kybernetik konkrete Kontexte in den Blick zu nehmen, um sich dominante Tendenzen, Ein- und Ausschlüsse, mögliche Alternativen und konkrete Verschiebungen in der Praxis vor Augen zu führen, wurden unter anderem auch Interviews mit einem Netzentwickler sowie eine Feldstudie zur Bewegung der Digitalen Nomad:innen durchgeführt, die prototypisch für aktuelle gesellschaftliche Tendenzen stehen.

Die Kybernetik trat mit dem Anspruch an, Mensch, Maschine, Gesellschaft und Natur mit derselben Hand voll an Konzepten aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften zu rekonstruieren. Dazu gehören »Command«- alias Steuerungs-, Kontroll- und Machtfragen, Rückkopplungsschleifen alias Feedback-Loops, die mathematische Informationstheorie als Basis der Digitaltechnologie, vernetztes systemisches Denken, Modelle homöostatischen Gleichgewichts und selbstregulierende Systeme.4 Diese sehr allgemeinen Konzepte können mit ganz unterschiedlichen Intentionen kontextualisiert und implementiert werden und es können mithin sehr verschiedene Auffassungen darüber bestehen, wie eine ›Cyberpolis‹ – eine kybernetische Polis – in Bezug auf die Gesellschaftsorganisation, die damit verbundenen Selbstkonzepte und die als relevant geltende Bildung zu denken, zu realisieren und zu regulieren sind. Poleis sind argumentative Rechtfertigungsordnungen von Gemeinschaften und damit normative Quelle für die Koordinierung sozialen Handelns. Sie verbürgen Konventionen und regeln, wann und wie bestimmtes Handeln zu rechtfertigen ist. Insofern hängen sie eng mit Macht- und Gerechtigkeitsfragen zusammen. In dieser Hinsicht adressiert das Buch nicht zuletzt die Frage, wie eine nachhaltige Polis unter den gegebenen technologischen Bedingungen aussehen könnte.

Zu den Kapiteln

Die theoretischen Grundlagen der Kybernetik entstehen bereits in den 1940er Jahren während des Zweiten Weltkriegs in den Feldern der Nachrichtenübertragung, der Regelungstechnik, der Spieltheorie, der statistischen Mechanik, der Kryptologie und der Neurophysiologie.5 Nach dem Krieg propagiert Norbert Wiener auf Basis der neuen Erkenntnisse und Perspektiven eine Universalwissenschaft, die er in Anlehnung an das griechische Wort für Steuermann ›Kybernetik‹ tauft. Sein Buch Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine und die interdisziplinären Macy-Konferenzen, auf denen die neue Universalwissenschaft auch in die Sozialwissenschaften exportiert wird, machen den Begriff bekannt.6 Gesellschaftlich positiv umgedeutet werden die neue Wissenschaft und die mit ihr verbundenen Technologien, zu denen auch die Computertechnologie bzw. die neuen ›Elektronengehirne‹ zu zählen sind, erst durch die amerikanische Counterculture, die sich in den 1960er Jahren in der Bay Area um San Francisco und im späteren Silicon Valley entwickelt. Das erste Kapitel nimmt eine Aktionskunst-Gruppe um den Schriftsteller Ken Kesey in den Blick, die dabei eine zentrale Rolle spielte. Die Happenings der Merry Pranksters sowie der von ihnen entwickelte Lebensstil prägten die Counterculture und beeinflussten auch die Entwicklungen in den Laboren der Computerwissenschaft an der Stanford University maßgeblich. Ken Kesey, um den sich die Gruppe formierte, war mit seinem Roman One Flew Over the Cuckoo’s Nest 1962 ein früher Erfolg gelungen.7 Darin verarbeitet er die Erfahrungen, die er während seines Studiums in Stanford als Proband eines obskuren und illegalen, groß angelegten kybernetischen Forschungsprogramms gemacht hatte, in dem es unter anderem um Versuche der Menschenprogrammierung unter dem Einfluss von Drogen ging. In frühkybernetischer Manier wurde das Gehirn in Analogie zu den ›Elektronengehirnen‹ jener Zeit als System begriffen, das sich mit Hilfe von Drogen und technischen Medien außengesteuert reprogrammieren lässt. Fasziniert von diesen Erlebnissen beschließt Kesey in Folge, sich mit einer Gruppe von Gleichgesinnten lieber selbst zu programmieren und diese kybernetisch inspirierten ›Selbst-Programmierungen‹, die explizit als transformatorische Bildungserfahrungen konzipiert waren, im Rahmen von Happenings und extra dafür ersonnenen Medienökologien öffentlich zur Schau zu stellen. Mit dieser antigouvernemental gewendeten Idee der Selbstprogrammierung spielten die Merry Pranksters medial höchst erfolgreich ein eigensinniges Spiel gegen den Protonormalismus ihrer Zeit und wurden zu einer zentralen Instanz der Hippie-Bewegung, über die in den ganzen USA berichtet wurde. Ihre Happenings sind zentral für den technikaffinen Strang der Counterculture und das Entstehen einer popkulturellen Medienkultur. Auf sie und die daran anschließende Computer-Counterculture in den frühen 1970er Jahren gehen die Emanzipations- und Partizipationsversprechen zurück, die mit den Informationstechnologien häufig verbunden werden. Und Basis dieser Versprechen ist im Kern ein nunmehr kybernetisiertes Subjekt- und (Selbst-)Bildungsverständnis.

Das zweite Kapitel nimmt diesen Faden auf und führt ihn weiter. Stewart Brand, ein prominentes Mitglied der Merry Pranksters, wird zu einer zentralen Schnittstelle zwischen der Counterculture und den Laboren der Computerwissenschaft in Stanford und der Region, in denen sowohl die Vorgängertechnologie des Internets als auch zentrale Technologien für den Personal Computer entwickelt werden – ein Begriff, der auf Stewart Brand höchstselbst zurückgeht und in Analogie zu den ›Selbst-Programmierungen‹ der Merry Pranksters darauf anspielt, dass es sich beim PC um eine genuine Selbstbildungstechnologie handeln soll. Viele der jungen Entwickler:innen in jener Zeit sind von der Counterculture infiziert. Zudem bietet eine Karriere in der Computerwissenschaft die Möglichkeit, durch Freistellung vom Militär dem Vietnamkrieg zu entgehen. So kommt es, dass an der Entwicklung des militärisch finanzierten ARPANET, dem Vorgänger des Internes, nicht wenige Kriegsgegner beteiligt sind. Und die für militärische Zukunftsforschung zuständige Advanced Research Project Agency versteht es sehr gut, die Politik und die ›Computer-Hippies‹, die an militärischen Zukunftstechnologien arbeiten, voreinander abzuschirmen und Bedenken auf beiden Seiten zu zerstreuen. Um die Komplexität der Entwicklung eines weltweiten Computernetzes zu handhaben und das immense Vorhaben zu einem Erfolg zu führen, wird von den im Militär üblichen top-down Planungen abgesehen. Analog zur anvisierten Technologie wird ein dezentraler Managementstil entwickelt, der auch den gegenkulturell infizierten Ingenieuren entgegenkommt und mit der Verbreitung des Internets und dem Entstehen der ›Netzwerkgesellschaft‹ in den 1990er Jahren schließlich in die allgemeinen Managementtheorien und die gesamte Arbeitswelt einsickert.8 An die positive Umdeutung der Kybernetik und ihrer Technologien durch die Counterculture schließt in den 1970er Jahren auch die Computer-Counterculture an, aus der die Personal-Computer-Bewegung, das gegenkulturell inspirierte ›Hacking‹ sowie verschiedene Graswurzel-Netzwerktechnologien und die ersten ›Sozialen Netzwerke‹ hervorgehen.9 In Anschluss an diese Bewegungen findet eine Kommerzialisierung der Computer- und Netzwerktechnologien statt, die darin mündet, dass das Internet in den 1990er Jahren schließlich privatisiert wird, nachdem bereits in den 1970er Jahren darüber nachgedacht worden war. Als Vermächtnis der Hippie- und der Computer-Counterculture können drei kybernetische Selbstkonzepte gelten: das mit mannigfaltigen Umwelten qua Feedback-Loops verwobene Pranksters-Selbst, das technophile romantische Subjekt, das glaubt, sich mit technologischer Hilfe etablierten sozioökonomischen Machtstrukturen entziehen zu können, und das gegenkulturell infizierte Hacker:innen-Selbst, das eine Art Joker der Digitalisierung darstellt. All diese Selbstkonzepte unterscheiden sich von dem Subjektverständnis, auf dem die herkömmlichen Politikverständnisse der vorkybernetischen Moderne beruhen.

