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Das Thema "Aufbruch und Verwandlung" weckt den Gedanken an frühlingshaft sprießendes Grün und biographische Neuanfänge persönlicher oder beruflicher Art. Doch die Kehrseite dieser heiteren Bilder liegt in dem Wort "Bruch", das untrennbar mit dem "Aufbruch" verbunden ist. Menschliche Verluste, zerstörte Dinge, politische Umwälzungen kommen in den Blick, rufen Angst und Traurigkeit hervor. Wie diese beiden Seiten des Themas miteinander ins Gleichgewicht gebracht werden können, erkunden die Geschichten und Gedichte unseres Bandes auf ganz unterschiedliche Weise.
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Seitenzahl: 421
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Eine Sammlung von Texten aus dem
Club der altersgemischten Dichterinnen und
Dichter
der Schreibwerkstatt der Universität des
Dritten Lebensalters Göttingen
Zusammengestellt von Dr. Ruth Finckh
und den Autorinnen und Autoren dieses Buches
Buchgestaltung: Dr. Ruth Finckh, Samira Belmonte,
Claudia Liersch, Martina Scheible und die Autorinnen
und Autoren
November 2023
Unsere Anthologie ist das Ergebnis vielfältiger vertrauensvoller Zusammenarbeit über viele Alters- und Erfahrungsgrenzen hinweg. Dass diese Kooperation so gut gelungen ist, liegt an der freundlichen Neugier und Offenheit, die den Club der altersgemischten Dichterinnen und Dichter, auch Offene Schreibwerkstatt der UDL genannt, seit vielen Jahren auszeichnet. Quer durch die Generationen wurde gelacht, argumentiert und gemeinsam um die beste Formulierung gerungen. Wir haben online gearbeitet, ausschließlich und mit der Überzeugung, so eine gute Arbeitsumgebung für alte und junge, ortsansässige und entfernt lebende MitschreiberInnen zu schaffen. Die Dienstagnachmittage voller lebendiger Video-Diskussionen fühlten sich wie reale Begegnungen an.
Wir danken allen, die daran mitgearbeitet haben, dieses Buch zu schreiben, zu gestalten und zu lektorieren, das hoffentlich vielen Lesern Freude bereiten wird.
Unser ganz besonderer Dank gilt:
Mehrdad Zaeri für das Abdruckrecht an seinem wunderbaren Bild von der Schattentänzerin, das den Impuls zu einigen unserer Texte gab.
Adela Bevan für ihre zauberhaften Blatt-Kreationen.
Gerhard Diehl für die Unterstützung beim Korrekturlesen.
Juliana Krüger für ihre sorgfältige Bildbearbeitung und -integration.
Manfred Kirchner, der uns die Anmeldung und die Verhandlungen mit BoD – Books on Demand abgenommen hat.
Die Herausgeberinnen: Dr. Ruth Finckh, Samira Belmonte, Claudia Liersch, Martina Scheible
Regina Tabel: Loslassen und Aufbrechen
Ruth Finckh: Sonnenblumen
Nevena Radeva: Aufbruch
Bruno Gschwind: Liebesexperiment
Martina Scheible: Das kostbare Ahornblatt
Ruth Finckh: Nachtkerzenblüte
Lara Döring: Freiheit
Gudrun Theis-Bärwolff: Der kleine Drache
Claudia Liersch: Freischwimmen
Mareike Bräuer: Wassernixe
Renate Wunderer: Der Fesselballon
Ruth Finckh: Bonheur fliegt
Mareike Bräuer: Wolkenflug
Gernot Sander: Mein Fotolabor
Lore I. Lehmann: Nora lügt doch nicht
Martina Scheible: Die Vase
Renate Wunderer: Die Killerhäsin
Paula Tavener: Drei Streifen
Ruth Finckh: Patchwork
Nevena Radeva: Farben des Lebens
Regina Tabel: Lebenslauf
Martina Scheible: Puzzle
Gernot Sander: Die Frau auf der Treppe
Gernot Sander: Ein fataler Fehltritt
Gernot Sander: Eine Mutterliebe
Gernot Sander: Erste Begegnung
Gernot Sander: Waschtag
Renate Wunderer: Ein Name aus Schall und Rauch
Martina Scheible: Aufgebrochen
Hansi Sondermann: Sankt Michael
Renate Wunderer: ALLES KAPUTT - puttputtputt
Mareike Bräuer: Neophobie
Ruth Finckh: Nein!
Paula Tavener: Angst
Regina Tabel: Angst
Mareike Bräuer: Agoraphobie
Paula Tavener: Spiegelscherbe, spiegelt nicht
Ruth Finckh: Herz ausschütten 1
Ruth Finckh: Herz ausschütten 2
Ruth Finckh: Herz ausschütten 3
Bruno Gschwind: Die Nacht im Pflegeheim
Renate Wunderer: Am Ende der Wartezeit
Lara Döring: Abschied
Hansi Sondermann: Der Tod des Kaufmanns
Hans-Jochen Hüchting: Varnita
Bruno Gschwind: Die Büchse der Pandora
Mareike Bräuer: Blumensterne
Hans-Jochen Hüchting: Lisa
Paula Tavener: Flügge
Ruth Finckh: Hermaphroditischer Dialog (nach Ovid)
Samira Belmonte: Des Kindes Verwandlung
Renate Wunderer: Ganz plötzlich
Bruno Gschwind: Abschied von Sänelen
Gerhard Diehl: Auf dem Highway
Regina Tabel: Aus der Rolle gefallen
Martina Scheible: Im Aufbruch
Paula Tavener: Schattentänzerin
Ruth Finckh: Schattenbrille
Margrit Vogler: Heute
Martina Scheible: Verklärung
Renate Wunderer: Der Reigen
Claudia Liersch: Tango
Margrit Vogler: Befreit
Bruno Gschwind: Wörtersuppe
Ruth Finckh: Wortmord
Nevena Radeva: Zauberwort
Martina Scheible: Reliably Off Center
Martina Scheible: Verlässlich Unvermittelt
Margrit Vogler: Gelb
Paula Tavener: Durch das Labyrinth der Brust
Ruth Finckh: Freunde
Martina Scheible: Schatten Spiele
Claudia Liersch: Rettet das Huhn
Bruno Gschwind: Das Flüstern des Windes
Regina Tabel: Wunder der Verwandlung
Martina Scheible: Rosen
Regina Tabel: Ein Freitag im März
Martina Scheible: Hope in my Heart
Martina Scheible: Hoffnung im Herzen
Hansi Sondermann: Theophanie
Lore I. Lehmann: Eine neue Zeitrechnung
Mareike Bräuer: Fundgrube
Hansi Sondermann: Rosa Don Juan
Ruth Finckh: Picknick mit dir
Gudrun Theis-Bärwolff: Sicher wie in Abrahams Schoß
Gudrun Theis-Bärwolff: Grüner Himmel
Gudrun Theis Bärwolff: Der Schlüssel
Gudrun Theis-Bärwolff: Gut behütet und betucht
Gudrun Theis-Bärwolff: Eine Weihnachtsfeier, 1980
Gudrun Theis-Bärwolff: Bereitschaftsdienst
Gudrun Theis-Bärwolff: Leinen kappen
Gudrun Theis-Bärwolff: L‘air du temps
Gudrun Theis-Bärwolff: Hurra, diese Welt geht unter
Mareike Bräuer: Stilles Leid
Claudia Liersch: Klimawandel
Ruth Finckh: Klimawandel
Nevena Radeva: Der Stein
Paula Tavener: Wärmend
Ruth Finckh: Kreistanz
Renate Wunderer: Nichts ist vergebens
Martina Scheible: Statu Variabilis
Renate Wunderer: Aufbruchbereit
Regina Tabel
Meine Liebste,
mehr als dreißig Jahre lang hast du mich begleitet, meine Gefährtin. Ein Freund hatte uns damals zusammengeführt. Wir haben den Alltag, die Freizeit und Urlaube miteinander geteilt und so viel Schönes gemeinsam erlebt. Zuverlässig hast du Schweres mit mir getragen und gern habe ich mich um dich gekümmert.
