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Joshua lebt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in Amarias, einer künstlich errichteten Siedlung, an deren Rand eine schwerbewachte Mauer verläuft. Joshua hat gelernt, dass hinter der Mauer der Feind lebt, der Tag für Tag darauf lauert, die Siedler zu töten. Und dass die Mauer ihn und sein Volk beschützt. Doch eines Tages findet Joshua einen Tunnel, der unter der Mauer hindurchführt. Er weiß, dass er so schnell keine Gelegenheit mehr bekommen wird, einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Die Versuchung ist zu groß. Und von dem Moment an, als Joshua seinen Kopf aus dem Tunnel streckt, ist sein Leben nicht mehr so, wie es vorher war. «Auf der richtigen Seite» ist ein Roman über einen Jungen, dessen Welt durch einen Tunnel aus den Angeln gehoben wird. Er ist aber auch eine politische Fabel über das heutige Leben eines Jugendlichen im Westjordanland, der erkennt, dass jede Geschichte zwei Seiten hat.
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Seitenzahl: 393
William Sutcliffe
Joshua lebt mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in Amarias, einer künstlich errichteten Siedlung, an deren Rand eine schwerbewachte Mauer verläuft. Joshua hat gelernt, dass hinter der Mauer der Feind lebt, der Tag für Tag darauf lauert, die Siedler zu töten. Und dass die Mauer ihn und sein Volk beschützt.
Doch eines Tages findet Joshua einen Tunnel, der unter der Mauer hindurchführt. Er weiß, dass er so schnell keine Gelegenheit mehr bekommen wird, einen Blick auf die andere Seite zu werfen. Die Versuchung ist zu groß. Und von dem Moment an, als Joshua seinen Kopf aus dem Tunnel streckt, ist sein Leben nicht mehr so, wie es vorher war.
«Auf der richtigen Seite» ist ein Roman über einen Jungen, dessen Welt durch einen Tunnel aus den Angeln gehoben wird. Er ist aber auch eine politische Fabel über das heutige Leben eines Jugendlichen im Westjordanland, der erkennt, dass jede Geschichte zwei Seiten hat.
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William Sutcliffe, geboren 1972 in London, ist Autor zahlreicher Romane. Sein vielbeachteter Jugendroman «Auf der richtigen Seite» war für den Deutschen Jugendliteraturpreis und den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis nominiert. William Sutcliffe lebt mit seiner Familie in Edinburgh.
[Widmung]
Erster Teil
Schulter an Schulter
Ich wohne in Amarias
Der Deckel dieser Öffnung
Ich kralle mich am Zaun
«Ich werde versuchen
Die Geräusche der Straße
Hand Knie Hand Knie
Als ich in der Tür erscheine
Als Liev kommt
Mitten in der Nacht
Zweiter Teil
Ich nehme meinen üblichen Weg
Eine Hand legt sich
Nach der Mittagspause
Die Samstage in Amarias
Meine Tasche ist gepackt
Die Mütze tief im Gesicht
Mein Plan ist hier zu Ende
Der Flur mit seinen
Auf der Straße bewegt
Dritter Teil
Der verstauchte Knöchel
Im Sommer sind die Straßen
Freitags geht die Schule
Ich steige direkt in die Dusche
Beinahe jeden Tag
Als erstes bereite ich das Pflanzloch
Nachdem ich mein Setzling
Im Juli wird die Lage
Hier oben auf dem Gipfel
Vierter Teil
In der ersten Augusthälfte
Noch nie hat ein Tag
Heiße, trockene Luft
Die einzige Zeit des Abends
«Josh. Ich bin es, Joshua.
Das Haus ist seltsam still
Fünfter Teil
Weiße Kacheln
Ungefähr eine Woche später
Es sind nicht bloß die Türen
Und hier komme ich
Anmerkung des Autors
Dank
Für Saul
Schulter an Schulter sprinten wir dem Ball hinterher, unsere Schultaschen rumpeln von rechts nach links. Ich erkämpfe mir einen Vorsprung, aber David packt mich am Rucksack und bringt mich zum Stehen wie ein Reiter sein Pferd.
«Oi!», schreie ich. «Das war Foul!»
«So was gibt’s hier nicht.»
«Und ob es das gibt!»
«Nicht ohne Schiedsrichter.»
David kommt als Erster an den Ball und schützt ihn mit seinem Körper. «Und jetzt guck hin», sagt er. Er springt hoch, reißt dabei die Fersen nach oben und will den Ball von hinten über seinen Kopf befördern. Aber er rutscht ihm ab und rollt in die Gosse. David hält sich für einen super Fußballspieler, obwohl er derartig unkoordiniert ist, dass er erst weiß, wo seine Füße sind, wenn er sie sieht.
Ich klemme mir den Ball zwischen die Knöchel und springe, ziehe die Knie hoch und drehe mich dabei. Die Lederkugel steht so perfekt in der Luft, als warte sie nur auf meinen Fuß, und dann führe ich einen Volley aus, den man einfach nur als perfekt bezeichnen kann, und zwar noch im Sprung. Der Ball fliegt schneller und weiter, als ich zu hoffen gewagt habe.
Doch wie jeder weiß, ist das Leben voller Höhen und Tiefen. Und Perfektion hat ihren Preis.
Genau in der Sekunde, als mein Sneaker gegen den Ball knallt, ist die leere Straße, auf der wir spielen, nicht mehr leer. Ein Sicherheitswagen biegt um die Kurve, aber mein Ball ist bereits in der Luft, und ich kann ihn nicht mehr aufhalten.
Der Mann am Steuer fährt offenbar nicht besonders aufmerksam, denn er bremst erst, als der Ball gegen seine Windschutzscheibe kracht. David macht sich aus dem Staub, aber ich renne los und stehe gerade in dem Moment am Ball, als der Wachmann aus seinem Auto steigt.
«Warst du das?», schreit er.
«Nein», sage ich und nehme den Ball hoch.
«Hältst du mich für dämlich?»
Ich bin ganz knapp davor, «Ja» zu sagen. Wenn ich das täte, dann wäre es wohl das Komischste, was ich je gesagt habe, vor allem, weil er vermutlich wirklich dämlich ist. Allein die Vorstellung, man müsste den ganzen Tag immer dieselben Straßen abfahren, auf denen nie was passiert … Selbst wenn man anfangs noch einigermaßen schlau im Kopf ist, weicht einem doch nach ein paar Tagen das Hirn auf. Er hat eine Pistole, aber man kann niemanden dafür erschießen, dass er einen dämlich nennt.
Ich halte trotzdem den Mund und laufe mit dem Ball zu David, der sich hinter einem parkenden Auto versteckt. Ich erzähle ihm, was ich beinahe gesagt hätte, und er findet es so komisch, dass er mir vor Begeisterung auf den Arm schlägt, was mich nervt, also schlage ich ihn zurück, und dann schubst er mich, und ich packe ihn um die Hüfte, und wir fangen an zu kämpfen.
Als der Sicherheitswagen an uns vorbeifährt, sitzt David gerade auf mir drauf, und ich sehe, wie der Fahrer den Kopf schüttelt, als wären wir Idioten, dabei ist er der Idiot.
