Auf der Spur des Nachtlichts - Jack Ounif - E-Book

Auf der Spur des Nachtlichts E-Book

Jack Ounif

0,0

Beschreibung

Als sich der Verdacht erhärtet, dass ein Maulwurf bei der Firma ChemPharm eingeschleust wurde, erhält der Compliance Manager Lars Werner den Auftrag, der angeblichen Sabotage auf den Grund zu gehen. Gleichzeitig wird im Hintergrund an einer Shoot-Out-Acquisition gearbeitet, um ChemPharm samt seines neuartigen Wirkstoffs zu übernehmen und letztlich vom Markt zu werfen. Diverse Mitarbeiter von ChemPharm geraten in Verdacht, der Maulwurf zu sein, doch im Hintergrund wirkt eine weitere, unbekannte Person, die nicht vor Mord zurückschreckt. Als schließlich die Mordkommission die Ermittlungen übernimmt, stellt sich heraus, dass alles anders ist als es scheint.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 547

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

TEIL 2

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

TEIL 1

1.

Mit einem Schlag ist er wach. Wieder hat er im Schlaf erlebt, wie sein Herz stillsteht und er nicht mehr atmen kann. Jetzt, noch nicht ganz bei vollem Bewusstsein, steht er immer noch unter dem Eindruck des im Traum erlebten Herzversagens. Sein Körper sagt ihm aber etwas anderes. Im wachen Zustand fühlt er, wie sein Herz fast normal schlägt, vielleicht ein wenig schneller wegen der Aufregung im Traum und des plötzlichen Erwachens. Doch er merkt, dass auch seine Atmung wieder regelmäßig geht. Er atmet noch einmal tief durch wie zur Bestätigung. Dann ist er wieder angekommen in der nächtlichen Wirklichkeit nach den nur im Traum erlebten Herzinfarkten. Ihn überkommt einmal mehr eine fahle Erleichterung.

Phasenweise wacht er jede Nacht auf diese Weise nach immer demselben Albtraum auf, meist hat er nur kurz geschlafen. Auch jetzt ist es noch nicht spät, nicht einmal Mitternacht. Er nimmt die Konturen seines Schlafzimmers wahr, erkennt die Umrisse des Schreibtischs, die Schemen des Computers, den Fensterrahmen. Es ist nicht völlig dunkel, da aus einer Ecke das sanfte Gelb eines Nachtlichts strahlt. Die kleine Lampe ist mit der Figur des Spider-Man bedruckt, dem Helden seiner Kindheit und Jugend, eigentlich bis heute.

Das Nachtlicht begleitet ihn schon sein ganzes Leben. Es war ein Geschenk seiner Eltern, zunächst ein kleiner, tapferer Leuchtturm in der Dunkelheit seines Kinderzimmers und dann später, selbst noch im Erwachsenenleben, ein treuer Begleiter in Businesshotels auf der ganzen Welt. Nur mit dem Spider-Man-Nachtlicht kann er gut einschlafen. Leider verhindert es aber keine Albträume wie diesen.

Wenn er früher auf Klassenfahrten mit den anderen Schülern in einem Raum schlief, wollte und konnte er das Licht nicht benutzen, da er doch kein Kind mehr war. Wenn er als junger Mann bei seinen Freundinnen übernachtete oder sie bei ihm, fand er keine Ausrede, es einzuschalten, zu sehr schämte er sich dafür. Deshalb verbarg er das Nachtlicht fortan, selbst zu Hause.

Ein Glück, dass er das Leuchtmittel des Nachtlichts immer wieder wechseln und sich das Gerät erhalten konnte. Der Korpus des Nachtlichts sieht nach den vielen Jahren schon sehr abgegriffen aus, der Spider-Man ist kaum noch zu erkennen.

Das Nachtlicht beruhigt ihn auch jetzt und er denkt daran, aufzustehen und sich ein Glas Wasser zu holen.

Da merkt er, dass da etwas Neues kommt, dass Adrenalin seinen Körper flutet. Sein Herz schlägt schneller und sein Mund wird trocken. Als ihn die Welle der Panik ergreift, kann er nicht länger ruhig daliegen, er muss etwas tun. So kommt er auf die Beine, macht ein paar Schritte zum Schreibtisch, zwingt sich, ruhig aus dem Fenster zu schauen.

Er blickt auf die dunkelgrauen Schemen der Apfelbäume im Garten. Er sieht den Hang hinunter auf eine Häuserzeile. Beim Betrachten der nächtlichen Umgebung wird ihm die innere Unruhe bewusst, die sein schlagartiges Erwachen ausgelöst hat. Die Unruhe, die ihn seit Jahren begleitet und zuletzt immer stärker wurde. Ihm wird klar, dass er Mitwisser hat. Das kann er nicht länger aushalten, damit kann er nicht auf Dauer überleben …

Er beginnt, im Schlafzimmer auf und ab zu laufen. Er muss nachdenken. Aber er weiß: »Ich bin ein Anderer.«

2.

1. Juni 2015

»Lars, hast du nachher mal zehn Minuten – nach der Vorstandssitzung? Ich würde gerne etwas mit dir besprechen – unter vier Augen.«

Lars schreckte ein wenig aus seinen Gedanken auf. Die Ansprache von Edgar kam unerwartet. Lars war noch gedanklich bei seiner anstehenden Präsentation.

Er versuchte zu deuten, was Edgar von ihm wollen könnte. Das machte er immer, um besser auf Edgars Fragen vorbereitet zu sein. Beinahe jede von Edgars Ansprachen setzte ihn unter Strom, ein Gefühl, auf das Lars gerne verzichtet hätte.

Es gelang ihm nur schwerlich, zu tief saß das Bewusstsein, dass Edgar sein Vorgesetzter war. Allein die Tatsache, dass da jemand war, der Macht über ihn ausüben konnte, erzeugte Anspannung. Es war nicht so, dass Lars vor Edgar Angst hatte, vielmehr wollte er seine Sache gut machen und damit gesehen werden. Dadurch wurde er aber so befangen, dass er sich manchmal ärgerte und sich dann auflehnen wollte. Er nahm sich hin und wieder vor, im Kleinen den Aufstand zu proben.

Was ist es heute?, fragte sich Lars. Hatte Edgar gute Nachrichten oder ging es um ein unangenehmes Thema? Lars betrachtete Edgar genauer. Edgar wirkte abgeschlagen und müde. In den letzten Monaten hatten sich immer tiefere Furchen in Edgars hageres Gesicht gegraben. Sein blonder Lockenschopf war mittlerweile ergraut. Seit er zum Vorstandsvorsitzenden berufen worden war, hatte sich sein Arbeitspensum nochmals deutlich erhöht. Edgar und Lars fanden immer weniger Zeit für Besprechungen, da Edgar von einem Termin zum nächsten hetzte. Gleichzeitig brauchte Edgar Lars mehr denn je, da die vielen Business-Transaktionen Lars’ Kontrolle von Compliance-Themen bedurften.

Für Lars war Edgar ein Überflieger. Jura-Studium innerhalb von sechs Semestern, Prädikatsexamen, dann ein Master of Law in Harvard, und ein dottore, erworben im schönen Italien. Nun war der Überflieger ganz oben angekommen. Er schien die Aussicht nicht wirklich zu genießen. Vielleicht war es besser, in der Hierarchie doch nicht an der Spitze zu stehen. Andererseits hatte Lars den Ehrgeiz, genau dorthin zu gelangen.

Aber dann gab es ja noch die Work-Life-Balance – bei Edgar kaum vorhanden. Gerüchten zufolge lebten Edgar und seine Frau getrennt. Doch es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen, hatte er die beiden noch vor wenigen Monaten als harmonisches Paar erlebt.

Die von Edgar geleitete Vorstandssitzung wurde für eine kurze Pause unterbrochen. Der dreiköpfige Vorstand tagte einmal pro Woche und besprach aktuelle Themen der Unternehmensleitung. Obwohl diese Sitzungen einen formalen Rahmen hatten, wurden sie meist eher informell abgehalten. Oft wurden Gäste eingeladen, die aus dem weiteren Kreis des Managements kamen und dort ihre Expertise einbrachten – wie etwa Lars an diesem Tag. Jeder wusste, dass es im Vorstand nicht immer sachlich und effektiv zuging. Man sprach deshalb von den Vorstandssitzungen auch als Debattier- und Renommierveranstaltungen.

Heute waren neben dem Vorstand, bestehend aus seinem Vorsitzenden Edgar Leipnitz (Chief Executive Officer – CEO), dem Finanzvorstand Keith Williams (Chief Finance Officer – CFO), dem Vorstand für Herstellung und Entwicklung Sören Meister (Chief Development Officer – CDO) und Lars ausnahmsweise die Wirtschaftsprüfer mit von der Partie. Das erweiterte den Rahmen und verlieh der Veranstaltung zusätzliches Gewicht.

Nachdem die Vorstände und Wirtschaftsprüfer den Besprechungsraum verlassen hatten, war Lars alleine dort. Er nahm sich eine Tasse Kaffee und stellte sich ans Fenster. Die Sonne tauchte die Stadt und die Berge auf der anderen Seite des Rheins in ein weiches Licht. Unten sah er Menschen auf der Straße, Autos, Fahrräder. Alles wirkte klein wie Spielzeuge, die von unsichtbarer Hand geführt wurden. Hob er den Blick, konnte er das Stadion und die gesamte Stadt sehen.