Inzwischen bist du eine stolze alte Dame geworden. Wie auch bei mir gab es einige Blessuren in deinem Leben, aber alles hat uns umso mehr zusammenwachsen lassen und meiner großen Liebe zu dir keinen Abbruch getan.
Doch nun muss ich dir gestehen, dass ich schon seit einigen Jahren über eine Trennung nachgedacht habe. Es gab zu viele Missstimmungen bis hin zu Unerträglichem. Es tut mir so leid, aber immer öfter bin ich mit einer anderen losgezogen und habe dich, meine Liebe, allein zu Hause gelassen. Mein Leben wurde wieder unbeschwerter und leichter.
Was du aber immer wissen sollst und nie vergessen darfst: Meine große Liebe galt immer dir, auch wenn sich mein Leben und meine Bedürfnisse in eine andere Richtung entwickelt haben. Wenn ich ehrlich bin, ist diese Entwicklung auch einer gewissen Alterskrise geschuldet und – ich möchte ganz aufrichtig sein - meine neue Freundin ist einfach viel jünger und moderner und kann mich jetzt in meinem Alter besser unterstützen.
Gleichzeitig bin ich aber auch traurig, denn oft wünsche ich mir dich und die Intensität unserer Gemeinschaft zurück.
Ich schäme mich sehr, dass ich dich egoistisch und voller Selbstmitleid trotz allem lange nicht habe loslassen mögen. Ich bin bekümmert, dass nun du weggehen wirst, weil du dein Leben hier bei mir als trostlos und sinnlos empfindest. Doch ich kann das gut verstehen und mich einfühlen; ich habe dich in die Ecke gestellt und du kamst dir überflüssig vor.
Zum Abschied denke ich an diese große Liebe und wünsche dir von ganzem Herzen, dass es dir gut gehen möge, sobald du in deiner neuen Heimat, der Ukraine, angekommen sein wirst. Mit ein bisschen Abstand wirst du mir vielleicht auch verzeihen können, dass ich dich am Ende so vernachlässigt habe. Ganz sicher bin ich mir, dass du schnell jemanden finden wirst, der dich lieben wird und glücklich sein wird, dich zu haben.
Wehmütig und gleichzeitig froh begleite ich dich in meinen Gedanken und danke dir für unsere wunderbare gemeinsame Zeit.
Für immer in Liebe, meine Koga, mein besonderes Reiserad.
Auf dich, meine Liebste, die mich viel mehr als hunderttausend Kilometer weit durchs Leben getragen hat, bin ich sehr stolz und auf einmal beginnt es mir Freude zu machen, dich loszulassen. Mit einer leisen Genugtuung stelle ich mir vor, wie du als jemandes neue Gefährtin ihm oder ihr hilfst, in diesem russischen Angriffskrieg mobil zu bleiben, wenn es kein Benzin mehr gibt. Über dein E-Werk lädst du außerdem noch beim Radeln das Handy auf. Das sind zwar nur winzigst kleine Nadelstiche gegen einen mächtigen Feind – aber immerhin!
Alles Liebe und Danke.
Meine Liebe,
gerade bin ich vorsichtig in den LKW gehoben worden, der in Kürze in die Ukraine fahren wird. Freundliche Menschen haben mich sehr sorgfältig eingepackt, so dass empfindliche Teile nicht zu Schaden kommen werden.
Die Wartezeit bis zur Abfahrt möchte ich nutzen, dir auf deinen Brief zu antworten.
Ich bin gespannt auf meinen neuen Lebensabschnitt, in dem ich wieder draußen sein kann, den Wind, die Sonne und den Regen spüren, Bergauffahrten in gleichmäßiger Bewegung und dann die Abfahrten rollend genießen darf, wohl wissend, dass alles zuverlässig funktionieren wird. Nun - ich weiß, dass mich an vielen Stellen keine schönen Landschaften, Dörfer und Städte erwarten werden; in dem von Russland zerstörten Land ist meine wichtigste Aufgabe zunächst, nützlich zu sein.
Danach habe ich mich in den letzten Jahren sehr gesehnt und bin an dieser Stelle dankbar für deine Entscheidung, mich in die Ukraine und in ein neues Leben aufbrechen zu lassen. Ich rechne es dir auch hoch an, dass du dich aus diesem Anlass besonders um mich gekümmert hast. Ich fühle mich fit und sehe umwerfend gut aus!
Doch auch ich möchte ganz aufrichtig sein: Dein Brief hat mich richtig wütend gemacht! In deinen mit vielen schönen Sätzen ausgedrückten Liebesbeteuerungen ging es einzig um dich, dich und nochmals dich!
Du kokettierst mit deinem Alter und stellst es als logische Folge und nicht als deine Entscheidung dar, dir eine neue Freundin zu suchen. Da gab es Vieles, das unsere Gemeinschaft erhalten hätte: Langsamer fahren, leichtere Strecken oder kürzere Wege. Und nun jammerst du auch noch, dass mit der „Neuen“ die Intensität der Gefühle fehlt? Das finde ich genauso erbärmlich wie deine scheinbar selbstkritischen Worte über Scham und Egoismus, die voller Selbstmitleid nur deiner Selbstdarstellung dienen.
Auch glaubst du doch nicht etwa, dass du mir deine neue Freundin verheimlichen konntest? Es lag in meiner Natur, mich geduldig zu fügen, doch es tat weh, besonders an dem Tag, als du mich noch einmal hervorholtest, weil deine Neue gerade nicht gut drauf war.
Ich merke, wie gut es mir tut, alles auszusprechen. Mein Brief soll aber nicht mit diesen Vorhaltungen enden. In Gedanken an die vielen wunderbaren Erlebnisse in mehr als dreißig Jahren wünsche ich dir, dass du glücklich und zufrieden sein wirst. Hab‘ noch ein schönes Leben!
Deine Koga Miyatta
Foto: Regina Tabel
Ruth Finckh
Die Sonnenblumen
in Kupfer und Gold,
sorgsam gehütet,
geschützt vor den Schnecken.
Herbstfreude, Cherry Rose, Samtkönigin.