Dann machen wir noch ein paar Fußballtricks, bis David versucht, meinen Volley nachzumachen, und der Ball hoch über die Straße segelt, über die Bushaltestelle und über den Bretterzaun einer Baustelle. Es ist keine von den normalen Baustellen, die man vom Stadtrand kennt; es ist diese merkwürdige Baustelle gegenüber vom Krankenhaus, auf der nie was gebaut wird und wo man nie jemanden rein- oder rausgehen sieht.
«Ich glaub’s nicht», stöhnt David, und ich habe gewusst, dass er das sagen würde.
«Das war ein neuer Ball!»
«Er hat geeiert», sagt er. Und auch das habe ich erwartet.
Er versucht, mich nicht anzusehen, und ich merke, dass er am liebsten abhauen will, also stelle ich mich vor ihn und versperre ihm den Weg.
«Du musst rüberklettern und ihn holen», sage ich.
Wir sehen zum Zaun. Es ist eher eine Wand aus Holz, durch die man nirgendwo durchsehen kann. Sie ist ungefähr zweimal so hoch wie ich. Früher war sie blau angemalt, aber über die Jahre ist die Farbe zu einem Abwasser-Grau verblichen und platzt überall in eiförmigen Blasen auf. Dieser Platz ist so ziemlich der einzige in Amarias, der nicht nagelneu aussieht. Der Rest der Stadt wirkt dagegen so, als hätte man sie gerade erst aus der Frischhaltefolie gewickelt.
Im Zaun befindet sich ein Tor von der Größe eines Lastwagens, aber es ist mit einer dicken Kette verschlossen, die so verrostet ist, dass sie aussieht wie aus Schokolade. Jetzt, wo ich an meinen Ball hinter dem Zaun denke, fällt mir zum ersten Mal auf, wie komisch es ist, dass alle diesen Ort eine Baustelle nennen, obwohl hier nie jemand etwas baut.
«Du musst rüberklettern und ihn holen», sage ich noch mal.
«Da kann man nicht rein», faucht er.
«Ich habe nicht man gesagt, sondern du.»
«Da ist kein Eingang.»
«Dann kletter über den Zaun. Das war ein neuer Ball! Den hab ich geschenkt bekommen.»
«Ich geh da ganz bestimmt nicht rein.»
«Dann besorgst du mir einen neuen Ball?»
«Keine Ahnung. Ich muss jetzt los.»
«Entweder besorgst du mir einen neuen Ball, oder du kletterst da rein und holst meinen wieder.»
David betrachtet mich mit zögerndem Blick. Ich sehe ihm an, dass er den Ball bereits aufgegeben hat und jetzt einfach nur wegwill. «Ich bin spät dran», sagt er. «Mein Onkel kommt zu Besuch.»
«Du hilfst mir erst, den Ball wiederzuholen.»
«Ich komme zu spät. Das ist doch bloß ein Ball!»
«Das ist der einzige, den ich habe!»
«Stimmt doch gar nicht.»
«Aber der einzige aus Leder.»
«Sei nicht so ein Baby.»
«Ich bin kein Baby.»
«Baby.»
«Du bist das Baby!»
«Baby!»
«Wenn du immer ‹Baby, Baby, Baby› sagst, bist du das Baby, nicht ich», sage ich. Es ist peinlich, überhaupt so eine Unterhaltung zu führen, aber bei David geht es manchmal irgendwie nicht anders. Er zieht die Leute auf sein Niveau herunter.
«Wieso kannst du dann nicht aufhören, über deinen Ball zu heulen?»
«Weil ich ihn wiederhaben will!»
«‹Weil ich ihn wiederhaben will›», äfft er mich mit Babystimme nach.
Ich bin nicht der Typ, der andere Leute schlägt, aber wenn ich es wäre, dann würde ich ihm jetzt eins auf die Nase geben.
Sein Rucksack baumelt an einer Schulter. Wenn ich den über den Zaun schleudere, dann muss er rüberklettern. Ich will ihn packen, aber er ist zu schnell. Nicht, dass David jemals schnell wäre, ich bin einfach zu langsam. Er hat meine Gedanken gelesen, und in der nächsten Sekunde läuft er davon und lacht dabei künstlich.
David ist mein bester Freund in Amarias, aber er nervt total. Amarias ist ein seltsamer Ort. Würde ich an einem normalen Ort leben, wäre David bestimmt nicht mein Freund.
«Du schuldest mir einen Ball!», schreie ich ihm nach.
«‹Du schuldest mir einen Ball›», äfft er und geht wieder ganz gemütlich, weil er jetzt außer Reichweite ist.
Ich sehe ihm hinterher. Sogar seine Art zu gehen nervt mich – er watschelt, als wären seine Schuhe aus Blei. Er will mal Kampfpilot werden; ich glaube allerdings, er kann niemals eine Maschine bedienen, die komplizierter ist als eine Fahrradpumpe, so ungeschickt, wie er sich anstellt.
Das Frustrierendste an allem ist: Ich weiß genau, dass ich die Sache mit dem Ball in ein oder zwei Tagen vergessen und wieder mit ihm befreundet sein werde. Früher konnte ich unter einer Menge Leuten wählen, aber hier draußen gibt es nur David. Die anderen Jungs in Amarias mögen mich nicht, und ich mag sie auch nicht. Sie halten mich für gestört, und ich halte sie für gestört. In dieser Stadt ist alles Gestörte normal, und alles Normale gestört.
Ich sehe am Zaun hoch. Man kann nicht raufklettern. Ich gehe daran entlang und mache mir die Fingerkuppen dreckig, indem ich über das raue Holz streiche und ein paar der Farbblasen mit dem Daumen platzen lasse. Dann komme ich an eine Ecke und biege in eine kleine Gasse ein. Ich bleibe stehen und betrachte die dreckigen Ovale an meinen Fingerspitzen, dann lege ich sie wieder auf die hölzerne Oberfläche und gehe durch die Gasse mit ihrer kühlen, schattigen Luft. Schon bald komme ich an einen Müllcontainer. Wenn ich meinen Arm über den Kopf strecke, ist er immer noch höher, aber ich kann auf seinen Deckel klettern und vielleicht von dort aus über den Zaun steigen. Wenn ich meinen Ball wiederhaben will, ist das der einzige Weg.
Ich nehme meinen Rucksack ab, verstecke ihn im Spalt zwischen Container und Zaun, dann gehe ich ein paar Schritte zurück. Ein kurzer Sprint und ein Sprung – dann bekomme ich das Scharnier zu fassen. Ich schwinge meine Beine hoch und hake einen Fuß am Deckel ein, dann strample und kämpfe ich mich nach oben, wobei ich mehr Kontakt zum Müllcontainer habe, als mir lieb ist. Ein schwieriges Manöver, aber sauber ausgeführt. Klettern ist zwar kein ordentlicher Sport, aber wenn es das wäre, dann wäre ich richtig gut darin. Ich kann nicht erklären, warum, aber immer, wenn ich etwas Hohes sehe, will ich unbedingt raufklettern.