Im privatisierten Internet verschmelzen alle an der Entwicklung der Netzwerktechnologien beteiligten disparaten Gruppen in einer einzigen Infrastruktur. Im dritten Kapitel werden die Strukturen des privatisierten Internets beleuchtet, mit dessen Verbreitung die Gesellschaft in den soziologischen Analysen zur Netzwerkgesellschaft wird, die von der ›New Economy‹ und einem neuen Geist des Kapitalismus geprägt ist.10 Die Privatisierung des Internets und die Entwicklung des World Wide Web, mit denen sich die gesellschaftliche Verbreitung der Netzwerktechnologien anbahnt, stellen einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Cyberpolis dar und sie finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern bauen auf bereits kybernetisierte Verständnisse von Wissen, Ökonomie und ›Governance‹ auf. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Privatisierung des Internets, mit dem auf gouvernementalen Ebenen explizit die Möglichkeit zu einer ›Neuprogrammierung der Gesellschaft‹ assoziiert wird, anders als die Entwicklungen zuvor unter dem strikten Primat der Ökonomie. Das ›Informationszeitalter‹ wird von Beginn an als ein Zeitalter der Informationsökonomien visioniert, in dem der Besitz und das Ausbeuten von Information in Bezug auf alle Gesellschaftsbereiche zu einem zentralen Motor der Ökonomie und der Reichtumsproduktion werden soll. Dies betrifft auch bislang staatlich geregelte Bereiche wie den Bildungsbereich, die Verwaltungen, die Sicherheitsbehörden usw., aber auch den Alltag der Menschen, auf den via ›Feedback-Technologie‹ Internet nun ganz neue Zugriffsmöglichkeiten bestehen. Bisher öffentliche Güter sollen privatisiert und vor staatlichen Eingriffen geschützt werden, während der Staat selbst explizit schrumpfen soll. Einerseits realisiert sich mit der gesellschaftlichen Verbreitung des Internets der Traum instantaner weltweiter Kommunikation, mit dem die Partizipation an ganz neuen Formen der Gemeinschaft möglich wird. Andererseits werden die strikt ökonomisierten Gesellschaftsvisionen schon sehr früh kritisch reflektiert, nicht zuletzt, weil damit ganz neue Formen der mehr oder weniger verdeckten und nunmehr privatisierten Steuerung von Gesellschaft und Selbst möglich werden, deren demokratiegefährdendes Potenzial bereits in den 1990er Jahren hellsichtig problematisiert wird. Auch die spezifische Rezeption und Adaption der Netzwerktechnologien in der deutschen Netz-Community wird beleuchtet. Dazu werden zum einen die Veröffentlichungen des Chaos Computer Club rezipiert und zum anderen wurden Interviews mit dem Netzentwickler und Zeitzeugen Carlo von LynX geführt, der in den 1990er Jahren an Sitzungen der Internet Engineering Task Force teilnahm und an der Entwicklung von Internet-Protokollen sowie am »rollout« der Internet-Technologie in Deutschland beteiligt war. LynX wurde im Lauf des Jahrzehnts vom Studenten zum Entrepreneur und schließlich zunehmend zum Aktivisten, der über alternative Protokolle nachdenkt, die er aus seiner europäischen Perspektive für demokratiekompatibler hält. Gegen Ende des Jahrzehnts sind informatische Konzeptmetaphern und Weltverständnisse schließlich auf breiter Front in die Gesellschaft eingesickert. Auch der Begriff des ›Hacking‹ wird universalisiert und Hacker:innen werden zunehmend als neuer (Selbst-)Bildungstyp idealisiert, dem mit geradezu heilsbringenden Hoffnungen sowohl höchstes ökonomisches als auch gegenkulturelles Innovationspotenzial zugesprochen wird. Vor dem Hintergrund all dessen schließt das dritte Kapitel mit einer Reflexion zu den sich andeutenden Cyberpoleis und gesellschaftlichen Gerechtigkeitsfragen.

Kapitel vier basiert auf einer empirischen Studie über das Phänomen der Digitalen Nomad:innen, die von 2018 bis 2022 durchgeführt wurde. Digitale Nomad:innen sind Menschen, die ortsunabhängig leben und selbständig online arbeiten. Sie sind ehemalige Angestellte im Marketing, in Gesundheits- und Handwerksberufen, IT-Unternehmer:innen, Selbstständige und frühere Hochschulangestellte oder Beamt:innen. Sie legen Wert auf gesunde Ernährung, Gemeinschaft, gewaltfreie Kommunikation, bedürfnis- und bindungsorientierte Erziehung sowie die Entfaltung ihrer Potenziale entsprechend humanistischer Werte. Die Schulpflicht lehnen sie aus pragmatischen oder ideologischen Gründen ab, denn für die Entwicklung der Persönlichkeit werden Strukturen öffentlicher Institutionen als hinderlich angesehen. Aus der privilegierten ersten Welt kommend, leben sie oft an Hotspots in Thailand, Vietnam, Panama, Costa Rica, Brasilien, Kolumbien, Bali, Montenegro, Portugal und der Türkei. Staatliche Institutionen und demokratische Staaten werden als irreparable Systeme betrachtet – es handelt sich um eine Bewegung, die einen oft spirituell verbrämten, bedürfnisorientierten und unregulierten Kapitalismus ohne Staat propagiert. Der heute viel diskutierte digitale Kapitalismus geht nicht nur auf globale IT-Unternehmen zurück,11 sondern auch auf Individuen aus der Mitte der Gesellschaft, die behaupten, öffentliche Aufgaben wie Kinderbetreuung, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Mobilität und Absicherung besser bewerkstelligen zu können als staatliche Institutionen. Das Selbst hat die wirtschaftsliberalen Anforderungen und Zumutungen, die seit den 1990er Jahren propagiert werden, gewissermaßen so verinnerlicht und adaptiert, dass es als möglichen Weg der Verbesserung nur noch auf den Gedanken kommt, sie für sich selbst zu wenden, um auf diese Weise ›frei‹ zu werden und auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Es macht sein Selbst zum unabhängigen Unternehmen, das nicht an Staatlichkeit gebunden ist, und ahmt die Unternehmensstrategien der Steuervermeidung, des Outsourcings, des Ausnutzens von internationalen Wohlstandsgefällen usw. schlicht auf persönlicher Ebene und mit Hilfe digitaler Technologien nach. Selbstoptimierung und privatrechtlich organisierte Gemeinschaften scheinen Gesellschaft, öffentliches Recht und Institutionen entbehrlich zu machen. Legitimiert und nobilitiert wird dieses Vorgehen durch die Orientierung an der ›inneren Wahrheit‹, an Archetypen, an vermeintlich natürlichen Ursprüngen und einem spirituellen »higher-self«. Der Idealtyp ist das selbstbestimmte, selbstfürsorgliche Individuum. Potenzialentfaltung, Souveränität und Autonomie versprechen, in einem zunehmenden Individualismus mithalten zu können. Diese politische Entwicklung wird naturalistisch gerahmt als die nächste Stufe der Menschheit und als nächste Stufe des Bewusstseins. Die neue Ungleichheit, die durchaus gesehen und durch den Einsatz von Krypto-Technologien institutionalisiert wird, wird als eigene freie Entscheidung und mit dem eigenen Mindset legitimiert. Denn diese freie Entscheidung sei jedem möglich. Die Geschäftsmodelle der Digitalen Nomad:innen sind plattformbasiert, umfassen Affiliate- und Netzwerkmarketing, Coaching, »Content Creation«, Textproduktion, virtuelle Assistenztätigkeiten, Bitcoin- bzw. Krypto-Trading, -Mining und -Beratung. Coaching-Tätigkeiten liegen insbesondere in den Bereichen Ernährung, Fitness, Lernen, online Business, Auswandern, finanzielle Freiheit, passives Einkommen, ›Biohacking‹ und Spiritualität. Da Digitale Nomad:innen staatliche Regularien wie Einreise- und Steuerbestimmungen rege kommunizieren und zu ihrem Vorteil ausreizen, könnte man auch sagen, sie ›hacken‹ staatliche Logiken mit dem Ziel, auf diese Weise zum unabhängigen souveränen Individuum zu werden. Als Schöpfer:innen ihrer selbst sehen sie sich bereit, durch Chaos und Destruktion zu gehen und Sicherheit nur aus sich selbst heraus zu generieren. Sie verstehen Blockchain-basierte Kryptotechnologien nicht nur als Finanztechnologien, sondern als Werkzeuge des Regierens, als neue Formen des Organisierens und der Vergemeinschaftung. Als eine Bewegung, die aus der Mitte der Gesellschaft heraus entsteht, stehen sie prototypisch für einen Trend hin zu einem esoterisch verbrämten, nicht mehr staatlich und demokratisch gerahmten Kapitalismus, der eben nicht nur von Vorreiter:innen des Web3 und den großen Digitalunternehmen propagiert wird.