Sonnenblumen
in Schwefelgelb, Blutrot
auf Feldern der Ukraine.
Bombensplitter und Minen
im Blumenmeer.
Zerfetzte Stängel
zerstörte Wurzeln.
Ob sie je wieder blühn
in den Augen der Kinder,
die Sonnenblumen?
Foto: Ruth Finckh
Nevena Radeva
Ich breche auf,
spüre die brüchigen Äste unter meinen Füßen,
das weiche Moos auf den nassen Wurzeln,
atme tief und rieche die feuchte Erde.
Bunte Flecken durchbrechen den Wiesenteppich,
gelb blühende, feurige Sträucher leuchten mir entgegen.
Frisch und zart sind die neu aufkommenden Blüten,
gebrochene Stämme versperren mir manchmal den Weg.
Ich überspringe sie, lasse mich nicht aufhalten,
gehe weiter, noch weiter,
Sonnenstrahlen brechen durch die zart grünen Blätter.
Durch sie gewärmt setze ich meinen Weg fort,
gebe nicht auf, folge der Frühlingskraft,
die mich belebt und hoffen lässt,
dass der Weg sich weiter zieht,
dorthin, wo der Pflaumenbaum in Weiß erstrahlt.
Ich breche auf, gehe weiter und weiß genau
Auch wenn gebrochen: Äste blühen auf.
Bruno Gschwind
Beschützend halte ich dich sachte in meinen Händen, wissend, dass diese zu rau für dein fragiles, zartes und gebrechliches Wesen sind. Noch fühlst du dich lebendig an, noch sind deine Farben intensiv, doch es liegt der Hauch des Abschieds, des Zergehens, des Sterbens bereits in dir. Noch bin ich nicht bereit, noch bist du ein Teil von mir, noch immer spüre ich etwas Kraft in dir.
Es ist an einem frühen Morgen im April. Der Nebel liegt über dem See, bedeckt das Tal und die wie aus dem Nichts ragenden Bergspitzen sind immer noch weiß und glänzen im fahlen Morgenlicht. Der Himmel ist wolkenlos und in den Bäumen zwitschern die Vögel dem anbrechenden Frühlingstag entgegen.
Ich bin im hinteren Teil meines Gartens, dieser ist bewaldet und schützt vor Lawinen, hält den Hang mit den mächtigen Wurzeln, und wenn es stark windet, singt es in den Baumkronen, selbst wenn diese blätterlos sind. Es gibt Nadelbäume, Kiefern, Lärchen, Fichten und Eiben, doch noch viel mehr Laubbäume wie Buchen, Eschen und auch einige auffallend weißstämmige Birken. Beim hinteren, gegen Norden gerichteten Sitzplatz gibt es zwei mächtige Buchenbäume, sie ragen zwanzig oder vielleicht sogar dreißig Meter in die Höhe. Ihre Stämme sind gerade, die Rinde glatt und nur wenige Unebenheiten sind sichtbar. Dazwischen ist eine stark «verkrüppelte» Buche, und vermutlich ist es ihr zu eng gewesen, aufzuwachsen zwischen diesen beiden mächtigen Bäumen. Doch sie hat wachsen und auch wie ihre Nachbarn kräftig und machtvoll werden wollen. Dieser Baum, so vermute ich, hat eine schwierige Entstehungsgeschichte gehabt und sein Stamm hat sich in alle Richtungen gekrümmt. Was ist der Grund für sein Verhalten gewesen? Ich werde es nie wissen, doch heute ist er kräftig, und auf einer Höhe von ca. zehn Metern hat er sich verändert und ist wie seine Nachbarn gerade gegen den Himmel gewachsen. An seinem Stamm gibt es allerdings viele offene Wunden, Geschwulste, Schwellungen und Beulen, er ist heute kleiner als seine mächtigen Nachbarn, doch scheint er gesund zu sein und seine Äste haben sich gut entwickelt. Ihn habe ich für mein Liebesexperiment auserkoren. Nicht aus Mitleid, wie Sie vielleicht vermuten, nein aus einem praktischen Grunde, seine Äste sind tiefer und der unterste Ast ist auf meiner Brusthöhe und für mich und meinen Versuch optimal. So stehe ich lange vor ihm, spreche mit ihm und nehme seinen untersten Ast in meine Hand. Die Blätter sind nur wenige Tage alt, sehr zartgrün mit hellen, beinahe durchsichtigen Spitzen und fein gezackt. Die braunen Knospen sind beim Stiel sichtbar, diese werden bald abgestoßen. Die Blätter sind in Gruppen von vier oder manchmal fünf, und ich schaue mir jedes genau an. Die Größen sind unterschiedlich, doch in den Farbschattierungen scheinen alle gleich. Ich will mich für ein einzelnes Blatt entscheiden. Es soll nicht das größte und auch nicht das kleinste, sondern ein wirklich durchschnittliches Blatt sein. Ich schließe die Augen und lasse die Hand über die Blätter gleiten und berühre eines und öffne meine Augen. Dieses soll es sein. Dieses Blatt, es ist das zweitunterste, wird mein Blatt werden. Mit dem «Mein» habe ich immer Mühe und ich wehre mich dagegen, etwas als «Mein» zu bezeichnen. Ich will kein «Mein», es ist mir zu persönlich, zu egoistisch, zu selbstbezogen, doch diesmal verdränge ich diese inneren Bedenken, denn aus rationaler Sicht brauche ich hier das «Mein». Ohne es lässt sich dieses Experiment nicht in die Tat umsetzen.
Es ist ein Liebesexperiment und ich will wissen, ob sich mit intensiven Liebesgefühlen die Natur verändern lässt. Ab jetzt spreche ich mit dem Blatt und sage zu ihm: «Liebes Blatt, ab jetzt gehörst du mir und ich werde dich jeden Tag besuchen, dir meine volle Aufmerksamkeit schenken, dich bewundern und dich von ganzem Herzen lieben». Ich stelle mir vor, wie sich in meinem Inneren dieses Blatt bildet und bei geschlossenen Augen versuche ich, seine Energie zu spüren. Es ist nicht farbig, sondern wie aus tausenden von Punkten zusammengesetzt, die miteinander und ineinander vibrieren, so dass die gleiche Form in meinen Gedanken entsteht, die das wirkliche Blatt hat, und auch, wie es werden soll. Sehr sachte nehme ich es zwischen meine Hände, so, dass ich es nicht wirklich berühre, doch ganz leicht spüre.