Es gibt einen Mann, der an Hochhäusern raufklettert. Er geht einfach los und tut es, und sobald er losgeklettert ist, kann ihn keiner mehr aufhalten. Wenn er oben ist, wird er jedes Mal festgenommen, aber das ist ihm egal. Ich wette, dass sogar die Polizisten, die ihn festnehmen, lieber mit ihm befreundet wären. Manchmal, wenn ich mich langweile, sehe ich mich um und überlege, wo die besten Griffe für Hände und Füße wären. Die besten Kletterer können ihr ganzes Körpergewicht mit einem Finger halten.
Von dem Container aus sehe ich mich um. Es gibt nicht viel zu sehen – nur die Gasse –, aber allein die Welt von so weit oben zu betrachten, fühlt sich gut an. Ein fischiger Gestank steigt unter meinen Füßen auf. Der Deckel sinkt bei jedem Schritt unter meinem Gewicht ein, dellt sich nach innen. Ich kann mir vorstellen, wie ich aussehe, falls er bricht. Genau wie in den Zeichentrickfilmen: das wütende Gesicht voll mit roter und brauner Sauce, ein Spiegelei auf der einen Schulter, eine Fischgräte auf der anderen und Spaghetti auf dem Kopf. Spaghetti sind ein Muss. Wenn man den Gestank dazunimmt und sich vorstellt, dass es einem gleich wirklich passiert, ist es allerdings nicht mehr so lustig.
Ich kann immer noch nicht über den Zaun gucken, aber immerhin sehe ich, dass die Baustelle genau bis zur Mauer führt. Wenn dieser Ort hier einen geheimen Zweck hat, dann liegt das an seiner Lage. Ich ziehe mich auf die splitterige Spitze des Zauns, lasse ein Bein rüberbaumeln und sehe zum ersten Mal auf die Baustelle runter. Da ist ein Haus. Ein Haus mit Garten. Aber in meinem ganzen Leben habe ich so was noch nicht gesehen.
Der ganze Ort hier ist platt gewalzt. Zerquetscht. Planiert. Eine Wand steht noch in einem Winkel von 45 Grad, der Rest wurde darunter zerquetscht und zermalmt, bis nichts mehr als ein Haufen Schutt übrig war. In dem Berg aus Steinen und Mörtel erkenne ich die Hälfte eines rosa Schminktisches; Blöcke von zerknittertem Papier, die noch gebunden sind, aber nicht mehr als Bücher bezeichnet werden können; ein Telefon ohne Hörer mit einer langen Schnur, die sich irgendwo verläuft, als ob jemand immer noch einen Anruf erwartet; eine Spielzeug-Wiege; ein gelbes Kleid, das halb aus einem zerbrochenen Fensterrahmen hängt; ein DVD-Player, der in der Mitte aufgebrochen ist; eine Klobrille mit verziertem Deckel.
Zwei Stimmen melden sich in meinem Kopf. Die eine sagt mir aufgeregt, dass dies hier der beste Abenteuerspielplatz ist, die beste Kletterwand, das beste Geheimversteck, das ich je gefunden habe. Sie drängt mich, sofort runterzuspringen und die Ruine zu erforschen. Die andere hält mich zurück. Diese Stimme ist leiser – sie scheint eigentlich gar keine Worte zu haben –, aber sie ist mächtig und hält mich oben auf dem Zaun fest. Es ist ein Gefühl, das ich nicht ganz verstehe und das mit den ganzen Dingen zu tun hat, die aus dem zerstörten Haus quellen, mit der offensichtlichen Hektik, in der dieser Ort von einem Heim in einen Schrotthaufen verwandelt wurde. Eine unheimliche Kälte scheint daraus aufzusteigen. So als hänge eine Art Nachgeschmack der Gewalt in der Luft wie ein unangenehmer Geruch.
Alle Häuser in Amarias sehen gleich aus. Und überall werden neue gebaut: Erst kommen die Betonwände, aus denen Metallstangen herauswachsen wie Haare, dann das rote Dach und die Fenster, und schließlich die Fassadenverkleidung, die wie Farbe drangeklatscht wird. Aber dieses Haus ist anders. Nicht aus Beton. Sondern aus soliden Steinen.
Ich will runterspringen und mich umsehen und auf den Schutthaufen steigen, aber gleichzeitig drängt es mich, davonzulaufen und alles zu vergessen, was ich gesehen habe. Ich fühle, dass ich etwas Verbotenes tue, indem ich über diesen Zaun sehe, indem ich weiß, was diese sogenannte Baustelle verbirgt.
Ich halte mich oben am Zaun fest und nehme den Platz etwas genauer in Augenschein. Auch wenn der Garten zum Großteil verwildert ist oder unter dem Schutt verborgen liegt, kann ich von hier oben ein Muster aus Wegen und Beeten erkennen. Ein riesiger Rosenbusch wuchert über eine umgestürzte Wand und bedeckt sie mit blutroten Blüten. In der Ecke stehen sechs alte Obstbäume, gepflanzt in einem perfekten Kreis, die einmal einen schattigen Platz geboten haben müssen. Die Bäume sind tot, nur ein paar trockene Blätter hängen noch an den Ästen, doch zwischen ihnen sehe ich eine Hollywoodschaukel aus Metall, die so aussieht, als wäre sie noch heil, als wäre sie das Einzige, das von all dem Chaos unberührt geblieben ist. Hinter den Obstbäumen ist das Grundstück kahl, flach, durchzogen von sauberen Spuren eines Bulldozers, die bis zur Mauer führen.
Mein Mund fühlt sich auf einmal trocken und klebrig an. Ich fühle mich, als hätte ich aus Versehen die Mutter eines Freundes nackt gesehen. Es ist irgendwie unangenehm, hier zu sitzen und dieses zerstörte Haus anzusehen, das genau das Gegenteil von allem ist, was meine Stadt vorgibt zu sein. Aber ich kann nicht wegsehen.
Ich weiß, es ist nicht in Ordnung, diese Ruinen zu betreten, genauso wie man nicht auf einem Friedhof Fußball spielt, aber ich kann jetzt nicht einfach gehen. Ich muss noch mehr erfahren. Ich muss diesen Ort anfassen, darin herumgehen, nach Hinweisen suchen, was hier passiert ist. Und ich will außerdem immer noch meinen Ball zurück.
Ich sehe zwischen meinen Knien hinunter. Innen sind die Latten viel gröber und damit leichter zu besteigen als die an der glatten Außenfläche. Ich kann ganz schnell rein und wieder raus. Niemand braucht davon zu erfahren, außer vielleicht David. Er wird mir vermutlich sowieso nicht glauben, aber ich beschließe, ein Andenken mitzunehmen, um zu beweisen, dass ich wirklich hier drin war. Es wird nicht schwierig sein, etwas zu finden. Selbst von hier oben kann ich sehen, dass die Gegenstände, die aus dem Haus quellen, ganz anderen Leuten als uns gehört haben. Dies war das Haus von Menschen von der anderen Seite. Die Frage ist nicht, was mit ihnen passiert ist, sondern wie es dazu kommen konnte, dass sie überhaupt auf der falschen Seite der Mauer gewohnt haben und warum dieses Grundstück nicht geräumt und wieder bebaut worden ist.