Im fünften Kapitel werden vor dem Hintergrund der dargelegten Szenen einige aktuelle politische Tendenzen und Diskurse resümiert, die sich mit der fortschreitenden Kybernetisierung und Digitalisierung verbinden und mithin in neofeudalistischen Gesellschaftsvisionen kulminieren können. Mit der zunehmenden Dringlichkeit ökologischer Fragen und dem gleichzeitigen technologischen Machtzuwachs werden die Grundfesten liberal-demokratischer Ordnungen zunehmend porös und in Frage gestellt. Dies, so die These, korreliert nicht zuletzt mit der kybernetischen Dekonstruktion der historischen Grundlage dieser Ordnungen, nämlich dem Konzept einer autonomen und oft transzendental begründeten Subjektivität, auf der die liberalen Gesellschaftsordnungen der vorkybernetischen Moderne beruhen. Die Kybernetik und ihre Technologien machen diese Fiktion faktisch obsolet. Gleichwohl wird das Konzept in politischen und ökonomischen Kontexten wider besseres Wissen weiterhin hochgehalten – immer öfter jedoch nur noch für privilegierte Minderheiten. Deutlich wird dies etwa an neofeudalistischen ›Philosophien‹ wie der sogenannten Dunklen Aufklärung, dem Anarchokapitalismus oder dem im Silicon Valley derzeit sehr beliebten Longtermismus. Die gesellschaftspolitischen und ökologischen Problemlagen spitzen sich absehbar zu, die Ressourcen werden weniger und anstatt tatsächlich tragfähige nachhaltige Alternativen zu entwickeln, werden der Sicherheitsbereich und Überwachungstechnologien ausgebaut, private Festungen errichtet und transhumanistische Ideologien gefördert, die weiterhin an der Fiktion einer autonomen Subjektivität festhalten und zur Not auch mit Gewalt durchzusetzen seien. Mit anderen Worten: Die aufgeklärt-liberale Moderne droht angesichts der Folgen, die aus dem hochgradig illusionären Konzept autonomer Subjektivität erwachsen sind, in ihr Gegenteil zu kippen. Und die kybernetischen Technologien werden in diesem Kontext wieder zunehmend – nun in sehr viel konkreteren und avancierteren Formen als nach dem Zweiten Weltkrieg – als soziale Kontroll- und Steuerungstechnologien visioniert. Diese Entwicklung ist jedoch keinesfalls zwangsläufig, sondern sie hängt mit konkreten sozioökonomischen Machtverhältnissen und implizit wie explizit beförderten soziotechnischen Visionen zusammen. Dass es auch andere Möglichkeiten gäbe, haben zumindest phasenweise Teile der Counterculture gezeigt. Die Erkenntnisse der Kybernetik selbst sind diesbezüglich indifferent. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sie in historischer Perspektive zutiefst ambivalente Phänomene gezeigt hat, die sowohl Versprechen auf Emanzipation und Liberalität im Sinne von Freiheit zur Selbststeuerung umfassen als auch gegenläufige Visionen, wie sie in neuen Formen der neobehavioristischen environmentalen Steuerung und Gouvernementalität zum Ausdruck kommen. Kybernetische Technologien folgen keinem ›Technikdeterminismus‹, sondern entfalten sich im Rahmen von historisch situierten soziotechnischen Konstellationen vor dem Hintergrund von dominanten Praktiken und Gesellschaftsvisionen, die in die Designs der Technologien eingewoben werden. Zentrale Einsichten der Kybernetik wie die konstitutive Verwobenheit von Selbst und Welt lassen sich im Rahmen von environmentalen Perspektiven manipulativ ausnutzen oder auch in neu zu gestaltende nachhaltigere Selbst- und Weltverhältnisse überführen. Ersteres führt zu vielen der gesellschaftlichen und ökologischen Probleme, die heute diskutiert werden und deren Lösung sich bislang nicht einmal in Ansätzen abzeichnet. Letzteres wäre in Anlehnung an Reckwitz und darüber hinaus tatsächlich ein Ende der Illusionen in Bezug auf eine hyperindividualisierte Spätmoderne und ihre kolonialen Selbst- und Weltverhältnisse.12 Im letzten Kapitel werden konkrete (Design-)Maßnahmen in Bezug auf ein mögliche Entwicklung der Netzwerktechnologien und der Digitalisierung vorgeschlagen, die in diesem Sinne und im Gegensatz zu neofeudalistischen Tendenzen auch unter kybernetisierten Bedingungen eine egalitäre, demokratische und ökologisch eingebettete Gesellschaft ermöglichen könnten.

Abschließende Anmerkungen und Danksagungen

Unser Dank gilt dem transcript-Verlag, der in Bezug auf den Abgabetermin des Manuskripts bei dem nicht ganz einfach einzuschätzenden Vorhaben sehr entgegenkommend und geduldig war. Bedanken möchten wir uns auch bei denjenigen, die Teile des Manuskripts gelesen und wichtige Hinweise dazu gegeben haben. Besonders zu erwähnen ist auch der Netzentwickler und Aktivist Carlo von LynX, der uns im Rahmen zahlreicher Interviews als Zeitzeuge Rede und Antwort stand und zudem wichtige Einblicke in die Entscheidungsprozesse im ›Maschinenraum‹ und den Gremien derjenigen technischen Infrastruktur gab, die unsere Gesellschaft heute so maßgeblich prägt. Die Interviews mit ihm sind in den Kapiteln drei und fünf eingearbeitet. Dank gilt entsprechend auch Martina Leeker, die einige wichtige Literaturhinweise zur weiteren Untermauerung der Argumentation gegeben hat, und natürlich unseren Lektor:innen, die den Text unter einigem Zeitdruck auf seine Formatierung hin geprüft haben. Für das Kapitel zu den Digitalen Nomad:innen danken wir Christoph Richter und Andrea Eickmeier für die Diskussion, Einordnung und Auseinandersetzung mit Thesen und Befunden.

Die Kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden. Da in manchen Abschnitten recht viele Abkürzungen für Institutionen usw. auftauchen, findet sich vor dem Literaturverzeichnis ein Abkürzungsverzeichnis. Die in den Fußnoten aufgeführte Literatur wird in den Kapiteln bei Erstnennung einmalig vollständig angegeben, dann werden Kurztitel verwendet. Die Weblinks zu den zitierten Texten und Artikeln finden sich nur im Literaturverzeichnis, um die Fußnoten nicht unnötig lang zu gestalten.

1Hörl, Erich: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: ders. Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, S. 7-53, Berlin: Suhrkamp 2011, hier S. 7, 12.

2Zur Kultur der Digitalität vgl. etwa Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Berlin: Suhrkamp 2016.

3Hörl versteht unter der technologischen Bedingung unserer Zeit »die von der Kybernetik als drittem Naturzustand eingeleitete neue sinngeschichtliche Situation im Gegensatz zur vorhergehenden technischen Bedingung, die für den organischen und dann mechanischen Naturzustand charakteristisch gewesen ist«. Vgl. Hörl: Die technologische Bedingung, S. 23.

4Ein Schema über die verschiedenen Phasen kybernetischen Denkens findet sich etwa in Hayles, Katherine: How we Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago/London: University of Chicago Press 1999, S. 16.

5Vgl. etwa Wiener, Norbert/Rosenblueth, Arturo/Bigelow, Julian: »Behavior, Purpose and Teleology «, in: Philosophy of Science, Januar 1943, 10/1, S. 18-24; McCulloch, Warren S./Pitts, Walter: »A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity«, in: Bulletin of Mathematical Biophysics, Vol. 5/1 S. 115-133. Chicago u. London: University of Chicago Press 1943; Galison, Peter: »The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetic Vision«, in: Critical Inquiry 1994, 21, S. 228-266, Chicago/London: University of Chicago Press; Roch, Axel/Siegert, Bernhard: »Maschinen, die Maschinen verfolgen. Über Claude E. Shannons und Norbert Wieners Flugabwehrsysteme«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, S. 219-230, München: Wilhelm Fink 1999; Roch, Axel: Claude E. Shannon: Spielzeug, Leben und die geheime Geschichte seiner Theorie der Information, Berlin: gegenstalt 2009.

6Wiener, Norbert: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge: The Technology Press 1948; Pias, Claus: Cybernetics|Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953, Band 1: Protokolle, Zürich/Berlin: diaphanes: 2003; ders. Cybernetics|Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953, Band 2: Essays und Dokumente, Zürich/Berlin: diaphanes 2004.

7Vgl. in deutscher Übersetzung Kesey, Ken: Einer flog über das Kuckucksnest, Reinbek: Rowohlt 1982.

8Da an der frühen Entwicklungsphase der Netzwerktechnologien ausschließlich männliche Ingenieure beteiligt waren und sich dies erst in den 1970er Jahren zu ändern beginnt, wird in diesem Satz bewusst nicht gegendert. Dies wird in ähnlich gelagerten Fällen im weiteren Verlauf des Buches so beibehalten.

9Wenn in diesem Buch von ›Sozialen Netzwerken‹ die Rede ist, so sind entsprechende technologische Plattformen gemeint. Handelt es sich hingegen um eine Referenzierung der wesentlich älteren sozialwissenschaftlichen Theoriebildung zu ›sozialen Netzwerken‹, die bereits seit den 1920er Jahren entwickelt wurde, dann wird das Adjektiv nicht großgeschrieben.

10Vgl. dazu Manuel Castells Trilogie zur Netzwerkgesellschaft, deren erster Band den Namen trägt Castells, Manuel: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Band 1, zweite Auflage, Wiesbaden: Springer VS 2017 [1996]; sowie die prominente Gesellschaftsanalyse von Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Köln: Herbert von Halem 2018 [1999].

11Vgl. etwa Staab, Philipp: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin: Suhrkamp 2019.

12Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin: Suhrkamp 2019.