Anfänglich, in den ersten Wochen, verändert sich nichts, es wächst und es grünt wie die anderen Blätter. So gehe ich jeden Tag zwei oder dreimal zu meiner Krüppelbuche und schenke diesem Blatt meine Zuneigung. Erst Ende Mai notiere ich erstmals, dass ich das Gefühl habe, dass es sich leicht vergrößert hat und gleich groß ist wie das äußerste Blatt, das immer das größte war. Ich intensiviere meinen Liebesdienst und wenn ich im Haus bin, stellte ich mir das Blatt vor und lasse es auch in meinem Inneren wachsen. Es fühlt sich ätherisch an, wie ein geistiges Zwillingsblatt. In meiner Vorstellung lasse ich es mit Licht umgeben und es wächst und verändert sich. Einen Monat später ist es bereits doppelt so groß wie die anderen Blätter geworden. Nervös gehe ich jeden Tag zu meinem Blatt und schenke ihm meine volle Aufmerksamkeit, spreche mit ihm, liebkose es, stelle den Liegestuhl so, dass ich es sehen kann, und lese und schlafe, und immer wieder verabschiede ich mich. Es wird schlussendlich bis zweieinhalbmal größer als alle anderen Blätter am Baum. Träume ich? Habe ich dieses Blatt in dieser Form realisiert? Ich habe Mühe zu glauben, was ich jeden Tag sehen kann. Meine Gedanken pendeln zwischen Stolz und Erschaudern.
Es kommt der Sommer und ich muss für einen Einsatz ins Ausland und bin einen Monat weg. Erst Mitte August komme ich wieder zurück, ich stelle das Gepäck lediglich vor die Haustüre und mein erster Gang ist natürlich in den Garten zu meiner Buche, zu meinem Blatt. Es ist jetzt kräftig, Dunkelgrün mit einem leichten Glanz. «Ja, du bist schön und kräftig, doch ich habe das Gefühl, du kokettierst mit den anderen Blättern und wirst dabei nicht einmal rot». Ich lache und berühre es sachte. Seither habe ich immer wieder das intuitive Gefühl, dass die beiden mächtigen Buchen nicht glücklich sind. So beginne ich, auch mit ihnen zu sprechen, und ermuntere sie, die schöne Sicht auf den See zu genießen und nicht eifersüchtig zu reagieren. Von da an berühre ich immer ihre Stämme, trotzdem diese kalt und hart wie Beton sind. Sie zu liebkosen ist nicht einfach, sie strahlen etwas Abweisendes aus.
Der Herbst kündigt sich mit Stürmen an und die ersten Blätter fallen, sie sind noch grün und kräftig. Doch bereits zwei Wochen später sind die Herbstfarben verteilt worden, Rot und Orange und dazwischen, ein warmes Gelb lässt die Sonne leuchten. Auch mein Blatt verfärbt sich und im warmen Herbstsonnenlicht strahlt es in seiner Schönheit und Reife, und oft denke ich, es habe sich für mich speziell schön gemacht. Es wird Mitte Oktober und eine erste Dämmerung liegt über dem Baum, wie ein aufgeschreckter Vogel fährt es in meine Knochen, und mir wird klar, dass das Ende naht. Jeden Tag, wenn es die Zeit erlaubt, sitze ich unter dem Baum und blinzle in die Sonne, die schon recht tief steht, ein grelles Licht von den Bergen wirft, und hin und wieder besucht mich eine Biene, landet auf meiner Hand oder auf meinem Arm, hebt ab auf der Suche nach etwas Blühendem.
Mein Blatt ist noch kräftig, und noch bin ich nicht wirklich beunruhigt, doch anderntags kündigen die Abendnachrichten den Wetterwechsel an, die Temperaturen sinken und in der Nacht höre ich die Winde durch das Geäst kräuseln. Rhythmische, regelmäßige Windstöße vermitteln ein melodisches Rascheln und lassen mich tief bis in die Morgenstunden schlafen. Mit einem Regenschirm ausgerüstet gehe ich zu meinem Baum und sehe von weitem, dass mein Blatt unbeschädigt ist, doch an den äußeren Rändern zeigt sich ein wie Rost aussehendes Farbmuster. Es regnet während einer Woche und ich bleibe mehrheitlich im Haus und erledige alle Arbeiten online. Lediglich zum Fitness gehe ich täglich und besuche danach mein Lieblingscafé und kaufe die NZZ.
Dann ist es der 4. November, ein Mittwoch, und wie jeden Tag lüfte ich nach dem Frühstück das Haus und öffne alle Fenster. Ich traue meinen Augen nicht, beim Wohnzimmerfenster, auf dem hölzernen Sims, liegt mein Blatt. Mein Herz schlägt höher und ich spüre die Schläge in der Halsgegend. «Mein Blatt, wie kommst du hierher?» Ich nehme es sehr vorsichtig vom Fenstersims, lege es auf den Tisch im Wohnzimmer und betrachte es einen Moment lang. «Schön siehst du aus.» Die Stimmung ist friedlich, es ist getan und ich nehme es in die Hand und lege es in ein zufälliges Buch, das auf dem Tisch liegt. Ich lese den Titel: «Der Zauberlehrling» von Johann Wolfgang von Goethe.
Foto: Gerhard Diehl
Martina Scheible
Vor mir liegt ein Blatt von Adela.
Sie ist eine Freundin, die ich lange nur aus Online-Workshops kannte. Sie ist Engländerin, lebt aber am Genfer See, und wir teilen die Erfahrung, in unserem Leben relativ jung in ein anderes Land aufgebrochen zu sein und seither dort zu leben, wo wir angekommen sind, aber immer auch Ausländer bleiben werden.
Adela hat eine Krankheit des Nervensystems, muss immer wieder viel liegen, hat oft zu starke Schmerzen und keine Energie, sich zu bewegen und anders als in der Waagrechten zu leben. Zugleich ist sie einer der künstlerischsten Menschen, in Begabung, Handfertigkeit und Hingabe, die mir je begegnet sind. Was sie nicht mit Nadel und Faden und den verschiedensten Textilien und auch mit Farben und Dekorationen machen kann, kann auch kein anderer machen.
Sie näht und stickt und appliziert viel, zumal sie das auch halbliegend im Bett machen kann. Sie liebt die Natur und nimmt sie gerne mit in das, was sie künstlerisch erschafft, um es sich selber leichter zu machen, zu ertragen, dass sie nur selten und kurz sorglos in der Natur spazieren gehen kann und dass sie oft schlimme Schmerzen ertragen muss.
In ihrem Kopf und ihrer gestalterischen Fantasie blüht und glitzert es und sprüht es farbenfroh vor schierer Lebensfreude. Sie ist ein zutiefst inspirierender Mensch.
Im letzten Herbst hatte sie die Menschen um sie herum gebeten, ihr viele schöne große Blätter aus dem Wald und den Gärten zu bringen, die schon am Boden lagen, aber noch trocken und intakt waren. Ich glaube, das Bild der gefallenen, aber noch nicht verfallenen Blätter war für sie ein positiver Spiegel für den eigenen Körper und Gesundheitszustand.
Fotos: Martina Scheible, Adelas Blatt
Diese Blätter hat sie dann mit Acryl-Farben in den verschiedensten Farbkombinationen und manchmal auch mit Gold- und Silberglitter und vielfarbigen Glitzersteinchen in Kunstwerke verwandelt, die einen von Chagall und Klimt träumen lassen.
Sie hat etwas, das eigentlich jahreszeitenbedingter Abfall der Natur ist und von der Natur in großen Mengen sozusagen umsonst produziert und weggeworfen wird, in individuelle Juwelen umgestaltet, in kostbare Pracht eingehüllt und ihm durch die Versiegelung in Farbe und Lack Unsterblichkeit verliehen.
