Auf den Spuren der Pilger - Stefanie Spessart-Evers - E-Book

Auf den Spuren der Pilger E-Book

Stefanie Spessart-Evers

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Beschreibung

Die "Meditation des Gehens" - was ist das eigentlich? Die Antwort auf diese Frage findet sich für Stefanie Spessart-Evers auf dem Jakobsweg. Ihr Ziel ist aber nicht Santiago de Compostela, sondern der Weg dorthin. In diesem Buch schildert die Autorin ihre Reise zu neuen und wertvollen Erfahrungen, mit allen Schwierigkeiten bis hin zum vollkommenen Gefühl der Achtsamkeit und der inneren Ruhe. Kennen nicht die meisten von uns diese Sehnsucht nach mehr inspirierender Lebendigkeit im eigenen Leben? Nach etwas, das neugierig macht, herausfordert und eine Abwechslung in den normalen Alltag bringt? Begibt man sich auf den Weg, wird man mit einem ganz neuen Blick auf die unterschiedlichsten Landschaften und Lebensformen samt ihrer kulturellen Geschichte sowie einer Fülle von Erlebnissen mit sich selbst und Menschen aus aller Welt beschenkt, wie man es sonst in dieser Intensität kaum erfährt. Warum sind die Jakobswege seit so vielen Jahren den meisten Menschen ein Begriff? Vielleicht weil sie eine Hoffnung nähren, etwas von dieser geheimen Sehnsucht nach mehr Lebendigkeit in körperlicher, seelischer, geistiger und auch spiritueller Hinsicht zu stillen. Diese Hoffnung kann sich erfüllen, wenn man sich aufmacht – und auf macht, auch im wörtlichen Sinne. Vielleicht kann dieses Buch schon ein Echo sein, eine innere Resonanz auslösen? Gleichzeitig schenkt eine solche Herausforderung, wie sie das Gehen eines langen Weges vermittelt, Erfahrungen, die motivieren können, auch im sonstigen Leben mehr Lebendigkeit und Tiefe zu suchen, den "Geschmack des guten Lebens".

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Überarbeitete Neuausgabe 2018

Originalausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2006

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © bepsy/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN Print 978-3-451-06965-9

ISBN E-Book 978-3-451-81155-5

Inhalt

Einige Worte voraus

I. Einstimmung

1. Vom Klang der Sinne und – der Stille

2. Jeder hat seinen eigenen Weg

II. »Und hören nicht auf zu wandern, bis wir gewandelt sind« (Marie Luise Kaschnitz)

1. Wie alles begann

2. Hinreise

3. Von Bergflüssen, wilden Blumen und Nachtigallen

Von Oloron-Ste.-Marie, Südfrankreich, durch die Pyrenäen über den Somportpass nach Jaca, Spanien

4. Am Saum der Pyrenäen durch Aragón und Navarra

Von Jaca nach Puente la Reina

5. Durch die Getreidemeere Navarras, die Weingärten Riojas und die Oca-Berge

Von Puente la Reina nach Burgos

6. Horizonte ins Unendliche: Die Meseta Kastiliens

Von Burgos nach León

7. Durch einsame Berglandschaften bis nach Galicien

Von León nach O Cebreiro

8. Von Nebelwäldern und Hainen im alten Keltenland

Von O Cebreiro nach Santiago de Compostela

9. »Ultreya«, der alte Ruf der Pilger: »Auf zu dem, was darüber hinausweist!«

Am »Ende der Welt« in Finisterre

III. Nachsinnen

IV. Über die Wandlungskraft des Weges und des Gehens. Nachgedanken

Anmerkungen

Einige Worte voraus

Wenn ich von meinen Erfahrungen während der letzten Jahre auf den verschiedenen Jakobswegen erzähle, begegnen mir meist zwei ganz unterschiedliche Reaktionen: Die einen finden es befremdlich und fragen mich, warum ich diese Strapazen auf mich nehme – und bei den anderen scheint etwas innerlich aufzuleuchten und sie wollen immer mehr wissen. Ein Freund, der vor kurzem zum ersten Mal auf dem Jakobsweg war, meinte: »Mir sind neue Türen zur Welt aufgegangen!«. Ich hoffe, dass die in diesem Buch geschilderten Eindrücke von meinem Weg durch Spanien etwas von dem Zauber des Weges vermitteln können.

Kennen nicht die meisten von uns diese Sehnsucht nach mehr inspirierender Lebendigkeit im eigenen Leben? Nach etwas, das uns neugierig macht, uns herausfordert und eine Abwechslung in unseren normalen Alltag bringt? Begibt man sich auf den Weg, wird man mit einem ganz neuen Blick auf die unterschiedlichsten Landschaften und Lebensformen samt ihrer kulturellen Geschichte sowie einer Fülle von Erlebnissen mit sich selbst und Menschen aus aller Welt beschenkt, wie wir es sonst in dieser Intensität kaum erfahren.

Neugier und Sehnsucht nach Herausforderungen sind uns eingeboren, wie der Neurobiologe Gerald Hüther immer wieder betont. Oft bleiben sie jedoch ungestillt. Mit digitalen Medien können wir zwar unserer Neugier nachgehen und damit auch eine manchmal vorhandene innere Leere zudecken, aber sie können nicht unsere Sinne befriedigen und leibhaftes Erleben ermöglichen, das uns wieder mit unserem ganzen Menschsein verbindet.