Lars war mit seiner Situation bei ChemPharm eigentlich zufrieden. Seit über zwei Jahren leitete er die Abteilung Corporate Compliance und berichtete direkt an Edgar. Gerne nahm er die Statussymbole an, die diese Position mit sich brachte. Er genoss es, jeden Morgen von der Parkplatzsuche entbunden zu sein und sich mit seinem Firmenwagen auf dem für ihn vorgesehenen Parkplatz »Geschäftsleitung« einzufinden, von dem es nur wenige Schritte bis zum gläsernen Eingang der Hauptverwaltung waren.

In Gedanken führte er seinen anspruchsvollen Eltern immer wieder vor, was er alles erreicht hatte, damit sie stolz sein konnten. Das war aber nur ein fiktives Spiel, da seine Eltern schon sehr lange nicht mehr bei ihm waren.

Geräusche drangen zu ihm durch, die Vorstände und die Wirtschaftsprüfer kamen zurück in den Besprechungsraum. Lars wandte sich ihnen zu und sah, dass das Sonnenlicht direkt auf Edgar fiel und seine zerfurchten Gesichtszüge hart offenbarte.

Edgar lief zügig zum Rednerpult und setzte die Vorstandssitzung fort. Er stand kerzengerade, gehalten von seiner inneren Energie und Körperspannung. Er drehte sich mit einer Handbewegung zur Seite und wies auf den Bildschirm, der die Agenda der Vorstandssitzung zeigte. Wie bei international tätigen Unternehmen üblich war alles auf Englisch.

Edgar kam gleich zu den Folien des Projekts Nemo. Vertraulichen Projekten gab man einen nach zufälligen Kriterien bestimmten Projektnamen. Im Falle von Partnerschaften mit anderen Unternehmen war es jedoch erwünscht, dass der Anfangsbuchstabe des Projekts mit dem des Partnerunternehmens übereinstimmte. Bei Nemo ging es um ein Arzneimittel gegen Brustkrebs, das zusammen mit dem Unternehmen New Jersey Pharmaceuticals entwickelt wurde.

Edgar sprach mit ernster Miene: »Lasst uns nun über das Projekt Nemo sprechen. Ihr seid ja alle damit vertraut, trotzdem möchte ich euch ein Update zu zwei Punkten geben und vielleicht ein wenig mehr ausholen, um die Damen und Herren Wirtschaftsprüfer ins Bild zu setzen. Dazu möchte ich euch zunächst eine Geschichte erzählen, die ihr noch nicht von mir gehört habt. Sie ist ein Beispiel für Story Telling, eine Management-Methode, mit der wir uns bei unserem letzten Workshop beschäftigt haben. Es geht darum, emotionale Botschaften zu vermitteln.«

Edgar räusperte sich kurz und fuhr dann fort. Er hatte den offiziellen Ton abgestreift, seine Stimme klang nun wärmer.

»Meine Mutter ist für mich eine besondere Person: Sie ist geduldige Lehrerin, meine Fürsprecherin in allen wichtigen Situationen, dazu neugierig, schön, elegant und voller Leben. Seit über drei Jahren leidet sie aber an Brustkrebs. Ihr wisst alle, welche Rolle die frühe Erkennung spielt und wie unterschiedlich sich die Krankheitsverläufe entwickeln.«

Edgar machte wieder eine Pause und schaute ernst in die Runde. Er holte tief Luft und sprach weiter. Nun mischte sich etwas Tiefes in seine Stimme.

»Meine Mutter durchlebte schlimme Phasen. Eine Totaloperation stand im Raum. Durch die Chemotherapie hat sie sämtliche Haare verloren. Neben der Tatsache, dass sie mit der Krankheit an sich klarkommen muss, fühlte sie sich hässlich, aussätzig, ohnmächtig und sehr elend.

Die Chemotherapie ist ein Rundumschlag. Zellwachstum wird auf breiter Fläche gehemmt. Es ist, wie mit einem Bulldozer ein großes Gelände umzugraben, nur um dort einen einzigen kleinen Stein zu bergen. Ihre Lebensqualität war erheblich eingeschränkt, dabei war sie erst 65 Jahre alt. Es gab Zeiten, da hatte sie alle Lebensfreude verloren!«

Edgar machte eine Pause. Er stand immer noch kerzengerade am Rednerpult und wirkte wie ein Torhüter, der auf den Schuss vom Elfmeterpunkt wartet. Sein Blick war hochkonzentriert. Doch nun schlich sich ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht, und ein Funkeln trat in seine Augen. Man sah, dass er etwas Großes verkünden wollte. Er schaute erwartungsvoll zu den Wirtschaftsprüfern, die ganz gefangen von Edgars Vortrag waren.

Auch Lars war gespannt. Er bewunderte Edgar für seine Fähigkeit, wissenschaftliche oder geschäftliche Themen mit Persönlichem zu verbinden. Story Telling – darin war Edgar schon vor dem Workshop ein Meister gewesen.

»Meine Mutter hat wieder Hoffnung! Wie ihr wisst, ist sie Teilnehmerin an der Nemo-Studie. Phase II ist nun erfolgreich abgeschlossen. Schon bald trat die erwünschte Wirkung bei ihr ein. Das Wachstum des Tumors in der Brust kam zum Stillstand. Das kommt beinahe einem Wunder gleich. Aber wir als forschendes Pharmaunternehmen wissen, dass es sich nicht um ein Wunder, sondern um Wissenschaft handelt. Wir wissen noch immer nicht genug über Krebs, doch machen wir große Fortschritte. Dass es im menschlichen Körper bösartiges Zellwachstum gibt, ist normal, auch, dass dieses Zellwachstum bei einem gesunden Menschen durch die körpereigene Immunabwehr unterbunden wird, etwa durch Leukozyten, B- und T-Zellen. Im Fall einer Krebserkrankung machen sich Krankheitserreger oder Fremdstoffe, die eine Signalkaskade für bösartiges Zellwachstum auslösen, unsichtbar und überlisten damit die körpereigene Abwehr. Dann kann das Antigen nicht mehr identifiziert werden, die Stelle, an der der Körper Fremdstoffe erkennt. Nemo ist ein monoklonaler Antikörper, ein Protein, das auf ein bestimmtes Antigen kodiert und fähig ist, dieses wieder sichtbar zu machen und die schädliche Signalkaskade zu hemmen. Damit wird die körpereigene Abwehr stimuliert. Antikörper sind komplexe Stoffe, die sehr gezielt die erwünschte Wirkung erzielen und schädliche Nebenwirkungen vermeiden. Weil Antikörper hoch komplexe Moleküle sind, können sie nicht über chemische Synthese hergestellt werden. Sie müssen vielmehr biotechnologisch hergestellt werden.«

Wieder suchte Edgars Blick die Wirtschaftsprüfer. Für einen etwas längeren Augenblick blieb er bei einer jungen, blonden Wirtschaftsprüferin hängen, die Edgar mit Begeisterung ansah. Nun kam Edgar zum Wesentlichen.

»Die biotechnologische Herstellung ist für uns Neuland und erfordert Investitionen in Millionenhöhe, die wir als mittelständisches Unternehmen nicht aufbringen können. Deshalb müssen wir weiter auf strategische Partnerschaften mit Big Pharma setzen, wie etwa New Jersey Pharmaceuticals, die in der biotechnologischen Herstellung über mehr Erfahrung verfügen und uns bisher sehr gut unterstützt haben. Mit New Jersey werden wir auch die Phase III der klinischen Prüfung erfolgreich abschließen und anschließend mit dem Produkt auf den Markt gehen können. Die Partnerschaft mit New Jersey bleibt für uns von zentraler Bedeutung.«

Wieder hielt Edgar inne und schaute in die Runde. Sein Blick verdüsterte sich mit einem Mal, und er schien Sören zu fixieren, den Vorstand für Produktion und Entwicklung.

»So weit, so gut. Neben den strahlenden Seiten dieser Partnerschaft gibt es aber auch Probleme. Ich möchte, dass jeder von euch für seinen Bereich überprüft, wie sich die Partnerschaft zu New Jersey in den letzten Monaten entwickelt hat.«

An dieser Stelle meldete sich Sören. »Was meinst du genau, Edgar?«

Edgar behielt seinen düsteren Blick bei und antwortete nach kurzem Zögern: »Ich dachte, das weißt du besser als ich. Wie ich höre, gibt es immer wieder Abweichungen in der Herstellung der klinischen Wirkstoffe.«

Lars konnte sehen, wie sich Sören versteifte. Das muss für Sören eine unangenehme Situation sein, dachte Lars. Wenn er so tat, als gäbe es keine Probleme in der Produktion, präsentierte er sich als ahnungslos. Reagierte er hingegen wissend, musste er Probleme vor der versammelten Runde der Vorstände und Wirtschaftsprüfer eingestehen.

Sören schien sich für einen Mittelweg zu entscheiden. Man sah ihm an, dass er sich körperlich unwohl fühlte. Lars litt mit ihm, als würde er selbst die Bloßstellung erfahren.

»Es ist richtig, dass wir mehr Abweichungen haben als sonst. New Jersey beschwert sich auch hin und wieder … aber wir bekommen das in den Griff.«

»So, na dann ist es ja gut, Sören«, ließ sich Edgar zögerlich und wenig überzeugt vernehmen. Lars wunderte sich, dass Edgar Produktionsprobleme vor den Wirtschaftsprüfern ansprach, und riskierte einen Blick in deren Richtung. Diese wirkten aber vollkommen unbeeindruckt. Edgar setzte seine Präsentation fort.