1Zur Polyvalenz von Optimierungsspielen: Kybernetik und neue künstlerisch-ästhetische Medienpraktiken in den 1960er Jahren

Martin Donner

Die Geschehnisse in den 1960er und 1970er Jahren bilden eine Basis für die Entwicklung in den 1990er Jahren, in denen der Personal Computer verbreitet ist und das Internet in Form des World Wide Web kommerzialisiert und popularisiert wird. Dem geht jedoch eine lange Vorgeschichte mit vielen unabsehbaren Wendungen und Koinzidenzen voraus, die diese Entwicklung in ihrer spezifischen Form angestoßen haben. Ein wichtiger Hintergrund auf diesem verschlungenen Pfad ist die positiv konnotierte Adaption und Popularisierung kybernetischer Denkfiguren auch über die Kreise der unmittelbaren Technologieentwicklung hinaus. Ihr erster Schub erfolgte nicht über eine verbreitete gesellschaftliche Verfügbarkeit von Informationstechnologien, da diese in den frühen 1960er Jahren weder in einer allgemein zugänglichen Form existierten noch für die allermeisten Menschen attraktiv waren. Im Gegenteil: die großen Mainframe-Computer, die ursprünglich für militärische Kontexte entwickelt worden waren, bevor sie auch der Großindustrie und in der staatlichen Verwaltung zum Einsatz kamen, wirkten aufgrund der mit ihnen assoziierten Diskurse auf viele Menschen eher bedrohlich. Denn seit den 1950er Jahren wurden in den USA unter dem Begriff der Cybernation vor allem Automatisierungs- und (ökonomische) Prozessoptimierungsfragen verhandelt und Computer bzw. kybernetische Technologien, die auf automatisierter Feedback-Steuerung basierten, wurden nicht selten als Konkurrenz des Menschen oder als Mittel zu seiner Unterwerfung wahrgenommen.

Huhtamo weist darauf hin, dass die im Rahmen der Automatisierungsanliegen stattfindenden Studien zu optimalen Körperbewegungen am Fließband »were seen by many as increasing the subordination of the worker to the mechanistic principles of the machine instead of easing his task«.1 Der Begriff Cybernation verband sich mit Informationstheorie und Kontrollfragen, die ursprünglich aus militärischen Kontexten stammten. Und wenn seine großindustriellen Apologet:innen damit »a radically new and progressive relationship between the human and the machine« assoziierten, so konnte dies von vielen auch als Gefahr der Entmachtung und drohender Arbeitsplatzverlust verstanden werden, zumal die ›Elektronengehirne‹ versprachen, selbst die kognitiven Fähigkeiten des Menschen bald substituieren zu können. Huhtamo subsumiert die diskursive Situation in den 1950er Jahren mit den Worten: »Intercourse with the machine leads either to extending man’s capacities, or to his dehumanization and alienation. The machine is either a friend or a foe«.2 In Anbetracht dieser zwiespältigen Situation legt er dar, dass der geschichtsvergessene ›technorationalistische‹ Ansatz, für den allein Marktinnovationen zählen und historische Kontexte nur dann von Bedeutung sind, wenn sich neue Hard- oder Softwareideen daraus ableiten lassen, zu kurz greift. Er konstatiert: »The technorationalist approach does not suffice to give a full account of the ways in which technology is woven into the fabric of culture«.3 Denn erstens erklärt er nicht, wie Nutzer:innen in kultureller, ideologischer, sozialer und psychologischer Hinsicht eine persönliche Beziehung zu einer Technologie aufbauen, und zweitens sind kulturelle Prozesse auch in zeitlicher Hinsicht vielschichtig gestaffelte Konstruktionen, deren verschiedene Ebenen zwar miteinander in Beziehung stehen, aber durchaus unterschiedlichen Logiken folgen. So entstehen Ängste, Sehnsüchte, Erwartungen und Utopien oft nicht in unmittelbarer Verbindung mit der Entwicklung von neuen Technologien, sondern gehen diesen zum Teil schon voraus.

Die eher ablehnende Haltung gegenüber kybernetischen Technologien und Perspektiven änderte sich nicht, weil jemand neue »gadgets« erfand, von denen alle begeistert waren. Sie änderte sich vor allem mit der Umdeutung der kybernetischen Technologien durch die Counterculture der 1960er Jahre, die damit neue antihierarchische Gemeinschaftsformen, individuelle Ausdrucksmöglichkeiten und kreative Selbstbestimmung verband. Ausgangspunkt für diese sich in ihr Gegenteil verkehrende Deutung ist die Adaption von kybernetischen Perspektiven und Modellen in (aktions-)künstlerischen Kontexten. Vor dem Hintergrund kybernetischer Theorien wurden multimediale Experimente ersonnen und eine ›Multimedia‹-Kultur überhaupt erst erfunden. Die künstlerisch-ästhetische Aneignung kybernetischen Denkens durch die Counterculture bereitet den Boden für die Entwicklung des Personal Computer und der multimedial orientierten Digitalisierung, wie wir sie heute kennen.4 »We owe it all to the Hippies« schreibt Stewart Brand, ein ehemaliges Mitglied der Aktionskunst-Gruppe Merry Pranksters und Herausgeber des Whole Earth Catalog, 1995 in der Time, als er längst ein umtriebiger Silicon Valley Entrepreneur ist: »forget antiwar protests, Woodstock, even long hair. The real legacy of the sixties generation is the computer revolution«.5 Brand ist eine besonders schillernde Figur, auf die auch der Begriff Personal Computer zurückgeht, wie in Kapitel zwei zu beleuchten sein wird. Doch am Beginn stehen die psychedelischen Happenings und Medienkunst-Praktiken von Gruppen wie der avantgardistischen Us Company (USCO), eines 1964 gegründeten Künstler:innen-Kollektivs aus New York, und die nicht ganz so ›avantgardistischen‹ aber dafür popkulturell umso wirkmächtigeren von Ken Kesey und den Merry Pranksters, die im entstehenden Silicon Valley für Furore sorgten und als zentrale Events der Hippie-Bewegung gelten können.6 Die multimedial inszenierten LSD-Happenings der Merry Pranksters mit ihren Tonband-Experimenten, ihren Lichtprojektionen und ihrer elektronisch verstärkten psychedelischen Musik sind bezüglich ihrer medienkulturellen Folgen kaum zu überschätzen und die medienwirksame USA-Reise der Gruppe in einem präparierten Schulbus sorgte für weitere überregionale Öffentlichkeit. Ihre Aktionen waren Mitte der 1960er Jahre die Entwicklung der Stunde und es wurde landesweit in den Medien über sie berichtet.

Kontexte einer medieninduzierten Ästhetik

Tonband, Loop und Feedback

Eine zentrale Rolle bei den medialen Experimentalanordnungen, die von Ken Kesey und den Merry Pranksters ersonnen und sowohl in ihren Gruppenpraktiken als auch bei den Happenings eingesetzt werden, spielt eine Tonbandmaschine von Ampex, die das Zentrum ihres künstlerisch-performativen kybernetischen Räsonierens darstellt. Der Einsatz von Tonbandmaschinen in künstlerischen Settings ist prinzipiell nicht neu und fand in avantgardistischen Kunstkreisen bereits zuvor statt. Das 1928 in Deutschland erfundene und im Zweiten Weltkrieg wesentlich verbesserte Magnetophon (Tonband) war eine beliebte Kriegsbeute und wurde ab 1945 von US-Firmen wie Ampex kopiert, so dass es bald zum internationalen Standard in Rundfunkanstalten wurde. Im Vergleich zu den zuvor gängigen Wachsplatten erlaubt es wesentlich vereinfachte Aufnahmen und neue Schnitttechniken, die so bislang nicht möglich gewesen waren. Entsprechend fanden die ersten künstlerischen Explorationen des neuen Mediums auch in Rundfunkstudios statt. Diesbezüglich ist im Wesentlichen auf drei Traditionslinien hinzuweisen: Pierre Schaeffers Forschungsstelle für radiophone Kunst in Paris, aus der die musique concrète hervorging, das Studio für Elektronische Musik des NWDR um Karlheinz Stockhausen, und die Music for Tape in den USA mit John Cage als zentraler Figur.7 Ein wichtiges Merkmal des Tonbands waren die neuen Möglichkeiten des Schneidens und Klebens von Tonbandschleifen bzw. ›Loops‹. Dies erlaubte ganz neue Kompositionstechniken wie das zyklische Wiederholen und Überlagern von Geräuschfragmenten, die als Loops plötzlich nach Musik klangen. Zudem ermöglichte die Tonbandtechnik Experimente mit mehreren Aufnahme-, Wiedergabe- und Wiedereinspeisungspunkten an verschiedenen Stellen der Bandloops, womit sich verfremdende Verzögerungs- und Rückkopplungseffekte (Feedback) aller Art generieren lassen. Auf diese Weise ließ sich nun performativ mit Aufnahmen interagieren, die in einem offenen Prozess kontinuierlich modifiziert und weiterentwickelt werden.8

Wichtig dabei ist, dass die neuen Gestaltungsmöglichkeiten der künstlerischen Exploration von maschinellen Techno-Logiken entspringen. Tilman Baumgärtel schreibt:

»Die Form der Loop-basierten Musik und Kunst ergibt sich daraus, dass sie mit elektronischen Geräten, mit Maschinen, erzeugt worden sind und dass sie die prägenden Eigenschaften dieser Medienmaschinen zu einer künstlerischen Form gemacht haben. […] Es geht nicht mehr in erster Linie darum, was ein Künstler oder Komponist sagen oder ausdrücken will. Stattdessen handelt diese Art von Musik und Kunst vom Körper des Zuhörers und Zuschauers und von den Bedingungen seiner Wahrnehmung.«9

