Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier - E-Book

Auf Wiedersehen, Kinder! E-Book

Lilly Maier

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Beschreibung

Der junge Wiener Ernst Papanek ist Vollblut-Sozialist, leidenschaftlicher Pädagoge und unerschütterlicher Optimist. Obwohl er nach dem Februaraufstand 1934 nur knapp den Häschern des Dollfuß-Regimes ins Exil entkommt, ändert das nichts an seinem politischen und sozialen Engagement. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges leitet er vier Kinderheime in Montmorency bei Paris für 283 jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland und Österreich. In wenigen Monaten gelingt es ihm, ein beeindruckendes pädagogisches System aufzubauen, das für seine Zeit geradezu revolutionär ist. Er kann die Kinder später in die USA holen und vor dem Holocaust bewahren. In New York verwendet Papanek dieselben pädagogischen Ansätze und leitet für zehn Jahre eine Schule für straffällige Jugendliche. Bis heute können wir von seinen für die damalige Zeit ungewöhnlichen und revolutionären Methoden im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen lernen. Lilly Maiers große Biografie gibt dem heute beinahe Vergessenen seinen rechtmässigen Platz in der Geschichte zurück.

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Lilly Maier

Auf Wiedersehen, Kinder!

Ernst Papanek

Revolutionär, Reformpädagoge und Retter jüdischer Kinder

INHALT

Cover

Titel

Prolog

1. Vom Kaiser zur Sozialdemokratie

2. Eben mal die Welt retten

3. Lene und die Liebe

4. Auf dem Weg in den Untergrund

5. Im Exil

6. Das Exil wird zum Alltag

7. Ein Sommer in Freiheit

8. Die Kindertransporte

9. Papaneks Pädagogik

10. Von Eichen und Türmchen

11. Der Krieg und seine Folgen

12. Montintin

13. Flucht nach Amerika

14. Teller waschen und Kinder retten

15. »Maseltoff zum baldigen Endsieg«

16. Eine neue Heimat

17. Zurück nach Europa

18. »Flüchtlinge in der eigenen Heimat«

19. Vienna away from Vienna

20. Professor Papanek

21. Was wurde aus den Kindern?

22. Rückkehr nach Wien

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Bildnachweise

Die Autorin

Impressum

Für Arthur und all die anderen Kinder, denen Ernst Papanek das Leben gerettet hat.

Prolog

Am 20. August 1939 fand in einem Vorort von Paris eine ganz besondere Feier statt. Wochenlang hatten hunderte jüdische Flüchtlingskinder und ein gutes Dutzend Erwachsene heimlich an den Vorbereitungen gearbeitet. Sie verschickten Einladungskarten, schrieben Gedichte und pflückten Blumen. Wenn man in diesen Tagen über die große Wiese vor der Villa Helvetia im Örtchen Montmorency ging, konnte man allerorts verstohlen tuschelnde Kinder und Jugendliche beobachten. Ausnahmsweise drehten sich ihre Gespräche nicht darum, wie sie sich in Frankreich eingelebt hatten oder wie es ihren Eltern in Nazi-Deutschland ging. Es gab nur ein Thema: den 39. Geburtstag ihres Heimleiters Ernst Papanek.

Ernst Papanek, der sich von seinen Schützlingen in sozialistischer Manier mit »Ernst« ansprechen ließ, ahnte von alldem nichts. Auch seine Frau Lene, die als Ärztin im Heim arbeitete, hielt dicht. Schließlich war es soweit: Unter einem Vorwand führte Lene ihren Ehemann auf eine kleine Anhöhe, wo das Paar mit frenetischem Jubel empfangen wurde. Die gut dreihundert jungen Flüchtlinge hatten sich im Halbkreis aufgestellt und klatschten und strahlten um die Wette. In den Bäumen hingen bunte Wimpelketten, in der Wiese standen geschmückte Tische und Stühle. Ernst Papanek wusste noch gar nicht recht, wie ihm geschah, da hatten ihn schon ein paar starke Burschen auf einen Holzstuhl gesetzt und reckten ihn in die Höhe. Wie bei einer jüdischen Hochzeit trugen sie ihn im Kreis über ihren Köpfen. Papanek hielt sich mit beiden Händen krampfhaft fest, machte aber gute Miene zum wackligen Spiel. Wieder auf sicherem Boden gelandet, sangen die Kinder »ihrem Ernst« mehrere Lieder auf Deutsch und Französisch. Dann trat der Heimsprecher Hans Windmüller, ein Teenager aus Dortmund, mit einem Kuchen vor und gratulierte Papanek im Namen aller ganz offiziell zum Geburtstag. Windmüller trug den hochsommerlichen Temperaturen entsprechend kurze Hosen, Ernst Papanek wie üblich einen Anzug. In Verbindung mit seiner Halbglatze wirkte er wesentlich älter als die 39 Jahre, die er an diesem Sommertag feierte.

Nach Windmüller tippelten drei kleine Jungen nach vorne, die alle nicht älter als vier oder fünf Jahre waren. Nacheinander überreichten sie Papanek einen Wiesenblumenstrauß. Zum Abschluss trug eine Gruppe Kinder ein selbst geschriebenes Gedicht vor:

Ernst Papanek macht gute Miene zum wackligen Spiel: Überraschungsparty der Kinder von Montmorency zum 39. Geburtstag ihres Heimleiters am 20. August 1939.

In Montmorency ist es lustig,

in Helvetia ist es schön,

ja, da kann man viel erleben,

ja, da kann man manches seh’n.

Hier ist Ernst der Herr Direktor

und der sorgt fürs ganze Haus

und er denkt sich für die Kinder

immer etwas Nettes aus. […]

Böses können wir nicht verraten,

Gutes nur hat er getan,

darum lasst uns nicht mehr warten,

hochleben soll der brave Mann.1

Nach dem sommerlichen Festakt gab es Kuchen, Süßigkeiten und Limonade und die ganze Gesellschaft verteilte sich im großen, beinahe parkartigen Garten. Ständig knipste jemand Fotos, um den Tag festzuhalten, und nun durften auch die erwachsenen Gäste Papanek gratulieren. Der spätere SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer, mit dem Papanek während des Spanischen Bürgerkriegs zusammengearbeitet hatte, war mit von der Partie, genauso wie Angehörige der französischen Rothschild-Familie, die die Villa Helvetia finanziell unterstützten. Margot Cohn, eine der Erzieherinnen, hielt eine Rede, in der sie die letzten Monate ihrer Arbeit mit den jüdischen Flüchtlingskindern Revue passieren ließ.

Die große Überraschungsparty für Ernst Papanek fand am 20. August 1939 statt. Nicht einmal zwei Wochen später markierte der deutsche Angriff auf Polen den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Zeit der Feste war schlagartig vorbei.

***

Der Wiener Ernst Papanek – assimilierter Jude, Vollblut-Sozialist und leidenschaftlicher Pädagoge – leitete während des Zweiten Weltkriegs vier Kinderheime in Montmorency bei Paris für 283 jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland und Österreich. Die Kinder waren von ihren Eltern auf einem sogenannten »Kindertransport« nach Frankreich geschickt worden, um sie vor den Nationalsozialisten zu retten. Verängstigt und allein fanden sie in den Heimen Papaneks ein Zuhause.

Szenen eines Geburtstagsfestes: Die allerkleinsten der jungen Flüchtlinge feiern »ihren« Ernst mit Blumensträußen (oben), der Teenager Hans Windmüller gratuliert Papanek im Namen aller Heimkinder ganz offiziell zum Geburtstag (unten).

Jahrzehnte später erzählte mir eines dieser Kinder – Arthur Kern – erstmals von Ernst Papanek. Ich selbst war damals elf Jahre alt, also in dem Alter der Flüchtlingskinder, die Papanek einst in Frankreich betreut hatte. »Papanek war immer sehr direkt und hat uns über alle aktuellen Ereignisse – egal ob gut oder schlecht – informiert«, erzählte mir Kern damals. »Alle Kinder liebten ihn.«

Im Lauf der Jahre lernte ich durch Arthur Kern immer mehr ehemalige Schützlinge Papaneks kennen. Sie alle bekamen leuchtende Augen, wenn sie von ihrem Beschützer und Lehrmeister sprachen. Mehr über Ernst Papanek erfuhr ich dann während der Recherchen zu meinem Buch Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende – und je mehr ich herausfand, desto beeindruckter war ich. Der geborene Wiener verwaltete nicht einfach eine Flüchtlingsunterkunft, sondern baute in wenigen Monaten ein eindrucksvolles reformpädagogisches System auf, das man auch heutzutage noch als äußerst progressiv bezeichnen würde – und das für seine Zeit geradezu revolutionär war.