Es ist ihre Art, mit körperlichem Verfall umzugehen, und Schönheit und Gesundheit im Vergänglichen, eigentlich schon fast Vergangenen zu finden.
Sie stellt die Fotos von vielen ihrer Kunstwerke auf Facebook ein und hat dann angeboten, für einige Leute, die ihr besonders begeisterte Kommentare hinterlassen hatten, ein persönliches Blatt nach Wunsch zu gestalten und es per Post an sie zu verschicken. Ihre fraglose Großzügigkeit dabei hat mich sehr berührt.
Ich bin nun stolze Besitzerin ein solchen Blatt-Schatzes. Ich hatte um ein Pfauenfeder-Motiv gebeten und es leuchtet und glitzert und schimmert in Pfauenblau, Grüngold, Türkis, Glitzer, vielfarbigen Steinchen und etwas Dunkelrotlila vor mir. Es ist das zentrale Kunstwerk auf meinem Kaminsims und eines der schönsten Geschenke, die ich je erhalten habe.
Ich schaue es oft an, wenn ich ihm gegenüber auf dem Sofa sitze. Es bringt mich immer zum Träumen und Lächeln, gerade an den dunklen und glanzlosen Tagen, und hat mir schon einige Male zu eigenen kreativen Ideen verholfen.
Und es verkörpert für mich Adelas ganz besondere Schönheit, die für mich und viele andere immer individuell, liebevoll und zeitlos bleiben wird.
Ruth Finckh
Mittags noch
pfeilspitzengerade
abweisendgrün, nur
im Kranz um den Stängel
ein stummes Versprechen
Später die winzige
zartgelbe Knospe
sieh sie nicht an
schau zur Seite als sei nicht
die Dämmerung hell von Erwartung
Nur dann geht sie auf
die Nachtkerzenblüte:
ein duftender Mond
ein Ruf nach dem Wunder der Falter
ein gelber Gesang
Lara Döring
Ein leichter Windhauch ließ die Grashalme sanft hin und her schwanken. Die Sonne war nun stark genug, dass ihre Wärme auch vom Boden reflektiert wurde. Ich war schon eine gefühlte Ewigkeit unterwegs und hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ohne ein klares Ziel vor Augen wollte ich einfach immer weiter, weg von allem. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst, doch das ging nicht. An jeder Ecke lauerten Gefahren. So oft war ich dem Tod schon von der Schippe gesprungen. Da durfte ich jetzt auch nicht mehr aufgeben. Eine Stimme tief in mir drin rief mir zu: „Halte durch, es wird sich auszahlen.“ Was das bedeutete, wusste ich nicht. Ich schaute mich ruckartig um, bereit, mein sicheres Versteck zu verlassen und über die Lichtung zu kriechen. Dort war ich ungeschützt, leichte Beute. Gestern erst hatte es Timon erwischt. Ich musste also schnell sein. Mit einem Mal fühlte ich mich beobachtet. Konnte Blicke auf mir spüren. Der Boden begann zu beben. Instinktiv rollte ich mich zusammen und machte mich ganz klein. Bloß keinem zeigen, dass ich da war.
„Igitt, schau dir die an. Die ist ja voll hässlich.“ Etwas Warmes, Dickes stupste mich an. Ich erstarrte. War nun meine letzte Stunde gekommen? Ich verharrte in meiner Position, betend, dass ich im nächsten Moment aus diesem Albtraum erwachen würde.
„Die ist ja doof, die macht ja gar nichts.“ Erneut ein Stechen, doch diesmal härter. Mein Körper verkrampfte sich. Der Schlag hatte gesessen. Mir wurde schlecht. Trotzdem bemühte ich mich, mich nicht zu bewegen. Ich hoffte, dass sie so das Interesse an mir verlieren würden. „Die ist ja langweilig!“ „Na dann lass sie doch in Ruhe. Wir müssen eh weiter.“ Die Augen noch immer fest geschlossen, spürte ich, wie der Boden erneut bebte. Mein Körper zitterte und die Stellen, an denen ich getroffen wurde, schmerzten. Trotzdem musste ich weiter. Wenigstens noch ein paar Meter, sodass ich mich besser verstecken konnte. Ich versuchte, den Schmerz zu verdrängen, wie ich es schon so oft getan hatte. Da war sie wieder, diese Stimme in mir, die mich drängte, einfach weiter zu machen.
Nach einigen Metern erreichte ich einen Busch. Dieser konnte mir erst einmal Schutz bieten, sodass ich mich wenigstens etwas ausruhen konnte. Doch die Idee hatten auch andere scheinbar schon gehabt. „Hey, pass doch gefälligst auf, wo du hintrittst“, schrieen mich wütende Stimmen an. „Hier läuft unsere Straße lang. Such dir was Eigenes!“ Viele kleine Tritte ließen mich schnell wieder aus dem Gebüsch heraus kriechen. Dort konnte ich also auch nicht bleiben. Mein Körper fühlte sich so schwer an. Alles tat mir weh. In einiger Entfernung meinte ich, einen Baum auszumachen. Dort wäre ich fürs Erste sicher, doch um dorthin zu gelangen, musste ich über den grauen, warmen und offenen Weg kriechen. Dort war ich nicht nur ungeschützt, nein, dort lauerten noch ganz andere Gefahren. Schnell wie der Blitz kamen und verschwanden sie. Dabei machten sie alles platt, was ihnen in die Quere kam. In den letzten Wochen waren es immer mehr dieser Ungetüme geworden. Sie waren immer so schnell, dass man sie nicht kommen sah und nur selten kündigten sie ihr Kommen durch ohrenbetäubendes Geklingel an. Langsam, ganz langsam kroch ich, bis ich die Wärme des grauen Bodens spüren konnte. Je stärker die Sonne schien, desto schwieriger wurde es, dieses Gebiet zu betreten, da der Boden förmlich zu glühen begann. Doch heute ging fast schon eine angenehme Wärme von ihm aus. Sie durchströmte meinen geschundenen Körper und ließ erneut die Stimme in mir erklingen, die mich drängte, niemals aufzugeben.
Ich atmete tief ein und wollte gerade loshechten, als wie aus heiterem Himmel eines dieser Ungetüme an mir vorbeiraste. Um ein Haar hätte es mich erwischt. Ich kroch panisch ein Stück zurück. Und dann vernahm ich auch noch ein Rascheln. Es kam aus der Wiese hinter mir. Hatte mich etwa eine Maus entdeckt? Ein erneutes Rascheln im Gras bestätigte meine Vermutung. Was nun? Mir blieb keine Wahl mehr. Ich musste hier weg. Ohne weiter nachzudenken, getrieben von der Angst, bewegten sich meine Beine ganz automatisch. Die Welt zog an mir vorbei, doch ich nahm sie nicht wahr. Ich lief so schnell mich meine Beine tragen konnten und stoppte erst, als ich vor Erschöpfung fast zusammenbrach. Ich schloss die Augen, nur für einen Moment. In meinem Traum entkam ich dieser Welt. Ich sah seltsame Dinge, doch alles wirkte so friedlich. Ich schien hoch über allem zu schweben. Frei und dem Himmel so nah.