»Wie ihr wisst, möchte New Jersey die Partnerschaft ausbauen und bei uns mit einem Aktienpaket von 12 % einsteigen. Lasst mich einmal schildern, was das für die Aktionärsstruktur bedeutet. Gegenwärtig hat ChemPharm vier Aktionäre und zwar mit folgenden Aktienpakten, wie ihr auf dieser Übersicht sehen könnt.«

Alle blickten auf das Slide auf dem Bildschirm.

Beau Lemour – 40,1 %

VC Cayman Investments Ltd.(VC) – 39,9 %

Keith Williams – 10 %

Edgar Leipnitz – 10 %

»Nun kurz zur Erläuterung für die Wirtschaftsprüfer. VC Cayman Investments Ltd. ist eine Venture-Capital-Gesellschaft, die einige Investments in der Life-Science-Industrie hat und mit der wir sehr vertrauensvoll zusammenarbeiten. Beau Lemour dürfte allen bekannt sein. Nach seiner aktiven Karriere in der IT-Industrie engagiert er sich mit seiner Frau Claire in vielen philanthropischen Projekten. Es ist ihm ein besonderes Anliegen, neuartige Arzneimittel den bedürftigeren Patientinnen und Patienten auch in ärmeren Ländern zugänglich zu machen. Ich kenne Beau schon sehr lange. Er ist eine großartige Persönlichkeit. Er war der erste größere Investor bei ChemPharm. Schließlich halten unser Finanzvorstand Keith Williams, den wir vor gut einem Jahr von der Konkurrenz abwerben konnten, und ich als Quasi-Gründer auch noch jeweils 10 % der Aktien.«

Edgar warf Keith einen anerkennenden Blick zu, den dieser mit einem zufriedenen, breiten Grinsen quittierte. Edgar straffte sich und sprach weiter.

»Wir planen, in Kürze im Rahmen der Jahreshauptversammlung genehmigtes Kapital in Höhe von insgesamt 40 % der Zielstruktur auszugeben. Das ist wirklich ein Quantensprung. Wie vielleicht nicht alle von euch wissen, führt das genehmigte Kapital nicht gleich zur Ausgabe neuer Aktien. Vielmehr werden Aktien praktisch auf Vorrat beiseitegestellt – eine Art Blankoscheck – und aus diesem Vorrat werden dann Aktien an bestimmte Investoren ausgegeben. In diesem Fall würden wir 12 % Aktien an New Jersey Pharmaceuticals, Inc. ausgeben.«

Wieder machte Edgar eine kleine Kunstpause, bevor er weitersprach. Dabei bekam er einen noch ernsteren, fast feierlichen Gesichtsausdruck.

»Das ist für ChemPharm ein ganz wichtiger Schritt, da sich – neben Beau Lemour – erneut ein strategischer Investor engagiert, diesmal aber direkt aus Big Pharma. Mit diesem Engagement vergrößert sich der Kuchen der Aktien. Die jeweiligen Anteile der anderen bleiben nominal gleich, ihr Gesamtanteil an dem nun größeren Kuchen ist aber nun ein geringerer, die sogenannte Verwässerung. Aber …«

Hier lachte Edgar kurz unnatürlich und Beifall heischend auf, um den unvollendeten Satz zu Ende zu führen.

»… wir sind hier eine große Familie, in der alle zusammenhalten. Aktionärsklagen sind extrem abwegig.«

Tatsächlich ging in diesem Augenblick eine Hand in die Höhe. Alle schauten auf die blonde Wirtschaftsprüferin. Edgar runzelte die Stirn und wirkte erstaunt – offenbar hatte er keine initiativen Wortmeldungen eingeplant. Doch als er erkannte, von wem diese kam, glitt ein gütiges Lächeln über sein Gesicht.

»Frau Zillus, womit kann ich dienen?«

Die Angesprochene reckte sich und entblößte gleich ein professionelles Lächeln.

»Herr Vorstandsvorsitzender, Sie sprechen so locker über das Thema Verwässerung. Ist denn das etwas, was alle Aktionäre einfach so hinnehmen? Schließlich verändern sich bei einer Kapitalerhöhung die Anteilsverhältnisse, und der Einfluss der Aktionäre sinkt, ohne dass die Aktionäre etwas zu sagen hätten. Das ist doch praktisch wie eine Enteignung.«

Die letzten Worte hatte Britta Zillus etwas kurzatmig ausgesprochen. Offenbar regte sie das Thema ein wenig auf. Edgar hingegen war die Ruhe selbst und lächelte milde, als er die Antwort gab.

»Aber nein, so kann man das nicht sagen. Es steht den Aktionären frei, bei der Hauptversammlung einer Kapitalerhöhung nicht zuzustimmen. Das heißt dann aber auch, dass das Unternehmen dann kein zusätzliches Kapital erhält. Auf Dauer ist das keine Option. Vielmehr ist es ja das Wesen der Aktiengesellschaft, dass sie schnell eigenes Kapital aufbringen kann, anstatt auf Fremdkapital in Form von Krediten angewiesen zu sein. Das Kapitalistische ist praktisch die DNA der Aktiengesellschaft.«

Edgar schaute Zillus mit einem offenen, verständigen Blick an. Diese schien noch nicht ganz zufrieden.

»Aber woher wissen Sie denn, dass alle Aktionäre mit der Verwässerung einverstanden sind?«

Nun gab Edgar einen kurzen Lacher von sich, blieb aber ruhig und zugewandt.

»Oh, da bin ich mir ziemlich sicher. Wer hat schon etwas gegen zusätzliches Geld? Außerdem haben die Altaktionäre ein anteiliges, gesetzliches Bezugsrecht für die neuen Aktien, obwohl wir das im Beschluss ausschließen möchten … Aber – wir werden es erfahren – bei der Hauptversammlung. Lassen Sie mich weiter erklären.

Also – die Zielstruktur sieht dann erst einmal wie folgt aus.«

Hier zeigte Edgar das nächste Slide der Präsentation:

Geplant: Hauptversammlung mit genehmigtem Kapital von bis zu 40 % in Zielstruktur, davon zunächst 12 % Aktien für New Jersey. Nivellierung der 0,1 % zugunsten von VC.

Zielstruktur:

35 % Beau Lemour

35 % VC Cayman Investments Ltd. (VC)

12 % New Jersey, Inc.

9 % Edgar Leipnitz

9 % Keith Williams

Dann richtete sich Edgars Blick wieder aufmerksam in die Runde.

»So weit zu den Anteilsverhältnissen in der Hauptversammlung, in der die Aktionäre Grundentscheidungen beschließen können, wie eine Kapitalerhöhung. Lasst mich nun erklären, wie die Governance ausgestaltet sein soll, also, wer die Gremien Vorstand und Aufsichtsrat besetzt. Bei ChemPharm bleibt im Vorstand alles bei unserem bewährten Dreierteam mit Keith Williams als CFO, Sören Meister als CDO und mir als CEO, die wir das Tagesgeschäft leiten.«

Edgar blickte wohlwollend zu seinen Vorstandskollegen, doch meinte Lars etwas leicht Tadelndes in seinen Augen zu sehen, als sie für den Bruchteil einer Sekunde auf Sören verweilten. Nach kurzer Pause nahm Edgar das Wort wieder auf.

»Hingegen wird es im Aufsichtsrat – also dem Kontrollorgan zwischen Hauptversammlung und Vorstand – Veränderungen geben. Hierzu erst einmal ein Überblick über die gegenwärtige Besetzung, in der auch in Klammerzusatz gezeigt wird, welche Aktionäre die jeweiligen Aufsichtsräte vertreten und somit die Anteilsverhältnisse widerspiegeln. Dazu erfahrt ihr den Status der Aufsichtsräte, also, ob von der Hauptversammlung gewählt oder per Satzung entsandt.«

Aufsichtsrat (alt):

Vanessa Fulbright (Lemour) – gewählt

Sir Ray Cheltenham (VC), Vorsitz – entsandt

Joao da Silva (Lemour) – entsandt

»Nun zu dem neuen Aufsichtsrat, den ihr auf dem nachfolgenden Slide sehen könnt.«

Aufsichtsrat(neu):

Vanessa Fulbright (Lemour) – gewählt

Sir Ray Cheltenham (VC), Vorsitz — entsandt

Derek Murphy jr. (New Jersey) – gewählt

»Die neue Hauptversammlung muss Vanessa in ihrem Amt bestätigen und Derek wählen, während Sir Ray entsandt bleibt, also über die Satzung und nicht durch eine Wahl sein Amt erhält. Derek tritt also an die Stelle von Joao, was der neuen Rolle von New Jersey gerecht werden soll. VC war hiervon zunächst nicht begeistert, da ihr Einfluss beschränkt bleibt. Doch sahen wir auch keine Notwendigkeit, die Zahl der Aufsichtsräte gleich auf sechs zu erhöhen … Wie ihr vielleicht wisst, sollte die Zahl der Aufsichtsräte immer durch drei teilbar sein, wegen der Arbeitnehmermitbestimmung. Deshalb müsste es von drei Aufsichtsräten gleich einen Sprung auf sechs geben. Vielleicht führen wir eine solche Erhöhung durch, wenn die weiteren 28 % aus den 40 % genehmigten Kapitals gezeichnet werden.«

Wieder hielt Edgar inne. Lars meinte, bei Keith nach unten gezogene Mundwinkel gesehen zu haben, als Edgar die Reduzierung der Aufsichtsräte für VC bekannt gab.