Es geht also nicht mehr zu allererst um die Kommunikation von Inhalten, sondern um ihre medial vermittelten Möglichkeitsbedingungen und ihr Zustandekommen sowie um ihre oft performative technische Manipulation und Verfremdung, um auf diese Weise Wahrnehmungsspiele anzustoßen, die sich entsprechend in die Rezipient:innen verlagern. Die Merry Pranksters deuten diese maschinell induzierten Wahrnehmungsspiele gewissermaßen ›bildungstheoretisch‹ um und entwickeln Praktiken und Erfahrungen, die sie zum Teil eines Multimedia-affinen Lebensstils machen, der auf die Kontexte der Technologieentwicklung im entstehenden Silicon Valley ebenso ausstrahlt wie auf die Popkultur. Zentrum dieses Lebensstils ist das spontane künstlerisch-kreative Interagieren im Kollektiv, wobei zu diesen Kollektiven vor dem Hintergrund eines kybernetisierten Weltbilds nicht nur menschliche, sondern auch nichtmenschliche Wesen und Ereignisse aller Art zu zählen sind. In diesem Sinne konstituiert sich die Gruppe gleichsam als kybernetisch inspiriertes ›Kollektivsubjekt‹, das »sich keineswegs nur aus menschlichen Akteuren« zusammensetzt, sondern »komplexe Anordnungen verschiedener Entitäten von unterschiedlicher Handlungsmacht [bildet], die sich verbinden, einander aber auch abstoßen, die einander affizieren und voneinander affiziert werden«.10 Im Gegensatz zu herkömmlichen organistischen Kollektiv-Metaphern handelt es sich also nicht um das Ideal eines möglichst einheitlichen, sondern um ein disperses und in sich kontrovers bleibendes Kollektivsubjekt, das jedoch von Übereinstimmung in grundlegenden Sichtweisen und von Praktiken der gegenseitigen Sorge konstituiert wird.

Abbildung 1: Tonbandschleife im Studio des Westdeutschen Rundfunks in den 1960er Jahren.

Grundkonzepte der frühen Kybernetik

In mediengeschichtlicher Hinsicht sind Rückkopplungsschleifen alias Feedback-Loops Formen der Gestaltung, die im Ingenieurdenken des Zweiten Weltkriegs prominent wurden und infolgedessen zu den Grundlagen einer neuen Universalwissenschaft mit dem Namen Kybernetik avancierten, wie es Peter Galison in seiner »Ontologie des Feindes« eindrücklich dargelegt hat.11 Weitere Grundlagen der Kybernetik sind in aller Kürze die mathematische Informationstheorie von Claude Elwood Shannon sowie ein systemtheoretischer Blick, der in Kontexten maschineller Steuerung sensorische Inputs mit Rückkopplungsschaltungen bzw. Feedback-Loops kombiniert, um bei sich veränderndem Sensor-Input mittels negativem Feedback automatisch in Richtung eines Soll-Werts (›Ziel‹) nachzusteuern und so beispielsweise die Trajektorie von selbststeuernden Waffen wie dem Torpedo zu korrigieren. Durch negative Feedback-Loops, die bei verändertem Sensor-Input automatisch nachsteuern, wird das System in einem homöostatischen Gleichgewichtszustand gehalten, was schließlich – bei Waffensystemen im Wortsinn – zur Zielerreichung führt. Ein wesentliches Merkmal solcher Sensor gestützten Feedback-Steuerungen ist ihre Zirkularität, also der beständige Abgleich von Sensor-Input und Steuerungs-Output. Diese epistemologisch interessante Figur, die in vielen Bereichen fruchtbar gemacht werden wird, stellt einen weiteren zentralen Bestandteil kybernetischen Denkens dar.12 Auf sie geht mithin die philosophische Attraktivität der Kybernetik zurück.

Abbildung 2: Tonbandschleife zum Erzeugen von Feedback und Echos im Roland RE-101 Space Echo, rechts sieht man fünf Aufnahme- und Wiedergabepunkte.

Im technisierten Krieg ging es um die Optimierung von Waffen, doch mit Systemen wie dem Torpedo, die auf Basis von Sensoren alias »Sinnesorganen« und Feedback-Loops zur Zielkorrektur selbständig ihr Ziel verfolgen, schien nicht weniger als ein maschinelles Modell für teleologische Prozesse gefunden zu sein, wie sie bislang nur Lebewesen und speziell dem Menschen zugeschrieben worden waren.13 Der philosophisch bewanderte Norbert Wiener, der schon zu Kriegszeiten mit Pionieren der Computertechnologie und Neurophysiologen zusammengearbeitet hatte, sah in diesen Grundlagen bald die Basis für eine neue Leitwissenschaft, die er in Anlehnung an das griechische Wort für Steuermann Kybernetik taufte. Dabei sollte es um nicht weniger gehen als »the study of messages as a means of controlling machinery and society«.14 In Folge beanspruchte man breite interdisziplinäre Geltung für die auf Feedback-Loops basierenden Input-Output-Modelle und exportierte sie etwa im Rahmen der Macy-Konferenzen auch aktiv in die Sozialwissenschaften.15 Denn nach dem Krieg war ›Kalter Krieg‹, gesellschaftliche wie wirtschaftliche Entwicklung schienen im Wettstreit der Systeme nach neuen Methoden der Optimierung und des Social Engineering zu verlangen, und selbst das menschliche Gehirn schien sich in neurophysiologischer Perspektive nicht mehr von Informationssystemen wie den neu entwickelten ›Elektronengehirnen‹ zu unterscheiden.

Wiener selbst blieb bezüglich der allzu euphorischen Anwendung kybernetischen Denkens in den Sozialwissenschaften allerdings skeptisch und sprach von »falschen Hoffnungen«, die sich einige seiner Kolleg:innen machen würden.16 Gleichwohl lagen derartige Visionen in der Luft und hatten äußerst prominente Fürsprecher. Es herrschte die recht naive Vorstellung, dass Maschinen, Lebewesen und Gesellschaften letztlich alle mit denselben informationstheoretischen Mitteln und Metaphern top-down gesteuert werden könnten, solange ihren jeweiligen ›Sinnesorganen‹ nur die richtige Information in adäquater Kodierung zugeführt wird. So heißt es beispielsweise in Warren Weavers wirkmächtigem populärwissenschaftlichen Vorwort zu Shannons Informationstheorie (in dem deren Geltungsbereich weit über Shannons Intentionen hinaus ausgedehnt wird), bei der Beeinflussung von Adressaten seien auch »all the psychological and emotional aspects of propaganda theory« zu beachten.17 Durch die Engführung von mathematischem Informations- und physikalischem Entropiebegriff wurde der Mensch in neurophysiologischer Perspektive zu einem System, das allein über Informationsflüsse mit seiner Umgebung in Verbindung steht, sich an seine Umwelt anpasst, um ›effektiv‹ zu leben und entropischen Störungen oder ›Unordnung‹ mittels negativem Feedback entgegenwirkt, um das eigene Überleben zu sichern.18

Ken Kesey und die Merry Pranksters – Prototypen multimedialer Selbstprogrammierung

Tonbandmaschinen, als medientechnologische Experimentalanordnungen verstanden und eingesetzt, machen die technomedialen Phänomene Loop und Feedback dem Hörsinn zugänglich und durch Hands-on-Interaktionen unmittelbar manipulierbar. Doch wie kommt es, dass ein aktionskünstlerisches Hippie-Kollektiv wie die Merry Pranksters kybernetische Ideen aufnimmt und sie popkulturalisiert? Die Hintergründe dieser Entwicklung sind interessant, da sie in diesem Fall nicht wie bei anderen medienkünstlerischen Adaptionen schlicht aus der theoretischen Auseinandersetzung mit den ›State of the art‹-Theorien der Zeit hervorgehen, sondern aus einer sehr persönlichen Erfahrung. Ken Kesey, um den sich die Pranksters formieren, war ein junger Schriftsteller, der an der Stanford University ein Stipendium bekommen hatte, und dem mit seinem Roman Einer flog über das Kuckucksnest ein erster grosser Wurf gelungen war.19 Das Buch ist eine Parabel über eine totalitäre Gesellschaft, in der die Abläufe und Behandlungen zum Ruhigstellen von Menschen in einer psychiatrischen Anstalt kritisch thematisiert werden. Kesey schreibt aus eigener Erfahrung, denn während seines Studiums arbeitete er nicht nur als Pfleger in einer solchen Einrichtung, sondern meldete sich auch freiwillig als Proband für eine psychiatrische Studie zum Test von psychotropen Substanzen. Diese Studie war Teil eines obskuren und illegalen kybernetischen Forschungsprogramms der Central Intelligence Agency (CIA) namens MKUltra, in dem unter anderem ein Wahrheitsserum für das Verhör sowjetischer Spione entwickelt werden sollte. MKUltra stand unter der Leitung von Ewen Cameron, dem Präsidenten der American Psychiatric Association, und umfasste über einhundert Unterprojekte, in denen an unzähligen Universitäten und Krankenhäusern »mind control«-Versuche – verharmlosend auch ›Gehirnwäsche‹ genannt – fürs Militär durchgeführt wurden. In rund einem Duzend dieser Unterprojekte fanden auch Menschenversuche statt, in denen mit Drogen wie LSD, Elektroschocks, Stroboskopen und sich endlos wiederholenden Tonband- und Film-Loops experimentiert wurde.20 So versuchte man etwa mittels Elektroschocks, Stroboskop-Blitzen, sinnlicher Deprivation und Drogen die Persönlichkeit von Proband:innen zu ›löschen‹, um sie in einer zweiten Phase des »psychischen Antreibens« mit Hilfe von sich endlosen wiederholenden Botschaften auf Tonbandschleifen neu zu programmieren (wobei der zweite Schritt stets misslang).21 Die Analogie von menschlichem Gehirn und den neuen ›Elektronengehirnen‹ war schließlich wissenschaftlich beglaubigt und lag auf der Hand.22 Und so suchte man in frühkybernetischer Manier nach Möglichkeiten, den menschlichen Geist wie ein ›Elektronengehirn‹ umzuprogrammieren, indem man mit Drogen, Strom und elektronischen Medien möglichst direkt in seine Signalverarbeitung eingreift.