In seiner Pädagogik stellte Ernst Papanek den individuellen Schüler in den Mittelpunkt und predigte einen bewusst antiautoritären Erziehungsstil: Er verbannte Hausaufgaben, Noten und jede Art von körperlichen Strafen und ließ sich von seinen Schülern duzen. Papanek öffnete das Klassenzimmer, hielt oft Unterricht im Freien ab und machte viele Exkursionen – eine Abwendung von der monarchischen »Paukschule«, die er selbst als Schüler in Wien erlebt hatte. Außerdem installierte Papanek eine umfassende Schülermitverwaltung, um den Kindern nach Jahren der Diktatur wieder Demokratie beizubringen. Später schrieb er darüber: »Wir hatten versucht, in den Heimen um Montmorency Refugee-Kinder moralisch zu bewussten, aufrechten Menschen zu erziehen, die ihr Leben mutig selbst in die Hand nehmen wollen und es können.«2

Als seine wichtigste Aufgabe sah Papanek es an, die Kinder wieder glücklich zu machen. Dabei bemerkte er, dass man vielen von ihnen nach ihren Erlebnissen in Hitler-Deutschland erst einmal wieder beibringen musste, zu spielen. Papanek wollte die Kinder davon überzeugen, dass nicht sie die Schuld daran trugen, wie die Nazis sie behandelt hatten. Der Pädagoge vertrat die sehr fortschrittliche Ansicht, dass die jüdischen Kinder nur dann ihre traumatische Vergangenheit bewältigen könnten, wenn sie sich ihren Erfahrungen und dem Schicksal ihrer Eltern offen stellten. Erst gut fünfzig Jahre später sollte sich diese Meinung in der Kinderpsychologie durchsetzen.

Papanek war davon überzeugt, dass das gemeinschaftliche Leben in den Heimen den traumatisierten Kindern dabei half, Heilung zu finden. Heutzutage sehen Pädagogen, Psychologen und Historiker das Zusammenleben in der Gruppe als wesentlich bessere Art der Unterbringung für Flüchtlingskinder als das Leben in Pflegefamilien. (Dies war zum Beispiel bei 6.000 jüdischen Kindern der Fall, die auf einem Kindertransport nach England kamen.) Das ist eine wichtige Lehre, die man in Zeiten der andauernden Flüchtlingskrise, in der tausende unbegleitete Minderjährige nach Europa kamen und kommen, aus Papaneks Arbeit ziehen kann.

Ernst Papanek bezeichnete seine Arbeit mit jüdischen Flüchtlingskindern später als sein »bedeutendstes Werk« und als die wichtigste Zeit seines Lebens. Dabei verdient es auch der Rest seiner mehr als abenteuerlichen Vita erzählt zu werden.

Der charismatische Österreicher stammte aus einer kleinbürgerlich-jüdischen Familie und begeisterte sich schon früh für die Sozialdemokratie und den Sozialismus. 1934 wurde während der Februarunruhen ein Todesurteil gegen ihn verhängt. Papanek floh ins Exil: In Danzig entkam er nur knapp den Nationalsozialisten, im Spanischen Bürgerkrieg schloss er lebenslange Freundschaften mit Genossen, die später die Sozialdemokratie Europas prägen sollten – wie Torsten Nilsson, dem späteren schwedischen Außenminister, und Hans Christian Hansen, dem späteren Ministerpräsidenten Dänemarks.

Zwei Jahre lang kümmerte sich Ernst Papanek in Paris um jüdische Flüchtlingskinder. Dann gelang ihm in letzter Sekunde die Flucht aus Europa: Der französische Widerstand schmuggelte ihn und seine Familie über die Grenze – auf jener Fluchtroute, die später Heinrich Mann, Franz Werfel und Lion Feuchtwanger nehmen sollten. In New York angekommen, musste sich Papanek als Tellerwäscher verdingen. Fast wirkte es so, als würde der Pädagoge an den Umständen zerbrechen, doch dann erfand er sich in Amerika neu. Er leitete mit ungewöhnlichen Methoden und großem Erfolg eine Schule für straffällige Jugendliche, die ein Herzensprojekt der First Lady Eleanor Roosevelt war. Am Höhepunkt seiner Karriere wurde Papanek schließlich als Professor für Pädagogik an die City University of New York berufen.

***

Für dieses Buch bin ich auf Ernst Papaneks Spuren von Wien durch halb Europa bis nach Amerika gereist. Ich blätterte in Amsterdam in seinem Kalender, trank Kaffee in Brünn, wandelte am Strand in der Bretagne und im Hafen von Lissabon, hörte in New York zum ersten Mal seine Stimme und besuchte seine Familie bei Boston. Ich habe mit allen noch lebenden Familienmitgliedern von Ernst Papanek gesprochen und viele der Kinder getroffen, denen er in Frankreich oder später in Amerika das Leben gerettet hat. Ich habe auf zwei Kontinenten monatelang Archive durchsucht, tausende Briefe und Dokumente analysiert und Historiker interviewt – alles, um der Frage nachzugehen, wie ein junger Sozialdemokrat aus Wien 1939 eines der modernsten Bildungssysteme Europas entwickeln konnte.

Das Ergebnis dieser Reise ist eine historische Reportage und die Erkenntnis, dass Ernst Papanek – völlig zu Unrecht – eine vergessene Ikone der österreichischen Pädagogik ist.

Ernst Papanek hat ein abenteuerliches Leben gelebt – immer getrieben von drei Maximen: seiner sozialistischen Überzeugung, seinem unerschütterlichen Optimismus und seinem Engagement für Kinder. »Trotz Nationalsozialismus und grausamer Diktatur haben wir nie aufgegeben, an die Menschlichkeit zu glauben«, schrieb Ernst Papanek 1965 in einem Brief an seine ehemaligen Schützlinge. »Ihr ward und ihr seid der Beweis für diesen Glauben.«3

Aus den frühen Jahren Ernst Papaneks sind nur wenige Fotos erhalten: Ernst und seine Schwestern Olga und Margarethe posierend im Fotolabor …

… der Straßenbahnausweis seiner Mutter Rosa …

… und ein Foto der »Trödlerei Spira«, die von seinen Großeltern, Rosas Eltern, betrieben wurde.

1. Vom Kaiser zur Sozialdemokratie

Wir schreiben das Jahr 1900. Zwei Tage nachdem die Pummerin, die größte Glocke Österreichs, im Stephansdom das 20. Jahrhundert eingeläutet hatte, erschien erstmals die Österreichische Kronen Zeitung. Die Pariser Weltausstellung gab einen Ausblick auf das technokratische neue Zeitalter und begeisterte mit einer Rolltreppe, dem Tonfilm und dem Dieselmotor, während Ferdinand von Zeppelin in Friedrichshafen erste Probeflüge mit dem nach ihm benannten Starrluftschiff unternahm. Die Donaumonarchie wurde seit über fünfzig Jahren mit fester Hand vom frisch verwitweten Kaiser Franz Joseph I. regiert, im Juli sorgte die unstandesgemäße Hochzeit des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand für einen Adelsskandal. Obwohl der Kaiser als reaktionär galt und mit zunehmendem Unabhängigkeitsstreben der einzelnen Nationalitäten in seinem Vielvölkerreich zu kämpfen hatte, blühte das geistige Leben im Wien des Fin de Siècle. Gustav Klimt malte seine ersten Atterseebilder. Sigmund Freud veröffentlichte sein bahnbrechendes Buch Die Traumdeutung, das Grundlagenwerk der Psychoanalyse. Auf kaiserlichen Erlass hin durften erstmals Frauen studieren und den Doktortitel erhalten.

In diese Welt wurde Ernst Papanek am 20. August 1900 hineingeboren. Sein Vater Johann Papanek war Ende des 19. Jahrhunderts als Handelsreisender auf der Suche nach einem besseren Leben aus dem südmährischen Bisenz (Bzenec) nach Wien gekommen.4 Dort lernte er Rosa Spira kennen, die ebenfalls aus einer mährischen Familie stammte, aber in Wien aufgewachsen war. Das jüdische Paar heiratete am 27. März 1898 in der Synagoge in Wien-Fünfhaus und bekam drei Kinder: Margarethe, Ernst und Olga.5

Eines der wenigen erhaltenen Kinderfotos zeigt die Papanek-Geschwister 1906 beim Posieren im Fotoatelier: Die Mädchen tragen weiße Kleider und Blumen im Haar, Ernst einen Matrosenanzug.

Bis 1911 lebten die Papaneks in der Gumpendorfer Straße 122 im 6. Bezirk. Ernst besuchte die nahgelegene Volksschule für Knaben in der Rosagasse 8.6 In Naturlehre, Geschichte, Geographie sowie im Gesangsunterricht glänzte er, aber mit der »äußerlichen Form der schriftlichen Arbeiten« tat er sich laut Zeugnis schwer. Dann übersiedelte die Familie in eine Wohnung in der Reindorfgasse 17 im 15. Bezirk, einem vierstöckigen Mietshaus neben der Gastwirtschaft »Zum Guten Hirten« und der Pfarrkirche Reindorf zur »Allerheiligsten Dreifaltigkeit«, einem josephinischen Kirchenbau.

Ernst wuchs in einem kleinbürgerlichen, ärmlichen Elternhaus auf. Sein Vater Johann arbeitete als reisender Händler, Rosa war Schneidergehilfin. Die Papaneks und ihre Vorfahren waren jüdisch, allerdings nahmen sie religiöse Vorschriften und Traditionen wohl nicht sehr streng. So wurde die Geburtsurkunde von Ernst zwar von der Israelitischen Kultusgemeinde ausgestellt, Johann und Rosa ließen ihren Sohn aber nicht beschneiden und gaben ihm auch nicht – wie bei Juden üblich – einen zusätzlichen hebräischen Vornamen.

Die Papaneks waren also keineswegs fromm, trotzdem gab es eine kurze Phase in Ernsts Kindheit, in der er sich betont jüdisch gab und sogar Rabbiner werden wollte. »Er war jemand, der passionierend über alles war«, erklärte Ernsts Sohn Gus Papanek in amerikanisch-deutschem Sprachmix 1979 in einem Interview.7 Wenn Ernst Papanek sich für etwas interessierte, dann immer mit Haut und Haar, dann warf er sich geradezu auf ein Thema. So sollte es mit seinem lebenslangen leidenschaftlichen Einsatz für die Sozialdemokratie sein und so war es bei seiner kurzen »Liebesaffäre« mit dem Judentum.

Wenn der halbwüchsige Ernst nun am Samstag seine Großeltern mütterlicherseits in ihrer »Trödlerei Spira« besuchte, hatte er ein Problem. Sie schenkten ihm und seinen Schwestern Geld, aber am jüdischen Ruhetag Schabbat durfte man dieses nicht in die Hand nehmen. Also hielt er die Tasche seines Matrosenanzugs weit auf, damit die Großmutter das Geld hineinwerfen konnte, ohne dass er es berühren musste.

In der Volksschule besuchte Ernst noch den »mosaischen« Religionsunterricht, als Jugendlicher erklärte er sich dann aber für konfessionslos. Zeit seines Lebens blieb er bei dieser Einstellung – als Erwachsener hatte er nur mehr ein sehr rudimentäres Wissen über das Judentum.

Während seiner Kindheit erlebte Ernst Papanek das letzte Aufblühen der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie, dann brachten die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 schockwellenartige Veränderungen. Papanek war zu diesem Zeitpunkt Schüler am Realgymnasium in der Diefenbachgasse und überzeugter Monarchist. »Der Kaiser war eine herrliche Gestalt für mich«, erinnerte er sich Jahrzehnte später.8 Papanek kam aus einer unpolitischen Familie und verstand daher viele Zusammenhänge nicht. Als kleiner Bub las er einmal auf einem Wahlplakat, dass die Sozialdemokratie für das Volk sei. Aber in der Schule hatte er gelernt, dass der Kaiser für das Volk sei. Seine Schlussfolgerung: Der Kaiser war Sozialdemokrat.

1914 wurde Johann Papanek zum Kriegsdienst einberufen und Ernst begann die Familie mit Gelegenheitsarbeiten finanziell zu unterstützen. Gleichzeitig ließ sich der 14-Jährige von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken und trug mit seiner kleinen Schwester Süßigkeiten zu den Zügen, die die Soldaten an die Front brachten.9 Seine monarchisch-patriotische Treue zeigt auch ein um die Zeit entstandenes Schulfoto: Papanek als gutaussehender Junge mit aufgewecktem Gesicht, gestrickter Krawatte und einem militärisch anmutenden Kreuzanstecker am Revers.

Einen ersten Riss bekam Ernst Papaneks Weltbild, als er beobachtete, wie junge Soldaten zu den Klängen des Radetzkymarsches durch die Straßen Wiens marschierten. Nachbarn säumten die Straßen, winkten den Soldaten zu und bewarfen sie mit Blumen. Für einen kurzen Moment trat ein lachender Soldat aus der Reihe, um eine der Blumen aufzuheben, da stürmte ein Feldwebel auf ihn zu und riss ihn brutal in die Formation zurück. Der Soldat verstummte und in seinem Blick spiegelte sich plötzlich all die Todesangst und Vorahnung dessen, was der Krieg noch bringen würde. Die Szene ließ Ernst Papanek ein Leben lang nicht los. Wenige Jahre vor seinem Tod erklärte er, er könne einen ganzen Roman über diesen einen Augenblick schreiben, so sehr wirke er in ihm nach.10

Der aufgerüttelte Jugendliche stellte nun erst einmal alles in Frage: den Krieg, den Kaiser, die Politik. Noch allerdings hatte er keinen Ort für seine neuen Überzeugungen. »Ich war mehr Rebell als Revolutionär«, beschrieb Papanek seine Einstellung später, »mehr Anarchist als Sozialist«.11 Klassenkameraden schlugen ihm vor, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beizutreten, aber er zögerte. Nach seiner Abkehr vom kaisertreuen Patriotismus fand der idealistische 14-Jährige die Sozialdemokraten nun erst einmal nicht sozial(istisch) genug. Zu viele Kompromisse, zu wenig Interesse am »Lumpenproletariat«, an den Massen an hungernden Menschen auf der Straße, klagte er.12 Gute zwei Jahre dauerte es, dann beschloss Papanek, dass zu wenig Sozialismus immer noch besser sei als gar keiner und dass auch der größte Idealist auf verlorenem Boden kämpft, wenn er alleine ist. Also trat er 1916 der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreich bei.13

In der fünfjährigen Volksschule schreibt Ernst Papanek gute bis gemischte Noten, für eine Versetzung auf das Realgymnasium reicht es aber.

Das Parteilokal Rudolfsheim lag nur unweit von seinem Elternhaus entfernt und dort nahm er jetzt regelmäßig an Diskussionsabenden teil. Nur wenige Monate später kam es zu einem für Papanek und die gesamte Bewegung einschneidenden Ereignis: Am 21. Oktober 1916 erschoss der Parteisekretär Friedrich (Fritz) Adler im Wiener Hotel Meißl & Schadn in aller Öffentlichkeit den Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh.14

Stürgkh galt als Kriegstreiber und regierte dank kaiserlicher Verordnungen zunehmend diktatorisch, unter anderem hatte er eine strikte Pressezensur eingeführt. Fritz Adler war der Sohn von Victor Adler, dem Begründer der Sozialdemokratie in Österreich. Er hoffte mit seinem terroristischen Attentat die Massen, vor allem aber auch seine eigene Partei, zur Revolution gegen Kaiserreich und Krieg aufzurütteln. Dabei war der junge Adler keineswegs ein Fanatiker. Der 37-jährige Physiker (der einst seinem guten Freund Albert Einstein zuliebe auf eine Professur verzichtet hatte) galt als großer Humanist, wie Ernst Papanek Jahrzehnte später in einer Vorlesung seinen Studenten erklärte.15

Der zutiefst erschütterte Victor Adler versuchte in den Monaten bis zum Prozess, seinen Sohn für geistig unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Fritz aber stand zu seiner Tat. Mehr noch als der Mord war es dann seine Verteidigungsrede am 18. und 19. Mai 1917, die die Massen polarisierte und der Weltöffentlichkeit zeigte, dass nicht alle in Österreich-Ungarn den Krieg unterstützten. Historiker bewerten seine Rede heute als »Aufsehen erregende Abrechnung mit dem Verbrechen der Massenvernichtung, mit dem habsburgischen Kriegsabsolutismus und der lethargischen, defätistischen Tolerierungspolitik des sozialdemokratischen Parteivorstandes«.16

Fritz Adler hatte damit gerechnet, für den Mord zum Tode verurteilt zu werden. Doch im Anbetracht der weltpolitischen Lage – im November 1916 war nach fast 70-jähriger Regierungszeit der Kaiser gestorben, im Februar 1917 brachte die Revolution in Russland das Ende des Zarenreichs – wurde das Urteil in eine langjährige Haftstrafe abgewandelt. (Kurz vor Kriegsende begnadigte der neue Kaiser Karl I. Fritz Adler dann sogar vollends.).

Noch immer tobte der Erste Weltkrieg, während die Bevölkerung im nunmehr zweiten Hungerwinter zunehmend unter der Lebensmittelknappheit litt und die Sehnsucht nach Frieden weiter stieg. Krawalle und Proteste kulminierten 1918 im revolutionsartigen Januarstreik. Der 17-jährige Ernst Papanek war inzwischen Mitglied der sozialistischen Mittelschülerbewegung, einer illegalen und linksradikalen Organisation, die vor allem gegen das monarchisch verstaubte Schulsystem protestierte.17 Um diese Zeit herum wurde er bei Antikriegsdemonstrationen das erste Mal kurzzeitig verhaftet, eine Feuertaufe für junge Sozialisten. Im Oktober 1918 wurde Papanek zum zweiten Mal verhaftet: Er hatte Flugzettel mit dem 14-Punkte-Friedensprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson verteilt. Durch Intervention von Lehrern kam Papanek jedes Mal glimpflich davon.18 Mit schlimmeren Konsequenzen hatte er dann aber zu rechnen, als er seinen Einberufungsbefehl erhielt.

Gemeinsam mit einer Reihe junger Männer sollte Ernst Papanek den Soldateneid auf den Kaiser leisten. Doch er weigerte sich. Ja, nicht nur er: Die gesamte Gruppe weigerte sich, für die sich in den letzten Atemzügen befindende Monarchie in den Krieg zu ziehen. Darauf stand die Todesstrafe. Doch im Herbst 1918 hatte niemand großes Interesse daran, eine Gruppe Schüler gesammelt vor ein Standgericht zu stellen. Also schlug man ihnen einen Kompromiss vor: Erklärt euch für verrückt. Wer nicht für Kaiser, Volk und Vaterland sterben will, muss schließlich verrückt sein. Allerdings stand darauf nur ein Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Steinhof und nicht der Tod. Wieder weigerten sich Papanek und seine Kameraden. Genau wie ihr großes Vorbild Fritz Adler wollten sie eine Gerichtsverhandlung, in der sie öffentlich ihre Ablehnung des Krieges erklären konnten. Mehrere Wochen lang waren die jungen Männer im Gefängnis, während man ihnen immer wieder neue Kompromisse vorschlug. Das ganze Dilemma erledigte sich schließlich auf »natürliche« Art und Weise, als im November 1918 der Krieg zu Ende war und kurz darauf auch die Monarchie unterging.19

***

»Das sind so Geschichten, die Teil der Familienlegende sind«, erklärte Hanna Papanek 1979 in einem Interview mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands.20

Die Papanek-Schwiegertochter hatte Ernst und ihren späteren Ehemann Gus 1939 als Jugendliche in Frankreich kennengelernt. Hannas Eltern waren deutsche Sozialdemokraten, die wie die Papaneks im Pariser Exil lebten und ihre Tochter in dieselbe sozialistische Jugendgruppe schickten. Dort hörte Hanna zum ersten Mal die »Familienlegenden« rund um Ernst Papaneks viele Verhaftungen, angefangen mit jenen in Wien. »Für mich hat all dies bedeutet, ich stehe im Schatten von Helden«, erzählte sie in dem Interview 1979. »Und das war ja auch so der Sinn, der Wert der politischen Erziehung.«

Ernst Papanek hat seinen Kindern und Schülern oft Geschichten über seine wilde politische Jugend erzählt. Ob sich all das wirklich so zugetragen hat, lässt sich aus heutiger Sicht nicht einwandfrei beweisen. Die Polizeiakten für das Jahr 1918 sind während des Zweiten Weltkriegs verbrannt und in den vergilbten Registern des Landesgerichts für Strafsachen im Archiv der Stadt Wien finde ich keine Hinweise darauf, dass Ernst Papanek je angeklagt wurde. Auch das Kriegsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv verzeichnet zu Papanek keinen Bestand. Es gibt kein »Grundbuchblatt« über ihn, wie es für alle potenziellen Soldaten angelegt wurde, ebenso fehlt sein Name in den überdimensionierten Registerbüchern für den Buchstaben P.21

Als Historikerin wünscht man sich, jeden Abschnitt eines Lebens bis ins letzte Detail belegen zu können. Für Papaneks Biografie ist es aber letztlich unwichtig, ob der 18-jährige Ernst wirklich wochenlang in Haft saß oder ob das Habsburgerreich in den letzten Monaten seiner Existenz andere Probleme hatte, als sich mit ein paar Kriegsdienstverweigerern herumzuschlagen. Und wenn man den (zweifelsfrei dokumentierten) Rest seiner Geschichte kennt, stellt sich die Frage sowieso nicht mehr: Seine jugendlichen Demonstrationen waren noch das Geringste, was Ernst Papanek geleistet hat.

2.Eben mal die Welt retten

Schon mit 18 Jahren bekommt Ernst Papanek eine prägnante Halbglatze, die ihn wesentlich älter erscheinen lässt. Das Foto links wurde um 1920 aufgenommen, da ist der Student gerade einmal zwanzig Jahre alt. Von Vorteil ist die Glatze, um Papanek in Gruppenfotos zu finden, sei es im Kreis seiner Kollegen (vorletzte Reihe 3. v. r.) …

… oder in der Landarbeiterjugendschule in Wien (3. Reihe 5. v. r.).

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg bedeutete den Untergang für das Herrscherhaus der Habsburger und ihr Reich an der Donau. Die Monarchie und der Adel wurden abgeschafft, der habsburgische Vielvölkerstaat zerbrach in nicht weniger als sieben Nachfolgestaaten. Vor dem Krieg hatte Wien etwas mehr als zwei Millionen Einwohner gezählt, eine angemessene Größe für die Hauptstadt eines Reiches, in dem 1910 über 51 Millionen Menschen lebten. Nach 1918 gab es immer noch etwa zwei Millionen Wiener, aber Österreich selbst war auf magere 6,5 Millionen Einwohner geschrumpft.22 Nicht ohne Grund nannte man Wien den »Wasserkopf« des Landes.23

Österreich war nun eine demokratische Republik mit universellem Wahlrecht. Landesweit regierten in der Zwischenkriegszeit meist die konservativen Christlichsozialen, die Sozialdemokraten machten sich in der Hauptstadt an die Arbeit. »Die bis dahin gewalttätig unterdrückte junge politische Bewegung flammte auf und hat das hervorgebracht, was wir ›Rotes Wien‹ nennen«, schrieb Ernst Papanek später. »Das Rote Wien war nicht nur eine politische Struktur, die von der siegreichen Sozialdemokratischen Partei geschaffen wurde; es gab den Ton für das gesamte Leben der Gemeinschaft und ihrer Individuen an, die begeistert seiner inspirierenden Musik folgten.«24

Auch Papanek selbst folgte der »inspirierenden Musik« und fing – ohne jegliche Ausbildung – an, sich als Sozialarbeiter und Erzieher zu engagieren. Auslöser war das Bild, das sich dem 18-Jährigen bot, wenn er im nachkriegsgebeutelten Wien spazieren ging: Zehntausende obdachlose, verwahrloste Kriegswaisen versuchten in den Straßen zu überleben. Kurzerhand organisierte Papanek rund 400 Gymnasiasten und Studenten, um den Kindern zu helfen. Er nannte die Gruppe Spielkameraden und man kann sie wohl am besten als eine frühe Mischung aus Parkbetreuung und street work beschreiben: Sie spielten mit den Kindern und verhalfen ihnen mittels Suppenküchen und Heimen zu Nahrung und Unterkunft. Sobald sie das Vertrauen der Kinder gewonnen hatten, versuchten sie deren Energie in freiwillige Arbeitseinsätze zu lenken, die wiederum anderen halfen. Fast zwei Jahre lang leitete Papanek – anfangs als Schüler, später als Student – die Spielkameraden und trat dabei erstmals mit Persönlichkeiten und Organisationen in Kontakt, mit denen er im Lauf seines Lebens immer wieder arbeiten würde. Dazu zählten die Quäker und die bekannte Wiener Sozialreformerin und Philanthropin Dr. Eugenie Schwarzwald.25

Am 8. Juli 1919 schloss Papanek das Realgymnasium in der Diefenbachgasse mit der Matura ab, im Herbst darauf schrieb er sich an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien ein.26 Der junge Mann besuchte Vorlesungen in Medizin, Pädiatrie und Psychiatrie und lernte bei prominenten Ärzten wie Julius Tandler, bei dem er eine sechsstündige Sezierübung belegte, oder Clemens von Pirquet, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Zwölf Semester lang studierte Papanek Medizin – zumindest theoretisch. In der Praxis war er viel zu sehr damit beschäftigt, »die Welt zu retten«, wie es mehrere Mitglieder seiner Familie übereinstimmend berichteten. Regelmäßig rasselte er durch Prüfungen und glänzte im Hörsaal durch Abwesenheit. Die Spielkameraden, die Politik und sein vielfältiges Engagement für sozialdemokratische Organisationen, all das war Papanek wichtiger, als die lateinischen Namen menschlicher Knochen auswendig zu lernen.

***

»Er studierte nicht wirklich Medizin, er hatte gar keine Zeit«, brachte es Papaneks spätere Ehefrau Lene in ihren unveröffentlichten Memoiren auf den Punkt. »Er tat, was er sein ganzes Leben lang tat: Er musste die Welt retten. Das meine ich ernst. Er hatte einen übertriebenen Sinn für soziale Gerechtigkeit.«27

Auch wenn das vielleicht etwas überspitzt klingt, Lene meinte die Zuschreibung von Ernst Papanek als Weltretter nicht abschätzig, sondern als größtmögliches Lob. An anderer Stelle schrieb sie: »Er hat nach seinen Werten gelebt: Niemand war so konsequent, so ehrlich, so wahr wie er.«

Konsequent, unverstellt und so optimistisch, dass es oft an Idealismus grenzte – quer durch die Jahrzehnte wird Papanek von einer Vielzahl von Weggefährten mit ähnlichen Worten beschrieben. »Ernst war die Art von Mensch, der jeden Morgen aufwachte und sich überlegte, wie er heute der Menschheit dienen konnte. Und er fand meistens etwas, weil die Welt immer so dringend in Not war«, erinnerte sich zum Beispiel Claude Brown, ein Schüler Papaneks.

Samuel Friedman, ein amerikanischer Sozialist, beschrieb seinen Parteigenossen so: »Er war ein Mann ohne Hass, ohne List, ohne Schuld. Und das meine ich, wenn ich ihn als naiv und unschuldig bezeichne. In unserer modernen Welt […] handeln wir auf eine Art und Weise, von der wir glauben, dass sie andere Menschen beeindrucken wird. Ernst Papanek war nicht so. Er sprach die Wahrheit, wie er sie sah.«28

Nicht nur charakterlich, auch äußerlich veränderte sich Ernst Papanek im Lauf der Jahrzehnte kaum. Schon mit 18 Jahren bekam er eine Halbglatze, die sein Aussehen sein Leben lang prägte. Das ging so weit, dass Ria Kanitz, die Frau des Pädagogen Otto Felix Kanitz, einen Brief an Papanek einmal an die »vielgeliebte Glatze« adressierte.29 Die runden Brillengläser wurden etwas größer, die Hose spannte etwas mehr, aber wer einmal ein Bild von Papanek gesehen hat, hat kein Problem, ihn auch auf einem zwanzig Jahre später gemachten Gruppenfoto zu erkennen.

Objektiv betrachtet war Ernst Papanek nicht attraktiv. »Er hatte eine Glatze, er war farblos, er war sehr klein«, formulierte es Eve Stwertka, eine entfernte Verwandte, als ich sie im Herbst 2019 interviewte. Dafür zog Papaneks charismatische Art jeden in seinen Bann. So war es auch bei Stwertka: »Er strahlte etwas aus, das dich anzog«, erzählte sie mir.

Papanek war ein begnadeter Redner und sein idealistischer Optimismus war ansteckend. In jungen Jahren war der Wiener besonders bei den weiblichen Genossinnen in den Jugendgruppen sehr beliebt. Als er einmal ein Ferienlager leitete, bekam er zu seinem Geburtstag acht Holzpuppen geschenkt, die seine acht Freundinnen – oder besser gesagt, seine acht Verehrerinnen – repräsentierten.30

***

Das Ferienlager mit den vielen Verehrerinnen fand 1919 statt und war eine von Dr. Eugenie Schwarzwald organisierte Ferienkolonie. »Fraudoktor«, wie sie allgemein genannt wurde, leitete eine fortschrittliche Mädchenschule in Wien, an der unter anderem Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg unterrichteten, und engagierte sich intensiv als Philanthropin.31 Sie betrieb eine (von Adolf Loos entworfene) Suppenküche, unterstützte Papaneks Spielkameraden und organisierte 1918 erstmals eine Ferienkolonie, um die Wiener Kriegsjugend aufzupäppeln.32 Im Sommer 1919 wuchs ihre Aktion »Wiener Kinder aufs Land« um eine Reihe weiterer Kolonien, für die »Fraudoktor« mit Jugendorganisationen zusammenarbeitete. Viele Mitglieder der sozialistischen Mittelschülerbewegung nahmen an den Kolonien teil und wurden innerhalb kürzester Zeit selbst als Lehrpersonal rekrutiert. So kam es, dass der erst 19-jährige Ernst Papanek im August 1919 eine Führungsrolle in einer Kolonie für hunderte Arbeiterkinder übernahm.33 Und diese fand an einem denkbar prächtigen Ort statt: in der leerstehenden Kaiservilla in Bad Ischl.

Am 26. Juli 1919 vermeldete die Neue Freie Presse, dass Dr. Schwarzwald »durch die Vermittlung des Arbeiterrates Bad Ischl und der Bezirkshauptmannschaft Gmunden von der ehemaligen Erzherzogin Marie Valerie der Kavalierstrakt der Kaiservilla in Ischl zur Verfügung gestellt« wurde.34 Die großräumige Villa musste aber erst einmal instand gesetzt werden. Federführend war hierbei Papanek, der sich als großes Organisationstalent entpuppte. Eine schöne Beschreibung darüber findet sich bei Friedrich Scheu, einem langjährigen Mitarbeiter der Arbeiter-Zeitung: »Ernst Papanek, ein kluger, bebrillter, junger Mann, nahm seine Aufgaben ernst. Er gehörte zu jenen Personen, denen immer jene Arbeiten aufgehalst werden, die viel angestrengte Aufmerksamkeit erfordern und für die man gewöhnlich wenig Ruhm erntet. Unter seiner Leitung ging die Umwandlung der vornehmen Kaiservilla in ein Heim für Arbeiterkinder reibungslos, in aller Stille, vor sich.«35

Im Jahr darauf leitete Papanek eine weitere Schwarzwald-Kolonie in Kaltenbach, einem Ortsteil von Ischl. Die Teilnehmer waren diesmal ältere und hauptsächlich sozialistische Mittelschüler oder Studenten. Papanek war nicht der einzige junge Mann, der hier den Sommer über Theaterstücke inszenierte und sich später einen Namen machte: Auch (Sir) Karl Popper, der spätere Philosoph und Begründer des Kritischen Rationalismus, war mit von der Partie.

Die Kolonie war wie jedes Bildungsprojekt Schwarzwalds koedukativ angelegt und das sommerliche Zusammenleben der jungen Männer und Frauen sorgte regelmäßig für Gerede. Ernst Papanek fiel wieder einmal die unleidige Aufgabe zu, für Ordnung zu sorgen. Das zeigt sich auch in einem humoristischen Lied der Ferienkolonie:

Was kommt denn dort aus Wien?

Das sind die Schwarzwald-Kolonien.

Wer stellt sie zur Schau?

Das ist Sektionschef Schwarzwalds Frau. […]

Wer kehrt uns fort den Dreck?

Das ist der Ernstl Papanek.36

In den folgenden Jahren leitete Papanek immer wieder Ferienkolonien. Von 1919 bis 1920 arbeitete er dann – noch immer ohne formales pädagogisches Training – als Lehrer und für kurze Zeit sogar als Direktor von Schwarzwalds Landeserziehungsheim Harthof am Semmering.37 Zu Weihnachten 1921 rief »Fraudoktor« ein weiteres Hilfsprojekt ins Leben, für das sich der Student Papanek sehr engagierte: die Greisenhilfe der Wiener Jugend. Der Hintergedanke der Greisenhilfe war ähnlich wie bei den Spielkameraden, nur dass es diesmal um verarmte alte Menschen ging. In einem Aufruf der Greisenhilfe appellierten die beteiligten Jugendorganisationen: »Wir können nicht in so eine entsetzliche Welt hineinleben, die Greise verhungern lässt. Diese Welt wird so aussehen, wie wir sie gestalten werden. Wir sind jung und glauben noch daran, dass sie besser werden kann.«38

In zahlreichen Aktionen sammelten die Jugendlichen Geld und Sachspenden. Papanek, der das »Recherchenbureau« der Greisenhilfe leitete, organisierte Milchpulver, Mehl und Zucker aus skandinavischen Ländern und kümmerte sich um die Verteilung in ganz Wien. Bis Juni 1922 konnten Geldmittel und Waren im Wert von 50 Millionen Kronen aufgebracht werden.39

Mit seinem humanitären Engagement für Kinder und Alte und seiner Erziehungsarbeit lebte Papanek die sozialdemokratischen Ideale des Roten Wiens. Zwischen 1919 und 1934 verbesserten die roten Reformen das Leben für die Bürger und vor allem die Arbeiter in der Hauptstadt auf beachtliche Art und Weise. Grundlage dafür war die neue österreichische Bundesverfassung, die am 10. November 1920 in Kraft trat und Wien von Niederösterreich löste. Mit neuen Kompetenzen ausgestattet konnte sich das jüngste Bundesland so zahlreichen Problemen widmen. Durch Aktionen wie das kostenlose Säuglingswäschepaket und die Einrichtung von Mutterberatungsstellen gelang es dem »Volksarzt« Julius Tandler zum Beispiel, in nur zwölf Jahren die Säuglingssterblichkeit zu halbieren.40 Ein besonderer Fokus des Roten Wiens lag auf der Bildung und dem Erreichen der Jugend: »Wähler zu gewinnen ist nützlich und notwendig«, hatte Parteigründer Victor Adler einst erklärt, »Sozialdemokraten erziehen ist nützlicher und notwendiger.«41 Auf sein Leben zurückblickend erklärte Papanek Jahrzehnte später: »Wir wurden alle in Richtung Bildung gedrängt. Politik wurde von der österreichischen sozialistischen Partei als Bildungsproblem verstanden«.42

So wurde der vielbeschäftigte Student Papanek Mitglied im Verband der Sozialistischen Studenten und der Akademischen Legion, einer Studentenvereinigung innerhalb des 1923 gegründeten Republikanischen Schutzbundes. Bereits 1919 trat Papanek der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreich (SDAP) bei und übernahm Funktionärsämter, sowohl in der Sozialistischen Jugend als auch in der SDAP-Ortsgruppe Rudolfsheim. Er leitete Heimabende und Ferienlager für die Kinderfreunde und später auch für die Roten Falken.43

Für die Sozialistische Bildungszentrale hielt Papanek zahlreiche Vorträge in Wien und im Umland. Er war »Volksbildner«, wie man im Jargon der Zeit sagte, und ein äußerst beliebter dazu. Papanek »wurde einer der populärsten Vortragenden in allen Bezirksveranstaltungen Wiens«, erinnerte sich der Schauspieler und Arzt Richard Berczeller.44

Die jungen Sozialisten sahen sich als das »Bauvolk der kommenden Welt« (später besungen im Lied Die Arbeiter von Wien von Fritz Brügel), ihr Ziel war der »neue Mensch«. Otto Bauer, der unangefochtene Führer der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, nannte sie die »Generation der Vollendung«, die Generation, in der der Sozialismus Realität werden würde.45 Wenn Ernst Papanek nun in mitreißenden Reden vor Fabrikarbeitern über die Befreiung aus dem Elend sprach, über den Mut und den Auftrag, eine neue, gerechte Welt zu bauen, dann drückte er damit die Hoffnung aus, dass die Zukunft gerade beginne und dass sie alle ein Teil davon seien.

In seiner politischen Arbeit kam der junge Papanek mit vielen bedeutenden Vertretern der Sozialdemokratie und des Austromarxismus zusammen. Der aus dem Gefängnis entlassene Fritz Adler war für ihn »der hochgeschätzte, heroische und doch freundschaftliche Führer«46, wichtiger für die Arbeit in der Jugendbewegung waren jedoch Otto Bauer sowie Otto Felix Kanitz, der Vorsitzende der Sozialistischen Jugend und Begründer der Schönbrunner Schule.

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Am ersten Tag des Jahres 2020 spaziere ich bei strahlendem Sonnenschein durch den Schönbrunner Schlosspark. Die Enten laufen auf dem zugefrorenen Springbrunnen Schlittschuh, aber für Januar ist das Wetter erstaunlich mild. Von der Rückseite kommend, gehe ich auf das Schloss zu. Ich bin auf der Suche nach dem Kindergarten der Kinderfreunde. Vor ein paar Wochen hat mir Heinz Weiss, langjähriger Geschäftsführer und passionierter Haushistoriker der Wiener Kinderfreunde, erzählt, dass es dort eine kleine Ausstellung über die Schönbrunner Erzieherschule gibt. »Da verirrt sich natürlich fast niemand hin«, klagte Weiss; ich aber will sie mir anschauen.

Als mit dem Ende der Monarchie das Kaiserschloss Eigentum der Republik wurde, sprach man den sozialdemokratischen Kinderfreunden 84 Räume des gigantischen Baus zu. »Die Erzieher in den Kinderheimen waren in der Monarchie ehemalige Soldaten«, erklärte mir Weiss bei unserem Treffen. »Man kann sich vorstellen, was da für ein Ton geherrscht hat.« Nach 1918 sollten nun die Kinderfreunde die Heime übernehmen. Die jedoch hatten zu wenige Erzieher. »Die wachsen ja nicht am Baum«, ergänzte Weiss lachend. So kam man auf die Idee, in Schönbrunn eine Erzieherschule einzurichten, die in den folgenden Jahren die österreichische Reformpädagogik entscheidend prägen sollte. Direktor wurde der 25-jährige Otto Felix Kanitz, zu den Lehrern gehörten Alfred Adler und Josef Luitpold Stern. Kanitz hatte zuvor in einem aufgelassenen Flüchtlingslager in Gmünd die erste selbstverwaltete »Kinderrepublik« Österreichs geleitet und vertrat die Philosophie, dass Erzieher den Kindern auf Augenhöhe begegnen sollten.

Die damaligen Räume lagen zentral über den Prunkräumen, um den heutigen Kindergarten samt Ausstellung zu finden, muss ich mich aber ganz schön anstrengen. Am Café Residenz vorbei bis in den zweiten Hof, dann liegt links der Hofküchentrakt, schließlich durch eine unscheinbare Tür und tatsächlich: Neben dem bunt geschmückten Eingangsbereich des Kindergartens hängen Infotafeln mit Fotos über die Schönbrunner Schule. Insgesamt 140 Lehrer wurden hier ausgebildet, sie alle lernten, das Kind und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. 1923 gründeten Absolventen dann die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und schufen ein beliebtes »Propagandainstrument«: das rote Kasperltheater. Mit über hundert Kasperlbühnen tourten die Kinderfreunde durch die Republik. Die Bösewichte waren damals allerdings nicht das Krokodil oder der Polizist, sondern der Nikotinteufel, die Bierhexe, der Alkoholgeist und am allerschlimmsten: der Kapitalist.

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Auch Ernst Papanek war Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und leitete für die Kinderfreunde ein Tagesheim und Ferienaktionen in der Freudenau. Dabei studierte er ja eigentlich immer noch Medizin. Dass daraus auch nach zwölf Semestern nichts werden würde, war schon die längste Zeit absehbar und so wechselte Papanek im Herbst 1925 an die Philosophische Fakultät.47 Zeitgleich inskribierte er sich am Pädagogischen Institut der Stadt Wien. Seit sieben Jahren arbeitete Papanek schon als Erzieher, nun ließ er sich endlich auch ganz offiziell zum Lehrer ausbilden.

Der »hochschulmäßige Lehrerbildungskurs« entsprach einem Studium und fand in enger Zusammenarbeit mit der Universität statt, wo Papanek Vorlesungen in Psychologie, Philosophie, Geschichte und Soziologie belegte. Das Pädagogische Institut war 1923 von Otto Glöckel zur Umsetzung seiner Wiener Reformen gegründet worden, fast alle Professoren dort stammten aus dem Umfeld der Sozialdemokratie.

Otto Glöckel, möglicherweise der bedeutendste Schulreformer in der Geschichte Österreichs, begann seine Reformen zunächst landesweit, als er 1919 bis 1920 Unterstaatssekretär für Unterricht war. Nach dem Bruch der Koalition mit den Christlichsozialen musste sich Glöckel fortan auf das Rote Wien konzentrieren, wo er von 1922 bis 1934 als Stadtschulratspräsident das Schulsystem weitreichend modernisierte. Seine »Wiener Schulreform« propagierte die sogenannte »Arbeitsschule« (weg von der davor praktizierten »Paukschule«), die viel individuellen Spielraum für Schüler ließ. Bedeutende Elemente waren Koedukation (das gemeinsame Unterrichten von Jungen und Mädchen), lebhafter und kindgerechter Unterricht, häufige Exkursionen, viel Sport- und Werkunterricht, die Wahl von Klassen- und Schulsprechern und ganz allgemein eine Demokratisierung des Schullebens. Eine Einheitsschule sowie Gratis-Lehrmittel und die Abschaffung von Schulgeld sollten für die Chancengleichheit aller Kinder sorgen.48

Die Wiener Schulreform begleitete Papanek sein ganzes Leben lang und inspirierte viele seiner pädagogischen Unternehmungen. Jahrzehnte später widmete er in Amerika seine Doktorarbeit dem Thema. In der Einleitung betonte er: »Bildung ist nicht nur der Erwerb von Wissen und Fähigkeiten, sondern die Entwicklung bestimmter Einstellungen, Eigenschaften und Lebensgewohnheiten.«49

Neben Otto Glöckel wurde Papanek sehr stark von dem Psychologen Alfred Adler beeinflusst, einem seiner Professoren am Pädagogischen Institut. Zeit seines Lebens blieb Papanek ein »Adlerianer« und war eng mit Adlers Tochter Alexandra befreundet.50

Der Sozialdemokrat Alfred Adler hatte nach dem Bruch mit Sigmund Freud für seine tiefenpsychologische Lehre den Begriff »Individualpsychologie« geprägt. Er vertrat die Meinung, dass Menschen weniger durch ihre Triebe als durch ihr soziales Umfeld und ihre Erziehung geprägt seien. Sie bräuchten günstige Bedingungen, um sich weiterzuentwickeln, so Adler, und diese Bedingungen fänden sie im Gruppenleben.51

Als junger Student besuchte Papanek ab und zu auch Privatvorlesungen von Sigmund Freud in dessen Wohnung in der Berggasse, die er »ungeheuer eindrucksvoll« fand, wie er 1959 in einem Interviewprojekt zu Freud erzählte. Trotzdem hatte Papanek (nicht nur wegen seiner Nähe zu Adler) inhaltlich große Probleme mit Freud und empfand dessen Desinteresse an Politik und an Massenbewegungen als »große Enttäuschung«.52

Im Gegensatz zu seinem Medizinstudium nahm Ernst Papanek die Lehrerausbildung ernst. Nach zwei Jahren schloss er sie am 1. Juli 1927 mit »sehr gutem Erfolg« ab. Seine Abschlussarbeit behandelte das Thema »Die individualistische und kollektivistische Erziehung und Schule«. In der zweigeteilten Abschlussprüfung musste er Fragen zu »Freiheitsprinzip und Willensbildung« beantworten und in der Knaben-Volksschule in der Grünentorgasse 9 eine Lehraufgabe zum schönen Thema »Ein Sonntagsausflug in die Wachau« bewältigen.53

Schon während seines Studiums hatte Papanek für die Gemeinde Wien in Kindergärten und Horten sowie als Berater des Amts für Wohlfahrtswesen gearbeitet, nun beteiligte er sich noch aktiver an der Glöckelschen Reformbewegung. In Wien spielte »Papanek für die Verwirklichung des Glöckel-Planes eine entscheidende Rolle«, erinnerte sich Richard Berczeller. »Ich sehe ihn noch vor mir, als er mit seiner großen Aktentasche, gefüllt mit Manuskripten, von Versammlung zu Versammlung eilte, um die neue Botschaft zu verkünden.«54 Und in einem Nachruf, der 1973 in der Arbeiter-Zeitung erschien, heißt es, Papanek »wurde als Leiter von Schulen und Seminaren ein Mittelpunkt von Reformbestrebungen im gesamten Erziehungswesen« Österreichs.55

Innerhalb der Wiener Schulreform war Papanek für die Umstrukturierung der Fortbildungsschulen zuständig, also der Schulen für Lehrlinge.56 Als Junglehrer unterrichtete er auch selbst in diesen Schulen und leitete außerdem eine experimentelle Tagesheimstätte für schwer erziehbare, vorbestrafte und vernachlässigte Arbeiterkinder: die Gruppe Sandleiten.

In Sandleiten im Arbeiterbezirk Ottakring entstand Mitte der 1920er Jahre mit über 1.500 Wohnungen der größte Gemeindebau Wiens. Wie in allen Gemeindebauten gab es in Sandleiten Kindergärten und Tagesheime, wobei die Gruppe 14 für »Problemfälle« aus ganz Wien reserviert war. Für den Mittzwanziger Papanek war die Arbeit in Sandleiten äußerst prägend. 1945 widmete er ihr einen seiner ersten wissenschaftlichen Aufsätze in Amerika und schrieb darin, dass er die dreißig Jungen »vom ersten Tag an ins Herz geschlossen hatte«.57

Man kann es kaum glauben: Ernst Papanek hat seine handschriftlichen Notizen zu Sandleiten und einen Stapel Schüleraufsätze durch mehrere Jahre Flucht, Exil und den Zweiten Weltkrieg mit sich getragen. In den Notizen beschreibt Papanek tagebuchartig seine Erfahrungen. »Den meisten Buben war bekannt, dass die 14. Gruppe eine Spezialgruppe ist, in die sie nach der einen Version wegen ihrer Schlimmheit, nach der anderen wegen ihrer Dummheit kommen sollten«, heißt es im ersten Eintrag am 1. Dezember 1924. »Da ich mich auf eine Debatte nicht einlassen wollte, versuchte und versuche ich die Buben durch besondere Liebenswürdigkeit und ihren Wünschen entgegenkommend an mich und an die Gruppe zu gewöhnen.«58

Die Räumlichkeiten für die Jugendlichen waren absichtlich sehr spärlich eingerichtet, dafür gab es einen großen Werkraum. »Wenn ich mich so umschaue, habe ich das Gefühl, Robinson Crusoe zu sein, bevor er damit begann, seine Höhle herzurichten«, sagte Ernst Papanek zur Begrüßung. Er saß in einem fast leeren Raum am Holzboden, um ihn herum dreißig Jungen. Papanek schaute in die Runde und fuhr fort: »Kennt ihr die Geschichte von Robinson Crusoe und seinen Abenteuern auf einer einsamen Insel? Ich will sie euch erzählen und dann werden wir uns selber daran machen, hier etwas Schönes zu gestalten.«

In den nächsten Wochen baute Papanek mit den Jungen Möbel, um so ein Gruppengefühl zu erzeugen und den bekanntermaßen rabiaten Jugendlichen Wertschätzung für das Eigentum anderer beizubringen. Danach half Papanek bei Hausaufgaben, veranstaltete viele Ausflüge und Wanderungen, improvisierte Theatervorstellungen, sang und zeichnete mit seinen Schützlingen oder ging auch mal mit ihnen ins Kino. In der Anfangszeit gab es immer wieder Probleme, als die Jungen versuchten, Grenzen auszuloten und bewusst zu provozieren: Ein Franzl grüßte Papanek zum Beispiel fünfzig Mal hintereinander und war erstaunt zu sehen, dass der sich davon nicht aus der Ruhe bringen ließ. Großen Respekt erhielt »Herr Ernst«, weil er sich von den Jugendlichen duzen ließ und weil er sie aktiv in die Gestaltung der Gruppe einband. Gemeinsam erarbeitete er mit den Jungen eine Gruppenverfassung und ließ sie sechs Vertreter wählen. »Diese 6 bilden einen Gruppenrat, der jede Woche eine Sitzung hält«, heißt es in der Verfassung. »Alle Wünsche und Beschwerden sollt ihr ihnen melden.«

Papanek freute sich besonders, wenn Störenfriede in den Gruppenrat gewählt wurden, und reflektierte in seinen Aufzeichnungen, wie diese durch die Verantwortung, aber auch den Respekt, der mit dem Amt kam, beachtliche Fortschritte machten. Dabei wertschätzte er die demokratischen Rechte seiner Schüler sehr, auch wenn sie nicht immer in ihrem eigenen Interesse handelten. Franzl stachelte zum Beispiel einmal die anderen Jungen auf, dafür zu stimmen, den Fußball zu zerstören. Papanek erklärte seinen Schützlingen, das sei ihr gutes Recht und er werde sie nicht stoppen, schließlich gehöre der Ball ihnen. Er müsse sie aber darauf hinweisen, dass die Stadt Wien nicht genug Geld habe, um ihnen einen neuen zu kaufen. Schon verlangten die Buben eine Neuwahl, beharrten auf ihrem demokratischen Recht und retteten so den geliebten Ball.

Ein einziges Mal nur musste Papanek auf andere Mittel zurückgreifen, als seine Schüler ein verbotenes Spottlied über den Kanzler sangen und er Angst hatte, in Schwierigkeiten zu kommen. »Ich versuchte sie von dem Lied abzulenken, aber je mehr sie erkannten, dass ich wollte, dass sie aufhörten, desto lauter und lustiger sangen sie es«, erinnerte er sich später. »Schlussendlich verkündete ich: ›Ich verbiete euch das Singen dieses Liedes.‹ Ich war völlig erstaunt, als sie tatsächlich aufhörten. Ich wusste nicht, dass autoritäre Erziehung so einfach war.«

»Den meisten Buben war bekannt, dass die 14. Gruppe eine Spezialgruppe ist«: Ernst Papanek hat seine tagebuchartigen Notizen zu seiner Arbeit in Sandleiten durch mehrere Jahre Flucht, Exil und den Zweiten Weltkrieg mit sich getragen.

Der Frieden währte jedoch nur für kurze Zeit: Als Papanek am Abend nach Hause ging, hatten sich mehr als 200 Jugendliche vor der Tagesstätte versammelt und sangen lauthals das verbotene Lied, während sie ihm auf Schritt und Tritt folgten. Ernst Papanek erkannte ein für alle Mal: »Autoritäre Erziehung ist nichts für mich!«

3.Lene und die Liebe

Wie an den meisten Abenden machte sich Ernst Papanek von Sandleiten aus auf den Weg Richtung Alsergrund. Von der Alser Straße bog er in die Lazarettgasse und ging an einer Reihe großbürgerlicher Privatkliniken vorbei bis zur Nummer 20. »Fango-Klinik« stand in schwarzen Lettern auf dem imposanten Eckhaus. Papanek grüßte den Portier, dann stieg er in den zweiten Stock in die Privatgemächer der Familie Goldstern hinauf, wo ein Dienstmädchen gerade den Tisch deckte. In betuchter Umgebung speiste Papanek mit seiner zukünftigen Frau Lene, deren Geschwistern und Eltern zu Abend. Ein ungewohntes Ambiente für den Arbeitersohn aus Rudolfsheim.

Ernst und Lene trennten Welten. Während er als Kind neben der Schule Semmeln ausgefahren hatte, um den Familienhaushalt aufzubessern, hatte Lene Klavier- und Französischunterricht bei Privatlehrern genossen. Was beide zusammenbrachte war – wie konnte es anders sein – die Sozialdemokratie.

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Glückliche Familienidylle: Ernst Papanek präsentiert sich 1926 mit seiner Frau Lene und seinem Erstgeborenen Gustav Fritz – benannt nach Gustav Mahler und Fritz Adler.

Helene, genannt Lene, kam am 10. Juni 1901 als zweites Kind von Samuel und Manja (Marie) Goldstern auf die Welt. Die Goldsterns waren eine wohlhabende jüdische Familie, die ursprünglich aus Lemberg in Galizien, in der heutigen Westukraine, kam. Über Generationen hinweg zählten sie zu den reichsten und einflussreichsten Lemberger Familien und brachten eine hohe Anzahl an Bankiers und Rabbinern hervor. Die Goldsterns galten als »Kohanim«, als direkte Nachfahren des biblischen Aaron, und gehörten damit zur religiös privilegierten Priesterkaste.59 Später siedelten sich einige Goldsterns in Odessa an, wo 1865 Samuel als Sohn eines Getreidegroßhändlers geboren wurde. Wegen revolutionärer Umtriebe musste Samuel Goldstern mit zwanzig Jahren aus Russland fliehen und kam nach Wien.

Lenes Mutter Manja, eine geborene Bernstein, stammte aus einer reichen jüdischen Familie im ukrainischen Winnyzja und kam aus Russland zum Studieren nach Wien. Nach nur einem Semester wurde sie allerdings von ihrer Tante mit Dr. Samuel Goldstern verkuppelt, der nach seiner Ausweisung aus Russland in Wien sein Medizinstudium beendet hatte.60 Nach der Hochzeit kaufte das Ehepaar gemeinsam die Fango-Heilanstalt, ein Sanatorium, das sich auf die heilende Wirkung von vulkanischem Fango-Schlamm aus Italien spezialisiert hatte. Neben der Klinik, in der jährlich über vierzig Tonnen Heilschlamm verwendet wurden, gehörten Samuel und Manja auch noch zwei Miethäuser, die zum Familieneinkommen beitrugen.61

Ihre Kindheit verbrachten Lene und ihre drei Geschwister Lucie, Alexander und Claire umgeben von Gouvernanten, Dienstmädchen und Privatlehrern. Die Wohnung der Goldsterns hatte keine Küche, alle Mahlzeiten wurden aus der Klinikküche geliefert. Weil es in der Lazarettgasse auch keine Geschäfte gab, war Lene ganze zehn Jahre alt, als sie das erste Mal ein rohes Ei sah.62

Obwohl Samuel Goldstern aus einer religiösen Familie stammte, spielte das Judentum in Lenes assimiliertem Elternhaus keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Jedes Jahr um die Weihnachtszeit ließen die Goldsterns einen großen Christbaum in der Fango-Klinik aufstellen und die Kinder verteilten Geschenke an die vielen Mitarbeiter.

Ab ihrem zehnten Lebensjahr besuchte die blondgelockte Lene ein Realgymnasium in der Josefstadt, eine der wenigen Schulen Wiens, die damals Mädchen auf die Matura vorbereitete. Die aufgeweckte Lene, die zuhause oft im Schatten ihrer älteren Schwester Lucie stand, genoss die Schulzeit sehr. In den stürmischen Zeiten gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Klassenbeste von ihren Mitschülerinnen als Vertreterin für ein neues Schülerparlament gewählt – und hier kreuzten sich die Wege der reichen Bürgerstochter und des Arbeitersohnes.

Ernst Papanek, der Vertreter seines Gymnasiums, hatte eine Führungsrolle in der sozialistischen Mittelschülerbewegung und es dauerte nicht lange, bis er und Lene sich anfreundeten. Rasch formte sich eine Clique sozialistischer Jugendlicher, zu der auch Alexandra Adler, die Tochter Alfred Adlers, gehörte. Man traf sich in Dirndlkleid und Lederhosen zum Wandern, zum Volkstanz und vor allem zum Diskutieren politischer Theorien. Lene las Marx und Engels, ging in die Arbeiterbezirke Wiens, um Mitgliedsbeiträge für die SDAP einzusammeln, und demonstrierte für die Freilassung Fritz Adlers. »Ich werde nie die Begeisterung vergessen, die mich dazu gebracht hat, in einer Menschenmenge zu marschieren«, erinnerte sie sich später.

Außer Lene war Mutter Manja Goldstern die Einzige in der Familie, die sich für Politik interessierte. Während sich Vater Samuel Goldstern ganz auf die Klinik konzentrierte, hatte Manja kein Problem damit, wenn ihre junge Tochter an Demonstrationen teilnahm. Manja ließ ihren Kindern viele Freiheiten und betonte weltoffene Werte wie Aufrichtigkeit, Toleranz und Respekt, obwohl sie zugleich sehr strenge Moralvorstellungen hatte. Sie war es auch, die alle ihre Töchter darin unterstützte, zu studieren – keine Selbstverständlichkeit für die Zeit.

Samuel Goldstern verlangte, dass zumindest eines seiner Kinder Medizin studierte, um später die Klinik zu übernehmen. Der Familienpatriarch setzte alle seine Hoffnungen auf den einzigen Sohn Alexander, doch der stellte schon als junger Bub klar, dass er daran kein Interesse hatte. Also begann Lene 1919 Medizin zu studieren und gewann dadurch in den Augen ihres Vaters an Achtung. »Er war sehr von meinem Bruder Alex enttäuscht und nannte mich jetzt seinen Sohn«, erklärte sie Jahrzehnte später.

Während ihres Studiums engagierte sich Lene Goldstern gemeinsam mit Ernst Papanek bei der Greisenhilfe und den Spielkameraden, unter anderem inszenierte sie Theaterstücke mit den Straßenkindern: »Ich war sehr begeistert davon, an all diesen sozialen Aktivitäten beteiligt zu sein und Menschen zu helfen, und eine Sozialistin zu sein.«

Für die ersten ein, zwei Jahre ihrer Freundschaft blieben Ernst und Lene nur das: Freunde. Ernst Papanek hatte wie erwähnt eine ganze Reihe an Verehrerinnen und eigentlich war er mit Lenes bester Freundin Bertl zusammen. Eines Tages gestand er Lene jedoch, dass er Bertl gar nicht wirklich mochte und nur nicht wusste, wie er die Beziehung beenden sollte. Sie überzeugte ihn, dass Ehrlichkeit die beste Methode sei, er sprach mit Bertl, und kurz darauf waren Lene und Ernst ein Paar. So sehr man als Unverheiratete im bürgerlichen Wien eben ein Paar sein konnte. In späteren Jahren sprach Lene Papanek immer von einer »Affäre«.

Fast jeden Abend aß Ernst bei den Goldsterns, danach nahm Lene ihn mit auf ihr Zimmer. Er hatte ihr ein Buch von Paolo Mantegazza, einem frühen Pionier der Sexualwissenschaft, geschenkt und es war oft bereits spät in der Nacht, wenn er die Fango-Klinik verließ. »Ich wusste nicht, was sich meine viktorianische Mutter dabei dachte«, erinnerte sich Lene Papanek später. »Ich wollte sie nicht verletzen, also erzählte ich ihr nichts, und sie fragte nicht.«

Nach seiner Hochzeit lebt das junge Ehepaar erst in der Fango-Klinik, die von Lenes Vater Samuel Goldstern geleitet wird, dann zieht es an den Flötzersteig.

Oft trifft sich hier nun die Familie in unterschiedlichen Konstellationen, vor allem um die Buben Gustav und Georg zu besuchen.

Die Großmütter Manja Goldstern und Rosa Papanek haben den kleinen Gustl in ihrer Mitte, rechts auf der Bank sitzt Lene Papanek.

Ernst Papaneks Geschwister mit ihren Ehepartnern, Lene und Rosa halten die Buben auf dem Schoß.

Lene und Ernst hatten gleichzeitig mit dem Medizinstudium begonnen, Lene aber nahm es wesentlich ernster. Ernsts schlechte Noten und der fehlende Studieneifer störten sie nicht, ein Problem gab es jedoch: »Ich bewunderte ihn sehr, mit einer Ausnahme. Ich konnte Kahlheit nicht aushalten und Ernst bekam eine Glatze. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich immer gesagt hatte, es ist mir egal, wie ein Mann aussieht, wenn er nur sich selbst treu bleibt.«

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Es ist nicht ganz einfach, sich auf die Spur von Lene Papanek zu begeben. In Erinnerungen von Weggefährten überstrahlt der charismatischere Ernst sie meistens, nach Lene muss man richtiggehend suchen. Einen besseren Einblick erhält man nur in autobiografischen Fragmenten, die sie gegen Ende ihres Lebens zusammen mit mehreren Ghostwritern geschrieben hat. Und im Gespräch mit Gus, dem ältesten Sohn der Papaneks.

Im Oktober 2019 besuche ich Gus Papanek in Brookhaven, einer luxuriösen Seniorenwohnanlage in Lexington. Die Stadt im Bundesstaat Massachusetts liegt eine halbe Stunde von Boston entfernt und ist in Amerika berühmt, weil hier 1775 der erste Schuss im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fiel.

Gustav (Gus) Papanek war lange Zeit Wirtschaftsprofessor an der renommierten Harvard University und reist noch heute – mit über 90 Jahren – durch die Welt, um Regierungen zu wirtschaftspolitischen Themen zu beraten. Das Wochenende meines Besuches ist etwas stressig, weil Gus gemeinsam mit seinem Sohn Tom dabei ist, das Haus zu verkaufen, in dem er jahrzehntelang mit seiner verstorbenen Frau gelebt hat. Trotzdem nimmt er sich einige Stunden Zeit, um mir aus dem Leben seiner Familie zu erzählen. Der ältere Herr freut sich, dass ich ein Buch über seinen Vater schreibe. »Wir alle haben Ernst sehr bewundert und möchten, dass alles getan wird, damit an ihn erinnert wird«, erklärt er mir lächelnd, während wir Lunch bestellen.

Bei dreierlei Burgern und Cobb Salad erzählt mir Gus lebhaft von seiner Kindheit im sozialdemokratischen Wien, beim Cheesecake mit Vanilleeis sind wir in Frankreich angelangt, wo der Dreizehnjährige