Er schmunzelte innerlich, als er in diesem Moment wahrnahm, wie die blonde Wirtschaftsprüferin wieder interessiert den Kopf reckte und sich gleich Notizen machte. Lars folgte weiter Edgars Vortrag.

»Der Einstieg von New Jersey würde weitere Finanzmittel und Wachstum bedeuten. Ihr wisst alle, was das hieße, wie sehr wir das immer noch brauchen. Wir sprechen über ein Milliardengeschäft. Investoren suchen förmlich nach Anlagemöglichkeiten, und unser Bereich bietet fantastische Entwicklungsmöglichkeiten. Doch wir können nur dann erfolgreich sein, wenn wir die Ersten sind … Es gibt Konkurrenten, Neider, die unser Wissen absaugen möchten. Deshalb müssen wir unseren Job richtig machen, zusammenhalten und uns aufeinander verlassen können …«

Edgar ließ die Worte im Raum verhallen und wartete auf Reaktionen. Dann wanderten seine Augen weiter, machten bei jedem Teilnehmer einzeln halt, um schließlich etwas entspannter bei den Wirtschaftsprüfern zu landen. Das verstand Zillus wohl als Einladung und meldete sich erneut. Wieder wandte sich Edgar ihr zu, doch diesmal grub sich eine kleine Falte in seine Stirn. Mit einer ungeduldigen Handbewegung bedeutete er ihr zu sprechen.

»Was soll denn das heißen? Sprechen wir hier von Industriespionage …«

Ihre Worte erstarben, als sie Edgars düsteren Blick auffing. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln.

»Aber das Know-how geht doch ohnehin ins Ausland. Da haben wir ein kleines, agiles deutsches Unternehmen wie ChemPharm, aber wenn es ums große Geld geht, kommen die Amerikaner ins Spiel. Das ist doch ein Ausverkauf!«

Nachdem sich Edgars Gesicht geglättet hatte, als das Thema Industriespionage schnell erledigt war, hob er nun leicht genervt die Augenbrauen. Trotzdem wirkte er bemüht, gegenüber Zillus galant und souverän zu bleiben.

»Frau Zillus, das ist sicher ein guter Einwand. Leider ist es aber nun einmal so, dass die USA den mit Abstand größten Pharmamarkt der Welt haben. Dort sitzen die größten Pharmaunternehmen der Welt, und es gibt ein ganzes finanzielles Ökosystem, mit Venture-Capital-Gesellschaften und Pensionsfonds wie nirgendwo sonst. Damit können wir hier nicht mithalten. Wir sind nun einmal nicht mehr die Apotheke der Welt … Aber lassen Sie mich doch fortfahren und zwar mit den eher technischen Einzelheiten für die Beteiligung von New Jersey, die wir, wie erwähnt, aus dem genehmigten Kapital entnehmen wollen. Dafür benötigen wir eine weitere Kapitalerhöhung. Das geht nicht ohne die Zustimmung unserer Aktionäre in der Hauptversammlung. Damit wir diesen Prozess, vor allem in seinem zeitlichen Ablauf, besser verstehen, habe ich Lars Werner zu unserer Sitzung eingeladen. Lars, kannst du uns den Zeitplan für die Hauptversammlung am kommenden Donnerstag schildern?«

Nun war der Augenblick gekommen. Lars trat etwas zögernd zum Rednerpult und spürte Nervosität, sobald er alle Blicke auf sich gerichtet sah. Es hatte ihm nie gelegen, vor Gruppen Vorträge zu halten. Dieses Gefühl verstärkte sich, je höher der Rang der anwesenden Personen war. Um damit umzugehen, hatte er eine Methode entwickelt, wonach er ganz langsam sprach und Blickkontakt zum Publikum aufnahm. Damit löste sich die Anspannung, sobald er erst mal mit seinem Vortrag angefangen hatte. Nach außen strahlte er Ruhe aus, wirkte aber gleichzeitig etwas behäbig und hatte bei Weitem nicht Edgars Eloquenz und Autorität.

Edgar und seine Kollegen waren aber sichtlich zufrieden und beschäftigten sich schon nach kurzer Zeit mehr mit ihren Smartphones als mit Lars’ Vortrag, während die Wirtschaftsprüfer Lars aufmerksam zuhörten. Da keine Fragen gestellt wurden, war Lars’ Präsentation eine sehr einseitige Veranstaltung und die Sitzung bald zu Ende. Anschließend nahm Edgar Lars mit in sein Büro. Lars ging nicht aus dem Kopf, dass Zillus beim Namen genannt hatte, was hier im Raum stand – Industriespionage.

3.

1. Juni 2015

Damit hatte Lars eine Idee, was Edgar mit ihm besprechen wollte. Es musste um die Produktionsprobleme bei Nemo gehen. Produktion war jedoch alles andere als Lars’ Spezialgebiet, also musste es noch etwas anderes geben, wo seine Hilfe gefragt war. Gab es noch weitere Unregelmäßigkeiten? Lars war neugierig, was ihm Edgar erzählen würde.

Wieder stand Edgar kerzengerade und deutete zu Lars. Wie er so neben Edgar stand, fiel Lars auf, wie klein er war, höchstens 1,75 Meter, also etwa zehn Zentimeter kleiner als er selbst.

»Lars, schließ mal bitte die Tür. Es muss nicht sein, dass man uns zuhören kann«, sagte Edgar und wies Lars anschließend den üblichen Platz an seinem runden Besprechungstisch zu. Edgar setzte sich ihm gegenüber, mit dem Rücken zum Fenster, durch das die tiefer stehende Sonne schien. Während Lars das Licht der Abendsonne in seinem Gesicht spürte, konnte er nur Edgars dunkle Silhouette erkennen, die ihm wie ein großer Vogel erschien.

Edgar ergriff nun das Wort, seine Stimme wirkte brüchig, ganz anders als bei der Vorstandssitzung. Sein Selbstbewusstsein schien wie weggeblasen.

»Lars … ähm … wenn du auf deine Arbeit der letzten sechs Monate zurückschaust, ist dir da etwas aufgefallen, etwas, das anders ist als sonst?«

Lars war zufrieden wegen seines aus seiner Sicht flüssigen und guten Vortrags in der Vorstandssitzung. Er verspürte nun tatsächlich etwas Mut, sich aus Edgars Schatten zu befreien und einen kleinen Aufstand zu wagen. Die Situation kam ihm auch vertraut vor. Edgar war hin und wieder sehr besorgt und machte Wind um Dinge, die wenig später im Sand verliefen. Also konnte Lars doch mal so tun, als würde er die Situation nicht ganz so ernst nehmen. Außerdem hatte ihn bereits die Vorfreude auf das Treffen mit Karina an diesem Abend gepackt. Das Gespräch mit Edgar sah er als Hindernis auf dem Weg zu diesem Treffen. Ein weiterer Grund, den Aufstand zu wagen.

»Nur, dass ich so wenig zu tun habe wie lange nicht. Ich komme schon gegen 20.00 Uhr abends nach Hause«, versuchte er es mit Ironie.

Lars war nicht überrascht, dass sich Edgars Haltung versteifte.

»Ich weiß, dass du eine hohe Arbeitsbelastung hast, aber du bist eine Führungskraft. Das gehört zum Leistungspaket.«

Das war der übliche Spruch, aber Edgar hatte ihn unsicherer als sonst vorgetragen.

Edgar beugte sich über den Tisch zu Lars, und aus der vogelhaften Silhouette trat nun sein Gesicht hervor. Edgars Blick war konzentriert. Sein Selbstvertrauen schien zurückzukehren. »Lass mich konkreter werden: Welche Anfragen wurden aus der Produktion an dich gerichtet?«

Nun wurde es Lars doch unangenehm, zumal ihn Edgar intensiv ansah. Er wich etwas in seinem Stuhl zurück und dachte nach, nahm sich Zeit, um seine Antwort zu formulieren.

»Na ja, es gibt viele Abweichungen von den Produktionsvorschriften. New Jersey beschwert sich laufend, dass wir mit der Produktion nicht nachkommen. Das ist nicht neu, ich habe aber den Eindruck, dass es gerade häufiger geschieht als sonst. Allerdings sind wir jetzt am Ende der Phase II für Nemo …«, sinnierte Lars.

Edgar beugte sich noch weiter vor, nahm einen Kugelschreiber in die Hand und hielt ihn Lars wie einen Zeigestock entgegen.

»Genau darauf will ich hinaus. Kann es sein, dass diese Fehler nicht zufällig auftauchen, sondern gesteuert werden?«

Lars’ Interesse war geweckt. »Du denkst an Sabotage?«

Edgar zuckte bei diesem Wort zusammen, und sein Körper straffte sich erneut. Lars meinte auch zu sehen, wie etwas Wildes und Unkontrolliertes von Edgar Besitz ergriff. Der Kugelschreiber in seiner Hand zitterte.