Ich klettere den Zaun innen hinunter und drehe mich zu dem zerstörten Haus um. Hier hinter dem Zaun herrscht eine unheimliche Stille. Ich könnte in Sekunden über die umgestürzten Hauswände steigen, aber dieses Friedhofsgefühl ist hier drinnen, abgeschottet von der Außenwelt, noch stärker.
Ich schleiche am Zaun entlang, um hinter das Gebäude zu kommen. Ein seltsamer Drang, mich auf die Hollywoodschaukel zu setzen, überfällt mich. Ich will sehen, ob sie noch funktioniert und was für ein Geräusch sie macht. Ein Paar altmodische Terrassentüren kommen in Sicht, ein weiß gestrichener Rahmen mit einer Menge kleiner Glasfenster, in den Ecken blau gefärbt. Die Tür, die mir am nächsten ist, ist zerbrochen, die andere ist unberührt und steht immer noch, füllt zur Hälfte einen Durchgang von einem Nichts zum anderen.
Ich entdecke einen Gartenweg aus roten Steinen, der mich in einem hübschen Bogen zur Schaukel führt. Sie ist voller Rost, wie ein gesunkenes Schiff. Ich gebe ihr einen sanften Stoß und erwarte, dass sie quietscht, doch stattdessen höre ich vom anderen Ende des Gartens einen Knall, und ich drehe mich hastig um.
An der Seite des Hauses erhasche ich eine schnelle Bewegung, und eine kleine Staubwolke steigt von der Erde auf. Als sie sich legt, wird eine viereckige Metallplatte sichtbar.
Ich ducke mich hinter die Schaukel, bereit davonzusprinten, wenn irgendwer hier auftaucht.
Nichts rührt sich. Minuten vergehen, und alles bleibt ruhig. Wenn irgendjemand hier gewesen ist, als ich gekommen bin, dann ist er jetzt weg. Ich sehe meinen Ball, der zwischen zwei Mauersteinen auf einem Stück roten Stoffs liegt, das so aussieht wie die Überreste eines Sofakissens.
Ich warte noch ein bisschen, bis ich sicher bin, allein zu sein, dann hole ich meinen Ball und nähere mich dem Metall auf dem Boden. Es hat eine verschmierte, gerillte Oberfläche. Ich knie mich hin und berühre sie. Meine Hand zuckt zurück. Das Metall ist heiß von der Sonne, die darauf brennt.
Im Staub sind Fußabdrücke zu sehen. Sie führen zu diesem Metall und von da fort. Auf der Spur dieser Abdrücke entdecke ich etwas Seltsames: etwas, das nicht staubig oder alt oder kaputt ist. Es ist klein, aber neu und funktioniert noch. Ein schwaches Leuchten, das im Tageslicht kaum zu erkennen ist, kommt von einem Ende. Eine Taschenlampe, und sie ist immer noch eingeschaltet.
Ich nehme sie hoch. Ich schalte sie aus und wieder an. Sie kann noch nicht lange hier liegen; die Batterien sind noch frisch. Ich drehe mich um und sehe wieder auf die Metallplatte. Der Knall; die Fußspuren; die Taschenlampe – die drei Dinge verbinden sich. Etwas befindet sich unter diesem Metall.
Ich scanne das Grundstück, um sicherzugehen, dass ich immer noch allein bin. Einen Moment überlege ich, ob ich Hilfe holen soll. Vielleicht einen Erwachsenen. Aber was würde ich ihm sagen, und warum sollte er mir glauben oder sich auch nur dafür interessieren, was ich sage? Ich habe eine funktionierende Taschenlampe gefunden. Irgendwas hat sich bewegt und einen Knall verursacht. Die Chancen, dass ich überhaupt zum interessanten Teil der Geschichte komme und nicht ausgeschimpft oder dafür bestraft werde, dass ich in diese Baustelle geklettert bin, stehen schlecht. Außerdem, selbst wenn man mir glaubt und ich etwas Wichtiges entdeckt habe, würde man mir dann erlauben, es zu sehen? Würde man mir je die Wahrheit darüber erzählen, was ich da entdeckt habe? Vermutlich nicht.
Wenn ich rauskriegen will, was hier drunter ist, dann muss ich es schon selbst tun, und zwar jetzt gleich.
Ich gehe in die Knie und hebe den Metalldeckel an. Darunter kann ich ein dunkles Loch ausmachen. Ich drücke die Klappe weiter hoch, sodass sich der heiße, scharfe Rand in meine Haut bohrt, doch mit einem letzten Schubs rutscht sie zur Seite. Ich lasse die Klappe los und sehe gleich, dass dieses Loch kein normales Loch ist. Ein Seil hängt an einer Metallschlaufe, die jemand gleich unter der Erdoberfläche geschlagen hat. Im Seil befinden sich Knoten in Abständen von ungefähr der Länge meines Unterarms. Ich kann vier Knoten erkennen, dann sehe ich nichts mehr, bloß ein schwarzes Loch. Das Loch ist mannsgroß, aber seine Form ist unregelmäßig, als wäre es ohne Hilfe von Maschinen gegraben worden. Es ist irgendein Eingang.
Ich knie am Rand und leuchte mit der Taschenlampe hinein, wobei ich den Arm so weit wie möglich nach unten strecke. Im schwachen, dünnen Lichtstrahl verfolge ich das Seil bis dorthin, wo es sich auf einer dunklen Fläche, die aussieht wie Erde, zu einem weißen Haufen rollt. Aber ich bin nicht ganz sicher.
Ich kann nichts Hohes sehen, ohne dass ich raufklettern will. Jetzt starre ich in dieses Loch – ein Loch, wie ich noch nie eins gesehen habe –, und dieselbe Stimme meldet sich und sagt mir, dass ich da runterklettern soll. Ich soll mich umsehen, soll rausfinden, wozu es dient und wohin es führt.
Ich habe eine Ahnung, was es sein könnte, und ich weiß, wie gefährlich es ist, sich mit so was einzulassen, aber andererseits: Dass ich über dieses Geheimnis gestolpert bin, mitten in meiner langweiligen Stadt, wo ich nichts zu tun habe und nirgendwo hingehen kann, das ist beinahe so wie einen vergrabenen Schatz zu finden. Ich kann ihn nicht einfach liegen lassen und weggehen.
Vielleicht sollte ich erst die Risiken abwägen, mich an alles erinnern, wovor man mich je gewarnt hat, und mir klarmachen, was ich alles zu verlieren habe. Das würde David sicher tun, wenn er an meiner Stelle wäre, aber ich bin nicht er, und ich will auch nicht so sein wie er. Geheimnisse sind dafür da, aufgedeckt zu werden, Wände sind zum Klettern da und geheime Verstecke, um sie zu erkunden. So ist es nun mal.