Beim Erwachen hielt dieses Gefühl des Friedens an. Hinzu kam wieder diese Stimme, die mich dieses Mal noch deutlicher aufforderte, weiter zu gehen. Ich schaute mich um. Ein Baum war tatsächlich nicht mehr weit. Ich kroch dorthin und begann den Anstieg. Es war anstrengend und mit jedem Meter merkte ich, wie mein Körper schwächer wurde, doch ich wollte nun nicht mehr aufgeben. Nicht jetzt, wo ich so kurz vorm Ziel war. Der erste dickere Ast musste dann aber reichen. Weiter schaffte ich es nicht. Die Aussicht von dort verschlug mir die Sprache. Wie groß doch diese Welt war. Und mit einem Mal wurde mir bewusst, wie klein ich eigentlich war. Wenn die Welt doch von hier oben schon so anders aussah, was gab es denn dann noch alles zu sehen? In mir drin kam der Wunsch auf, noch weiter blicken zu können. Ich wollte wissen, was hinter den Wiesen und Feldern lag. Was kam da wohl am Ende des Horizonts? Ein unbekanntes Gefühl ergriff mich und Wärme breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Die Stimme war wieder da. Ich verstand nicht, was sie sagte, doch es musste etwas Gutes sein. Ich merkte, wie sich etwas an meinem Körper zu verändern begann. Unbewusst begann ich, eine feste Schutzhülle um mich zu formen, diese war verbunden mit dem Baum und umschloss mich ganz eng. Ich fühlte mich mit einem Mal so sicher und geborgen. Die Anstrengung der letzten Stunden war verschwunden und ich war einfach erschöpft. Zufrieden schloss ich die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf.
Als mich die Stimme weckte, hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich konnte nicht sagen, ob ich Stunden, Tage oder sogar Wochen geschlafen hatte. In meinem Traum hatte ich mir vorzustellen versucht, wie die Welt aussah und was es dort noch alles zu sehen geben könnte. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto eingeengter begann ich mich zu fühlen. Irgendetwas musste mit mir geschehen sein. Ich fühlte mich nun von der Enge nicht mehr geborgen, sondern bedrängt. Mit immer stärkeren Tritten begann ich, die dünne und doch zugleich starke Wand zu durchbrechen. Erst war es nur ein ganz kleiner Riss, doch als daraus ein größeres Loch wurde, strich mir die frische Luft um die Nase. Fast so, als würde ich zum ersten Mal riechen, nahm ich den Duft nach blühenden Gräsern wahr. Mit einem Mal schien ich die Welt ganz anders wahrzunehmen. Ich drückte mich mit aller Kraft in Richtung des Loches und zuckte kurz zusammen, als ein kühler Windhauch meine Beine streichelte.
Nun erst nahm ich auch die Veränderungen an meinem Körper wahr. Ich traute meinen Augen kaum. Mein Körper hatte seine ursprüngliche Form verloren, stattdessen hatte ich wunderschöne breite Flügel, deren Pracht ich mit jedem Ausstrecken mehr bewunderte. Es dauerte eine Weile, bis ich realisiert hatte, was dies bedeutete. Nun war ich frei, konnte meiner eigenen Stimme folgen und selbst sehen, was am Ende des Horizontes lag.
Der Wind umwehte mich, als wolle er mir zurufen: „Wag es und begleite mich auf meiner Reise um die Welt.“ Etwas nervös, aber neugierig, breitete ich meine Flügel aus. Der Wind umspielte meine Fühler. Kurz schloss ich meine Augen, öffnete sie wieder und stieß mich mit meinen Beinen vom Ast ab. Erst fiel ich, dann spürte ich, wie der Wind unter meinen Flügeln wie ein Kissen lag, das mich locker in der Luft trug. Ohne darüber nachzudenken, bewegte ich meine Flügel und stieg höher zur Sonne hinauf. Voller Glück flatterte ich mal nach links, ließ mich etwas zu Boden sinken, flog nach rechts und kam mit kräftigen Flügelschlägen weiter voran. Von hier sah die Welt ganz anders aus, doch ich erkannte die Wege, die ich kurz zuvor noch hatte gehen müssen.
All das war es wert gewesen, da hatte meine innere Stimme recht gehabt.
Gudrun Theis-Bärwolff
Der kleine Drache Golo mit dem langen Drachenschwanz freute sich auf Weihnachten. Er lebte mit seinen Eltern am Rande des Drachenwaldes in einer schönen, warmen Wohnhöhle. Erst war es Herbst geworden und nun kam der Winter. Draußen war es kalt und nass, drinnen in der Höhle warm und gemütlich.
Tag für Tag wurde Golos Vorfreude auf Drachenweihnachten ein Stückchen größer. Alle Drachenkinder mochten das Weihnachtsfest. Jedes Jahr gab es einen großen Tannenbaum, den die Eltern aus dem Drachenwald holten und in der warmen Wohnhöhle aufstellten. Golo half beim Aufhängen der Weihnachtskugeln und Lichterketten. Natürlich freute er sich auch auf die Drachengeschenke, die es an Weihnachten gab. Doch den Tannenbaum liebte er am meisten.
Dieses Jahr war er besonders groß und hatte dicht sitzende Zweige. Am Weihnachtsabend schaute der kleine Drache, nachdem er seine Geschenke ausgepackt hatte, glücklich träumend in die Weihnachtslichter am Baum und schmiegte sein Gesicht an sein weiches Kuscheltuch.
Da bewegte sich auf einmal etwas in den dichten Zweigen des Tannenbaums und es kam doch tatsächlich ein Schmetterling hervor. Er flog taumelnd hinunter auf den Boden. Dort blieb er erst einmal sitzen und zitterte ein wenig. Dann klappte er seine Flügel auseinander und wunderschöne, bunte Farben kamen zum Vorschein. Sie sahen wie Augen auf den Flügeln aus, ja wie vier Augenflecken. Golo staunte. Wie war der schöne Schmetterling in die Höhle gekommen? Und wie war das im Winter möglich, wenn doch eigentlich keine Schmetterlinge fliegen?
„Dieser wunderschöne kleine Kerl hat sein Winterversteck wohl in den dichten Zweigen von unserem Tannenbaum gesucht, als der Baum noch im Wald stand,“ meinte der Drachenpapa. „Der Schmetterling heißt Tagpfauenauge,“ sagte die Drachenmama.
„Das ist aber ein komischer Name,“ fand Golo. „So nennt man ihn wegen der Farbflecken auf seinen Flügeln, die wie Augen aussehen. Solche hat auch der Pfauenvogel auf seinen Federn,“ erklärte die Mama weiter. So ganz verstand Golo das noch nicht, aber der Name „Tagpfauenauge“ gefiel ihm.