»Lars, du musst sehen, dass wir uns in der Entwicklung von Nemo ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Voiron Santé Laboratoires liefern. Wer zuerst am Markt ist, hat einen Riesenvorsprung. Wir dürfen dieses Rennen nicht verlieren!«

Lars war noch nicht überzeugt. »Willst du andeuten, dass Voiron hinter einer Sabotage steckt? Wo sind die Fakten? Was ist konkret passiert?«

Edgar fuhr fort: »Wir haben Hinweise, dass die Produktion absichtlich schlecht arbeitet. Die Formulierung des klinischen Präparats ist fehlerhaft, die Dokumentation unvollständig.«

Lars dachte kurz nach. Ihm fiel sogleich Sergej ein, der Head of Production, aus dem er nicht schlau wurde. Er murmelte dann mehr, als er sprach: »Du meinst, Sergej weiß etwas davon? Könnte er illoyal sein?«

Edgars rechtes Bein wippte schnell auf und ab, mechanisch wie eine Nähmaschine.

»Das ist nicht klar. Wir haben Hinweise, dass es jemanden in der Produktion gibt, der für die Franzosen arbeitet, der spioniert und sabotiert, aber ich weiß weder, ob es Sergej ist, noch, ob er überhaupt etwas weiß.«

»Was sind das für Hinweise?«, fragte Lars.

Edgar senkte seine Stimme, flüsterte: »Du kennst doch Heinrich, die Reinigungskraft?«

Lars konnte es nicht glauben. »Du meinst den Alt-Hippie mit dem Pferdeschwanz, der zu später Stunde alle möglichen Leute anquatscht und aushorcht? Den Typ meide ich, so gut ich kann. Was hat er denn angeblich gehört oder gesehen?«

Edgar fuhr bemüht ruhig fort: »Heinrich hat vor einigen Tagen in den Büroräumen bei Production abends sauber gemacht. Die Büros waren leer …«

»Klar, ab 18.00 Uhr müssen sich die Mitarbeiter bei Production von ihrem anstrengenden Arbeitstag erholen …«, warf er bissig ein.

Edgar räusperte sich und atmete geräuschvoll aus. »Ich habe verstanden, dass du meinst, im Vergleich zu anderen Personen zu viel zu arbeiten, aber als Head of Compliance bist du in einer besonderen Position … Zurück zu Heinrich. Er war mit der Reinigung von Sergejs Büro beschäftigt, als er Stimmen aus der benachbarten Kaffeeküche vernahm. Die Wände sind sehr dünn, man kann ohne Anstrengung einer Unterhaltung im Nachbarraum folgen. Heinrich interessierte sich zunächst nicht für die Unterhaltung …«

Edgar machte auf einmal eine kurze Pause und sah wieder streng zu Lars. Vielleicht hatte Lars schon wieder ironisch geschaut. Auf jeden Fall war Edgar wieder ganz er selbst.

Er fuhr fort: »Die Unterhaltung wurde plötzlich lauter. Die Teilnehmer des Gesprächs schienen sich zu streiten. Heinrich hörte die eine Person Verunreinigung und Formulierung ausrufen. Darauf unterbrach Heinrich seine Arbeit und hörte dann die andere Person sagen: ‚Das müssen wir Lyon berichten. Unser Plan steht.‘«

Lars folgte gespannt der weiteren Erzählung. »Hat Heinrich die Personen gesehen?«

»Nein«, entgegnete Edgar. »Er wollte das Büro verlassen, um in die Kaffeeküche zu gehen. Auf dem Weg aus dem Büro stolperte er aber über seinen eigenen Putzeimer und verursachte einen Riesenlärm. Als er in die Kaffeeküche kam, waren alle verschwunden.«

»Hat Heinrich die Stimmen erkannt?«, wollte Lars wissen.

»Es waren wohl zwei Männer. Einer klang sehr heiser, der andere sprach den hiesigen Dialekt.« Edgar zuckte mit den Schultern, wohl wissend, dass das nicht weiterhalf. Lars seufzte, konnte seinen ironischen Unterton immer noch nicht ablegen.

»Na, das ist ja sehr hilfreich. Und aus der Wahl der Worte und der Erwähnung von Lyon entnimmst du, dass Voiron bei dem Ganzen eine Rolle spielt? Meinst du, sie haben jemanden eingeschleust?«

Edgar schaute weiter intensiv zu Lars. »Das halte ich für möglich. Es passt zu den nur schwer erklärbaren Vorkommnissen in der Produktion.«

Lars kam noch ein Gedanke. »Wie vertrauenswürdig ist Heinrich?«

»Ich sehe Heinrich auch kritisch und habe ihn deshalb mehrfach befragt. Ich glaube ihm aber. Wir müssen diesen Hinweisen nachgehen, zumal es schon länger Gerüchte gibt, dass wir von den Franzosen infiltriert werden.«

»Wie kommt das?«, fragte Lars. »Wer weiß im Vorstand davon, außer den Andeutungen, die du eben in der Sitzung gemacht hast?«

»Niemand«, entgegnete Edgar und machte eine Pause. Nun war seine Stimme nur noch ein Flüstern. »Ich kann nicht ausschließen, dass wir es mit mehreren Personen zu tun haben und es sogar bis in den Vorstand geht. Wir müssen vorsichtig sein. Der Aufsichtsrat weiß nichts über diesen Sachverhalt. Und wir müssen immer unsere Bewertung im Auge haben.«

Ja, die Bewertung, dachte Lars. Die Bewertung des Unternehmens war der Heilige Gral. Sie wurde in einer sich stetig aktualisierenden Zahl ausgedrückt, basierend auf der Bewertung von ChemPharm durch Wirtschaftsprüfer. Hier spielten alle möglichen Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt der Erfolg oder Misserfolg von klinischen Studien oder Produktionsprobleme. Gerade für Personen wie Edgar, die mit Aktien am Unternehmen beteiligt waren, zog eine solche Bewertung einiges nach sich – bis zum Wohl und Wehe des Privatvermögens.

Lars erinnerte sich an Edgars Ausführungen zu einem anstehenden Börsengang. Wann immer das zum Thema wurde, setzte Edgar eine besonders feierliche Miene auf. Er hörte Edgar noch wie in einem Erklärvideo sagen: »Das Unternehmen ist nicht an einer Börse notiert, etwa dem Nasdaq in New York. Noch nicht – wir wollen dies alsbald nachholen, haben aber noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden. Bis dahin gehören die Aktienpakete einem bestimmten Teilnehmerkreis, nämlich mir und den anderen drei Aktionären. Dieser Kreis kann nicht ohne Weiteres erweitert werden, außer durch Genehmigung der Hauptversammlung. Weil die Aktien damit nicht über einen Börsenmarkt frei handelbar sind, bestimmt sich der Wert des Unternehmens nicht über freies Angebot und Nachfrage – gespiegelt in einem öffentlichen Börsenkurs –, sondern nur über eine Art fiktiven Wert: die Bewertung gemäß Gutachten der Wirtschaftsprüfer.«

Für Lars hatten diese Sachverhalte keine unmittelbare Auswirkung. Er war nur Angestellter, ihm gehörten keine Aktienpakete. Andererseits stimmte das auch nicht so ganz. Lars verfügte, wie viele andere Mitarbeiter, über Aktienoptionen … Aber das war eine andere Geschichte.

Nun riss Edgar Lars wieder aus seinen Gedanken.

»Es gibt noch etwas, was Heinrich gehört hat …«

Lars lehnte sich gespannt vor und neigte den Kopf zur Seite.

Edgar fuhr fort, seine Stimme klang nun fast scharf: »Es fiel das Wort Compliance.« Edgars Blick war auf Lars gerichtet, und Lars fühlte sich mit einem Mal unwohl. Edgars Blick wirkte wie der einer Raubkatze kurz vor dem Sprung. Sein rechtes Bein stand nun ruhig auf dem Boden.

Lars erwiderte etwas beklommen: »Also mein Bereich … Ich weiß nicht. Was hat das zu bedeuten?«

»Lars, ich meine nicht dich. Aber was ist zum Beispiel mit Alexander? Der hängt doch dauernd mit Sergej zusammen, spricht Dialekt …«

Nun spürte Lars Ärger in sich aufsteigen, wurde doch endlich klar, was Edgar eigentlich von ihm wollte. Wie konnte Edgar nur Alexander im Verdacht haben? »Du erzählst mir das alles, weil ich meinen Mitarbeiter überwachen und aushorchen soll?«

Edgar hob beschwichtigend die Hand. »Ich spreche mit dir, weil ich dir vertraue und weil du in deiner Position über solche Vorgänge Bescheid wissen solltest. Ich brauche deine Hilfe, deinen scharfen Verstand. Du sollst ein Auge auf Alexander, Sergej und weitere Mitarbeiter aus der Produktion haben. Kann ich auf dich zählen?«

Edgar streckte die Hand aus und sah Lars fest in die Augen. Lars schlug nach kurzem Zögern ein, bemühte sich um ein Lächeln und einen direkten Blick in Edgars Augen.

»Natürlich kannst du das.«

Sie machten noch ein bisschen Small Talk. Bald danach verließ Lars Edgars Büro. Es war merkwürdig, dass Edgar ausgerechnet Alexander im Auge hatte. Alexander war einer der Compliance-Manager in Lars’ Abteilung, ein sehr netter Typ, für Lars’ Geschmack viel zu empfindsam für die Businesswelt. Dazu war er oft zerstreut und etwas nachlässig. Zwar trug er gute Anzüge, wenn er ins Büro kam, wirkte aber dennoch unordentlich. Er war etwas übergewichtig und seine blonden Haare waren stets zerzaust. Es war auch schon vorgekommen, dass Alexander die Schuhe zweier verschiedener Paare an seinen Füßen hatte, ohne es zu merken.