Warum sind die Jakobswege seit so vielen Jahren den meisten Menschen ein Begriff? Ich glaube, weil sie eine Hoffnung nähren, etwas von dieser geheimen Sehnsucht nach mehr Lebendigkeit in körperlicher, seelischer, geistiger und auch spiritueller Hinsicht zu stillen. Ich behaupte, dass sich diese Hoffnung erfüllen kann, wenn man sich aufmacht – und auf macht, auch im wörtlichen Sinne. Vielleicht kann mein Erzählen schon ein Echo, eine innere Resonanz in Ihnen auslösen? Gleichzeitig schenkt eine solche Herausforderung, wie sie das Gehen eines langen Weges vermittelt, uns Erfahrungen, die motivieren können, auch in unserem sonstigen Leben mehr Lebendigkeit und Tiefe zu suchen, den »Geschmack des guten Lebens«.

Jakobswege gab es in früheren Jahrhunderten und gibt es erneut durch ganz Europa und mit unterschiedlichen Herausforderungen an den Wanderer oder Pilger, was z. B. die körperliche Fitness oder auch die Infrastruktur an Herbergen oder Privatquartieren betrifft. Der hier geschilderte Weg durch den Norden Spaniens, der »camino frances«, war meine erste Erfahrung, mich auf die Spuren der Pilger und ihrer Jahrhunderte langen Geschichte zu begeben. Er führt durch ganz verschiedene Landschaften, angefangen von der Überquerung des Pyrenäengebirges und danach seines Vorgebirges entlang dem Fluss Aragón, dann über die Hügel von Navarra und Rioja mit ihren fruchtbaren Getreideflächen und Weingärten, danach durch die so weite, spärlich besiedelte Hochebene der Meseta, hinter León dann durch wilde, einsame Bergregionen bis hin zu den feuchten Nebelwäldern Galiciens und dem äußeren Ziel: Santiago de Compostela.

Immer wieder ist im täglichen Gehen die Herausforderung enthalten, sich dem Weg, der Landschaft und dem Wetter, aber auch der Situation in den Dörfern und Städten sowie in den unterschiedlichsten Herbergen auszusetzen. Es bleibt in der Regel nichts anderes übrig, als sich mit dem zu konfrontieren, was da ist, und diese Bedingungen annehmen zu lernen – oft eine Übung eigener Art. Und jeder hat seine eigene Weise und seinen eigenen Prozess, mit diesen äußeren Gegebenheiten, aber erst recht mit den damit verbundenen inneren Erfahrungen umzugehen.

Der Theologe Fridolin Stier spricht von dieser Herausforderung, sich radikal auszusetzen und immer wieder unsere alten Gewohnheiten loszulassen, damit sich uns neue Horizonte öffnen können:

»Geh, verlass die Heimat,

die Welt, darin du geboren bist,

darin du dich eingerichtet hast –

das Haus, voll von den Namen der Dinge, die um dich sind,

lass alles, was dir die Sprache über sie zu wissen gibt,

lass auch alles, was dir die Wissenschaft über sie vorspricht,

lass auch die Begriffe, mit denen du nach den Dingen greifst –

lass dieses Haus hinter dir, geh!

Dann wirst du, vielleicht wirst du dann dem Anderen begegnen,

für das du weder Namen noch Wissen noch Begriffe hast,

dem ur- und ingründig Wirklichen und Wirkenden begegnen. (…)1

Ein wirklicher Aufbruch und ein längerer Weg können uns auf eine neue Weise mit uns selbst und unserer Tiefe verbinden – und viele fühlen sich unterwegs gleichzeitig befreit von ihren gesellschaftlichen Rollen und Masken. Der Weg kann uns erneut lehren zu staunen und zeigen, wie kostbar es ist, mit allen Sinnen und mit Achtsamkeit einfach nur »da« zu sein, statt – wie meist gewohnt – auf eine ferne Perspektive ausgerichtet zu leben. Die für alle Pilger gemeinsamen Bedingungen des Weges schaffen Kontakt und Nähe zu anderen und erleichtern eine größere Offenheit und tiefe Gespräche miteinander – eine weitere Gabe des Weges.

Seit meinem Weg durch Spanien mag sich dies und jenes bereits wieder verändert haben. Wie ein lebendiger Organismus erscheint mir der Jakobsweg in dauernder Wandlung begriffen. Seine Essenz jedoch ist ein Geschenk, das jedem zugänglich bleibt, der sich wirklich dem Weg innerlich und äußerlich aussetzt. Auch wenn immer mehr Menschen auf den »camino« strömen, wie der Weg in Spanisch heißt, so vermag doch jeder, der ihn begeht, täglich zu entscheiden, ob er bereit ist, Unwägbarkeiten anzunehmen oder er sich von vorneherein möglichst weitgehend absichert. Möglichkeiten wird es immer geben, sich dem Weg zu stellen – es kommt darauf an, wie der Einzelne damit umgeht.

Einige Menschen haben mich im Vorfeld dieser Weg-Erfahrungen unterstützt, und dafür möchte ich ihnen an dieser Stelle danken. Da ist zuerst meine Lebensfreundin Brigitte, die mir damals im richtigen Augenblick ein Buch über den Pilgerweg schenkte. Es war konkret genug, um mir vorstellen zu können, den lang gehegten Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Anke und Klaus waren meine »Paten«, die mich nach ihrer Rückkehr von Santiago mit ihrer Begeisterung ansteckten und auch mit Informationen versorgten. Mechthild und einige Frauen aus »meinem« meditativen Tanzkreis verabschiedeten mich – ein Ritual, dessen Bedeutung sich erst erspüren lässt, wenn man sich zum ersten Mal für eine längere Zeit »ins Ungewisse« begibt (so habe ich es jedenfalls damals wahrgenommen). Nicht zuletzt möchte ich meinem Mann für seine liebevolle Unterstützung danken.