Tief beeindruckt, von dem was ihm als Pfleger und klinische Testperson widerfahren war, schreibt Kesey seinen kritischen Roman. Die Verarbeitung seiner Erfahrungen endete damit jedoch nicht etwa, sondern sie begann erst und wuchs sich mit der legendären transkontinentalen Schulbus-Reise der Pranksters schnell zu einer Gegenkultur und einem Lebensstil aus, der die USA gleichermaßen erschütterte und faszinierte.23

Auch Kesey und die Pranksters experimentierten mit Tonband-Loops, medialen Experimentalanordnungen, Stroboskopen und LSD, das sie (vorerst noch legal) zur Hippiedroge schlechthin machten. Mit ihren multimedialen Happenings beeinflusste die Gruppe nicht zuletzt viele Studierende, Doktoranden und Ingenieure, die in den Computerforschungslaboren der Bay Area an den Technologien der Zukunft arbeiteten – das heißt am Vorgänger des Internet, an neuen Computertechnologien und an künstlicher Intelligenz. Dabei ging es Kesey und den Pranksters ganz im Sinne von MKUltra um nichts anderes als eine ›Reprogrammierung‹ ihres Selbst mit Hilfe ihrer selbst ersonnenen medialen Experimentalanordnungen und medienästhetischen Praktiken, – allerdings nicht, um die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu optimieren, sondern ganz im Gegenteil, um aus dem Gefängnis ihres anerzogenen Denkens auszubrechen und ›Herren‹ ihrer selbst zu werden, anstatt sich weiterhin in die als konformistisch empfundene Gesellschaft einzufügen. Es geht ihnen mithin darum, ihre ›Programmierung‹ selbstlernend und unabsehbar-performativ in einem Kreis von Gleichgesinnten selbst in die Hand zu nehmen, anstatt sich weiterhin programmieren zu lassen. Und dem Künstler Kesey ging es auch um das Freisetzen von Kreativität. Tom Wolfe paraphrasiert ihn in seinem berühmten Doku-Roman Der Electric Kool-Aid Acid Test folgendermaßen:

Abbildung 3: Der Pranksters-Schulbus namens Furthur, auf dem Dach auch Mitglieder der Gruppen Jefferson Airplane und Grateful Dead.

Abbildung 4: Karte der transkontinentalen Busreise der Merry Pranksters.

»Dem Menschen sind alle möglichen Arten von Lags eingebaut […]. Der grundlegendste, ist die Verzögerung im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung […]. Die Gegenwart, die wir kennen, ist nichts weiter als ein Film über die Vergangenheit […]. Diese Verzögerung muss […] überwunden werden, durch irgendeine Art totalen Durchbruch, einen Neubeginn. Und außerdem gibt es da noch alle möglichen anderen Verzögerungen, die mit dieser wichtigsten Hand in Hand arbeiten. Es gibt historische und kulturelle Verzögerungen; wenn die Leute etwa danach leben, was ihre Vorfahren, oder weiß der Himmel wer wahrgenommen haben, dann sind solche Leute womöglich […] Jahrhunderte hintendran und kein Mensch kann wirklich kreativ sein, wenn er nicht zuerst all diese Reaktionshemmer überwindet […]. Unsere Emotionen hinken immer hinterdrein, weil wir auf eine bestimmte Weise abgerichtet sind, weil wir die und die Bildung und Ausbildung haben, weil wir so oder so erzogen wurden.«24

Dieses neurophysiologisch und behavioristisch anmutende Wahrnehmungs- und Bildungsverständnis spiegelt die kybernetische Auffassung, die den Menschen als Information verarbeitendes Input-Output-System modelliert. Aus dieser Perspektive liegt es nahe, Wahrnehmen und Denken über performative Praktiken in technomedialen Umgebungen außengesteuert zu reprogrammieren. Denn die Figur der Reflexion tritt bis zur Kybernetik zweiter Ordnung, in der sie als komplexes Netzwerk systeminterner Feedback- oder Rekursionsschleifen in dann nur noch lose gekoppelten ›kognitiven Systemen‹ mit größeren Freiheitsgraden denkbar wird, nicht in den Blick.25 Die Pranksters praktizieren analog zu den MKUltra-Experimenten lieber eine Art performative Schocktherapie, in der sie auch und gerade ihr eigenes Selbst in weitgehend regelfreien Kollektivsituationen medialen Experimentalanordnungen aussetzten, die sie selbst ersinnen. Die einzigen Regeln in diesen performativen Settings sind, dass jede:r »ganz offenraus […] sein Ding bringt«, und dass niemand niemanden an irgend etwas hindert.26 Zum Aufbrechen der eigenen Wahrnehmungsverzögerungen und Konditionierungen entwickelt die Gruppe verschiedene kollektive und medienzentrierte Improvisationspraktiken, die eine möglichst unverstellte und assoziativ-spontane Interaktion miteinander, mit der Umwelt und mit sich selbst schulen sollten. Persönliche Schranken sollten explizit gesprengt werden, um ein neues Selbst- und Weltverhältnis zu entwickeln.

Das Herzstück dieser öffentlich praktizierten und zur Schau gestellten Selbst-Programmierungen, die nicht selten unter dem Einfluss von LSD erfolgten, war »die Verzögerungsmaschine«, ein mediales Experimentalsystem mit allerlei Mikrofonen, Kopfhörern und Lautsprechern, dessen Zentrum die Ampex Tonbandmaschine – »die Prankstersche Heilsmaschine« – bildete.27 Der präparierte Schulbus war ein einziges Kabelgewirr, das die Kommunikation aller mit allen und die Reaktion und Interaktion mit jedem noch so kleinen zufälligen Ereignis ermöglichen sollte. Wolfe beschreibt das System und einige damit entwickelte transaktionale Praktiken wie folgt:28

»[Sandy] bastelte eine Anlage zusammen, mit der sie von innerhalb des Busses nach außen senden konnten, sowohl Bänder, als auch das, was sie direkt in die Mikrofone sprachen, und was auch immer es war, es wurde mit mächtig vielen Watt über Lautsprecher vom Dach des Busses nach draußen geblasen. Aber es gab auch Mikrofone außen am Bus, die während der Fahrt Geräusche aufschnappten und sie ins Innere des Busses übertrugen. […] Schließlich hatte man noch die Möglichkeit, seine eigene Stimme über eine Bandmaschine laufen zu lassen, sodass man etwas sagen und dann die eigene Stimme mit einer, oder je nachdem, wie man es einstellte, mehreren Sekunden Verzögerung hören konnte, und auf diese Weise konnte man, wenn man Lust hatte, auf seine eigenen Worte rappen. Oder man setzte sich Kopfhörer auf und rappte gleichzeitig auf Geräusche von außen, die zum einen Ohr hereinkamen, und auf Worte von innerhalb des Busses und seine eigenen Sounds, die man übers andere Ohr hörte. Es sollte auf diesem Trip kein einziges gottverdammtes Tönchen geben, außerhalb, innerhalb des Busses oder aus dem eigenen […] Kehlkopf, auf den sich nicht einsteigen, der sich nicht kommentieren ließ. […] Jetzt konnten sie es sich erlauben, vor das Angesicht Amerikas zu treten, und den Leuten so einen richtigen Kurzschluss verpassen.«29

Dieser Kurzschluss sollte – ganz wie das neurophysiologische Modell des Reflexbogens – einer von Innen und Außen sein: dem Innen des Busses mit dem Außen seiner Umgebung, dem Innen spontaner Einfälle und Gedanken mit dem Außen ihrer unverstellten und mithin konfrontativen Äußerung, dem Innen des Pranksters-Kreises mit dem Außen der konformistischen Gesellschaft. Diesem Kurzschluss sollte sich niemand entziehen können, er sollte möglichst alle in das Spiel der Pranksters hineinziehen und infizieren. Und so erweiterten sie ihr mediales Setup auf ihren Happenings zu multimedialen Spektakeln mit zusätzlichen Kameras, Projektionen, Lichteffekten, Stroboskopen und der psychedelischen Live-Musik der legendären Grateful Dead mit ihrem exorbitanten Maschinen- und Verstärker-Park.30 Auf diese Weise sollte das auf möglichst vielen Sinneskanälen angerufene Selbst selbst zum Teil einer universalen Feedback-Schleife werden, die ganz im Sinn der Kybernetik quer durch alle involvierten Maschinen, Menschen und sonstige Ereignisse läuft.