Das Zerstreute wirkte sich auch hin und wieder auf Alexanders Arbeit aus, und Lars musste ihm gelegentlich Dampf machen, doch funktionierte die Zusammenarbeit insgesamt recht gut. Wie zerstreut Alexander auch immer war, Lars konnte sich nicht vorstellen, dass er in Industriespionage verwickelt war. Das passte irgendwie nicht zu ihm. Andererseits: Kannte er Alexander wirklich?

4.

1. Juni 2015

Lars schaute über sein Cocktailglas hinweg in Karinas dunkle Augen. Eigentlich war die Farbe ihrer Augen nicht braun oder dunkler, eher ein tiefes Blau, doch sie wirkten wie ein tiefer Bergsee, dessen Grund unsichtbar blieb.

Über die letzten Wochen hinweg hatten sich eben diese dunkelblauen Augen in Bürofluren und Besprechungsräumen an ihn geheftet. Zunächst hatte er nicht realisiert, was passierte. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass sie viel zu häufig in seiner Nähe auftauchte. Wann immer er ihr begegnete, streifte ihn ihr Blick, verweilte auf ihm gleich einer Berührung, stets den Bruchteil einer Sekunde zu lang.

Sie war ihm schon in den ersten Wochen bei ChemPharm aufgefallen. Karina ging aufrecht und geschmeidig, trug ihre Größe fast zur Schau. Lars nannte das erotisches Selbstbewusstsein. Sie hatte das, er nur bedingt. Einmal hatte er sie wohl auch zu lange angesehen, worauf er verlegen wurde und sie einfach ruhig den Blick erwiderte. Ihre Augen wirkten wach und tiefgründig, sie bewirkten, dass er sich gesehen fühlte. Als würde sie ihn tief im Inneren erkennen. Ihrem Blick mischte sie ein fein dosiertes Lächeln bei. Das wirkte natürlich und einstudiert zugleich.

Ihm fiel auch auf, wie feingliedrig und grazil sie war. Als er einmal neben ihr gestanden hatte, hatte er mit einem kurzen Erschrecken bemerkt, dass sie beinahe so groß war wie er selbst. Damit hatte er nicht gerechnet. Eigentlich mochte er mehr die kleineren Frauen. Bald nach ihren ersten, zufälligen Begegnungen fühlte er sich durch sie herausgefordert, da sie fortan offensichtlich mit ihm flirtete.

Beim Flirten fühlte sich Lars immer ein wenig hilflos, da er eigentlich nicht wusste, wie das ging. Das war schon immer so gewesen. Er erinnerte sich, wie er in der Mittelstufe in eine neu zusammengesetzte Klasse gekommen war. Schon die Tatsache, so vielen neuen Mitschülern auf einmal zu begegnen, hatte ihn sich unwohl fühlen lassen. Zudem wurde er in die erste Reihe gesetzt, was seiner Schüchternheit auch nicht zuträglich war. Zu seiner Rechten, ein paar Sitzplätze entfernt, saß Lea.

Ab dem zweiten Tag spürte er ihren Blick auf sich ruhen. Er war vollkommen verunsichert, dachte zunächst, etwas an ihm sei komisch. In der Pause ging er schnell auf die Schultoilette, um sein Äußeres zu überprüfen. Hatte er einen Fleck auf seinem T-Shirt, standen die Haare ab? Nichts davon traf zu. Lea schaute weiter zu ihm, und er sah betreten weg, wenn sich ihre Blicke begegneten. Irgendwann wagte er, ihrem Blick kurz standzuhalten, und später traute er sich sogar, sie schüchtern anzulächeln. Prompt fasste sich Lea in ihre langen, dunklen Haare und lächelte zurück. Ab da dachte er, sie machte sich über ihn lustig.

Es dauerte mindestens vier weitere Wochen und bedurfte einiger von Lea in den Pausen veranlasster, eher stockender Gespräche, bis ihm allmählich dämmerte, dass er ihr gefiel. Auch er fand großen Gefallen an ihr. Doch er tat sich schwer, auf Leas Flirts einzugehen. Glücklicherweise ergriff sie die Initiative. Sie fädelte ein gemeinsames Lernen für eine Geschichtsarbeit ein, das nach zehn Minuten mit Küssen endete, denen er sich gerne hingab. Die Geschichtsarbeit am nächsten Tag versiebte er. Er ließ sich von ihr auch bei der gegenseitigen Erkundung ihrer Körper führen. Es gefiel ihm, er war richtig in Lea verliebt, aber er war nicht fähig, in Liebesdingen selbst die Initiative zu ergreifen.

Nach ein paar intensiven Monaten verlor Lea das Interesse an Lars. Er war erst 15 Jahre alt und konnte ihr körperlich nicht das bieten, was sie sich wohl vorgestellt hatte. Für Lars war seither trotzdem der Bann zum weiblichen Geschlecht gebrochen. Er begann, sich sicherer zu fühlen, überließ aber weiterhin den Frauen die Initiative und Führung.

Er erinnerte sich daran, wie ihm sein Freund Frank seine Frauen-Strategie eröffnet hatte, als sie beide gerade 16 Jahre alt gewesen waren. Frank gab ihm todsichere Tipps, wie man jede Frau ins Bett bekommen konnte. Ihm zufolge musste man als Mann viel sprechen, sich vor einer Frau interessant machen und aufspielen und sie umgarnen. Irgendwann war es dann so weit, dass sie mit ihm ins Bett gehen wollte.

Die Frank’sche Totaloffensive war etwas, das sich Lars für sich überhaupt nicht vorstellen konnte. In den Gesprächen mit Frank fühlte er sich verloren und wie ein Versager. Doch schon bald hatte Lars die nächste Freundin, während Frank leer ausging.

Wieder war es Lars so ergangen wie mit Lea. Er musste nichts tun, um eine Frau zu erobern. Ihm wurde bewusst, dass er etwas an sich hatte, was die Frauen anzog, eine Gabe, unabhängig von irgendwelchem Bemühen. Es war erneut alles anders herum: Er wurde erobert, diesmal von Olga.

Den Frauen nahezukommen, war so einfach, dabei wusste er nicht einmal, warum. Anders als von Frank propagiert, war es vielleicht nicht so schlecht, einfach abzuwarten, zurück zu schauen, zuzuhören, zu lächeln oder was auch immer. Lars’ Eroberungen hatten somit wenig vom Erobern im aktiven Sinne. Sie waren etwas, an dem Lars beteiligt war, das ihm gefiel, aber auch etwas, was er nicht richtig verstand. Es geschah einfach. Damit hatte er sich eine Art innerer Abwesenheit und Unschuld bewahrt. Trotzdem liebte Lars Frauen, und er fühlte, dass sie ihn auch liebten. Er fühlte sich in ihrer Anwesenheit wohl und schnell zu ihnen hingezogen.

Daran hatte sich bis in die Gegenwart wenig geändert. Karina zog ihn so an, dass er sich kaum entziehen konnte. Er wollte sie körperlich. Auch diesmal wusste er nicht, wie er das anstellen sollte. Sie musste die Führung übernehmen, er konnte sich wieder nur mitnehmen lassen. Es hatte ganz den Anschein, als würde sie damit keine Probleme haben. Schließlich war es Karina, die ihn nach ein paar gemeinsamen Mittagessen in der Cafeteria von ChemPharm zu einem Drink in der Altstadt einlud. Die Bar hieß Bogart und bot die idealen Rahmenbedingungen für die Fortsetzung des so einseitigen Flirts. Die Beleuchtung war diskret und die Räumlichkeiten so verzweigt, dass Karina und Lars in einer dunklen Ecke unter sich waren.

Sie unterhielten sich schon seit über anderthalb Stunden. Anfangs folgte sein Blick ihren schlanken Händen, wie sie sich ins hochgesteckte Haar fuhren, das ihren Nacken preisgab. Dabei machte sie eine kurze Pause, ließ eine Hand an ihrem Hals liegen. Er stellte sich vor, dass es seine Hand wäre. In Gedanken fing er an, sie auszuziehen.

Folgte er anfangs nur ihren Bewegungen und war auf ihr Äußeres konzentriert, wurde er zunehmend von ihrer Unterhaltung eingenommen. Karina erzählte von ihrem Psychologiestudium und ihrer Zusatzausbildung für den Bereich Human Resources. Lars mochte, wie sie sprach, wie einfühlsam und emphatisch sie dabei wirkte. Er fand es toll, dass es im Bereich Personal nun auch mal Mitarbeiterinnen mit sozialer Kompetenz gab.

Lars fiel auf, dass Karina teils ungewöhnliche Einsichten präsentierte. Er mochte, wie respektvoll sie von Alexander sprach, der leider immer wieder bei Kollegen aneckte. Damit schien Karina umgehen zu können, auch schien sie sich nicht so mit Äußerlichkeiten aufzuhalten wie andere Mitarbeiter.

Während sie über Alexander sprachen, erwähnte Karina Iris, die in der Abteilung Produktion arbeitete. Lars fand ihr Auftreten sehr forsch und selbstbewusst, etwas zu viel für seinen Geschmack.

»Iris ist auch oft mit Alexander zusammen zu sehen«, sagte Karina mit einem verschmitzten Grinsen.