Dann gibt es »Engel auf dem Weg«. Das sind Menschen, die im richtigen Augenblick das Richtige sagen, tun oder einfach nur da sind. Ich danke ihnen und den Generationen vor mir, die über ein Jahrtausend diesen Weg begingen und bahnten – unter weitaus schwierigeren Bedingungen als heute. Ich wanderte auf ihren Spuren.

Ultreya!Im März 2018

I. Einstimmung

1. Vom Klang der Sinne und – der Stille

Einfache Schulhefte, die mir als Tagebücher dienten, liegen abgegriffen und vom Rucksack zerknickt vor mir. Sie enthalten eng beschriebene Seiten, ein paar Skizzen, Gedichtzeilen. Oft erwähne ich nur in Halbsätzen und Stichworten, was ich während des über sechswöchigen Wanderns von Südfrankreich aus über den Somportpass auf dem spanischen Jakobsweg erfahren habe. Anstrengung und Erschöpfung waren manchmal zu groß, um noch ausführlich zu berichten. Doch trotz der täglichen Aufzeichnungen enthalten diese Tagebücher nur einen Bruchteil der Fülle, die ich erlebte.

Täglich viele Stunden zu wandern, brachte mich nach und nach immer mehr zur Ruhe. Manches, was mich anfangs bewegte, klärte sich durch die wochenlang währende »Meditation des Gehens«: eine wunderbare Übung des Schweigens und der Achtsamkeit im Rhythmus der eigenen Schritte. Innerlich leer werden bedeutet, sich zunehmend frei und offen zu fühlen, um im Schauen, Lauschen und Staunen ganz anwesend zu sein. Aus diesen Erfahrungen schälten sich allmählich zwei Einsichten heraus:

Zum einen: Täglich mit dem Sonnenaufgang in einen Frühsommertag hineinzuwandern, das bewirkt ein beglückendes »Wecken der Sinne«. Der Weg verlangt geradezu danach, alle Facetten der Sinne zu entfalten: Welch unendliche Farben und Nuancen in den verschieden durchlichteten Landschaften und Himmeln! Welch eine Freude, allmorgendlich im Frühgesang der Vögel loszugehen, an rauschenden Bergflüssen entlangzuwandern, in den Auen den Nachtigallen zu lauschen! Wie zart höre ich den Wind flüstern, spüre, wie er an meiner Haut kühl vorbeistreicht oder mich an anderen Tagen anblafft, so dass ich mich mit ganzer Kraft gegen die Böen stemmen muss! Während ich die Abgase in den Städten früher kaum noch wahrnahm, so erschienen sie mir nach Tagen inmitten blühender, duftender Wiesen, als ob ich in eine Giftküche geraten wäre. Die Wegabschnitte an Fernstraßen entlang mit vorbeirasenden Lastern wurden zur Qual. Welche Wohltat, danach wieder in kaum besiedelte Landschaften eintreten zu dürfen.

Die Sinne zu wecken macht empfindsam auch für die belastenden Begleiterscheinungen unserer Kultur. Es unterstreicht umso mehr die Frage nach dem Sinn und Zweck vieler ihrer Auswüchse. Doch sowohl deprimierende als auch beglückende Erlebnisse schärfen zunehmend das Bewusstsein, wie wunderbar Leben sein kann.2 Der Jakobsweg bietet dieses große Geschenk an in einem weit gespannten Spektrum an Erfahrungsmöglichkeiten.

Über einen längeren Zeitraum einen Weg in wunderbarer Natur und dabei in großer, äußerer Einfachheit zu gehen, sich dem Weg innerlich und äußerlich wirklich auszusetzen, scheint auf die elementaren Kräfte des Lebens zurückzuverweisen und auf das, was wirklich wesentlich ist. Es stellen sich die Fragen nach Sein, Sinn und Tod bzw. nach dem, was darüber hinausweist und was ich »das ganz Andere« nennen möchte. Bei Laotse heißt es: »Rückkehr zu den Wurzeln ist Stille.« Die Erfahrungen der Stille unterwegs enthalten den Raum, um in diese existenzielle Dimension einzutreten. Vielleicht geht es sogar mehr um die »Stille hinter der Stille« oder »den Klang der Stille« …

Zum anderen: Es kommt mir so vor, als ob es zu den Merkmalen des Jakobsweges gehörte, Polaritäten zu verbinden: Banales und Besonderes können unmittelbar neben- oder hintereinander liegen. Da gibt es zuerst einmal die weit vorauseilende Sehnsucht nach einer imaginären Erfahrung, der die konkrete und realitätsbezogene Planung folgen muss. Danach geht es um sehr leibhafte und irdische Anstrengungen, um Schweiß und Schmerzen, aber daneben genauso um ein tiefes Gefühl von Freiheit, Entdeckerfreude und purer Lebens- und Wanderlust. Sprechen wechselt sich ab mit langen Stunden des Schweigens. Eine oft intensive und tiefe Gemeinschaft mit anderen Pilgern aus den verschiedensten Ländern und mit den unterschiedlichsten »Beweg-Gründen« verbindet sich damit, intensiv mit mir selbst zusammen zu sein. Eingestreut zwischen die Erfahrungen von Grenzen, die mit dem alltäglichen Gehen und Gehen und Gehen verbunden sind, blitzen immer wieder die besonderen Augenblicke wie Perlen durch: Aus dem Gehen wird Innehalten, Lauschen, Stehen und Stille. Irgendwann entstand in mir ein Bild, dass ich mich wie ausgestreckt zwischen Himmel und Erde fühle: die Füße fest auf dem Boden und durch die tägliche Anstrengung gut mit meinem Körper verbunden und gleichzeitig mit der Seele in einer vogelfreien Leichtigkeit bis zum Himmel reichend; bewegt von beidem und immer wieder aufgerufen, diese Pole zu verbinden.