Ich stecke die Taschenlampe ein und schiebe mich in das Loch. Der erste Knoten sitzt etwas tiefer, als ich mit meinen Füßen erreichen kann, also klemme ich mir das Seil zwischen die Knie und lasse mich langsam runter, wobei ich eine Hand unter die andere setze, bis ich auf einem Knoten stehen kann. Danach ist der Abstieg leicht, und ich lasse mich Knoten für Knoten bis zum Boden runter. Ich fange gerade an, Spaß daran zu haben, da bin ich schon unten und stelle fest, dass ich mir gewünscht habe, das Loch wäre tiefer.
Die Erde auf dem Boden ist weicher und dunkler als oben. Sie fühlt sich kühl an. Ein feuchter Geruch hängt in der Luft, wie eine Fußballtasche, die man ein paar Tage nicht geöffnet hat. Ich knipse die Taschenlampe an und stelle sofort fest, dass meine Vermutung richtig war. Das Loch ist mehr als bloß ein Loch. Es ist ein Tunnel, der mit groben Holzbalken und dünnen Brettern gestützt wird, die aussehen, als stammten sie von Verpackungskisten. Ein schmaler und scheinbar endloser Erdgang, der in der Dunkelheit verschwindet, in Richtung Mauer.
Jetzt muss ich mich entscheiden. Ich kann wieder raufklettern, meinen Fußball einpacken und nach Hause gehen; oder ich gehe durch diesen Tunnel. Ich weiß, was ich tun sollte. Ich weiß, was jeder andere Junge in Amarias tun würde. Aber so, wie ich es sehe, sind das die zwei besten Gründe, um genau das Gegenteil zu tun.
Ich wohne in Amarias, seit ich neun bin, und in diesen vier Jahren bin ich niemals auf der anderen Seite gewesen. Die Mauer ist höher als das höchste Haus in der Stadt. Wenn ich über sie hinwegsehen wollte, müsste ich auf den Schultern eines Mannes stehen, der auf einem anderen Mann steht, der wieder auf einem Mann steht, der auf einem weiteren Mann steht. Je nach Größe ist vielleicht noch ein weiterer Mann nötig. Diese Gelegenheit hat sich für mich noch nicht ergeben.
Die Mauer wurde errichtet, um die Leute auf der anderen Seite davon abzuhalten, Bomben zu zünden, und jeder sagt, dass sie ihren Zweck hervorragend erfüllt. Die meisten Arbeiter auf den Baustellen in Amarias stammen von der anderen Seite – man kann es ihnen ansehen, wenn man durch die Stadt fährt –, doch ansonsten hat man eigentlich das Gefühl, es gibt sie gar nicht, obwohl sie praktisch nebenan leben. Nein, das stimmt nicht ganz. Man weiß, dass es sie gibt, wegen der Mauer und der Checkpoints und der Soldaten, die als ständige Erinnerung daran überall rumstehen, aber es ist, als wären sie praktisch unsichtbar.
Ich dachte, ich würde bis zum Beginn meines Wehrdienstes nicht auf die andere Seite der Mauer kommen, doch als ich jetzt in diesem Tunnel aus feuchter Luft stehe, wird mir klar, dass ich vielleicht schon in fünf Minuten meinen Kopf rausstecken und mich umsehen kann. Die Alternative ist, noch fünf Jahre bis zur Einberufung zu warten.
Die Leute erzählen sich die wildesten Geschichten über die andere Seite, aber Erwachsene übertreiben ja immer. Sie versuchen einem ständig weiszumachen, dass man schon von einer einzigen Zigarette stirbt; dass es ebenso tödlich ist, die Straße zu überqueren, wie mit Messern zu jonglieren; dass Fahrradfahren ohne Helm selbstmörderisch ist, und nichts von alldem stellt sich je als wahr heraus. Wie gefährlich kann es sein, hier durchzukriechen und sich mal kurz umzusehen? Und wie frustriert würde ich mich morgen fühlen, wenn ich jetzt einfach wieder rausklettere und nach Hause gehe?
Es hört sich verrückt an, aber ich habe noch nicht mal Angst, als ich mich dafür entscheide, durch den Tunnel zu kriechen. Eigentlich scheint es die einzige echte Option. Wenn man die Gelegenheit bekommt, ein Geheimnis aufzudecken, und man geht einfach daran vorbei, dann stimmt doch irgendwas nicht mit einem.
Die Taschenlampe leuchtet ein paar Meter weit in den Tunnel hinein, nicht mehr. Ich blicke zum letzten Mal hoch und erkenne wie durch ein Teleskop ein rundes Stück blauen Himmels mit einem winzigen weißen Wölkchen.
Ich lasse mich auf alle viere und schwenke die Taschenlampe vor mir her. Ich versuche, mich daran zu gewöhnen, dass ich nur in ihrem schmalen Strahl etwas erkennen kann und sonst überall von dichter, samtiger Schwärze umgeben bin. Zuerst fühlt es sich beinahe an wie ein Zaubertrick, weil die Dinge verschwinden, sobald der Schein der Taschenlampe nicht mehr auf sie fällt. Dann denke ich daran, wie seltsam es ist, dass man sein ganzes Leben in einer Stadt verbringen kann, ohne je echte Dunkelheit zu erleben. Amarias ist die ganze Nacht von orangefarbenen Straßenlampen und den Strahlern am Checkpoint beleuchtet.
Eine letzte Sorge hält mich auf. Ich nehme das Telefon aus meiner Tasche und drücke auf den Knopf, um das Display zu beleuchten. In diesem Loch hier unten habe ich nur noch minimalen Empfang. Ich lege die Taschenlampe hin und schreibe eine SMS an Mum: «Spiel noch mit david fußball, komme später.»
Dann nehme ich die Taschenlampe in die rechte Hand, stütze mich mit der anderen auf die feuchte Erde und fange an zu kriechen. Im Tunnel ist es seltsam laut und gleichzeitig unangenehm leise. Ich kann kein Geräusch von draußen hören, aber jede Bewegung, die ich mache, scheint von den Wänden widerzuhallen, als würde sie verstärkt. Das Kratzen meiner Hand und der Taschenlampe auf der Erde; das Schaben meiner Schuhe hinter mir; das Keuchen meines eigenen Atems; all das dröhnt um mich wie ein ständiges Echo, das sich nur beruhigt, wenn ich innehalte. Selbst dann kommt es mir vor, als könnte ich mein eigenes Schlucken und Blinzeln hören.
Die Angst kriecht aus dem Boden in meinen Körper wie Kaffee in einen Zuckerwürfel. Spannung legt sich um mein Herz und presst mir die Lungen zusammen. Ich versuche, mir vorzustellen, dass mein wahres Ich irgendwo anders ist, oben im Tageslicht, in Sicherheit. Ich rede mir ein, es gäbe zwei Ausgaben meiner Selbst: Die eine ist im Tunnel, und die andere feuert mich von oben an. Je länger ich mir das ausmale, desto einfacher ist es, sich das vorzustellen, wie eine Verbindung durch die Erde: Ich krieche auf allen vieren durch einen Tunnel, und über der Erde geht mein anderes Ich, passt sich meinen Bewegungen an, geht durch den Garten des abgerissenen Hauses, kommt näher und näher an die Mauer und durchschreitet sie wie ein Geist, geht einfach hindurch in diesen unbekannten Ort auf der anderen Seite.