»Das ist sogar mir schon aufgefallen«, entgegnete Lars. »Iris ist oft bei Alexander im Büro, und ich habe nicht den Eindruck, dass sie immer ChemPharm-Themen besprechen. Einmal bin ich wohl ziemlich unerwartet in Alexanders Büro getreten. Die beiden schienen sich ertappt zu fühlen, als hätten sie etwas miteinander. Wenn das so wäre … Ich weiß ja nicht, meiner Meinung nach passen Iris und Alexander nicht zueinander, sie sind zu verschieden.«

»Da hast du recht«, entgegnete Karina. »Ich weiß auch nicht, was da läuft. Ich glaube schon, dass Alexander an Iris interessiert ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Er ist nicht ihr Typ, verstehst du? Sie steht doch auf Machtmenschen – Alexander ist da eher das Gegenteil. Viele denken, dass er komisch ist und auch keinen Durchblick hat. Das sehe ich nicht so. Ich finde, Alexander ist total schlau. Er hat mir schon oft geholfen. Ich mag ihn, er ist anders.«

»Das sehe ich genauso. Einige unterschätzen ihn – zu Unrecht, finde ich.«

Lars gefiel es, dass Karina so positiv über Alexander redete. Auch er wusste, wie es sich anfühlte, nicht richtig verstanden zu werden.

Nach dem Gespräch über Alexander fragte Karina Lars nach seiner Ausbildung und wie er die Arbeit bei ChemPharm fand. Lars mochte ihr Interesse, wie sie aufmerksam zuhörte und auf ihn einging.

Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr vergaß er Karinas Körper. Nun fesselten ihn ihre Augen, die die ganze Zeit über auf ihn gerichtet waren, ihn abzutasten schienen. Er hatte beinahe vergessen, dass dieser Abend neben einer guten Unterhaltung mit einer interessanten Frau auch eine erotische Agenda bot. Anders als während der flüchtigen Begegnungen in den Bürofluren ließen ihre Augen nun kein Entkommen zu.

Er fühlte sich auf einmal wie ein Reh bei Nacht im Strahl eines Scheinwerfers. Ihr Blick ließ ihm nur die Möglichkeit, sich auf ihre Augen zu konzentrieren. Sie war ungewöhnlich direkt in ihrer Art, ihn anzusehen. Wieder wurde er an die Hand genommen und musste selbst wenig Initiative ergreifen. Das war vertraut und beruhigend. Doch merkte er, dass wieder das eintrat, was er an sich immer wieder bei Rendezvous beobachtet hatte: Je mehr er sich von der Frau angezogen fühlte und seinem Ziel näher kam, desto intensiver überkam ihn der plötzliche Wunsch, einfach zu gehen. Er war begeistert von Karina, er wollte sie berühren, ihr nahe sein, dennoch war da auch dieser Drang zur plötzlichen Flucht. Diesen Drang musste er auch an diesem Abend wieder kontrollieren, sich ihr wieder näherbringen.

Das geschah, während sie ihm eine Kurzfassung ihrer Biografie gab. Er hatte sie nach ihrem Geburtsort und ihrer Kindheit gefragt.

»Ich bin in Serbien, im damaligen Jugoslawien, geboren und aufgewachsen. Seit 2000 lebe ich in Deutschland. Als ich hierher kam, war ich zwölf Jahre alt. Wir lebten zuvor in der Nähe von Belgrad an der Donau.«

Nicht zum ersten Mal fiel ihm ihr nur schwer wahrnehmbarer Akzent auf. Anfangs hatte er geglaubt, ihre Muttersprache sei Französisch, dann dachte er an das östliche Europa, konnte es aber nicht einordnen. Hin und wieder war auch die Satzstellung falsch, oder sie beherrschte eine Redewendung nicht. Das geschah sehr selten und kümmerte ihn nicht weiter.

In diesem Moment hörte er den Akzent etwas stärker. Lars fühlte mit einem Mal, Karina wäre eine Besucherin aus einem fernen Land, um deren Wohl er sich kümmerte, die er beschützte. Die minimalen sprachlichen Schwächen rührten ihn. Es gab nicht nur die selbstbewusste, attraktive Karina, die ihn führte, da war auch etwas anderes, Tieferes. Wie zur Bestätigung schaute ihn Karina kurz schüchtern und hilfesuchend an.

Lars war plötzlich aufgeregt und wollte sie unbedingt berühren. Ihre Hände lagen nun ganz nah beieinander auf dem Tisch.

War es nicht so, dass das Erotische nur entstehen konnte, wenn etwas Neues, Überraschendes geschah? War dieser Moment von Karinas kleiner »Schwäche« nicht genau der Augenblick, in dem dieser Abend begann, für ihn überraschend persönlich und damit erst sinnlich zu werden?

Als könnte sie seine Gedanken erraten, lenkte Karina die Unterhaltung nun auf Beziehungen und Liebe.

Sie erzählte ihm von der Trennung von ihrem Partner und dessen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung in Gonsenheim. Auf Lars’ Frage, wie sie damit zurechtkam, wich sie erstmals ein wenig zurück, dehnte sich in ihrem Stuhl und zeigte ihr Profil. Wieder fasste sie sich ins Haar, führte ihre Hand in den Nacken und ließ sie dort für einen Augenblick ruhen. Karina schaute Lars unvermittelt an, und Lars fühlte, wie der Moment nahte, in dem er sie berühren konnte.

Nun sprach Karina weiter. »Das ist weird … echt komisch, meine ich. In der Liebe war ich nie sehr erfolgreich. Oft war ich in Jungs oder Männer verliebt, die ich nicht bekommen konnte, weil sie sich nicht für mich interessierten. Es hat jedenfalls nie lange bei mir gehalten.« Sie klang für einen Moment verletzt und resigniert, doch dann überwog sofort wieder das Selbstsichere und Spielerische.

Lars war überrascht von der Aussage, da weder Karinas Aussehen noch ihr bisheriges Verhalten ihm gegenüber eine amouröse Erfolglosigkeit andeuteten. Andererseits, es fielen auch die Worte »oft« und »nie lange gehalten«. Sie hatte also schon einiges erlebt. Wenig intelligent sprach er seine Gedanken gleich aus. »Echt? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen …«

Sofort wandte sie sich ihm wieder zu, ihre Hände waren seinen nun noch näher, wieder heftete sich ihr dunkler Blick auf ihn.

»So, das kannst du dir nicht vorstellen? Meinst du, ich bin zu attraktiv, um in der Liebe keinen richtigen Erfolg zu haben?«

Lars war perplex. Das war typisch Karina. Ein einziger Satz von ihr enthielt manchmal so viel, dass er Schwierigkeiten hatte, ihn zu verarbeiten. Er brauchte einen Moment, um darüber nachzudenken. Zum einen enthielt die Aussage ein dickes Eigenlob und forderte ihn gleichzeitig auf, einen Kommentar abzugeben. Zum anderen formulierte sie eine tiefer gehende, beinahe verzweifelte Frage, nämlich, ob sie in der Liebe überhaupt Erfolg haben konnte. Dass sie die Frage an Lars gerichtet hatte, der sie gerade erst kennenlernte, irritierte ihn. Was konnte er antworten? Er entschied sich, das zu tun, was er in Liebesdingen am besten konnte:

Er tat nichts und wartete.

Karina schien ihm die Verlegenheit anzusehen, lachte leise, schaute ihn herausfordernd an, ergriff seine rechte Hand und berührte dabei leicht die Lünette seiner Armbanduhr.

»Was hast du da eigentlich für eine schicke Armbanduhr?«

Das Gespräch auf die Armbanduhr zu lenken, war ein netter Schlenker. Er fühlte sich bei diesem Thema sicherer und entspannte sich, war die Uhr doch eines seiner geliebten Statussymbole.

»Ach, das … Das ist so eine Spielerei, eine Schweizer Automatik-Armbanduhr, ein Chronometer.« Es gelang Lars nicht richtig, seinen Stolz auf die Uhr herunterzuspielen.

Nun sah Lars, wie ihr Blick herausfordernder wurde. Ihr Blick drückte aus, dass sie etwas von ihm erwartete, und zwar jetzt, in diesem Augenblick. Nach kurzem Zögern ergriff Lars nun doch die Initiative und umfasste ihre Hände. Sie waren unerwartet klein, feingliedrig und fühlten sich warm und weich an. Er hielt ihre Hände fest und spürte, wie von ihnen ein leichtes Ziehen ausging.

Karina übte mit ihren Händen im nächsten Moment einen kurzen Gegendruck aus und zog ihn an sich. Sofort war ihr Mund auf dem seinen und verband sich mit ihm. Lars war fassungslos und gleichzeitig auch erleichtert, war doch nun genau das eingetreten, was er die ganze Zeit gewollt hatte.

Lars liebte den Moment des ersten Kusses. Es war immer aufs Neue aufregend, das Ungewisse wurde Gewissheit. Auch diesmal genoss er diesen Moment der Aufregung und merkte, wie er entglitt und sich vollkommen hingab. Kurz darauf spürte er schon Karinas Zunge, die fordernd in seinen Mund drang. Ihm wurde ganz schwindlig und er vergaß, wo sie sich befanden.

Das Küssen beschäftigte Karina und Lars, bis Karina kurz atemlos abließ. Sie fing nun an, ihre Sachen zusammenzupacken, während Lars noch benommen zuschaute. Nun nahm Karina das Gespräch wieder auf.