Er wollte mit dem Schmetterling spielen, aber der taumelte nur müde und matt über den Boden. „Der arme Kerl ist aus seiner Winterstarre aufgewacht, weil es hier in unserer Höhle so warm ist,“ erklärte die Drachenmama. „Aber er braucht seine Winterruhe, sonst hat er im Frühling nicht genug Kraft zum Fliegen und Weiterleben. In unserer Höhle ist es zu warm für ihn und draußen ist es ohne ein gutes Versteck zu kalt für ihn.“ Das verstand Golo nun wieder gut.
Und so holten Mama und Papa eine Pappschachtel als neues Winterversteck für den Schmetterling und machten ein Loch hinein, damit er Luft bekommen und im Frühling rausfliegen konnte. Dann setzten sie den Schmetterling ganz vorsichtig in die Schachtel und Golo trug sie in den kühlen Drachenschuppen. Er war etwas traurig, weil er das Tagpfauenauge nicht mit in sein warmes Kinderzimmer nehmen durfte, aber auch froh, dass er nun weiterleben konnte. „Kleiner, kleiner Schmetterling, ruh dich bis zum Frühling aus. Ich pass auf, dass dir nichts passiert,“ flüsterte Golo. In der Nacht träumte er von den Lichtern am Weihnachtsbaum und von den Geschenken. Und dann flog der wunderschöne Schmetterling durch seine Träume.
Jeden Tag dachte der kleine Drache nun an den schönen, bunten Schmetterling in der Schachtel im Drachenschuppen. Im Frühling würde er munter werden und aus der Schachtel und dem Schuppen zur großen Blumenwiese fliegen. „Mama, wann kommt der Frühling?“ fragte Golo immer wieder. „Das dauert noch eine Zeit,“ antwortete die Drachenmama. „Woher weiß ich denn, wann der Frühling kommt?“ „Das merken wir Drachen in unseren Flügeln und Beinen, die wollen dann draußen fliegen und tanzen,“ meinte die Mama. „Bestimmt?“ „Bestimmt, kleiner Golo, das merkst du!“
Das Warten auf den Frühling fiel Golo schwer. Aber zum Glück konnte man als Drachenkind im Winter auch noch anderes machen, als nur auf den Frühling zu warten, etwa Schlittenfahren, wenn es geschneit hatte, Schneedrachen bauen und etwas Feuer spucken und dann zusehen, wie der Schnee, auf den man das Feuer spuckte, anfing zu schmelzen. Wenn es nicht schneite, sondern regnete, machte Pfützenspringen großen Spaß. Doch abends dachte der kleine Drache wieder an den Schmetterling und nachts träumte er davon, wie dieser über die Wiese fliegen und tanzen würde. Ach, war das Warten schwer!
Eines Tages konnte Golo es nicht mehr aushalten. Er musste unbedingt nach dem Schmetterling schauen, nur mal gucken, kurz gucken, ein kleines bisschen gucken. Und einmal mit ihm sprechen. Oder spielen. Vielleicht war der Schmetterling traurig! Er war ja ganz allein. Oder war er schon davon geflogen? Ganz leise schlich er in den Schuppen, schloss die Tür hinter sich, holte die Schachtel, die oben auf einem Stapel alter Kisten lag und dann überlegte er einen Augenblick. Sollte er die Schachtel aufmachen? Er hielt sie an sein Ohr. Es war nichts zu hören. Ob der Schmetterling überhaupt noch lebte?
Golo öffnete vorsichtig, ganz vorsichtig die Pappschachtel. Und darin saß der kleine Schmetterling. Er rührte sich nicht. In Golos Drachenbauch wuchs die Angst. Er wackelte ein wenig an der Schachtel. Da zitterte der kleine Schmetterling etwas und seufzte ganz leise. „Lass mich noch weiter ausruhen, lieber Golo, ich bin so müde, so sehr müde. Warte bis zum Frühling,“ flüsterte er. „Dann wirst du sehen, wie ich losfliege. Ich fliege nicht ohne dich! Versprochen!“ „Versprochen,“ flüsterte auch Golo. Er schloss die Schachtel rasch wieder und stellte sie vorsichtig zurück auf die Kisten. Und so wartete der kleine Drache weiter auf den Frühling.
Langsam wurde es draußen wärmer, die Sonne schien länger und an den Bäumen sah man die ersten kleinen grünen Blätter wachsen. Und da merkte Golo ein Kribbeln in seinen Flügeln und Beinen, die fliegen und tanzen wollten. „Mama, Papa! Der Frühling ist da!“ rief er und rannte zum Schuppen. Er nahm die Schachtel und hörte ein leises Schaben. Vorsichtig machte er sie auf und der kleine Schmetterling blinzelte ins Licht. Langsam krabbelte er auf Golos Drachentatze, dann versuchte er zu fliegen. Anfangs schwankte er hin und her, dann aber flog er los zu den ersten Blumen, die schon blühten und dufteten. Es sah aus, als ob er in der Luft tanzen würde. Eilig trank er dann mit seinem langen, dünnen Rüssel etwas Nektar aus einer Blüte und löschte seinen Winterdurst.
„Danke, lieber kleiner Drache für die Winterwohnung in der Schachtel! Du hast mir damit das Leben gerettet,“ sagte er leise. Die Dracheneltern schauten zu. Aber nur Golo verstand, was der Schmetterling mit dem besonderen Namen sagte, denn bloß Drachenkinder verstehen die Schmetterlingssprache. Das Tagpfauenauge tanzte von Blüte zu Blüte. Es traf andere Schmetterlinge. Zusammen schwebten sie weiter.
Der Wind wehte leicht, die Sonne wärmte und der kleine Drache Golo verspürte ein großes, warmes Glück in seinem Drachenherzen. Ihm war so leicht zumute, als wäre auch er ein Schmetterling. Golos Beine fingen an zu tanzen und der kleine Drache holte mit seinem langen Drachenschwanz Schwung und stieg in die Luft, er schwebte hin und her und es sah fast so aus wie das Tanzen des Schmetterlings. Ja, Golo tanzte in der Luft wie ein Riesenschmetterling, eben ein Drachenschmetterling. Und das Tagpfauenauge winkte ihm mit einem Flügel zu.
Wenn Golo in diesem Frühling über die Blumenwiese lief, sah er jedes Mal viele Schmetterlinge, die aus den Blüten Nektar tranken und hin und her schwebten und tanzten. Und manchmal, ganz manchmal zwinkerte ihm einer von den Schmetterlingen, nämlich ein Tagpfauenauge zu und schien dabei zu lächeln.
Für Felix und Matteo, Michel und Lotta
Claudia Liersch
Es war einmal eine kleine Nixe namens Line. Sie lebte mit ihren Eltern, dem großen, starken Triton Pra und seiner Frau, der wunderschönen und allerliebsten Nixe Gianduja im großen, warmen Schokoladenozean, gleich hinter den sieben großen Weltmeeren. Gerne schwamm Line durch den warmen Kakao, der ihre Schuppen geschmeidig machte und sie sanft und samtig einhüllte. Hier fühlte sie sich geborgen und daheim.