Das ist eine komische Idee: nicht nur, einfach durch die Mauer zu gehen, sondern auch dieses Unten und Oben. Normalerweise fühlt sich die Welt an wie eine flache Haut, auf der man herumläuft, aber dann fällt einem manchmal wieder ein, dass es mehr gibt als bloß flaches Land, denn darüber ist die Luft, und darunter ist die Erde. Jeder Ort ist eigentlich eine Säule, die bis ins Zentrum der Erde reicht und bis nach oben in den Himmel. Man vergisst auch, dass man im ersten Stock praktisch auf den Köpfen der Leute aus dem Erdgeschoss herumspaziert. Wenn man lange genug darüber nachdenkt, fühlt sich das total schräg an. Wenn Böden und Decken aus Glas wären, dann würden alle Leute verrückt werden. Sie könnten es nicht ertragen, und alle würden nur noch in Bungalows leben wollen.
Es ist nützlich, über so was nachzudenken, wenn man etwas Unheimliches tut, denn ich habe keine Ahnung, wie lange ich hier schon krieche und wie weit ich gekommen bin. In diesem Moment zeigt mir der Schein der Lampe einen grau-weißen Fleck. Ich höre auf zu kriechen und halte die Lampe vor mich, spähe in das Licht und versuche, den Klecks zu identifizieren.
Nach einem weiteren Meter weiß ich, was es ist. Es ist ein Seil. Ich bin am Ende des Tunnels angelangt. Ich bin auf der anderen Seite.
«Du hast es geschafft!», denke ich mit militärischer Stimme. «Eine riskante Mission wurde mit Entschlossenheit, Mut und Geschick ausgeführt.» Wenn ich mir etwas aus Medaillen machen würde, dann würde ich mir hier und jetzt eine verleihen. Aber tatsächlich hasse ich Medaillen. Sie haben meinem Dad eine verliehen. Mum hat sie irgendwo versteckt, und ich will gar nicht wissen, wo.
Jetzt will ich nur noch schnell einen kurzen Blick nach draußen werfen. Danach kann ich nach Hause gehen. Ich greife nach dem Seil und ziehe daran, um zu sehen, ob es mich hält. Dann schalte ich die Lampe aus und stecke sie mir hinten in die Tasche. In vollkommener Dunkelheit klettere ich Knoten für Knoten nach oben.
Der Deckel dieser Öffnung bewegt sich schon bei leichtem Druck. Er ist ebenfalls aus Metall, aber dünner und leichter als der beim Eingang. Vielleicht ist aber auch dies hier der Eingang. Das hängt davon ab, für wen der Tunnel gebaut wurde und warum.
Ich schiebe den Deckel vorsichtig zur Seite, bis die Öffnung groß genug ist, um meinen Kopf durchzustecken. Dann setze ich die Füße auf den nächsten Knoten. Jetzt brauche ich nur noch die Beine zu strecken, dann kann ich den Kopf durchschieben und einen ersten Blick auf die andere Seite werfen.
Ich komme in einer Gasse zwischen einem heruntergekommenen Gebäude mit zugemauerten Fenstern und der Mauer heraus, die auf dieser Seite kaum wiederzuerkennen ist. Natürlich hat sie dieselbe Höhe und ist aus demselben Beton, aber im Gegensatz zu der nackten grauen Oberfläche, die ich kenne, ist diese Seite zwei Meter hoch mit Graffiti bedeckt: eine Mischung aus Zeichnungen, Sprüchen und wahllosem Gekritzel. Nichts davon ist in meiner Sprache, also verstehe ich kein Wort. Ein Bild von einem riesigen, altmodischen Schlüssel wiederholt sich in einer langen Reihe über dem Text, etwa zwanzig- oder dreißigmal, und das so weit oben, dass jemand eine Leiter dafür benutzt haben muss.
Am Ende der Gasse versperrt ein hoher Metallzaun den Durchgang zu einem unbekannten Grundstück oder Brachland. In der anderen Richtung wird mein Blick von großen Mülltonnen verstellt, aber ich sehe ein paar vorbeigehende Füße und hier und da ein Auto. Das scheint der Weg in die Stadt zu sein, aber der Tunnelausgang (oder -eingang) liegt so, dass man rein- und rausgehen kann, ohne von der Straße aus gesehen zu werden. Ich prüfe noch einmal, ob mich wirklich niemand sieht, drehe den Kopf in alle Richtungen, dann schiebe ich das Metall zur Seite und ziehe mich hoch. Sobald ich raus bin, schiebe ich den Deckel mit den Füßen wieder über den Tunnel.
Ich stehe ganz still und wage nicht, mich zu rühren. Durch einen Spalt zwischen den Tonnen sehe ich einen Ausschnitt von, wie es scheint, ganz normalem Leben: Autos, Motorräder, Fußgänger, Leute, die hier und dort hingehen und Dinge tun, die man eben so tut – sie tragen Plastiktüten, schieben Kinder in Buggys, reden, stehen herum. Aber selbst durch diesen schmalen Spalt kann ich erkennen, dass irgendwas hier grundsätzlich anders ist als das, was ich kenne. Vielleicht ist es diese Geschäftigkeit, der Lärm, die Menschenmenge; vielleicht ist es die Art, wie die Leute aussehen und gehen, wie sie miteinander reden und was sie für Kleidung tragen; vielleicht liegt es aber auch nur an meinem eigentümlichen Wissen, dass die Fremdheit dieses Ortes nur in meinem Kopf existiert, weil er mir unbekannt ist. Es sind ganz normale Menschen, die einen ganz normalen Tag in ihrer für sie ganz normalen Stadt verleben, aber es fühlt sich an, als hätte meine kurze Reise durch den Tunnel mich weiter von zu Hause weggebracht als je zuvor, und dieser eingeschränkte Blick durch den Spalt ist mir einfach nicht genug.
Ich krieche auf die Mülltonnen zu und quetsche mich durch den Spalt, bis ich auf die Gasse hinaussehen kann. Sie führt zwischen zwei hohen Betongebäuden hindurch auf die Straße. Ihre Mauern sind mit grünen und brauen Flecken übersät. Ich drücke mich in die Schatten, spähe und lausche und schleiche langsam vorwärts, um noch mehr zu sehen. Ich weiß, ich sollte sofort umkehren und mich in Sicherheit bringen, aber was ich sehe, hält mich fest. Dieser Ort platzt praktisch von etwas, das ich nicht benennen kann; es ist ein Gefühl von Geschäftigkeit und Lebendigkeit, wie die Essenz dessen, was den stillen, sauberen, neu errichteten Straßen von Amarias fehlt.