Oft fielen mir unterwegs die Worte des Mystikers Meister Eckhart (ca. 1260–1327) ein:

Die Seele ist geschaffen an einem Ort zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, in die beide sie hinein ragt. Mit ihren höchsten Kräften berührt sie die Ewigkeit, aber mit ihren untersten Kräften berührt sie die Zeitlichkeit. Seht, so wirkt sie in der Zeit nicht nach der Zeitlichkeit, sondern nach der Ewigkeit.3

Jetzt, beim Niederschreiben, erlebe ich diese weit gespannten Polaritäten allerdings wie ein Dilemma: Wie soll sich das, was beim Gehen als so dicht beieinander liegend erfahren werden kann, beim viel schnelleren und flüchtigeren Lesen noch verdeutlichen, und dann noch in der Alltagssprache einer Reiseschilderung? Wie kann es überhaupt diese Tiefe erreichen und über die Worte hinaus ausstrahlen? Wie lässt sich die Fülle und erst recht das »Mysterium des Augenblicks« vermitteln? Manchmal flogen mir Texte und Gedichte zu, die vielleicht etwas von diesem Fluidum andeuten, manchmal habe ich es selbst versucht. Doch ich vermag nicht zu sagen, ob und wie etwas bei denen anklingt, die den Weg noch nicht gegangen sind. Es mag sein, dass eigene, frühere Erlebnisse aus ähnlichen Situationen wieder lebendig werden können? Vielleicht leuchtet etwas aus einer Gedichtzeile von Rilke auf: »Die Dinge singen hör ich so gern …«. Vielleicht gelingt es manches Mal, »zwischen den Zeilen« zu lesen, und es entsteht etwas von der schwer zu beschreibenden Sehnsucht, die auch mich auf den Weg brachte …

2. Jeder hat seinen eigenen Weg

Gemessen an den riesigen Pilgerscharen früherer Jahrhunderte sind uns nur relativ wenige historische Berichte von Pilgern erhalten geblieben.4 Davon ist das aus dem 12. Jahrhundert stammende Liber Sancti Jacobi von Aymeric Picaud, auch Codex Calixtinus genannt, am bekanntesten geworden. Die Informationen über den Jakobsweg sind in der Regel mit persönlichen Einschätzungen und unvermeidlich mit Vorurteilen vermischt, mal mehr, mal weniger ausgeprägt.

In neuerer Zeit erscheinen zunehmend Veröffentlichungen über Weg-Erfahrungen. Trotzdem ist bei mancher äußeren Ähnlichkeit jeder Bericht unterschiedlich. Der Weg hat zwar allgemeine Merkmale, wie beispielsweise die Notwendigkeit, ihn nur durch eigene Anstrengungen zu bewältigen, Unwägbarkeiten des Wetters und der eigenen Grenzen auszuhalten, ein sehr einfaches Leben zu akzeptieren, sowohl äußere, aber genauso eigene innere, seelische Landschaften zu durchwandern und das Alleinsein mit sich selbst zu erfahren. Man könnte diese Merkmale mit Akkorden einer Grundmelodie vergleichen, die der eine vielleicht eher in Dur und die andere in Moll anschlägt. Welcher Takt, welche Ausführungen und Variationen sich daraus aber ergeben, das ist jeweils unterschiedlich. Der Weg übt auf viele eine starke Faszination aus. Doch jeder hat seinen ganz eigenen Weg!

Der »Camino«, wie er in Spanien genannt wird, hat in den letzten Jahren einen unglaublichen Zulauf erfahren. Welche Bedürfnisse drücken sich heute darin aus? Humorvoll könnte man ihn auch eine »Ameisenstraße der Sucher« nennen. Doch was suchen all diese Menschen, die aus den unterschiedlichsten Ländern der Erde sich auf diesen Weg begeben? Geht es heute eher um Identität und Sinn? Um eine gewisse Gegenbewegung zu Determinanten unserer heutigen Kultur? Um Verlangsamung und Rückkehr zu dem, was wirklich wesentlich ist, statt zunehmender Beschleunigung und Komplexität des Lebens? Geht es um Sinnlichkeit statt Ent-Sinnlichung? Letztlich um »Sein« statt »Haben«?5 Verweist dieser Zulauf auf ein kollektiv wachsendes Bedürfnis nach einer »Suchwanderung«, ein Motiv, das in allen Zeiten und Kulturen in Mythen und Märchen oder als spirituelle Suche vorkommt?

II. »Und hören nicht auf zu wandern, bis wir gewandelt sind« (Marie Luise Kaschnitz)

1. Wie alles begann

Ist es diese prickelnde Frühe, die mich so stark an »den Weg« erinnert? An einem Sommermorgen kurz vor fünf Uhr inmitten von Gerstenfeldern auf den Sonnenaufgang zu warten? Dasselbe Gefühl von Übermüdung in den Gliedern nach einer viel zu kurzen Nacht, doch mit der Zuversicht, dass ich aus anderen Quellen Kraft schöpfen kann?