Die Aktionskunst der Pranksters als subversive Optimierung der Optimierung

Spätestens mit der ubiquitär werdenden Digitalisierung können wir alle nicht mehr hinter diese Entwicklung zurück. Praktiken des instantanen und nicht selten konfrontativen Kommentierens sind in vernetzten Medienökologien heute ebenso allgegenwärtig wie Praktiken des stets erneuten Samplens und Verfremdens von medialen Inhalten in den Feedback-Loops der popkulturellen Meme- und Remix-Kulturen.31 Ob es sich bei diesen Multimedia-Feedback-Systemen tatsächlich um eine universale Methode zur Steuerung, Kontrolle und Optimierung von »machinery and society« handelt, wie die frühen Kybernetiker sie visioniert haben, steht seit der Aktionskunst der Pranksters allerdings in Frage und wird bekanntlich immer wieder heiß diskutiert. Tatsächlich finden sich noch immer beide Visionen: die emanzipatorischen sowie diejenigen einer möglichst universalen Vermessung und Kontrolle zu Optimierungszwecken. Das ursprüngliche Anliegen der Pranksters war, zu einer neuen Form von Sozialität zu finden, die nicht mehr auf der gesellschaftlichen Zurichtung des Selbst im Sinne einer optimalen Planung und Verwertbarkeit beruht. Und ihre Schulbus-Reise durch die USA, ihre multimedialen Happenings und ihr schelmisch-scherzhaftes Spiel mit der medialen Aufmerksamkeit und den Obrigkeiten zeugen von einem Sendungsbewusstsein, das nicht nur die 68er Bewegung mit ihren emanzipatorischen Anliegen inspiriert hat. Spontanes gemeinschaftliches Agieren in Verbindung mit vernetzten Multimedia-Systemen ist jedoch nicht per se emanzipatorisch. Sowohl das Anliegen des Forschungsprogramms MKUltra als auch der von Shoshana Zuboff beschriebene Überwachungskapitalismus, den das Silicon Valley später auf Basis der popkulturalisierten und zum Mainstream gewordenen Multimedia-Kultur hervorgebracht hat, wirken wie das genaue Gegenteil.32 Nach Zuboff zielt im Überwachungskapitalismus alles darauf ab, den aus Menschen, Körpern, Dingen, Prozessen und Orten in der virtuellen und realen Welt gezogenen Verhaltensüberschuss zu vergrößern. Und Ziel dessen ist nicht, das Selbst aus stereotypen Verhaltenskonventionen zu befreien, sondern sein Verhalten im Gegenteil automatisiert in Stereotypen zu kategorisieren und in Folge zu kapitalisieren, indem die gewonnenen Informationen an diejenigen verkauft werden, die sie »nutzen und/oder zukünftiges Verhalten beeinflussen« wollen. Zuboff beschreibt kein emanzipatorisches Potenzial, sie spricht von einem »coup des gens«, der »den Menschen ihre Souveränität nimmt«.33

Taktische Wahrnehmungsspiele

In ihrem Interesse für taktische Spiele mit der Wahrnehmung zur Programmierung des Selbst gleichen sich das CIA-Programm MKUltra, die Aktionskunst der Pranksters und der von Zuboff beschriebene Überwachungskapitalismus jedoch. Sie alle eint eine neue Auffassung von Bildungs- und Subjektivierungsprozessen als ›Programmierung‹, die sich nicht mehr über das abwägend-rationale Bewusstsein und seine Reflexionsfähigkeit vermitteln, sondern möglichst als Kurzschluss auf der operativen Ebene affekthafter neurophysiologischer Signalverarbeitung und ihrer ›Verschaltung‹ mit Medientechnologien angesiedelt sind. Dies trifft für die aktionskünstlerischen ›Selbstprogrammierungen‹ der Pranksters ebenso zu wie auf die Fremdprogrammierungsversuche in den weniger harmlosen Forschungsprojekten von MKUltra oder die Nudging-Strategien und ›Dark Patterns‹ heutiger Digitalanwendungen.34 Modell steht nicht mehr das abwägend räsonierende, sondern das affektiv involvierte und sich in Feedback-Loops konstituierende Selbst. Bildungsprozesse sind bei Kesey nicht mehr durch die Idee einer Reflexion gekennzeichnet, die Abstand zu konkreten Handlungssituationen nimmt, um sich gleichsam in Vorbereitung auf zukünftiges Handeln die Dinge neu zurecht zu legen. Sie entstehen vielmehr im Guten wie im Schlechten in situ in der möglichst instantanen Reaktion und Kommentierung des allgemeinen Geschehens im Feedback-Loop, in den medial vermittelt alle möglichen an- und abwesenden Akteure involviert sein können. Dies macht für ihn letztlich auch das literarische Schreiben als Ausdruck des antiquiert scheinenden medialen Apriori Schriftkultur obsolet und er beendet seine Schriftstellerkarriere, um nur noch mit den elektrischen Medien (und Musik) zu arbeiten.35 ›Ohren auf und Hands-on‹ ist von nun an seine transaktionale Devise. Ähnliche Überlegungen finden sich seinerzeit auch in McLuhans Analyse der elektromagnetischen Medien, wo ebenfalls betont wird, dass sich dem ›postliteralen Menschen‹ mittels neuer technomedial vermittelter Subjektivierungsweisen ganz neue Chancen bieten, denn, so McLuhan, deren »schwingende und sich gegenseitig durchdringende Prozesse sind simultan ineinander verwoben, haben überall Mittelpunkte und nirgendwo Grenzen«.36 Und auch für McLuhan ist LSD dabei »ein Mittel zur Anpassung an die neuen elektrischen Medien«, mit denen »die Menschen des elektrischen Zeitalters« zu leben lernen müssen.37

Dass die Prozesse einer solch grenzenlos ›resonierenden Ontologie‹, wie sie die Pranksters im Verbund mit menschlichen und nichtmenschlichen Wesen inszenierten, sowohl emanzipatives wie restriktives Potential bergen, dass sie je nach Situation befreiend wirken oder auch als Zumutung erscheinen bzw. an alte Steuerungsphantasmen gemahnen können, kann aus heutiger Perspektive wohl kaum bestritten werden. Diese Ambivalenz findet sich schon bei den Pranksters selbst. So beschäftigte sich Kesey nicht nur mit den emanzipativen Aspekten der ›Selbst-Programmierung‹, sondern im Anschluss an die Kybernetik auch mit dem Thema der Kontrolle. Zu Beginn ging es ihm vornehmlich um die Kontrolle des Selbst durch das Überwinden von Wahrnehmungsverzögerungen und Konditionierungen.38 Mit zunehmendem Medieneinsatz und zunehmender Happening-Erfahrung fesselte ihn das Thema jedoch immer mehr. Die Inszenierung kontrollierter Kontrollverluste und Ekstasen im Rahmen der LSD-Happenings, die Bedienung der medialen Steuerungstechnik und die damit verbundene Kontrolle über die Stimmung der Feiernden faszinierten ihn ebenso wie das kontrollierte Spiel mit den Massenmedien im Zuge seiner zunehmenden Berühmtheit.39 Und gelegentlich gesellte sich auch eine scherzhafte ›Counter-Kontrolle‹ hinzu, wenn die Pranksters sich etwa einen Spass daraus machten, die Überwachung von Keseys Grundstück durch die Polizei umzudrehen und den Wald um das Anwesen in La Honda mit Mikrofonen und Lautsprechern zu präparieren, so dass sie die dort im Gebüsch liegenden Polizisten hören und via unvermittelter lauter Beschallung direkt ansprechen und erschrecken konnten.40

Keseys Kontrollfaszination spiegelte sich nicht zuletzt in der Entwicklung eines »Kontrollturms«, eines mehrstöckigen Gerüsts, auf dem bei den Happenings alle Medienapparaturen montiert waren, um sie mit guter Übersicht über das Gesamtgeschehen gemeinsam mit anderen Pranksters bedienen zu können. Tom Wolfe schreibt: »Er wuchs und wuchs, dieser Turm […], all die Mikrofone und Verstärker und Scheinwerfer und Projektoren und alles Übrige, die Architektur der KONTROLLE in Reinkultur, endlich.«41 Ziel dieser Kontrollarchitektur und ihrer Bedienung war freilich nichts anderes als der kollektive Kontrollverlust, um so alle in den ›Film‹ der Pranksters bzw. in ihr Aufbrechen von gängigen Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern hineinzuziehen, auch wenn sich dabei in Verbindung mit LSD und anderen Drogen durchaus die ein oder andere Psychose Bahn brach.42 Das Anliegen, das sich mit dem Kontrollturm verband, war jedoch nicht eine Optimierung von Kontrolle zum Herstellen von Ordnung und Ausmerzen von Unbestimmtheit, sondern das genaue Gegenteil, nämlich – in einem antigouvernementalen und transnormalistischen Sinn – das performative Erzeugen und Einspeisen von Unbestimmtheit in jedwede bestehende Ordnung. Ziel war das Anstoßen von unabsehbaren technosozial vermittelten Wahrnehmungsspielen und damit einhergehenden spontanen Interaktionen bei allen an einem Happening Teilnehmenden, – inklusive derjenigen auf dem Kontrollturm. Die Steuerung des Kontrollturms folgte keinem Skript, sondern war prozessoffen und improvisiert. Insofern ist sie eher als eine spontane Kommentierung des Geschehens im alles umfassenden Feedback-Loop und der sich darin entfaltenden Energien zu verstehen, die zum Ziel hatte, einen von allen Beteiligten gemeinsam gestalteten kathartischen Effekt mit transformatorischem Charakter auszulösen. Und Basis all dessen war ganz im Sinne der frühen Kybernetik das universale Modell des Feedback-Loops.