Schließlich erreiche ich die Straßenecke und gestatte mir einen schnellen Blick in jede Richtung – zwei hastige Schnappschüsse dieser nahen und doch so fernen Welt. Läden und Stände reihen sich aneinander, und alles wirkt irgendwie zusammengewürfelt. Vor mir steht ein Mann im Trainingsanzug neben einem Holzkarren, der bis oben hin mit Zigarettenpackungen beladen ist. Hinter ihm befindet sich ein Gemüseladen, und auf dem Fußweg davor stehen Säcke voller Bohnen, Linsen, Mais, Kuskus und Reis, darüber Kisten mit Auberginen, grünen Paprika, Kartoffeln, Blumenkohl und Zitronen. Weiter die Straße runter sitzt eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch auf einem Plastikeimer hinter einem hüfthohen Stapel Eier, doch sie teilt sich ihren Platz mit einer Reihe von Autositzen, Federn, Felgen und Achsen aus einer Autowerkstatt. Weiter unten sitzen noch mehr alte Männer und Frauen hinter kleinen Stapeln Gemüse, dazwischen jüngere Leute, die Handys und Telefonzubehör mit falschen Edelsteinen verkaufen.
Gegenüber der Gasse befindet sich eine Bäckerei mit einem großen, handbemalten Schild, auf dem ein Stück grüner Kuchen mit Flügeln zu sehen ist, der durch einen stahlblauen Himmel fliegt. Im Fenster sehe ich einen Haufen oval geformter Brote, wie gestreckte Bagels, und hellgelbe Kuchen in Sternenform.
In der anderen Richtung gibt es einen Schlachter, in dessen Fenster drei ganze Tierkadaver an Haken hängen. Davor sitzen zwei mittelalte Männer hinter einem niedrigen Holztisch und bieten Ketten, Haarspangen und Babyschuhe an. Weiter unten sehe ich Obststände und Bonbonstände, die den Eingang zu einer lauten Werkstatt blockieren, in der zwei Männer in einer Staubwolke mit einer Kreissäge hantieren. Noch während ich hinsehe, kommen zwei Teenager vorbei, die einen riesigen Kanister mit Gas hinter sich herziehen. Ein Holzkarren mit einer wackligen Pyramide aus Orangen folgt ihnen. Ein klagender Gesang, der von Geigen unterstützt wird, schwebt von irgendwoher die Straße entlang und prallt auf die laute Stimme eines Mannes, die hektisch aus den Lautsprechern eines schlecht eingestellten Radios dröhnt.
Neben der Bäckerei sitzt ein alter Mann mit zerknitterter weißer Mütze auf einem Plastikstuhl in einer schmalen Türöffnung. Er klappt sein Benzinfeuerzeug auf und wieder zu, betrachtet alles weder gelangweilt noch interessiert.
Keines der vielen Details ist besonders seltsam, aber alle zusammen ergeben für mich die ungewöhnlichste Straße, die ich je gesehen habe – verlockend lebendig und seltsam deprimierend zugleich. Es gibt keine Fahrbahnmarkierung auf der Straße, und der Belag ist alt, rissig und voller Löcher. Die Gebäude wirken schlecht gebaut, überall hängen Kabel und Rohre heraus. Viele sehen unfertig aus, weil aus ihren Dächern Eisenstangen hervorgucken. Kaum ein Haus ist verputzt, und die Läden präsentieren alle ihre Ware auch auf der Straße, als gäbe es keinen großen Unterschied zwischen drinnen und draußen. Und keiner der vorbeigehenden Passanten scheint das irgendwie merkwürdig zu finden.
Während ich dieses mysteriöse Bild aus Fremdheit und Normalität betrachte, vergesse ich einen Augenblick meinen Plan, nur einen schnellen Blick auf alles zu werfen und dann zu verschwinden. Selbst als mich ein paar Leute anstarren und dann weitergehen, zögern meine Füße immer noch, mich zum Tunnel zurückzutragen. Dann bemerke ich eine Gruppe von vier Jungen, die die Straße in meine Richtung überqueren. Sie eilen direkt auf mich zu. Sie sind groß, bestimmt ein oder zwei Jahre älter als ich, und ihre Augen scheinen mit einer seltsamen Intensität zu glühen, während sie auf mich zuhalten.
Ich drehe mich schnell um und laufe die Gasse zurück. Ich höre, wie ihre Schritte schneller werden, wie sie die Verfolgung aufnehmen, höre ihre wütenden Schreie, die in dieser schwülen Gasse widerhallen. Ich kann nicht verstehen, was sie rufen, aber offensichtlich ist es keine freundliche Begrüßung.
Mein Herz schlägt heftig gegen meinen Brustkorb, als ich mich durch die Lücke zwischen die Mülltonnen dränge. Ich weiß, dass ich den Tunnel vor den Jungs erreiche, aber wenn sie mich dann weiter verfolgen, was dann?
Meine Füße treten den staubigen Boden, als ich von den Mülltonnen in Richtung Tunnel sprinte, doch plötzlich erkenne ich, dass ich nicht allein bin. Ein Junge steht auf dem Tunneleingang. Er hält die Arme vor der Brust verschränkt, und seine Füße stehen fest auf der Metallklappe. Er ist etwa so groß wie ich und sieht dünn aus, aber taff. Obwohl er eine ordentliche Schuluniform trägt, drückt schon seine Körperhaltung aus, dass er weiß, wann er zuschlagen muss.
Ich bleibe nur ein paar Schritte vom Tunnel entfernt stehen. Er starrt mich mit hartem, traurigem Blick an, als wüsste er genau, wer ich bin und was ich will, und mit beinahe bedauerndem Blick schüttelt er den Kopf. Er wird nicht beiseitegehen. Er wird mich nicht in den Tunnel lassen.
Ich könnte versuchen, ihn wegzustoßen, aber wenn er sich wehrt, bin ich geliefert. Die vier Jungs, die mich verfolgen, schieben sich bereits zwischen den Mülltonnen hindurch. Gleich werden sie sich auf mich stürzen.
Es gibt nur noch eine Richtung, in die ich flüchten kann: am Tunnel vorbei zu dem Metallzaun. Die Jungs starren mich ungerührt an, als ich losrenne, weiter die Gasse hinunter, aber wohin? Über diesen Zaun kann ich nicht rüber, und ich habe keine Ahnung, was diese Jungs mit mir machen werden. Es wird schlimm, aber wie schlimm? Ich habe noch nie eine richtige Schlägerei erlebt, aber ich weiß, dass ich gleich von einer Gang von Jungs zusammengeschlagen werde – zumindest geschlagen und getreten –, die größer und älter und brutaler sind als ich und die mich nur deshalb hassen, weil ich von der anderen Seite der Mauer bin.
Selbst wenn ich vor den Jungs flüchten kann, muss ich wieder zurück zum Tunnel. Wenn ich mich hier verlaufe, sitze ich richtig in der Klemme. Hier gibt es vermutlich Erwachsene, die mir noch Schlimmeres wünschen als diese Jungs. Und als ich meine Hände in den Draht des Zauns kralle und mich brutal zum Halten zwinge, wird mir plötzlich klar, dass ich vielleicht nie wieder nach Hause komme.
Ich kralle mich am Zaun fest und fange an zu klettern. Bei den ersten zwei Versuchen rutsche ich gleich wieder runter, kaum dass ich den Boden verlassen habe. Bloß die alleräußersten Spitzen meiner Turnschuhe passen in die Rauten aus Draht, aus denen der Zaun besteht, und meine Finger allein sind nicht stark genug, um mein Gewicht zu halten.