»Ich habe eben von der Liebe gesprochen, nicht von Sex. Wenn ich das eine nicht kann, heißt es nicht, dass ich das andere nicht beherrsche.«

Sie lächelte, anscheinend voller innerer Ruhe und Siegesgewissheit. Lars war nicht überrascht, aber er empfand Karina in diesem Moment als zu direkt, und kurz störte es ihn, dass ihr Zusammensein nun doch auf Sex reduziert wurde. Trotzdem wollte Lars das geschehen lassen und entschied sich, weiter bei seiner Kernkompetenz in Liebesdingen zu bleiben: dem Schweigen und Abwarten.

Schnell gab Karina der Bedienung ein Zeichen und forderte die Rechnung. Die näherte sich sofort ihrem Tisch. Lars begann, in seiner Jackentasche nach der Geldbörse zu suchen. Karina bemerkte das und legte wieder ihre Hände auf seine.

»Nichts da, ich bezahle. Ich habe dich doch eingeladen.«

Lars protestierte unbeholfen, doch Karina ließ ihn mit einem Lächeln wissen, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Als sie zusammen die Bar verließen, hakte sie sich bei ihm unter und ließ ihn wissen: »Die Einladung umfasst eine Begleitung zu mir nach Hause.«

5.

1. Juni 2015

Das war ein wenig umständlich ausgedrückt. Ihre Formulierung hatte etwas aus der Zeit Gefallenes … Wieder fühlte sich Lars gerührt und spürte den Beschützerinstinkt in sich aufsteigen.

Sie erreichten seinen Wagen. Nach dem Einsteigen ergriff er Karinas Hand, während Karina sich zu ihm drehte und ihn lange küsste. Noch mehr als vorhin erwiderte Lars ausgiebig den Kuss und genoss das Gefühl des angenehm weichen und freien Falls. Nach einigen Minuten ließ Lars den Motor an.

»Wohin fahren wir, wo bist du zu Hause?«

Sie lächelte und wirkte noch sichtlich benommen von den Küssen. »Wo mein Zuhause ist, weiß ich nicht, aber lass uns in meine Wohnung nach Gonsenheim fahren.«

Sie nannte ihm die Adresse und Lars gab sie in sein Navigationssystem ein.

Karina lächelte ein wenig ironisch und sagte: »Du bist ja ein richtiger Technik-Freak. Gibst du jede auch noch so kleine Fahrt in dein Navi ein?«

Lars fühlte sich ertappt, da sie recht hatte. Es machte ihm Spaß, Geräte jeder Art zu nutzen und praktisch über sein gesamtes Tun Buch zu führen.

Er antwortete nichts, sondern fuhr einfach los. Während der Fahrt durch die Nacht hatte Karina ihre Hand von seiner gelöst und blickte aus dem Seitenfenster. Ihre Unterhaltung erstarb. Zunächst genoss Lars die Stille, doch dann begann er, sich unwohl zu fühlen. Nach einigen Minuten stellte er sich Karinas Wohnung vor. Hatte sie nicht bis vor Kurzem noch mit ihrem Partner zusammengelebt? Brach Lars nun in fremdes Terrain ein?

»Dein Freund ist doch ausgezogen, oder?«, wollte Lars wissen.

»Schon vor drei Monaten, wie ich sagte.«

Die Aussage beruhigte Lars zunächst und ließ ihn weiter den Augenblick genießen. Doch bald schlich sich der Gedanke ein, die von ihm am meisten begehrten Frauen nicht lange halten zu können, sowie das Gefühl, dass ihm Karinas Verlust besonders wehtun könnte. Obwohl Karinas Beziehungen so schnelllebig schienen, hatte es doch wohl bei ihrem letzten Freund für eine längere Zeit gereicht. Wie war ihm das gelungen, und wieso waren sie am Ende doch gescheitert? Wie würde es ihm ergehen? Würde er je in die Nähe dessen kommen, was Karina und ihr Partner gemeinsam erlebt und was sie füreinander empfunden hatten?

Schnell verwarf Lars diese Gedanken. Was sollte das? Es war ihr erster gemeinsamer Abend. Es ging ihnen doch nur um Sex. Oder nein! Wollte er sich ausreden, dass ihn Karina innerlich berührte?

»War dein Freund auch eine deiner erfolglosen Lieben?«, wollte Lars plötzlich wissen. Schon beim Aussprechen bereute er die Frage.

Karina gab keine Antwort, sondern schaute weiter auf die Straße, das Gesicht von Lars abgewandt.

Industrieanlagen zogen an ihnen vorbei, bis sie nach weiteren, langen fünf Minuten an einer alten Villa in Gonsenheim ankamen. Karina war den ganzen Abend über so gesprächig und in ihren Gesten so direkt gewesen, dass Lars nun mit ihrem Schweigen und der körperlichen Distanz nicht umzugehen wusste. Inzwischen bereute er seine letzte Frage. Was war, wenn es sich Karina doch anders überlegte und er nicht mit zu ihr durfte?

Lars folgte Karina zur Eingangstür. Im Treppenhaus war die Beleuchtung ausgefallen. Ganz leise stiegen sie die alte Treppe hoch bis zur Wohnungstür. Karina drehte den Schlüssel herum, öffnete die Tür, und Lars schlug der Geruch von alten Holzdielen entgegen.

Mit einem Mal fühlte sich Lars falsch an diesem Ort, und der erotische Zauber des Abends schien verflogen. Kurz überlegte Lars, ob das nicht alles ein Missverständnis war und er besser nach Hause gehen sollte. Das Gefühl, die Flucht ergreifen zu wollen, ergriff ihn erneut und war noch stärker als zuvor. Die Angst ließ ihn starr an der Tür stehen bleiben.

Gleichzeitig empfand er die Situation auch als aufregend und fühlte sein Herz klopfen. Er wollte bleiben, und er wollte vor allem Karina. Er setzte langsam den Fuß über die Türschwelle und fand sich alleine in der dunklen Wohnung wieder. Karina war schon um die Ecke verschwunden und nicht mehr zu sehen. Er überlegte, ob er ihr folgen sollte, stand für ein paar Minuten verloren im Eingang, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann rief er zaghaft Karinas Namen ins Dunkel, in das nur die Straßenbeleuchtung von außen drang. Nichts rührte sich.

Plötzlich spürte Lars einen leisen Luftzug. Hinter ihm stand eine Person, die nun seine Taille umgriff. Es war Karina. Als er den Kopf ein wenig zur Seite drehte, sah er im Halbdunkel, dass sie nackt war. Ihr Körper fühlte sich fein, warm und weich an, wie sie sich an ihn schmiegte.

Mit schnellen und geschickten Handbewegungen streifte ihm Karina die Kleidung ab und einen Moment später erreichten sie ihr Schlafzimmer, das nur von einer Kerze erleuchtet wurde. Lars nahm nur Karina wahr, die sich mit ihrem nackten Körper an seinen drückte. Endlich, dachte Lars und ließ sich fallen.

Eine Stunde später hatte sich Karina aufgerichtet und stieg aus dem Bett, um sich einen dünnen Hausmantel locker umzulegen. Sie bewegte sich nackt völlig natürlich. Lars gefiel ihre Ungezwungenheit, so fühlte auch er sich leicht, obwohl er nackt meist nicht so locker war.

Da Karina die Nachttischlampe eingeschaltet hatte, konnte Lars nun die Umgebung genauer betrachten und ließ seinen Blick durch das Schlafzimmer schweifen, während er auf dem Rücken lag und einen Arm hinter den Kopf gelegt hatte. Er war etwas überrascht, an den Wänden so viele Fotos und Urkunden zu sehen.

Was hat es damit auf sich?, fragte er sich. Neben den Fotos und Urkunden sah er auch einen Schal, der an die Wand geheftet war, in den Farben Rot und Weiß, darauf stand etwas in kyrillischer Schrift. Na klar, dachte er, Fußball.

»Bist du ein Fußballfan?«, wollte Lars wissen. »Das ist Roter Stern Belgrad, oder?«

»Ja!«, entgegnete Karina überrascht und mit einem Hauch von Begeisterung. »Das ist mein Verein! Woher weißt du das, kannst du die Schrift lesen?«

»Ich habe geraten. Die Farben, der rote Stern – ein bisschen kenne ich mich aus.«

»Echt jetzt!«, rief Karina. »Ich bin beeindruckt. Ich habe mal in der Jugendabteilung von Roter Stern gespielt. Mein Vater wollte unbedingt, dass ich Fußball spiele. Er ist ein richtiger Fußballnarr.«

»Und jetzt?«, fragte Lars. »Spielst du noch?«

»Nur noch als Hobby, im Unisport.«

»Toll!«, erwiderte Lars.

Karina ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Ihre Augen leuchteten. »Und du? Interessierst du dich auch für Fußball? Spielst du?«, wollte sie wissen.

Lars schmunzelte und fühlte sich an seine Kindheit und Jugend erinnert. »Ich habe auch mal in einer Jugendmannschaft gespielt, zu Hause im Saarland. Und ich bin zeit meines Lebens ein großer Fan des 1. FC Saarbrücken.«

Karina legte die Stirn in Falten und schaute fragend. »Die spielen aber nicht in der Bundesliga, oder?«

»Leider nicht«, entgegnete Lars mit Bedauern. »Nicht einmal in der 2. Bundesliga, sondern nur in der 4. Liga, Regionalliga Südwest. Als ich geboren wurde, Ende der 1970er Jahre, da war der 1. FC Saarbrücken mal in der Bundesliga … und später wieder, meist waren das kurze Gastspiele. Aber ich folge dem Verein und schaue mir auch gerne hin und wieder live Spiele in der Bundesliga an.«