Ein leichter Wind treibt die grün-goldenen Halme in fließenden Wellen vor sich her. Dieser matte Glanz eines wogenden Ährenmeeres, wie sehr erinnert er mich an die Wanderungen durch Navarra und Rioja, durch Kastilien und die Meseta in Nordspanien. Der Horizont so weit schwingend, rosig vor duftendem Morgen, die Luft erfüllt von Lerchengesang …

Wie finde ich Worte dafür, wie alles begann? War es eine Sehnsucht in mir, die sich ein Bild formte, ohne dass ich davon wusste? In eigenartiger Verknüpfung »fügte« es sich, dass ich 1985 in einem winzigen Flecken im Herzen der Bretagne einem Harfenbauer in seiner Werkstatt begegnete. Er arbeitete in einem uralten Haus, umrankt von Heckenrosen hinter einem verwilderten Garten. Als ich eintrat, war er über geschwungene Harfenteile gebeugt, durchlichtet von der untergehenden Sonne, die durch das kleine Fenster strahlte. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich wenige Tage später eine seiner Harfen zu mir nehmen würde. Zum Abschied sagte er: »Damit du weißt, wo deine Harfe entstand: Dies winzige Haus hier in Brec’h war im Mittelalter eine Herberge auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Dort siehst Du noch die kleine, romanische Kirche, vielleicht gehörte sie zu einem Kloster hier …« Damals hörte ich zum ersten Mal von diesem Weg und spürte sofort, dass etwas in mir antwortete.

Der Klang der Harfe verstärkte eine innere Sehnsucht in mir, ohne dass ich sie damals genauer beschreiben konnte. Oft spielte ich auf ihr in der Dämmerung oder sogar in der Dunkelheit der Nacht. Ich nannte sie mein »Instrument des Übergangs«. Nach und nach fiel mir auf, dass Engel oft mit Harfen dargestellt werden. Weisen nicht auch sie auf den Übergang in eine andere Dimension hin? Und steht nicht auch der uralte Pilgerweg für ein Sehnen und Suchen der Menschen nach dem »ganz Anderen«, vom frühen Mittelalter bis heute? Galt nicht der überlieferte Traum Karls des Großen vom »Sternenweg« quer durch Europa bis nach Galicien schon vor der Entdeckung des angeblichen Jakobusgrabes im 9. Jahrhundert als Hinweis dafür, dass die zahlreichen Dolmen und Petroglyphen in der Nähe vielleicht auf einen noch viel älteren Initiationsweg hindeuteten?

Es sollte noch Jahre dauern, bis ich auf »den Weg« kam und endlich begann, mich konkret darauf vorzubereiten: Outdoor-Klamotten kaufen, einen passenden Rucksack, Schlafsack und Bergschuhe. Die erste Lektion bezüglich Gewicht: Je leichter, desto teurer. Danach Probewandern.

Kurz vor meinem Aufbruch im April, zwei Stunden vor dem reservierten Flug nach Pamplona, rief meine über 80-jährige Mutter an: Gerade war Leukämie diagnostiziert worden, sie musste sofort ins Krankenhaus. Mit dem gepackten Rucksack und schon in Wanderschuhen fuhr ich zu ihr – und blieb die sechs Wochen, die ich mir für den Weg mühsam reserviert hatte. Ich begleitete sie beim Sterben und sie erlaubte mir diese wichtige Erfahrung als ersten »Pilgerweg«. Auch der Tod ist ein Übergang. Eine kleine Harfe erleichterte es mir, seine archaische Präsenz auszuhalten.

Im Jahr darauf wurde es dann endlich wahr: Ich konnte den Weg beginnen. Plötzlich schien sich alles wie von selbst zu fügen … Hatte ich vorher nach Weggefährten gesucht und mich schließlich mit dem Gedanken abgefunden, ihn auch alleine zu gehen, so fand ich jetzt sogar regelrecht Freude daran. Da hatte mein Mann überraschend einige Zeit frei verfügbar. Er entschloss sich, als Übergangsritual in eine andere Lebensphase ebenfalls den Jakobsweg zu gehen. Ich fühlte mich hin- und hergerissen: Sollte ich ihn abweisen? Sollten wir ein paar Tage versetzt gehen? Aber Vorteile hätte es natürlich auch: Es ist schön, so etwas gemeinsam zu erleben! Nach so langen Jahren des gemeinsamen Weges in der Partnerschaft nun auch äußerlich einen Weg zusammen zu gehen! Sich später daran erinnern zu können! Mein Sicherheitsbedürfnis meldete sich ebenfalls: Wenn etwas auf dem Weg passiert, ist jemand da! Aber konnte es nicht auch Wichtiges verhindern, fragte ich mich gleichzeitig, zum Beispiel, sich wirklich dem Weg alleine und damit viel existenzieller aussetzen zu müssen?

Wir beschlossen, zumindest gemeinsam zum Ausgangspunkt zu fahren, mit diesen Fragen weiter umzugehen und die Lösung dann zu suchen, wenn sie gefordert war. Und so geschah es auch.

2. Hinreise

1. Tag

Paris, Freitag, den 25. 5.

Ich sitze mit Tim an unsere Rucksäcke gelehnt am Quai der Seine in einem Streifen Grünanlage nahe einem Metro-Ausgang. Wir warten notgedrungen eine Weile ab, bis der Nachtzug Richtung Pyrenäen abfährt. In der Nähe tummeln sich einige Obdachlose mit verlottertem Krempel, die Weinflaschen neben sich. Ich schaue plötzlich anders hin. Auch Unbehauste – wenn auch viel extremer, als wir es jetzt sind!

Ich bin noch verwirrt vom Stress der Abreise, der langen Zugfahrt, dem Verkehrslärm um mich herum. Fühle mich auch etwas verunsichert, weil ich bis vor einer Woche noch mit einer schweren Sommergrippe zu kämpfen hatte. Wie werde ich den kommenden Strapazen gewachsen sein? Immerhin bin ich 54 Jahre alt und bisher nicht in längeren Wanderungen erfahren. Die ersten drei Tage sind am anstrengendsten, höre ich Anke und Klaus in mir sagen, die noch älter waren, als sie den Weg gingen. Doch nach und nach komme ich auch innerlich in Paris an. Diese Stadt hat einfach ein Flair, das mich ergreift, auch wenn die Metro alle paar Minuten über die Seine rattert.

Die Packerei hätte mir fast den Rest gegeben. Da orientiere ich mich an maximal 11 Kilo, lege alles auf die Briefwaage, zerbreche mir den Kopf, welches T-Shirt geeigneter ist! Selbst den Griff der Zahnbürste habe ich abgesägt, um Gewicht zu sparen. In die Reiseapotheke nur jeweils ein paar Tabletten von diesem und jenem. Schließlich: Kann ich mir nicht wenigstens 300 Gramm »Weiblichkeit« leisten, eine leichte Seidenbluse, die ein bisschen hübsch ist, statt bei allem nur das Funktionale zu berücksichtigen? Immer wieder dieses innere Verhandeln!

Trotz aller Disziplin komme ich auf 12 Kilo! Dabei habe ich das Gefühl, jetzt aber auch gar nichts mehr weglassen zu können. Als ich es dann im Rucksack verstaut wiege, sind es 14,5 Kilo. Wie das? – Ich habe vergessen, das Gewicht des Rucksacks mit einzubeziehen! Und die Kamera ist auch noch nicht dabei. Und auch nicht der Proviant und die Wasserflasche. Ein kurzer Gang mit Gepäck macht klar: Es ist unmöglich. Ich kann es nicht »er-tragen«. Es müssen mindestens 3 Kilo geopfert werden. Doch ich brauche doch alles, für Kälte, Regen, zum Wechseln. Es darf einfach nicht tagelang regnen. Und nichts mehr mit »300 Gramm Weiblichkeit«, dafür ein Kompromiss: Die Seidenbluse wird zum Schlafanzugoberteil. Auch bei Tim dient die »Ausgeh-Uniform« gleichzeitig zum Schlafen. Pilgermode!

Ja, Sorge drückt sich in Gewicht aus und lastet, nicht nur auf der Seele. Das ist eine weitere Lektion auf diesem Weg. Wie schön, dass Mechthild extra kam und uns verabschiedete. Ihre Herzlichkeit war mir so wichtig. Eine Art Reisesegen.

2. Tag (frühmorgens)

Pau, Samstag, den 25. 5.

Ich habe sogar ein paar Stunden im Liegewagen geschlafen. Hier ist alles verregnet und grau in grau. Von den Pyrenäen ist bisher nichts zu sehen, schade! Mit der altmodischen Zahnradbahn fahren wir hoch zum alten Stadtkern. Der Bäcker hat schon auf und die Croissants sind köstlich. Doch fast hätten wir den Zug nach Oloron-Ste.-Marie verpasst.

3. Von Bergflüssen, wilden Blumen und Nachtigallen

Von Oloron-Ste.-Marie, Südfrankreich, durch die Pyrenäen über den Somportpass nach Jaca, Spanien

2. Tag (später)

Oloron-Ste.-Marie – Sarrance (ca. 20 km), Samstag, den 25. 5.

Als wir gegen acht Uhr in Oloron-Ste.-Marie ankommen, wirkt alles noch neblig-trüb. Vorhin ist ein anderer Rucksackträger in den Bus zum ungefähr 65 Kilometer entfernten Somportpass gestiegen, wie es meistens empfohlen wird. Vielleicht auch ein Pilger. Eine freundliche Postbotin zeigt uns das erste französische Wegzeichen: rot-weiße Querbalken. Wir gehen über die alte Brücke zum Touristenbüro, wo wir die Rucksäcke lassen können, dann zum Nonnenkloster, um uns den Stempel des Ausgangspunktes für unseren Pilgerausweis zu holen. Daneben dann der erste ruhige Ort nach der Hektik der letzten Zeit, die romanische Kirche Ste. Croix.

Als ich eintrete, sehe ich fast gar nichts – doch ich höre leise gregorianische Gesänge im Hintergrund vom Band und die tun mir einfach wohl. Nach und nach wird mir klar: Nach all dem Stress, der Außenorientiertheit und Aufregung vor der Abreise brauche ich jetzt erst einmal ein wenig Zeit für mich alleine, um mich zu sammeln. So sitze ich lauschend und mit geschlossenen Augen in der Kirche im zarten Duft von Kerzen und einem Hauch von Weihrauch und lasse mich tragen von den gleichförmigen Gesängen der Mönche … fast eine Meditation in die Zeitlosigkeit. Lange verweile ich.

Als ich irgendwann aufblicke, sehe ich zu meiner Überraschung in dem dämmrigen Raum all das, was ich anfangs nicht wahrnehmen konnte! Klar, die Augen haben sich adaptiert. Jetzt erkenne ich mit Staunen in der Vierung, dem Schnittpunkt von Längs- und Querschiff, von jeder Ecke paarig ausgehend ein maurisch wirkendes Bandmotiv, das aus den Schnittpunkten einen kunstvollen, achteckigen Stern in der Mitte der Kuppel bildet. Auch ist wohl eine Zahlensymbolik darin enthalten, wenn aus der Vier (dem Irdischen) die Zwei (die Dualität) zur Drei führt (einer neuen Einheit nach der Entzweiung) und sich die Acht (als Doppel-Vierheit: die Polarität im Wesen allen Irdischen) wieder im umfassenden Einen (der in sich ruhenden Einheit) der kreisförmigen Kuppel vereint.

Durch mein stilles Verweilen in diesem Kirchenraum wird mir etwas deutlich: Vielleicht wird es auf dem Weg wichtig sein, weniger zu »machen« als immer wieder zu »lassen« und innezuhalten, um auch innerlich »nachzukommen«, innerlich »schauen« zu lernen. Eine Geschichte fällt mir ein, die Karlfried Graf Dürckheim oft erzählte: Da ging es um den übereifrigen Adepten, der – bildlich gesprochen – mit aller Kraft und zunehmender Ungeduld an der Tür zur »anderen Dimension« rüttelt – und schließlich aufgibt, zurücksinkt. Da merkt er: Die Tür geht nicht in der Richtung des Vorwärtsstürmens, sondern des Zurücktretens auf! – Den Pilgerweg nach Santiago de Compostela kann ich versuchen zu gehen. Aber ich kann es nicht »machen«, dass darauf Wichtiges mit mir geschieht. Ich kann mich höchstens dafür bereit halten.

Als ich aus der Kirche trete, entsteht in mir die Frage: Wie kann ich von einem Ort aufbrechen, ohne vorher in ihm angekommen zu sein? So bummeln wir über den nahen Friedhof, wandern zur Kathedrale Ste. Marie und bewundern dort die bewegten Figuren des romanischen Portals, verbringen noch ein paar Stunden in Oloron. Erst dann beschließen wir, doch noch aufzubrechen. Mittlerweile hat sich der Nebel verzogen, die Sonne steht hoch am Himmel und es ist heiß geworden. Auf dem Weg aus der Stadt wollen wir noch etwas einkaufen, essen und unser Wasser auffüllen. Weit gefehlt, nach ein paar steilen Straßen immer entlang dem rot-weißen Zeichen ist die Stadt bald zu Ende. An den letzten Häusern bitten wir schließlich eine Frau im Garten um etwas Wasser, das sie uns gerne bringt. Ihre Augen leuchten, als sie uns eine gute »pèlerinage« wünscht. Was kommt da so zum Strahlen?

Mit wenig Nachtschlaf erst mittags aufzubrechen hat seine Tücken, zumal wenn jetzt der Weg weiter ansteigt. Jedes Stück Wald ist eine Wohltat, doch häufig geht es über Weiden und wir verlaufen uns ab und zu. Offenbar sollten wir in Zukunft Zeit dafür einkalkulieren.

Je müder ich werde, umso schwerer scheint der Rucksack zu wiegen. Wieder über Pferdeweiden. Wo ist jeweils der Ausgang? Wir irren etwas umher. Dann führt der Weg steil herunter, offenbar war hier vorher noch ein Bachbett. Wieder eine kurze Rast. Wo werden wir übernachten, wenn jetzt die Kräfte knapp werden? Schon jetzt spüre ich deutlich meine Grenzen!

Später in Sarrance (in einem alten, leeren Kloster, das als Pilgerherberge dient)

Hier sind wir vorhin angekommen und ich habe mich dabei in Grund und Boden geschämt. Schon am ersten Tag haben wir ein Tabu verletzt: Wir sind schließlich die letzten paar Kilometer getrampt und der nette Mensch hat uns bis direkt vors Kloster gefahren. War mir wirklich peinlich! Doch als wir am Spätnachmittag mühsam zur Straße entlang des Aspe-Tals vorgestoßen waren, hatten wir nur die Wahl, entweder in ein Hotel zu gehen – und dann würde die Etappe des nächsten Tages übermäßig lang – oder zu trampen. Immer wieder blätterten wir in der spärlichen und nicht sehr genauen englischen Wegbeschreibung, der einzigen, die wir für diese Strecke gefunden haben.

Na ja, der alte Prämonstratenser-Laienbruder sah wohl unsere Erschöpfung und ist diskret darüber hinweggegangen. Vielleicht hat er sich gefreut, dass überhaupt Pilger kamen, wir sind nämlich die einzigen. Er zeigt uns in einem kurzen Rundgang noch Kirche und Kloster, doch ich bin froh, erst mal die verschwitzten Klamotten und schweren Bergschuhe loszuwerden. Als ich den Rucksack abnehme, habe ich das Gefühl, zehn Zentimeter zu wachsen! Unser Zimmer zeugt vom »Luxus« früherer Zeiten: Es hat einen alten Kamin und ein steinernes Wasserbecken. Jetzt sitzen wir im einzigen kleinen Dorfgasthaus bei dunklem Bier und deftiger Kost.

3. Tag

Sarrance – Borce (mind. 20 km), Montag, den 27. 5.

Gestern (Sonntag) am Spätnachmittag in Borce angekommen, total erschöpft. Und wieder das Tramp-Tabu gebrochen, wenn auch nur wenige Kilometer. Doch der Reihe nach:

Nachts in Sarrance wurde ich durch irgendetwas aus tiefem Schlaf gerissen. Tim schnarcht, dass es im leeren Raum nur so hallt. Ich kann nicht mehr einschlafen und wecke ihn schließlich um 5.20 Uhr früh. Trotzdem kommen wir erst um sieben los, es dauert halt, bis wir uns aus letzten Proviantresten in der alten Klosterküche ein Frühstück zubereitet, alles wieder gesäubert und gepackt haben. Das muss in Zukunft schneller gehen.