Neue medieninduzierte Zeitfiguren

Auch mit den neuen Zeitfiguren, in denen sich das Selbst als Teil technomedial vermittelter Feedback-Loops konstituiert und das reflexive Bewusstsein tendenziell ausgebootet wird, setzte sich Kesey im Rahmen von selbst entwickelten epistemischen Praktiken intensiv auseinander. Er kannte nicht nur die ungefähre Lauf- und Verarbeitungszeit von Nervenimpulsen, sondern baute auch verschiedene akustische Delay- und Verzögerungssysteme, um mit deren Hilfe das »totale Gespür für […] den Lag« bzw. die eigene Wahrnehmungsverzögerung zu bekommen.43 Insofern erinnern seine medien- und aktionskünstlerischen Explorationen fast ein wenig an Hermann von Helmholtz’ Untersuchungen der physiologischen Zeit und an die Noematachographie von Franciscus Cornelis Donders, die Mitte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal die Frage nach Medienapparaturen gestellt hatten, mit denen sich die Geschwindigkeit psychischer Prozesse vermessen (und folglich auch unterlaufen) lässt.44 Aus medientechnologischer Perspektive konstituiert sich das Selbst seitdem nicht mehr als ein zeitliches Kontinuum sondern gewissermaßen in Scheiben bzw. in technomedial adressierbaren Verarbeitungs- und Reaktionszeiten, die jenseits jedes Reflexionsvermögens und jenseits jeder subjektiv einholbaren Erfahrung liegen.45 Wolfgang Ernst schreibt:

»Wohlgefügte Medientechnik stellt nicht nur das Produkt einer bestimmten Zeit dar, sondern bildet zugleich ihrerseits dilatorische Zeitformen aus; technische Medien operieren differentiell gegenüber der von Menschen individuell erfahrenen Zeit, indem sie ihrerseits signifikante und prozessuale Zeitverhältnisse setzen. […] Nicht die strukturale, zeitlose Logik der Zeichen ist hier am Werk (der semiotische Begriff von An- und Abwesenheit); vielmehr operieren analogtechnische Medien in indexikalischen Verhältnissen auf der Signalebene selbst.«46

Dass das taktische Spiel mit technomedial adressierbaren vor- und irreflexiven Zeitebenen zu einem zentralen Bestandteil von Feedback-orientierten Medienkulturen werden wird, deutet sich in den Experimentalanordnungen der Pranksters ebenso an wie in Norbert Wieners Feststellung, dass Computer- und Nervensysteme beide auf der Basis zeitlich strukturierten Feedbacks operieren. So sei auch das Nervensystem wie ein Automat zu behandeln, »[if] we wish to apply notions from the field of communication [theory] to the study of the behaviour of living organisms and their nervous systems«; – aus Ingenieursicht muss der Mensch mithin selbst zum Automaten werden, denn anders sind effektive Feedback-Kopplungen von »künstlichen« und »natürlichen Maschinen« zu Kommunikationssystemen respektive Gesellschaften nicht zu haben.47 Kesey und die Pranksters haben dies auf ihren Happenings mit ihren Medien-Kontroll-Architekturen lediglich performativ inszeniert und aktionskünstlerisch exploriert.

Zur pranksterschen Optimierung der Optimierung

Im Einlassen auf Feedback und Loop, in der Wahrnehmung von und der instantanen Reaktion auf die Wiederholung der Wiederholung, wird unsere Wahrnehmung selbst als eine Differenz produzierende thematisch. Diese Feststellung hatten bereits die frühen künstlerischen Tonbandexperimente der musique concrète und der Tape Music zu Tage gefördert. Ken Kesey und die Merry Pranksters haben diese Erkenntnis kybernetisiert und popkulturalisiert. Bei Wolfe heißt es dazu: »[Kesey] hatte nicht gelehrt oder gepredigt. Er hatte vielmehr eine Erfahrung geschaffen, für eine Erkenntnis gesorgt, die blitzartig und tiefer eingedrungen war als jeder Denkprozess. Irgendwie stand er damit in der Tradition der großen Philosophen«, wobei er sich selbst die größte Mühe gab, seine Rolle nicht explizit werden zu lassen und als »Non-Navigator« und »Non-Lehrer« nur ein Prankster von vielen zu sein.48 Wollte man die von Kesey geschaffene Art der Erfahrung machttheoretisch reflektieren, so müsste man sie jenseits des klassischen Dualismus von Autonomie und Heteronomie verorten. Denn sie ist eine immer schon mit allen beteiligten Akteur:innen verwobene, die sich eben dieses Verwoben-Seins bewusst wird, ohne jedoch gänzlich in ihm aufzugehen.

Die emanzipative und subversive Bedeutung der Pranksters liegt in der Aneignung und Umdeutung der kybernetischen Idee von Bildungs- und Subjektivationsprozessen als Form der Programmierung. Gleichwohl behielten sie diese Idee grundsätzlich bei und popkulturalisierten sie. Auch mit der Aneignung des Kontrollthemas und der Inszenierung kontrollierter Kontrollverluste nahmen sie letztlich nur das kybernetische Gedankengut ihrer Zeit auf und demokratisierten es quasi im Rahmen ihrer popkulturellen Transformation und aktionskünstlerischen Selbstermächtigungsstrategie. Das machte sie nicht zuletzt zu den Pionieren des sogenannten Mixed Media Entertainment.49 Ihre multimedialen Happenings wurden zum Ausgangspunkt für die Verbreitung eines neuen psychedelischen und stark medienaffinen Lebensstils, der daran beteiligt war, dass sich ein neuer flexibler Normalismus Bahn brach, wie er die mediatisierten Nach-68er-Gesellschaften kennzeichnet. Die gedankliche Nähe der pranksterschen Selbstprogrammierungen zur Idee einer auf ökonomische Optimierung ausgerichteten flexibel-normalistischen Selbststeuerung, wie sie die kalifornische Ideologie und der sogenannte Neoliberalismus propagiert, ist kein Zufall.50 Nach Richard Barbrook und Andy Cameron war es im weiteren Verlauf vor allem der gemeinsame anti-staatliche Affekt, der es schließlich erlaubte, den sozialen Liberalismus der kalifornischen Hippie-Bohème mit dem ökonomischen Liberalismus der amerikanischen Neuen Rechten zu verschmelzen, um dies in Folge »als eine optimistische und emanzipatorische Form des technologischen Determinismus« in die ganze Welt zu exportieren.51

All dies war freilich weder Ken Keseys Intention noch das Projekt der Pranksters. Dennoch gibt es schon zu Anfangszeiten Kontakte und inhaltliche Überschneidungen mit der entstehenden Silicon Valley-Ökonomie, die mit den Schlagworten ›Personal Computing‹, Multimedia und Interaktivität äußerst erfolgreich gegen die Platzhirsche des militärisch und großindustriell genutzten ›Mainframe Computing‹ antrat. Stewart Brands Begriff des Personal Computers wird überhaupt erst vor dem Hintergrund der pranksterschen ›Selbst-Programmierungen‹ verständlich. Insofern könnte man auch sagen, Ken Kesey und die Merry Pranksters haben in einem völlig aus dem Ruder gelaufenen geheimdienstlichen Optimierungsversuch mit ihrer Einholung des widerständigen und irreduziblen Selbst in die technomedial vermittelten Feedback-Loops gesellschaftlicher Kommunikation die Optimierung selbst optimiert – mit allen Konsequenzen und aller Polyvalenz, die dies bis heute zeitigt. Aus ihrem aktionskünstlerischen Rekurs auf Aspekte des kybernetischen MKUltra-Programms und seiner Verbindung von »mind control«-Experimenten mit Drogeneinsatz und elektrischen Medien emergiert ein popkulturelles Verständnis des Selbst als einer technomedial programmierbaren Entität.52 Und im Rahmen ihrer Happenings und öffentlich zur Schau gestellten Selbstprogrammierungen wurde eine neue Medienkultur populär, die ursprünglich aus der künstlerischen Auseinandersetzung mit Medienmaschinen emergiert und noch heute die Basis unzähliger medialer Praxen, Anwendungen und (Selbst-)Bildungsprozesse ist.

Optimierungsspiele

Zum Optimierungsbegriff in den Sozialwissenschaften

Das spielerisch-subversive Element des gegenkulturellen Pranksters-Lebensstils war ein wichtiger Faktor bei ihren aktionskünstlerischen Explorationen und ihrer Popularisierung kybernetischen Gedankenguts. Und an ihrem Beginn steht der selbstermächtigende Wunsch der klinischen Testperson Kesey, sich in einer Gruppe Gleichgesinnter im Sinne eigener Optimumsvorstellungen selbst zu programmieren, anstatt sich weiterhin von gesellschaftlichen Normen und Anrufungen programmieren zu lassen. In seinem Beitrag zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft