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Beschreibung

Alle reden von Missständen und Krisen: Hier die Klima- und Rohstoffkrise, dort die sozial-politische Dauerkrise Griechenlands oder die menschenverachtende Ausbeutung in der Textilindustrie. Die Probleme sind vielen bewusst – dennoch scheint sich wenig zu ändern. Warum? Das Konzept der »Imperialen Lebensweise« erklärt, warum sich angesichts zunehmender Ungerechtigkeiten keine zukunftsweisenden Alternativen durchsetzen und ein sozial-ökologischer Wandel daher weiter auf sich warten lässt. Dieses Dossier stellt das Konzept der imperialen Lebensweise vor und erläutert, wie unsere derzeitige Produktions- und Lebensweise Mensch und Natur belasten. Dabei werden verschiedene Bereiche unseres alltäglichen Lebens beleuchtet, unter anderem Ernährung, Gesundheit, Mobilität und Digitalisierung. Schließlich werden sozial-ökologische Alternativen und Ansatzpunkte vorgestellt, wie wir ein gutes Leben für alle erreichen – anstatt ein besseres Leben für wenige.

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I.L.A. Kollektiv
Auf Kosten anderer?
Wie die imperiale Lebensweise eingutes Leben für alle verhindert
© 2017 oekom, Münchenoekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 MünchenISBN 978-3-96238-574-3
Autor*innen:Kopp, Thomas; Becker, Maximilian; Decker, Samuel; Eicker, Jannis; Engelmann, Hannah; Eradze, Ia; Forster, Franziskus; Haller, Stella; Heuwieser, Magdalena; Hoffmann, Maja; Noever Castelos, Carla; Podstawa, Christoph; Shah, Anil; Siemons, Anne; Wenzel, Therese; Wolfinger, Lukas.
Projektinitiative und -leitung: Thomas KoppProjektträger: Common Future e.V. (gemeinnützig)Prozessbegleitung: Karin WaltherRedaktion und Lektorat: Katharina van TreeckStilistisches Lektorat: Severin CaspariLayout, Illustration, Umschlaggestaltung: Sarah Heuzeroth
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Buch steht unter der Creative Commons 3.0 (CC BY-NC-SA 3.0 DE) Lizenz. Sie dürfen es unter Nennung der Originalquelle vervielfältigen und nicht-kommerziell weiterverbreiten.
Für den Inhalt dieser Publikation ist allein Common Future e.V. verantwortlich; die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt von Engagement Global gGmbH und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder.
Inhalt
Vorwort von Ulrich Brand, Markus Wissen und Barbara Muraca
EinleitungDie ganz alltägliche Katastrophe
Historischer AbrissEine kurze Geschichte der imperialen Lebensweise
DigitalisierungDas Labor der Träume und Alpträume
SorgeNobody cares?
Geld und FinanzenDer Preis des Geldes: Wie Finanzen den Alltag ordnen
Bildung und Wissen... denn sie wissen nicht, was sie tun?
Ernährung und LandwirtschaftEssen wie die Könige
MobilitätSchnell, schneller, imperial
Zusammenfassung und AusblickWie kommen wir zum guten Leben für alle?
Glossar
Literaturverzeichnis
Informationen zum Projekt und zu den Autor*innen
Danksagung und Förderhinweise
INFOBOXEN
Zum Nachschlagen – Das Konzept der imperialen Lebensweise im Überblick
Der Traum von der Green Economy
Transnationale Sorgeketten
Fossile Ernährung – Wir essen Erdöl
Mensch und Tier – »Der Mensch ist das Tier, das vergisst, dass es ein Tier ist«
Agrartreibstoffe – Nahrungsmittel für Teller oder Tank
Emissionshandel und Offsets – Die Problematik des marktbasierten Umweltschutzes
Bewegungsfreiheit
VORWORT
Der Blick von demokratisch und sozial-ökologisch orientierten Menschen richtet sich derzeit vor allem besorgt nach rechts. In vielen Ländern gewinnen nationalistische Bestrebungen, rassistische Ressentiments und autoritäre Regierungsformen an Gewicht. In diesen Zeiten scheint der neoliberale Kapitalismus nicht mehr alternativlos zu sein. Doch diese Alternativlosigkeit wird auch durch die vielen emanzipatorischen Initiativen und konkreten Ansätze durchbrochen: Der Arabische Frühling, die Platzbesetzungen in vielen Ländern, linke Wahlalternativen wie Podemos in Spanien, Proteste gegen TTIP und CETA, gegen den Abbau und die Nutzung von Kohle oder gegen Großprojekte wie Stuttgart 21, lokale Bewegungen wie Transition Towns, urbanes Gärtnern und Repair-Cafés sowie Vorschläge für bessere soziale Infrastrukturen, eine dezentrale und demokratische Energiewende oder öffentlichen Verkehr – und vieles mehr.
In dieser Situation hat sich im Jahr 2016 eine Gruppe von wissenschaftlich und politisch Aktiven unter dem Titel »Die imperiale Lebensweise: Ausbeutungsstrukturen im 21. Jahrhundert (I.L.A.)« zu einer Schreibwerkstatt zusammengefunden. Sowohl die Bezeichnung »Schreibwerkstatt« als auch die Sperrigkeit ihres Namens macht es Außenstehenden vermutlich nicht ganz leicht, das Engagement und die Dynamik zu erahnen, die dieses Projekt entfaltet hat, und die Expertise einzuschätzen, die darin versammelt war. Wer jedoch dieses Dossier zur Hand nimmt, mit dem die I.L.A.-Werkstatt ihre Ergebnisse für eine breitere Öffentlichkeit aufbereitet hat, bekommt schnell einen Eindruck davon.
Eines der zentralen Verdienste des Projekts besteht darin zu zeigen, dass es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Krise und dem Aufstieg der Rechten mit ihren falschen Antworten gibt – falsch deshalb, weil sie unsolidarisch sind und nicht an die Ursachen der Probleme und Krisen heranreichen. Und: Der rechte Aufstieg ist aufhaltbar. Es gibt die Möglichkeit, ihm – ebenso wie einem Kapitalismus mit immer bedenklicheren sozialen und ökologischen Folgen – mit progressiven Alternativen zu begegnen. Dazu braucht es, neben Mut und Engagement, auch Ideen und fundierte Analysen. Letztere liefert dieses Dossier. Es wirft einen genauen Blick auf die imperiale Lebensweise, also jene Produktions- und Konsummuster, die auf der grenzenlosen Aneignung von Natur und Arbeitskraft im globalen Maßstab beruhen und dabei auf der einen Seite großen Wohlstand und auf der anderen Seite unendlich viel Leid und Zerstörung verursachen.
Die Mechanismen, die dabei am Werk sind, werden in diesem Dossier klar herausgearbeitet und anschaulich präsentiert. Es wird deutlich, dass zwar viele Menschen an der imperialen Lebensweise – vor allem im Globalen Norden – teilhaben und von ihr profitieren. Doch sie ist gleichzeitig auch ein Zwang, dem man sich mit individuellen Strategien wie etwa einem sozial-ökologischen Konsum – so wichtig dieser ist – nicht ohne weiteres entziehen kann. Die imperiale Lebensweise ist Versprechen und Zwang, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten und schränkt sie gleichzeitig ein. Dabei ist auch im Globalen Norden die soziale Position eines Menschen keineswegs unerheblich. Je nach Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und Herkunft gestaltet sich dieses Verhältnis von Versprechen und Zwang unterschiedlich. Das zeigt sich in puncto Automobilbesitz ebenso wie bei der Häufigkeit von Flugreisen und Fleischkonsum. Beispielsweise verbrauchen in aller Regel diejenigen, die über ein hohes Einkommen (und mitunter ein ebensolches Umweltbewusstsein) verfügen, auch am meisten Ressourcen und Energie.
Das vorliegende Dossier zeigt diese und weitere Zusammenhänge in unterschiedlichen Lebensbereichen auf. Es bleibt allerdings nicht bei der Analyse stehen. Vielmehr fragt es nach den Potenzialen für alternative Ideen und Konzepte, die in vielen Teilen der Welt an Bedeutung gewinnen und die dem berechtigten Unmut über soziale Ungleichheit, ökologische Zerstörung und »postpolitische« Alternativlosigkeit zu einem emanzipatorischen Ausdruck verhelfen. Damit richtet sich das Buch an alle, die vor unterschiedlichen Hintergründen für Energiedemokratie, Ernährungssouveränität, eine Mobilitätswende oder lebenswerte Städte kämpfen. Sie finden hier neben klugen Analysen auch wichtige Anregungen, die ihr Engagement bereichern werden. In diesem Sinne wünschen wir diesem spannenden Dossier eine weite Verbreitung und danken an dieser Stelle den Teilnehmenden und insbesondere Thomas Kopp für das enorme Engagement.
Berlin, Oregon und Wien im März 2017
Ulrich Brand, Barbara Muraca, Markus Wissen
EINLEITUNG
Die ganz alltägliche Katastrophe
Wer morgens die Zeitung aufschlägt, kann sich des dumpfen Gefühls nicht erwehren, dass wir in schwierigen Zeiten leben. Eine schlechte Nachricht folgt der anderen: Finanzmarktkrise, Hungerkrise, tausende Tote im Mittelmeer, Klimawandel und Naturkatastrophen, unsichere Jobs und Sozialabbau, der Aufstieg reaktionärer und rechter Kräfte in Europa und den USA. Gleichzeitig beobachten wir eine wachsende soziale Ungleichheit und Spaltung der Gesellschaft. Obwohl die globale Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen ist, leben noch immer 766 Millionen Menschen in extremer Armut.1 Und während im Jahr 2010 noch 388 Personen so viel Reichtum wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besaßen, sind es 2017 nur noch acht Männer.2
»Während im Jahr 2010 noch 388 Personen so viel Reichtum wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besaßen, sind es 2017 nur noch acht Männer.«
Die schlechten Nachrichten scheinen zusammenhangslos auf uns einzuprasseln – und doch haben sie viel miteinander zu tun. Mit diesem Dossier möchten wir die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Missständen und beunruhigenden Tendenzen aufzeigen und untersuchen. Außerdem fragen wir uns: Wie können wir diesen besorgniserregenden Entwicklungen begegnen? Wo müssen wir ansetzen, um ein gutes Leben für alle zu erreichen, anstatt ein besseres Leben für wenige? Und was macht es so schwierig, einen sozial-ökologischen Wandel hin zu einer gerechten und nachhaltigen Zukunft voranzutreiben?

Das Leben der einen auf Kosten der anderen

Der Aufstieg rechter Bewegungen und Parteien zeigt, dass viele Bürgerinnen und Bürger quer durch alle gesellschaftlichen Schichten ihren Glauben an die parlamentarische Demokratie verloren haben. Rechtspopulist*inneni) weltweit nutzen die Angst vor einem sozialen Abstieg und schüren das Gefühl von Unsicherheit. Einfache Antworten auf komplexe Probleme gewinnen die Oberhand. Die Rückbesinnung aufs Nationale, schärfere Grenzkontrollen und schnellere Abschiebungen sollen Sicherheit und Wohlstand schaffen.
Diese einfachen Antworten werden den komplexen Problemen jedoch nicht gerecht. Aber auch manche linke Erklärungsmuster sind zu einfach, wenn sie die Schuld allein bei Konzernen, Banken und dem oberen ›1 Prozent‹ suchen. Stattdessen müssen wir sorgfältig prüfen, ob die verschiedenen Probleme gemeinsame Ursachen haben, und welche Strukturen den Ungerechtigkeiten zugrunde liegen. Eine wesentliche strukturelle Ursache der vielfältigen und miteinander verknüpften Krisen ist – so unsere These – die imperiale Lebensweise. Imperial, weil sie sich stetig ausbreitet, andere Lebensweisen verdrängt, übermäßig auf die Natur und menschliche Arbeit zugreift und dabei Lebenschancen und natürliche Ressourcen ungerecht verteilt. Lebensweise, weil sie unseren Alltag vollständig durchdringt. Sie zieht sich durch Produktionsprozesse, Gesetze, Infrastrukturen, Verhaltensweisen und sogar durch unsere Denkmuster. So erwarten wir von Frühling bis Winter exotisches Obst im Supermarkt und können innerhalb kürzester Zeit per Mausklick über Amazon, Zalando, foodora und Co fast jedes erdenkliche Produkt nach Hause geliefert bekommen. Darüber, wo es herkommt und wie es produziert wurde, müssen wir uns keine Gedanken machen. Wir erwarten eine stabile Währung und einen funktionierenden Zahlungsverkehr. Viele Länder und Weltregionen können diese Bedingungen jedoch nur aufrechterhalten, wenn sie der harten Sparpolitik von Weltbank und Internationalem Währungsfond (IWF) zustimmen. Wir können uns ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen. Dabei werden sie meist unter ausbeuterischen Bedingungen und staatlicher Repression produziert. Auch gehen wir selbstverständlich davon aus, dass sich irgendjemand um ältere Menschen kümmert. Diese Sorgearbeit aber erledigen nicht selten migrantische Fachkräfte zu miserablen Arbeitsbedingungen. Und wer die Chance hat, qualifiziert sich im lebenslangen Lernen immer weiter, um aktiv an einer karriereorientierten Gesellschaft teilzunehmen, stellt aber grundsätzliche Fragen zu unserem gesellschaftlichen Zusammenleben höchstens am Rande. Diese Elemente unseres Alltags sind Teil eines globalen Wirtschaftssystems, das gravierende Ungerechtigkeiten und ökologische Schäden hervorbringt. Es beruht auf konstanter Ausbeutung: einerseits zwischen Menschen, andererseits zwischen Menschen und ihrer Umwelt.
i) *: Im gängigen Sprachgebrauch wird nur die männliche Form verwendet. Zur geschlechtergerechten Schreibweise verwenden wir hier auch die weibliche Form. Das Sternchen steht außerdem dafür, dass es vielfältige Formen gibt, Geschlechtsidentitäten zu leben und zu empfinden.

Die imperiale Lebensweise …

… beruht auf ungerechter Ressourcenverteilung
Die Menschen im Globalen Norden, also die in wirtschaftsstarken Industrieländern lebenden Menschen, verbrauchen überproportional viele Ressourcen. Dem Rest der Weltbevölkerung bleibt nur noch ein kleiner Zugriff auf Land, Wasser, Nahrung oder fossile Brennstoffe. Auch innerhalb von Gesellschaften, sowohl im Globalen Norden wie auch im Globalen Süden (siehe Glossar), vergrößern wohlhabende Menschen durch ihren hohen Konsum und den damit einhergehenden Ressourcenverbrauch den ökologischen Fußabdruck (siehe Glossar) ihres Landes, während die einkommensschwachen Einwohner*innen nur einen geringen Teil dazu beitragen. Deshalb sprechen wir von einer transnationalen Verbraucher*innenschicht (siehe Glossar), also einer globalen Ober- und Mittelschicht mit einem übermäßigen Rohstoffverbrauch, der zunehmend auch Menschen im Globalen Süden angehören.
…wird ermöglicht durch menschenunwürdige Arbeit
Die imperiale Lebensweise dieser Verbraucher*innenschicht hängt direkt zusammen mit einer imperialen Produktionsweise und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Billigste Produkte sind nicht nur Auswirkung von steigender technologischer Effizienz, sondern hauptsächlich das Resultat von globalen Ungleichheiten und harter, schlecht bezahlter und unsicherer Arbeit – die auch in Deutschland vom Schlachthof bis zum Restaurant stattfindet. In der Türkei oder in Bangladesch stürzen ganze Minen und Fabrikgebäude über den Arbeiter*innen zusammen. Niedrige Sozial- und Umweltstandards an vielen Orten machen die Konsumprodukte für eine weltweit wachsende Mittel- und Oberschicht leicht erschwinglich. Die gleichen Jobs werden im Globalen Süden deutlich schlechter bezahlt als im Norden. Dadurch haben die Konsument*innen des Nordens Zugriff auf deutlich mehr Arbeitszeit – in Form produzierter Güter – der Menschen im Globalen Süden als umgekehrt: Wenn ich eine Stunde zu den Löhnen im Norden arbeite, kann ich mir das Produkt eines Vielfachen der Arbeitsstunden im Süden kaufen. Vielen Bürger*innen von EU und Nordamerika steht fast die gesamte Welt offen, auch visarechtlich. Den Menschen im Globalen Süden verwehren dagegen oft Grenzzäune den Weg (siehe Infobox »Bewegungsfreiheit«).
… beutet die Natur aus
Der überproportionale Zugriff auf natürliche Ressourcen ist ein weiteres Unrecht, das wir nicht nur an anderen Menschen, sondern auch an der nicht-menschlichen Natur selbst verüben. Die ›Natur‹ stellt einen Wert an sich dar und ist nicht ausschließlich Rohstoff oder Deponie für menschliche Bedürfnisse und Abfälle. Es wird immer deutlicher, dass unsere auf unbegrenztes Wirtschaftswachstum ausgerichtete Lebens- und Produktionsweise auf einem begrenzten Planeten nicht möglich ist. Die aktuelle Rate des Artensterbens ist etwa tausendmal höher als in der Zeit vor menschlichem Einfluss, Tendenz steigend.3 Seit 2000 wird alle fünf Jahre ein Regenwaldgebiet in der Größe der Bundesrepublik abgeholzt.4 Und verschiedene Schätzungen gehen davon aus, dass Klimawandel und Naturkatastrophen bis zum Jahr 2050 bis zu eine Milliarde Menschen aus ihrer Heimat vertreiben könnten.5 Der menschengemachte Klimawandel ist historisch betrachtet ein Produkt der imperialen Lebens- und Produktionsweise der Länder des Globalen Nordens, wie wir im folgenden historischen Abriss noch ausführen werden. Dass unsere Mobilität so stark auf das Auto fokussiert ist, jeder Haushalt verschiedenste energieintensive Geräte sein Eigen nennt und ressourcenintensive Industrien wie die Stahlproduktion und der Flugverkehr massiv subventioniert werden – all dies trägt massiv zur Erderwärmung bei. Viele der damit verbundenen Emissionen gehen heute nicht mehr direkt aufs Konto der reichen Nationen im Norden. Nicht nur, weil sich die imperiale Lebensweise ausbreitet, sondern auch deshalb, weil die Produktion vieler Güter in den Süden ausgelagert wurde (virtuelle Emissionen von Gütern, siehe Glossar). Das ändert aber nichts daran, für wessen Konsum und Profite ein Großteil der weltweiten Treibhausgase anfällt.
Abb. 1.1: Das Konzept der imperialen Lebensweise
…und spaltet die Gesellschaft
Die genannten Ungerechtigkeiten treffen bestimmte Menschen unverhältnismäßig stark: So leiden jene, die über wenig Geld verfügen oder aufgrund ihres Geschlechts oder rassistisch benachteiligt werden, stärker unter den Folgen von ungerechten Arbeitsbedingungen, Umweltschäden und Klimawandel.6 Die Spaltung vollzieht sich dabei nicht nur zwischen einem wohlhabenden Globalen Norden und einem ausgebeuteten Globalen Süden, sondern auch innerhalb von Gesellschaften. So gibt es sowohl im Globalen Süden Profiteur*innen der Globalisierung, wie es in den Ländern des Nordens Verlierer*innen gibt. Armut oder auch Unzufriedenheit mit Leistungsdruck, Hypermobilität oder Feinstaubbelastung sind keineswegs eine Seltenheit.

Die imperiale Lebensweise in uns

Die imperiale Lebensweise macht auch vor der eigenen Person nicht Halt und gipfelt in dem Bedürfnis vieler Menschen nach permanenter Selbstoptimierung. Damit ist nicht nur das Karrieredenken im Sinne höherer Einkommen und Positionen gemeint, sondern auch die steigende Effizienz in Beruf und Freizeit als Selbstzweck. Auch die gesellschaftliche Auffassung, dass die Verantwortung zunehmend ausschließlich beim Individuum liegt – und nicht beim Unternehmen oder beim Staat – treibt diese Entwicklung voran: Ungerechte Wirtschaftsweisen hängen dann allein damit zusammen, dass die Individuen nicht ethisch korrekt einkaufen. Und wer zum Beispiel krank ist, leidet nicht an den Folgen seiner Erwerbsarbeit (oder hat einfach Pech gehabt), sondern ist selbst schuld, weil er*sie zu ungesund isst, nicht genügend meditiert oder zu wenig Sport treibt (um sich von den Folgen der Arbeit zu erholen).

Die imperiale Lebensweise als Erklärungsversuch

Das Konzept der imperialen Lebensweise bietet eine Erklärung dafür, warum sich angesichts der zunehmenden Ungerechtigkeiten bisher keine zukunftsweisenden Alternativen durchsetzen. Er untersucht Gründe dafür, warum eine sozial-ökologische Transformation (siehe Glossar) blockiert wird. Damit meinen wir einen grundlegenden Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft, um ein gutes Leben für alle, auch für zukünftige Generationen, zu ermöglichen. Die Sozialwissenschaftler Markus Wissen und Ulrich Brand haben den Begriff vor wenigen Jahren in die wissenschaftliche Debatte eingeführt.7 Hier versuchen wir ihn anhand verschiedener Bereiche unseres alltäglichen Lebens zu veranschaulichen: anhand unserer Ernährung und Mobilität, unseres Bildungssystems, der Privatfinanzen, des Sorgebereichs und der digitalen Welt. Dabei fragen wir, wie sich die imperiale Lebensweise in diesen Bereichen äußert und welche Faktoren sie stabilisieren.
INFOBOXZum Nachschlagen – Das Konzept der imperialen Lebensweise im Überblick
Imperiale Lebensweise – eine Erklärung
Imperiale Lebensweise in Stichworten
Eine wesentliche Ursache der gegenwärtigen Probleme ist – so unsere These – die weltweite Ausdehnung einer auf Profit und Wachstum basierenden Wirtschaftsweise. Das globale Wirtschaftssystem ist jedoch kein eigenständiges, abgekoppeltes System ›da draußen‹, sondern stark mit der Lebensweise der Menschen verwachsen.
Das Konzept der imperialen Lebensweise verbindet Individuum, Wirtschaft und globale Probleme.
Die imperiale Lebensweise beruht auf dem Ideal des komfortablen und modernen Lebens mit seiner dauerhaften Verfügbarkeit von Konsumgütern. Um einen solchen Alltag zu ermöglichen, müssen Menschen in aller Welt hart arbeiten, Bodenschätze abbauen und Tiere schlachten. Dies in einem Ausmaß, das an die ökologischen und sozialen Grenzen der Erde stößt. Die Folgen werden ausgelagert: Auf den Globalen Süden, auf kommende Generationen und auf benachteiligte Gruppen überall.
Die imperiale Lebensweise ist imperial, weil sie bestimmten Gruppen einen übermäßigen Zugriff auf Arbeitskraft und Biosphäre weltweit ermöglicht und negative Folgen auslagert.
Trotz der genannten Probleme breiten sich Traum und Praxis dieser Lebensweise ausgehend vom Norden in immer weitere Teile der Welt aus – mitsamt ihren ökologischen Problemen und sozialen Ungerechtigkeiten. Denn die imperiale Lebensweise gilt als die Norm: Tief sitzende Vorstellungen und Orientierungen von dem, was erstrebenswert ist (zum Beispiel ›Wachstum‹ als persönliches und wirtschaftspolitisches Ziel), physisch-materielle Infrastrukturen (Autobahnen oder Kohlekraftwerke) und politische Institutionen (Europäische Zentralbank, Weltwährungsfonds oder Freihandelsabkommen) stützen sie.8 Weil verschiedene Ebenen hier zusammenwirken, sprechen wir von einer Lebensweise (im Unterschied zum individuellen Konsumstil oder den allgemeinen Produktionsverhältnissen).
Die imperiale Lebensweise breitet sich global aus.
Staat, Wirtschaft und der gesellschaftliche Konsens festigen die imperiale Lebensweise.
Lebensweise meint ein komplexes Zusammenwirken von individuellen Handlungen, Wirtschaft und politischen Institutionen.
Ihre Vielschichtigkeit und die mehr oder minder aktive Zustimmung vieler Menschen stabilisieren die imperiale Lebensweise. Ein Resultat sind Scheinlösungen (zum Beispiel technologische Effizienz, siehe Infobox »Green Economy«) für echte Probleme wie den Klimawandel. Doch ebenso vielfältig sind die Ansatzpunkte für eine sozialökologische Transformation. Menschen an verschiedensten Orten politisieren das Alltägliche, indem sie sich dem Konsum verweigern oder sich in Initiativen, Gewerkschaften und Bündnissen zusammenschließen und für die Demokratisierung von Institutionen und Produktionsweisen kämpfen.
Eine sozial-ökologische Transformation muss auf allen Ebenen der imperialen Lebensweise ansetzen.

Wandel in Sicht?

Die profitorientierte Globalisierung (siehe Glossar) zeigt und vervielfältigt sich in unserem alltäglichen Leben, in unserer Arbeit, unserem Konsum und unseren ›normalen‹ Verhaltens- und Denkweisen. Nur wenn wir uns über die Probleme und ihre Ursachen bewusst werden, können wir eine wirkliche Veränderung herbeiführen. Tatsächlich können wir eine zunehmende Sensibilisierung für die genannten Probleme bei vielen Menschen im Norden wie im Süden beobachten.9 Jedoch tragen gerade einkommensstarke Schichten mit dem höchsten Bildungsniveau am meisten zur Zerstörung der Biosphäre und der Ausbeutung von Menschen bei (siehe Mobilität und Bildung und Wissen).10 Dies liegt daran, dass viele dieser Menschen zwar eher umweltfreundliche Kaufentscheidungen treffen, aufgrund ihres hohen Einkommens aber auch überdurchschnittlich viel konsumieren.
Wir beobachten eine deutliche Zunahme konsumbasierter ›Lösungen‹. Ein Beispiel sind fair gehandelte Produkte, deren Marktanteil beständig steigt.11 Ein anderes ist, dass Reisende inzwischen ihren Flug, ihre Auto- oder Busfahrten durch eine vermeintliche CO2-Zahlung ausgleichen können. So verspricht das Unternehmen Atmosfair beispielsweise für ein paar Euro einen ›CO2-neutralen‹ Flug.12 Entwickler*innen des Fairphones streben an, so »fair wie möglich«13 zu produzieren, also möglichst keine Rohstoffe aus Krisenregionen zu verwenden und die Angestellten nicht auszubeuten.ii)
Bei vielen dieser Lösungsstrategien handelt es sich jedoch um Ansätze mit einseitigem Fokus auf den individuellen Konsum und mit geringer Reichweite. Menschen können sich weiterhin persönlich entscheiden, Kaffee mit oder ohne Ausbeutung einzukaufen – Ausbeutung bleibt dabei die Norm. In vielen Fällen handelt es sich gar um Scheinlösungen und Greenwashing, wie im Falle der CO2-Ausgleichszahlungen (siehe Infobox »Emissionshandel und Offsets«). Ein Beispiel für solche Scheinlösungen ist auch die Entwicklungszusammenarbeit westlicher Staaten, wenn sie versucht durch Maßnahmen wie Hungerhilfe die negativen Auswirkungen ihrer eigenen Landwirtschaftspolitik zu kitten. Auch die politische Strategie eines grünen Wachstums (siehe Infobox »Green Economy«) soll die negativen Auswirkungen unserer Wirtschaftsweise verringern, ohne jedoch an dieser etwas zu verändern. Die grundsätzlichen Strukturen, welche die Ungerechtigkeiten ermöglichen und befördern, bleiben unangetastet. Es handelt sich somit meist um eine Symptombekämpfung.14 Trotzdem führen diese Strategien dazu, dass der Schein gewahrt wird und wir uns in Sicherheit wiegen können. Es tut sich ja immerhin etwas.
INFOBOXDer Traum von der Green Economy
Die Green Economy (grünes Wachstum) verspricht, dass wir unsere Wirtschaft nur ›grüner‹ machen müssen, um die ökologischen Probleme zu lösen. Eine Einschränkung unseres derzeitigen Konsums ist nicht notwendig. Mehr noch: Das Wirtschaftswachstum können wir damit sogar ankurbeln. Um das Wirtschaftswachstum vom Naturverbrauch zu entkoppeln, soll die auf fossilen Brennstoffen basierende Industrie schrittweise durch bio-basierte Produktion ersetzt werden: Benzin durch Agrartreibstoffe (siehe Infobox »Agrartreibstoffe«), Kohle durch Wasserkraft, und so weiter. Marktinstrumente wie der Emissionshandel spielen hier eine wichtige Rolle (siehe Infobox »Emissionshandel und Offsets«). Gleichzeitig sollen umstrittene technische Maßnahmen wie Geo-Engineering und CO2-Abscheidung und -Speicherung zur ›Neutralisierung‹ unvermeidbarer Emissionen dienen. Vorangetrieben wird die Green Economy von einer prominenten Allianz aus OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), UNEP (Umweltprogramm der Vereinten Nationen), Weltbank, so manchen großen Umweltschutzorganisationen, grünen Parteien und einigen Konzernen und Banken. Diese erhoffen sich durch eine ›grüne‹ Vorreiterrolle ihre Wettbewerbschancen zu erhöhen.
Dass sich eine solche Green Economy realisieren lässt, ist unwahrscheinlich: So übersteigt die notwendige Effizienzsteigerung alles bisher Beobachtete und realistisch zu Erwartende.15 Auch die vorausgesetzte Dematerialisierung, also der Fokus auf den vermeintlich emissionsfreien Dienstleistungssektor, ignoriert dessen Abhängigkeit von physischer Infrastruktur und Energiebedarf.16 Außerdem würden diese Effizienzsteigerungen – nach vorherrschender (neoklassischer) Wirtschaftstheorie – nicht nur die Emissionen senken, sondern aufgrund der damit verbundenen Preisreduktion wiederum den Konsum ankurbeln (siehe auch Reboundeffekt im Glossar).17
Die Widersprüche zwischen zunehmendem Problembewusstsein einerseits und wachsenden Problemen andererseits sind offensichtlich: Es besteht zwar ein diffuses Gefühl, dass der Klimawandel gefährlich werden könnte und die unfairen Produktionsbedingungen in der Agrar-, Textil- oder Elektroindustrie untragbar sind – kurzum: dass mit der vorherrschenden Produktionsweise etwas nicht in Ordnung ist. Gleichzeitig kommt es jedoch zu keinem zukunftsweisenden Politikwechsel und zur Bereitschaft, den eigenen Lebensstandard einzuschränken und grundlegend umzugestalten.
Noch problematischer ist der Erfolg einfacher aber falscher Erklärungsmodelle und Projekte von Rechts und damit der Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte. Dieser lässt sich damit erklären, dass sich viele Menschen bestehender Probleme bewusst sind und ein Unsicherheitsgefühl haben. In ihrer nationalistischen Rhetorik nutzen Rechtspopulist*innen die Krise als Argument, um Abschottung zu propagieren und die imperiale Lebensweise für die eigene Nation zu sichern. Auch die Parteien der Mitte reagieren mit einer zunehmenden Abschottungspolitik auf dieses gesellschaftliche Klima. Zwar reden etablierte Parteien, Gewerkschaften und Industrieverbände von Wandel und Nachhaltigkeit, tragen mit einer Politik des ›weiter so‹ jedoch zur Festigung und Zuspitzung aktueller sozial-ökologischer Probleme bei.18 Das schlägt sich zum Beispiel in der Sparpolitik nieder, wie sie die EU Griechenland aufzwingt (siehe Geld und Finanzen).
Tiefgehende und inklusive Transformationsprojekte, die einen sozial gerechten und ökologischen Wandel zum Ziel haben, schaffen es dagegen bisher nicht in gleichem Maße Menschen für sich zu gewinnen. Das liegt zum einen daran, dass sie sich oftmals einer komplizierten und ausschließenden Sprache bedienen. Zum anderen aber auch daran, dass sie häufig sehr vage bleiben und gleichzeitig viel komplexer sind als die von Rechts vorgeschlagenen einfachen Lösungen. So sind die Menschen verunsichert, wie ein sozial-ökologischer Wandel ihr alltägliches Leben verändern könnte. Gleichzeitig scheint völlig unklar, wie eine Transformation von Produktionsstrukturen und Lebensweisen auf lokaler, regionaler und globaler Ebene praktisch funktionieren kann.
In diesem Dossier wollen wir genauer analysieren, warum sich kaum etwas ändert und welche Akteure und Strukturen in konkreten alltäglichen Lebensbereichen Veränderungen hin zu einer solidarischen Gesellschaft verhindern. Diese Frage zu klären ist ein notwendiger und erster Schritt, um Ungerechtigkeiten zu überwinden. Daran anschließend wollen wir Möglichkeiten aufzeigen, die eine sozial-ökologische Transformation vorantreiben können.
ii) Es darf dabei aber nicht übersehen werden, dass seit der Markteinführung zwar schon mehr als 111.000 Fairphones verkauft worden sind, dies jedoch 219 Millionen iPhones gegenübersteht, die Apple allein in 2016 verkaufte (siehe Digitalisierung).

Unser Vorgehen: Ausblick auf das Dossier

Im folgenden Kapitel geben wir zunächst einen historischen Überblick darüber, wie es zur heutigen Situation gekommen ist. Wir zeigen, wie die imperiale Lebensweise im Verlauf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen zwischen dem 16. Jahrhundert und heute entstanden ist und wie sie sich ausbreiten und stabilisieren konnte. Anschließend untersuchen wir anhand von sechs Themenfeldern, wie die imperiale Lebensweise verschiedene Bereiche unseres Alltags durchdringt und welche ausbeuterischen Verhältnisse menschlicher Arbeitskraft und unserer Umwelt in diesen Lebensbereichen bestehen. Wir zeigen außerdem auf, welche Akteure und Bedingungen sie festigen.
Fast jede*r von uns hat ein Smartphone und bewegt sich in der digitalen Welt. Im dritten Kapitel zu Digitalisierung stellen wir dar, wie konfliktreich gewonnene Rohstoffe und neo-koloniale Wirtschaftsbeziehungen unsere Smartphone-Nutzung erst ermöglichen, wie sich unser Alltagsleben zunehmend digitalisiert und welche Folgen dies für unser gesellschaftliches Zusammenleben und Wirtschaften hat. Ermöglicht und reproduziert wird unser Leben durch Sorgearbeit von Menschen, die sich um das Wohlergehen anderer Menschen kümmern. Auf wessen Kosten die aktuelle Organisation von Sorge in unseren Gesellschaften geht und welche Akteure dieses System stützen, erläutern wir im vierten Kapitel. Täglich brauchen wir Geld, um unseren Alltag zu bestreiten. Wie uns diese und andere scheinbare Normalitäten der Geld- und Finanzwirtschaft mit globaler Ungleichheit, Verschuldung und Ausbeutung verbinden, zeigen wir im fünften Kapitel. Wir alle haben Bildung genossen und uns Wissen angeeignet. Das sechste Kapitel untersucht, wie uns unsere Bildung zur imperialen Lebensweise anleitet, wie sie andere Formen des Wissens verdrängt, und wie ›westliche‹ Wissensproduktion mitunter zur Ausbeutung von Natur und von anderen Wissensformen beiträgt. Auch unsere Ernährungsweise hat gravierende Folgen für Menschen und Ökosysteme andernorts. Die Zusammenhänge unserer Ernährung mit weltweitem Hunger, klimaschädlicher Landwirtschaft und der Marktmacht von Lebensmittelkonzernen beleuchten wir im siebten Kapitel. Eine weitere wichtige Voraussetzung für eine imperiale Produktions- und Lebensweise ist unsere Mobilität – sei es für Urlaubsreisen oder die T-Shirts in unserem Kleiderschrank. Die Auswirkungen und Widersprüche des beschleunigten, auf Erdöl basierenden Transportsystems untersuchen wir im achten Kapitel.
Diese Lebensbereiche sind ausgewählte Beispiele, die für die Lebensrealitäten eines großen Teils der globalen Ober- und Mittelschicht wichtig sind. Sie ermöglichen es uns, die imperiale Lebensweise anhand von Alltagshandlungen anschaulich zu erklären. Außerdem zeigt die Analyse dieser Bereiche, warum sich nichts ändert und wir fragen, welche konkreten Vorstellungen, Politiken und Infrastrukturen die bestehenden Zustände verstärken und festigen. In Kapitel neun zeigen wir in einem Überblick über die Ergebnisse dieses Dossiers, wo Hebelpunkte und Strategien sichtbar sind, um die imperiale Lebensweise zu überwinden. Denn Alternativen zur imperialen Lebensweise brauchen zwar große Veränderungen von Produktionsweisen und unseres Alltagslebens, müssen jedoch keine verminderte Lebensqualität zur Folge haben. Im Gegenteil: Solidarische und kooperative Formen des Wohnens, des Arbeitens, der Fürsorge, des Wirtschaftens und Zusammenlebens sind möglich und existieren bereits. Sie ließen sich ausdehnen, miteinander vernetzen und von der Ausnahme zur Regel machen.
Endnoten
1 UNDP, 2016
2 Credit Suisse, 2017; Forbes, 2017
3 Pimm et al., 2014
4 Kim, Sexton & Townshend, 2015
5 International Organization for Migration, 2009
6 Bauriedl, 2014; IPCC, 2014
7 Brand & Wissen, 2017
8 Brand & Wissen, 2017
9 Svampa, 2012
10 Wuppertal Institut, 2005
11 Fairtrade Deutschland, 2016
12 Atmosfair, 2017
13 Fairphone, 2017
14 Ziai, 2004
15 Karathanassis, 2014
16 Wölfl, 2003
17 Jackson, 2011; Santarius, 2012
18 Fraser, 2017
HISTORISCHER ABRISS
Eine kurze Geschichte der imperialen Lebensweise
Woher kommt die imperiale Lebensweise und wie hat sie sich entwickelt? Dieses Kapitel gibt einen Überblick über ihre Geschichte aus europäischer Perspektive – eine Geschichte, die von Erfindungsreichtum, materiellem Wachstum und Emanzipation genauso geprägt ist wie von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt.
Die imperiale Lebensweise – also der prinzipiell unbegrenzte Zugriff auf Arbeitskraft und Ressourcen weltweit – entstand im Verlauf der letzten 500 Jahre: Sie entwickelte sich von einem Luxus, der den europäischen und nordamerikanischen Eliten vorbehalten war, zum normalen Alltag der globalen Mittel- und Oberschichten. Die globalen politischen und wirtschaftlichen Machtbeziehungen äußerten sich zunächst in expliziten Formen der Gewaltherrschaft (Kolonialismus und Imperialismus). Später wurden sie von subtileren Formen der Ausbeutung (Abhängigkeiten vom und über den Weltmarkt) abgelöst.1 Getragen von einem großen Konsens, erscheint uns die imperiale Lebensweise heute oftmals als selbstverständlich. Indem sie Abhängigkeiten und gesellschaftliche Zwänge aufrechterhält, blockiert sie dabei Wege in eine sozial-ökologische Gesellschaft.