Zwar hat uns Monsieur l’Abbé geraten, die Straße zu nehmen, der Weg sei gefährlich, besonders bei Nässe. Doch als wir aus dem Kloster treten, sind wir wie verzaubert vom frühen Morgen – die Luft: prickelnd frisch, duftend nach Frühling, erfüllt von Gezwitscher. Gebirgsbäche rauschen über mächtige Felsbrocken, alles blüht wie in einem Steingarten, was uns beim Vorbeifahren gestern in unserer Erschöpfung gar nicht so aufgefallen ist. Wir können uns einfach nicht vorstellen, auf dem schmalen Randstreifen im Lärm vorbeifahrender Autos zu wandern. Außerdem merken wir, dass der Weg anscheinend eine Art Sogwirkung hat: Als wir das Wanderzeichen an einem Pfad entdecken, gibt es kein Halten mehr.

Er führt in dem noch schattigen, vom Frühnebel leicht verhangenen Tal über eine alte Brücke in die Buchsbaumwälder am Ufer der Aspe, die sich hier bereits zu einem Gebirgsflüsschen verjüngt hat. Wilde Löwenmäulchen wuchern aus den Ritzen zwischen den Steinen, am Hang blühen blaue Akeleien. Weißgefleckt von Margeriten ruhen die Wiesen gegenüber. Offenbar nutzen auch Ziegenherden den Camino. Immer schmaler schlängelt sich der Pfad am steiler werdenden Ufer entlang. Ja, bei Regen könnte ein Ausrutschen gefährlich werden. Doch dringt allmählich die Sonne ins Tal vor und wir sind hingerissen von diesem wilden Blühen überall.

Als zwei Wegvarianten auftauchen, ergibt es sich, dass jeder von uns eine andere wählt. So gehe ich zum ersten Mal alleine auf einem kleinen Bergpfad und spüre bald den Unterschied: Ich fühle mich achtsamer, offener für die Natur und für mich selbst. Es geschieht häufiger, dass ich stehen bleibe, mir Zeit nehme, um die wilden Blumen am Wegrand zu betrachten, den Nachtigallen zu lauschen, die Landschaft auf mich wirken zu lassen oder meinen Gedanken nachzuhängen. Macht der Weg eine Kurve und gibt einen neuen Blick frei, so halte ich manchmal überrascht inne, als ob ich an der Schwelle zu einem ganz neuen »Naturraum« stünde. – Natürlich ist es auch schön, gemeinsam zu staunen und sich zu freuen. Doch ich habe mir schon am ersten Tag angewöhnt, vorauszulaufen, um den Blick nach vorne frei zu haben.

Ich erinnere mich an meine Kindheit: In meiner Familie war es sonntags nach dem Frühstück eine Art Ritual, einen langen Spaziergang oder eine Wanderung zu machen. Dabei lief auch mein Vater immer weit voraus und ich rannte zwischen ihm und den anderen hin und her. Einmal sagte er mir, dass er in Stille gehen wolle. So lernte ich allmählich, ihn schweigend zu begleiten. Ihm verdanke ich die Haltung, in der Natur in Stille und Achtsamkeit zu sein.

Warum fällt mir das jetzt ein? Richte ich mich, ohne dass ich es gemerkt habe, zu stark nach Tim aus, so dass es mir gar nicht bewusst wird, vielleicht stehen bleiben, etwas betrachten oder einfach lauschen zu wollen? Ich genieße jedenfalls meine Freiheit.

Nach erst viereinhalb Stunden komme ich müde in Accous an. Dort sei eine Fête des Chevaux, eine Segnung der Pferde, so hatten wir gehört. Die festliche Messe ist vorbei, schmucke Reiter in roten Jacken sind aber noch auf dem Kirchplatz versammelt, Tim ist längst da. Bald danach strömen alle zur Festwiese, wo es bereits köstlich duftet. Wir laben uns an Quiche und Salat und sinken an einem stilleren Plätzchen am Bachufer in einen tiefen Mittagsschlaf.

Danach traue ich mir auch die letzten sechs Kilometer noch zu, auch wenn es weiter bergan geht. Anfangs noch durch Weiden und Waldstücke, doch dann unvermeidlich auf der Route Nationale. Als wir da ziemlich entnervt vorwärts stapfen, kommt uns zu unserer Überraschung ein Trupp junger Leute entgegen, einer spielt Klarinette, ein anderer haut auf die Pauke, die vor seinem Bauch hängt, eine Frau jongliert mit drei Bällen …

Hinter ein paar Kurven verstehen wir auch, woher sie kommen: Die alte, überwachsene Schienentrasse, die sich durchs Tal bergauf zieht und der wir zuletzt immer wieder begegnet sind, führt zu einem bunt besprühten, kleinen Bahnhofsgebäude. Es wird seit Jahrzehnten offenbar nicht mehr benutzt und dient jetzt als Treffpunkt für eine alternative Szene: Cette-Eygun-Lescaux. Noch herumstehende, bemalte Waggons sind teilweise bewohnt, viele Zelte auf dem verwilderten Gelände errichtet. Jede Menge netter Schrott: verwitterte Gartenpavillons, Kirmesteile, alte Autos. Auch ein großes Militärzelt mit Bänken, in dem wohl Versammlungen abgehalten werden. Auf einem Tisch liegen Flugblätter gegen Atomkraftwerke, Aufrufe von Hausbesetzern etc. Wir fragen, ob wir etwas zu trinken haben können. – Ja, Preis nach freiwilliger Einschätzung. An der erstaunten Reaktion wird mir so richtig spürbar, wie uralt ich wohl in deren Augen erscheine, erst recht als Wanderer oder gar Pilger. Das schmerzt mich irgendwie.