Die Jungen sind mir auf den Fersen, sie laufen an dem Typen vorbei, der auf der Falltür steht, rennen immer noch schreiend auf mich zu. Ihre Stimmen klingen triumphierend, auch wenn ich nicht verstehe, was sie sagen. Sie wissen, dass sie mich gleich haben.
In meiner Verzweiflung reiße ich mir die Schuhe von den Füßen und fange wieder an zu klettern. Jetzt kann ich die großen Zehen in die Zaunlöcher schieben. Der Draht schneidet in meine Haut, aber ich schaffe es im letzten Moment, den Zaun zu erklimmen, gerade als die Jungs ankommen. Sie springen am Zaun hoch, und einer packt mich an den Knöcheln und zieht mich zu sich runter. Dabei löst sich auch mein anderer Fuß aus seinem Halt, und einen Moment lang hänge ich nur mit den Händen fest. Ich habe kaum noch Kraft, mich festzuhalten, aber mein Beinahe-Fall führt dazu, dass der Junge meinen Knöchel loslässt. Ich schiebe meine Zehen wieder in den Zaun und klettere so schnell ich kann weiter, während der Zaun unter meinem Gewicht kracht und wackelt.
Einen Augenblick später bin ich oben, bin drüber und lasse mich auf der anderen Seite fallen. Ich lande mit einem Knall, rutsche auf dem steinigen Untergrund aus und falle hin. Zwei der Jungen folgen mir über den Zaun, aber ihre Größe behindert sie, und sie sind kaum auf halber Höhe angelangt.
Als ich wieder stehe, könnte ich die Hand ausstrecken und die beiden Jungs berühren, die das Klettern aufgegeben haben. Ihr hasserfüllten Blicke dringen durch den Zaun zu mir. Ich überlege, was ich sagen könnte, damit sie merken, dass sie mich nicht hassen müssen, dass ich nichts gegen sie habe, dass ich bloß ein Junge bin, der noch nie jemandem etwas Böses getan hat – aber in meinem Kopf formen sich keine Worte. Einen Augenblick sieht es so aus, als wolle einer von ihnen etwas sagen, dann löst sich etwas Weißes aus seinem Mund und fliegt direkt auf mich zu. Ich habe gerade noch Zeit zu blinzeln, die schmierige Form zu erkennen, die durch die Luft rotiert, aber ich habe keine Zeit mehr auszuweichen.
Ich drehe mich um und renne los, wobei ich mir die warme, eklige Spucke aus dem Gesicht wische. Das unbekannte Grundstück ist, wie ich erst jetzt sehe, mit vertrockneten Kriechpflanzen bedeckt und führt mich zu einer T-Kreuzung. Ich laufe blindlings nach rechts, laufe eine schmale Straße mit niedrigen Betonhäusern entlang, schlängle mich zwischen einer Gruppe Kinder und herunterhängenden Wäscheleinen hindurch. Alle Leute bleiben stehen und starren mir hinterher.
Ich spüre, wie sich der raue, steinige Boden bei jedem Schritt in meine Sohlen bohrt, doch ich habe keine Zeit, um langsamer zu werden oder auf den Boden zu achten. Ich laufe so oft wie möglich im Zickzack, biege an jeder Kreuzung anders ab, aber immer, wenn ich langsamer werde und denke, jetzt bin ich ihnen entkommen, höre ich die Schreie der Jungen, die mich weiter verfolgen.
Meine Beine schreien nach einer Pause, meine Muskeln scheinen sich um meine Knochen zu verhärten. Mein Hals hat sich zu einer engen, brennenden Röhre verengt und transportiert nur wenig Luft in meine keuchenden Lungen.
Ich laufe so weit ich kann, bis ich schließlich merke, dass meine Beine mich einfach nicht mehr tragen. Ich bleibe stolpernd stehen und lausche. Einen Augenblick lang herrscht Stille. Mein Puls scheint durch meinen ganzen Körper zu hämmern, bis in die Fingerspitzen, den Hals, meine Schläfen, als würde sich alles an mir ausdehnen und zusammenziehen, um das Blut zu pumpen. Ich höre keine Schreie mehr, keine laufenden Schritte, aber sie können nicht weit sein. Meine letzte Hoffnung ist ein Versteck, und mir bleibt nur wenig Zeit, eins zu finden.
Ich sehe mich in der engen Straße um und finde ein schwarzes Motorrad, das gegen eine Wand gelehnt steht. Dahinter ist ein bisschen Platz. Es ist kaum das perfekte Versteck, aber es ist meine einzige Option. Ich springe in die Lücke und kauere mich hin wie ein Fötus. Als ich die beste Haltung gefunden habe, verharre ich absolut still und atme so langsam und leise, wie ich kann, kämpfe gegen das Keuchen meiner Lungen an.
Ein Piepton aus meiner Tasche durchschneidet die Luft. Ich ziehe mein Telefon aus der Tasche. Eine Nachricht steht auf dem Display. «Okay. Viel Spaß. Mum xxx.»
Mein Handy! Kann ich jemanden anrufen und um Hilfe bitten? Wen? Und wie kann ich sagen, wo ich bin, wenn ich es selbst nicht weiß? Was immer auch möglich ist, in diesem Moment darf ich kein Geräusch machen, schon gar kein Telefonat führen oder auch nur ein weiteres Signal riskieren. Ich schalte es aus, wobei ich den Lautsprecher mit dem Daumen verdecke.
Es kommt mir seltsam vor, dass diese Worte von einem Telefonmast auf der anderen Seite der Mauer geflogen kommen und mich hier hinter diesem Motorrad erreichen. Der Gedanke an meine Mum, die wahrscheinlich gerade am Herd steht und diese Nachricht eintippt, zieht mir den Hals zusammen, und meine Augen fangen an zu brennen. Ich sehe es vor mir: die kochenden Töpfe, ihr vorgebeugter Kopf, das leichte Stirnrunzeln, während sie mit den winzigen Tasten kämpft. Es ist möglich, dass ich diese Küche niemals wiedersehen werde, dass Mum in diesem Moment meine allerletzte Mahlzeit zubereitet, die ich nicht einmal essen werde.
Als ich mich herumdrehe, um das Telefon in meine Tasche zu schieben, erschrecke ich: Über mir lehnt ein Mädchen aus einem Fenster im Erdgeschoss und guckt mit großen braunen Augen direkt auf mich runter. Hätte ich sie vorher gesehen, hätte ich dieses Versteck niemals gewählt, aber jetzt ist es zu spät, um noch zu wechseln. Sie trägt eine grau-rote Schuluniform und sieht nicht älter aus als ich, aber ihre Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, als wäre sie jünger. Sie runzelt die Stirn und sieht amüsiert und verwundert aus.
Einen seltsamen, langen Moment lang sehen wir uns an: das Mädchen, das sich auf die Straße hinauslehnt, und ich, der hinter dem Motorrad kauert. Mit den Augen bitte ich sie,