Kolonialismus: Die frühe imperiale Lebensweise

Die europäische Expansion begann im späten 15. und 16. Jahrhundert beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Sie wurde durch verschiedene Bedingungen begünstigt: Die Wirtschaftskraft war im Spätmittelalter angewachsen, Banken und große Handelskompanien entstanden. Und durch die Reformation erhielt die Wirtschaft einen weiteren Schub, da viele gut Ausgebildete nicht länger im Dienst der Kirche standen, sondern sich weltlichen Aufgaben widmeten. Das förderte Innovationen in der Verwaltung, in Technik und Wissenschaft. Der christliche Missionseifer stärkte den europäischen Expansionsdrang mit gewaltbereitem Furor. Gerade die spanischen und portugiesischen Königreiche, von denen die »Unterwerfung der Welt«2 ausging, kämpften seit Langem gegen Muslime und Juden. Mit der Reformation kam es schließlich auch zu zahlreichen Glaubenskriegen innerhalb des Christentums. Zusammen mit anderen militärischen Auseinandersetzungen hatten diese Glaubenskriege zur Folge, dass kleine Herrschaften vielfach unterworfen und in die großen eingegliedert wurden. Verstärkt entwickelten sich in Europa absolutistische Regime, die für ihre teure herrschaftliche Repräsentation und die zahlreichen Kriege, die sie führten, enorme Summen benötigten. Im Zusammenhang mit einer Reihe von Innovationen, etwa in der Seefahrt und Waffentechnik, ergab diese Mischung aus großem Geldbedarf, Gewaltkultur und religiösem Missionseifer eine für die restliche Welt explosive Mischung.
Europa expandiert …
Als erste versuchten die Portugiesen und Spanier sich neue Zugänge zu den Schätzen und Märkten des Orients zu erschließen, und stießen dabei in ihnen unbekannte Regionen vor – insbesondere auch in die sogenannte ›Neue Welt‹. Etwas später folgten dann weitere europäische Staaten wie die Niederlande oder England. In der Ferne fanden sie vielerorts Machtverhältnisse vor, die günstig für sie waren: In manchen Regionen herrschte beispielsweise ein Machtvakuum, in das sie vorstoßen konnten. So etwa in Südostasien, wo die Großmacht China erst kurz zuvor ihre Außenbeziehungen eingeschränkt und ihre riesige Flotte aufgelöst hatte.3 Vielfach konnten sie auch lokale oder überregionale Konflikte für sich nutzen. In anderen Weltgegenden wie Amerika konnten sie sich hauptsächlich deshalb leicht durchsetzen, weil die indigene Bevölkerung gegen viele eingeschleppte Krankheiten wie Grippe keine Abwehrkräfte besaß und an ihnen deshalb zu großen Teilen starb. Insbesondere aber verfügten die europäischen Eindringlinge über Militärtechnologie, speziell Feuerwaffen wie etwa Kanonen, die ihnen in vielen Weltgegenden eine blutige Überlegenheit verschaffte – wenn auch keineswegs überall. Das mächtige osmanische Reich etwa war bis weit ins 17. Jahrhundert hinein ein gefürchteter Gegner. Auch für das chinesische Reich oder den indischen Großmogul waren die europäischen Mächte lange Zeit kaum ernstzunehmende Konkurrenten.4 In technologischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Hinsicht waren die Europäer in vielen Bereichen geradezu rückständig.i) Vor allem aber war die europäische Expansion von massiver Gewaltanwendung und Ausbeutung von Mensch und Natur geprägt.5 Beispielsweise wurden indigene Zwangsarbeiter*innen und Sklav*innen – insbesondere aus Afrika – unter verheerenden Bedingungen zur Arbeit gezwungen und starben zu tausenden. Gegen Widerstände gingen die Kolonialherren brutal vor, viele Völkerschaften rotteten sie gänzlich aus. So begingen deutsche Truppen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika Völkermord an großen Teilen der Herero und Nama.
»Die europäische Expansion begann im späten 15. und 16. Jahrhundert beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.«
Staatliche und private Akteure arbeiteten bei der Unterwerfung der Welt eng zusammen: Die monarchischen oder oligarchischen Regierungen der Kolonialstaaten sorgten für Anreize, die nötigen Rahmenbedingungen, Legitimierung sowie notfalls für die militärische Durchsetzung von Verträgen oder den Schutz ihrer ›Unternehmen‹. Dafür erhielten sie wichtige Einnahmen, etwa über Steuern. Hingegen übernahmen private und halbprivate Akteure, zum Beispiel Unternehmer, Statthalter oder Aktiengesellschaften wie die British East India Company, die Finanzierung und vielfach die eigentliche ›schmutzige Arbeit‹ des Kolonialismus. Dafür durften sie (und ihre Anteilseigner) große Teile der Ausbeutungsgewinne einstreichen. Die großen nationalen Handelskompanien erhielten von ihren Herrschern nicht nur Handelsmonopole, sondern ebenso das Recht Kriege oder ›Strafmaßnahmen‹ durchzuführen.6 Und schon bald finanzierten Aktien und Anleihen die Expansion. Das moderne Börsen- und Zentralbankwesen (siehe Geld und Finanzen) ist nicht zuletzt aus der Finanzierung jenes Ausbeutungssystems entstanden,7 das auch als ›Kriegskapitalismus‹ bezeichnet wird.8
... und bringt einen ersten Weltmarkt hervor
Die Kaufleute aus Europa räumten mit ihren schwer bewaffneten Schiffen »Konkurrenten buchstäblich aus dem Weg [...], und gingen, im wahrsten Sinne des Wortes, auf Jagd nach Arbeitskräften.«9 Sie klinkten sich dabei in bestehende internationale Handelsverbindungen ein und schufen neue. Es entstand ein großes, von den europäischen Mächten beherrschtes und mit Waffengewalt aufrecht erhaltenes Handelssystem. Es entstand der erste Weltmarkt, den die europäischen Eliten nach ihren Interessen formten. Beispielsweise ließ die Niederländische Ostindien-Kompanie, um die Kontrolle über den einträglichen Handel mit Muskat zu erlangen, fast die ganze Bevölkerung einer Inselgruppe, geschätzte 15.000 Menschen, einfach ermorden.10 Danach richtete sie eine sklavenbetriebene Plantagenwirtschaft ein. Solche ›extraktiven Institutionen‹, die eine Ausbeutung zugunsten einer kleinen Elite sicherten, führten die Europäer überall in den Kolonien ein. Diese wirken sich vielfach bis heute destruktiv auf die Wirtschaften und politischen Systeme des Globalen Südens aus. Die Kolonialherren hingegen konnten auf diese Weise nicht nur ihre Herrschaft festigen und ausweiten, sondern auch ihre Handels- und Ausbeutungsgewinne vergrößern und in immer stärkerem Maße auf Güter aus aller Welt zugreifen. Der Weltmarkt bildete demnach das Rückgrat dieser frühen imperialen Lebensweise. Zum Beispiel konnten europäische Eliten mit dem geraubten Silber aus den Kolonien und den ›Erlösen‹ aus dem Sklavenhandel nun aus Asien (vor allem China und Indien) gefragte Waren wie Tee, Metalle, Edelsteine oder Porzellan, Seide und Baumwollstoffe erwerben. Und Amerika lieferte ihnen unter anderem Tabak oder Zucker.11 Bezeichnenderweise fand die Produktion von Zucker vor allem in Brasilien und der Karibik statt, konsumiert wurde er aber fast ausschließlich von Menschen in Europa und Nordamerika. In diesem Fall teilweise sogar von den Unterschichten, die von Luxusgütern in der Regel nichts hatten und denen es bisweilen kaum besser erging als den Unterworfenen in den Kolonien. Der privilegierte Zugriff auf die Waren aus aller Welt war damals ein Luxus, der großen Teilen der europäischen Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert weitgehend verwehrt blieb.
Koloniales Wissen prägt die Welt
Die imperiale Lebensweise beruhte auf gewalttätiger Ausbeutung, die nicht zuletzt mit rassistischen Argumenten legitimiert wurde. Etwa damit, dass die vermeintlich ›wilde‹ indigene Bevölkerung eher Tieren als Menschen gleiche und dementsprechend behandelt und ›(aus-)genutzt‹ werden könne.12 In mittelalterlicher Tradition war man zudem überzeugt, nichtchristliche Religionen bekämpfen zu müssen. Der große Erfolg, den die Europäer bei ihrer Mission, der Unterwerfung, Abschlachtung und Plünderung anderer Völker hatten, erschien ihnen als Bestätigung dafür, dass ihr Handeln gottgefällig war. Und er führte außerdem dazu, dass die Kolonialmächte beziehungsweise ihre Eliten weiterhin gerade auf jene Techniken und Wissenschaften setzten, denen sie ihren zunehmenden Wohlstand, ihren Erfolg und die Ausbeutung der Welt verdankten.ii) Die koloniale ›Erfolgsgeschichte‹ und imperiale Lebensweise sind deshalb tief in den westlichen Wissenschaften verankert und prägen bis heute das Verständnis davon, wie man sinnvoll und rational mit der Welt umgeht. Selbst für die Beherrschten und Ausgebeuteten waren die Stärke und der Reichtum der fremden Herrschaft vielfach ein Beleg dafür, dass deren Weltsicht und die von ihnen angewandten Methoden ›objektiv richtig‹ waren: Wer erfolgreich sein wollte wie sie, der musste sie nachahmen. Dies entwertete außereuropäische Kulturen und ihr Wissen – zu Gunsten westlicher Konzepte (siehe Bildung und Wissen).
Abb. 2.1 Anteile am Welteinkommen nach Regionen in %, 0 – 1998Quelle: Maddison, 2001
i) Noch im 18. Jahrhundert imitierte etwa die britische Textilindustrie die indische und erst rund 900 Jahre nach China schaffte man es auch in Europa Porzellan herzustellen. Schon zuvor, im Mittelalter, hatte man aus dem ›Reich der Mitte‹ etwa die Seidenproduktion, Papier und das Schwarzpulver übernommen.
ii) Also etwa Ingenieurs- und Geowissenschaften, Landvermessung, Schiffsbau und Nautik sowie vor allem Waffen- und Militärtechnik oder auch die umfangreiche Sammlung und Ordnung enzyklopädischen Wissens über die verschiedenen Erdteile.

Industrialisierung und Imperialismus

Erst im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich durch eine zweite Welle der kolonialen Expansion jene globale Dominanz Europas, die im 20. Jahrhundert dazu führen sollte, dass die Welt in ›entwickelt‹ und ›unterentwickelt‹ eingeteilt wurde.13 Jahrhundertelang hatten die außereuropäischen Teile der Welt – etwa China, Indien und einige heute sogenannte ›Entwicklungsländer‹ – den größten Anteil am Welteinkommen (siehe Abb. 2.1).14 Doch das änderte sich schnell. Nicht zuletzt deshalb, weil die konkurrierenden europäischen Kolonialmächte ihren Zugriff auf die globalen Ressourcen – Land (siehe Ernährung und Landwirtschaft), Arbeitskraft (Zwangsarbeit oder Versklavung) und Rohstoffe – ausweiteten und die Erde gewaltsam untereinander aufteilten. Diese Epoche, in der Europa den größten Teil der Welt unterwarf und unterdrückte, ging als Imperialismus in die Geschichte ein. Der Imperialismus veränderte die internationalen Beziehungen grundlegend und wirkt bis heute in vielen Lebensbereichen fort. Verfügten die Länder des Globalen Südens zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch über mehr als 63 % des weltweiten Einkommens, waren es um die Mitte des 20. Jahrhunderts gerade noch 27 %.15
Die koloniale Dimension der Industrialisierung
Ab dem 18. und 19. Jahrhundert drängten in vielen Ländern Europas Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr die Landwirtschaft immer stärker in den Hintergrund. Diese Sektoren bestimmten fortan das wirtschaftliche Wachstum und den gesellschaftlichen Wandel.16 Zunehmend gaben in der Produktion die Mechanisierung und das rhythmische Zischen der Dampfmaschine den Takt vor und ermöglichten so eine steigende Produktivität in den aufkommenden Fabriken. Textilien etwa konnten durch mechanische Webstühle so schnell wie nie zuvor hergestellt, Menschen und Güter mit Dampfern oder Eisenbahnen in ungeahnter Geschwindigkeit transportiert werden. Durch die neuen Technologien und die Nutzung fossiler Energieträger – zuerst vor allem Kohle – wurde die Produktion zudem unabhängig von den natürlichen örtlichen Gegebenheiten. Es konnte nun dort produziert werden, wo viele Arbeitskräfte verfügbar waren. Es begann das Zeitalter der fossilen Energie.17
In der westlichen Selbstwahrnehmung erscheinen diese Entwicklungen allzu häufig als logisches Ergebnis von überlegenem Erfinder- und Unternehmergeist. Dabei wird übersehen, dass die europäische Industrialisierung keineswegs allein auf technologischen Neuerungen beruhte: Weltweit schufteten Millionen von Sklav*innen, Zwangsarbeiter*innen oder Kulis (Tagelöhner*innen) für den Aufschwung der imperialen Mächte. Nicht zuletzt mussten sie billige Rohstoffe für deren Industrien liefern.18 Daran änderte auch die offizielle Abschaffung der Sklaverei wenig.iii) In so manchen Fällen ermöglichte erst die Aneignung von fremdem Wissen die europäische Entwicklung von Technologien. Beispielsweise übernahm die britische Textilindustrie – also das Symbol des Industriekapitalismus schlechthin – zahlreiche Techniken und Muster der bis dahin führenden indischen Textilhersteller*innen, die sie ausgekundschaftet hatte.19 Während in der ersten Phase des Kolonialismus insbesondere Silber, Zucker, Tee und Gewürze wichtige Handelsgüter waren (siehe oben), schuf die Industrialisierung vor allem ab dem 19. Jahrhundert einen wachsenden Bedarf an Baumwolle (für die Textilindustrie), Kautschuk (insbesondere für Rad- und Autoreifen), Eisenerz, Nickel und andere Mineralien (zum Beispiel für die Produktion von Stahl).20
Europas neue Klassengesellschaft
Der Industriekapitalismus brachte eine Gesellschaftsordnung hervor, die grundlegend von Erwerbsarbeit und neuen sozialen Gegensätzen geprägt war. Einem kleinen Kreis von immer wohlhabenderen Bürgern, die über Kapital oder Produktionsmittel, wie etwa Fabriken, verfügten, stand eine rasant wachsende Zahl an lohnabhängigen Arbeiter*innen gegenüber, die kaum mehr besaßen als ihre Arbeitskraft.21 Männer, Frauen und Kinder verrichteten in den Fabriken Schwerstarbeit zu Hungerlöhnen – nicht selten 12 bis 16 Stunden pro Tag oder mehr, ohne Versorgung bei Krankheit oder im Alter. Wie für die Menschen in den Kolonien war Schwerstarbeit auch für die europäischen Unterschichten das tägliche Brot. Die Arbeit in den Fabriken war oft keine freiwillige Wahl. Auf den britischen Inseln beispielsweise vertrieb der Adel große Teile der Landbevölkerung vom gemeinschaftlich genutzten Land, um dieses für die profitablere Produktion von Wolle zu nutzen.22 Viele Menschen konnten sich und ihre Familien deshalb auf dem Land nicht mehr ernähren und zogen in die Städte, um dort in den aufkommenden Fabriken wenigstens einen kargen Lohn zu verdienen. Für Frauen* bedeutete das eine doppelte Belastung: Zum einen gingen sie in den Textilfabriken oder privaten Haushalten einer Lohnarbeit nach, die deutlich schlechter entlohnt wurde als die ihrer männlichen Kollegen. Zum anderen wurde ihre zusätzliche Arbeit als Hausfrauen als selbstverständlich angesehen und weder bezahlt noch wertgeschätzt (siehe Sorge).23
Der Beginn der Wachstumsgesellschaft
Ab dem 18. Jahrhundert stiegen das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in Europa sprunghaft an und verstärkten einander. Allein zwischen 1700 und 1800 verdoppelte sich die Bevölkerung in Europa beinahe.24 Diese Entwicklung trug wesentlich zur Ausbreitung der imperialen Lebensweise bei – allein schon deshalb, weil sie eine große Migrationswelle auslöste. Auf der Suche nach wirtschaftlichem Glück oder auf der Flucht vor Repressionen wanderten Millionen Menschen aus Europa in andere Teile der Welt aus und verbreiteten dort die westliche Denk- und Wirtschaftsweise. Zudem stellte das Bevölkerungswachstum in Europa ein riesiges Reservoir an lohnabhängigen Arbeitskräften für die Industrialisierung bereit. Und es steigerte den Bedarf an neuen Infrastrukturen und erschwinglichen Lebensmitteln drastisch, was Innovationen in der Landwirtschaft begünstigte. Die Verbesserung oder neue Einführung von Anbaumethoden, Düngemitteln und Nutzpflanzen (zum Beispiel Mais, Kartoffeln oder Kürbis aus Nord- und Südamerika) boten die Grundlage für den weiteren Anstieg der Bevölkerung und der landwirtschaftlichen Produktivität. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es außerdem zu großen Umwälzungen im Verkehrswesen. Zuerst in Großbritannien, später in Kontinentaleuropa und in den Vereinigten Staaten gab es einen Bauboom bei Transportkanälen. Die Binnenschifffahrt transportierte wachsende Gütermengen aus dem regionalen wie globalen Handel und verband die neuen urbanen Zentren miteinander. Mitte des 19. Jahrhunderts revolutionierte dann die Eisenbahn die Mobilität von Menschen und Gütern. Denn mit ihr konnte der Verkehr unabhängig von Flussläufen geplant werden.25 Das war nicht nur ökonomisch, sondern ebenso militärisch von großer Bedeutung. Deshalb förderten Staaten den Ausbau der neuen Infrastruktur massiv und setzten entsprechende Pläne auch gegen Widerstände vor Ort durch. Das Kapital für den Streckenausbau stammte nicht selten aus der Ausbeutung der Kolonien. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Eisenbahnbau bereits der größte Wirtschaftszweig in Europa und Nordamerika – und damit in doppelter Hinsicht ein Motor der Industrialisierung: Zum einen schuf er ganz neue Möglichkeiten der Kommunikation, der Logistik und des Transports. Zum anderen war er selbst ein boomender Wirtschaftssektor. Die neue Produktivität und Mobilität des industriellen Zeitalters wurden von großen Teilen der Bevölkerung und dem Ökosystem teuer bezahlt, denn sie beruhten auf massiver Ausbeutung und auf fossilen Energieträgern – zunächst auf Kohle und seit dem 20. Jahrhundert vor allem auf Öl.
iii) Dies ist bei der 4. Industriellen Revolution (Digitalisierung) nicht anders, siehe Digitalisierung.

Fordismus: Wohlstand für alle?