Immer wenn Line aus dem Ozean auftauchte, sah sie große, fluffige Sahneberge. Sie wusste, dass sie, wenn die Zeit gekommen wäre und sie alle Berge erobert hätte, auf einen wunderbaren Schatz stoßen würde. Allerdings musste Line noch warten, lernen und älter werden, bis sie ihre Ausflüge zu den sieben Sahnebergen machen durfte. Jeder Berg würde eine spezielle Prüfung von ihr verlangen. Solange sie noch Zeit hatte, genoss sie es, den Schlieren, die ihre Ausläufer in dem warmen Schokoladenmeer bildeten, hinunter zu rutschen.
Damit es ihr nicht langweilig wurde, spielte der Wächterfisch Geduld mit ihr. Er schaffte es fast immer, ihr Temperament zu zähmen und in die richtigen Bahnen zu leiten. Dazu spann Geduld Fäden, an denen sie im Schokoladenmeer entlang schwammen und darauf balancierten, was mit einem Fischschwanz wirklich eine Herausforderung darstellte. So sorgte Geduld für Abwechslung und Line hoffte immer wieder, dass seine Fäden nicht rissen. Der große, schwergewichtige Wächterfisch Perseverantia sah das mit Wohlwollen. Als Zeichen seiner Freude darüber hob er tatsächlich sein Augenlid und senkte es gemächlich wieder.
Als es dann soweit war, dass Line alleine zum ersten fluffigen Sahneberg schwimmen durfte, begleiteten sie die Wächterfische Liebe und Geborgenheit auf ihrem Weg. Der Sahneberg war leicht zu erobern, keine Ecken, keine Kanten, so dass Line sich auch nicht verletzen konnte. Die Aufgabe war es, hoch zu klettern, dabei nicht abzurutschen und einen Schokoladenstein auf die Spitze zu legen. Obwohl die frechen, kleinen Mobbingfische hinter vorgehaltener Flosse kicherten, erledigte sie ihre Aufgabe souverän. Ignor Anz, ein Krebs und Spielkamerad von Line aus Kindertagen, grinste dabei.
Manchmal fiel es Pra und Gianduja schwer, ihre kleine Line losschwimmen zu lassen. Doch Vertrauen, der sanfteste aller Wächterfische, vor dem auch die bösen Raubfische aus den Weltmeeren Respekt hatten, beruhigte sie. Auch Line liebte Vertrauen. Sie wusste, dass er sie immer sicher zu Pra und Gianduja zurückbringen würde, egal wie schwerwiegend ihr Problem auch wäre.
Ab und zu tauchte Temptation auf. Ein Fisch, der sich wie ein Wächterfisch tarnte. Temptation schmeichelte Line und es war schwer, ihm zu widerstehen. Er hatte glitzernde Schuppen, war eloquent und gab sich gebildet. Dennoch wusste Line, dass schon einige Nixen seine Opfer geworden waren. Manche wurden krank durch seine speziellen Gewürze. Andere waren verschwunden und wurden selbst von den Beschützertritonen nie mehr wiedergefunden. Die Wächterfische bestärkten Line darin, die Flosse von Temptation zu lassen, was nicht einfach für sie war.
Line verfolgte weiter ihren Weg. Um einen Tunnel durch den gewaltigen dritten Sahneberg zu buddeln, brauchte Line die Hilfe ihrer Freundinnen. Denn nur durch gleichzeitiges Graben und Aufbringen von Agar-Agar, den sie in den Algengärten ernten konnten, schafften es die Nixen gemeinsam, diese Teamaufgabe zu lösen. Über das Gelingen und dass Line eine Stufe weiter war, freuten sich die Seejungfrauen so, dass sie die ganze Nacht feierten, tanzten und weißen Schokoladenlikör tranken.
Der fünfte Berg war ebenfalls eine Herausforderung. Er war der Wohnort von Ferrero, einem alten, einst berühmten Triton. Um auf diesen Berg zu kommen musste Line die Zuneigung des unzufriedenen, immer nörgelnden Nix gewinnen. Line war jedoch immer freundlich zu ihm gewesen. Sie hatte ihm als Kind schon manche Leckerei vorbeigebracht und mit ihm auch „Nix ärgere Dich nicht“ gespielt. Ferrero hatte ihr währenddessen von der guten, alten Zeit erzählt und Line war immer eine aufmerksame Zuhörerin gewesen. Später, als sie älter wurde, debattierte sie häufiger mit ihm. Sie konfrontierte ihn damit, dass seine Erinnerungen und das Wissen, das ihr in der Schule gelehrt wurde, nicht immer übereinstimmten. Deshalb war der alte Triton manches Mal verärgert. Doch Ferrero warf ihr keinen Rocher in den Weg und unterstützte sie beim fünften Berg.
Während Line eine Aufgabe nach der anderen löste, wirbelte ihre Mama Gewürze wie Zimt und Vanille aus ihrem Garten auf. So lockte sie immer wieder die Wächterfische Liebe und Geborgenheit an, damit sie Line begleiteten.
Bei der letzten und schwersten Aufgabe musste Line mit dem Fischschwanz Nüsse zu feinem Nougat stampfen. Dabei waren ihre Augen verbunden. Plötzlich tauchten auch die Wächterfische Zuversicht und Hoffnung auf, so dass Line sich voller Selbstbewusstsein und Tatendrang ihrer Aufgabe annahm. Selbst die Angst, dabei ihren wunderschönen, gleichmäßig schillernden Fischschwanz zu verletzen, hinderte sie nicht, den Arbeitsauftrag gewissenhaft durchzuführen.
Dann kam der Tag. Line hatte es mit mentaler Unterstützung der Wächterfische, ihren Freunden und Eltern geschafft, die Expeditionen durchzuhalten. Alle sieben Sahneberge waren erobert und Line stand nun vor dem Eingang der Schatzhöhle. Die Freiheit und Schönheit des Lebens warteten auf sie. Pra rechts von ihr und Gianduja links. Neben Pra wuchs die Schokokoralle Stolz und neben Gianduja eine Zufriedenheit. Beide hatten sie gepflanzt, als Line geboren wurde. Sie hatten sich zu prächtigen Gewächsen entwickelt.
Klopfenden Herzens sagte Gianduja zu Line: „Meine kleine Line, nun ist es soweit, du bist erwachsen genug, um alleine die Welt zu erobern. Pra und ich sind mit unseren Wächterfischen immer in Gedanken bei Dir. Wir sind für dich da und freuen uns jederzeit sehr, wenn dein Weg dich wieder zurück zu uns führt!“
Pra blinzelte verstohlen eine Träne weg, drückte seine Line fest, wünschte ihr viel Glück und ließ sie schwimmen.
Bild: Claudia Liersch, Nixe
Mareike Bräuer
Verdutzt blickte Lira in den dunklen Brunnen hinunter, aus dem nur noch ein Echo des Gluckerns emporstieg, das entstanden war, als ihre kleine Schwester die Wasseroberfläche durchbrochen hatte. Da war das Kind doch glatt in den Brunnen gefallen! Yara konnte gerade einmal über den steinigen Rand des Brunnens gucken, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Doch nur eine Sekunde hatte Lira nicht aufgepasst, da hatte ihre kleine Schwester den kupfernen Eimer, den die beiden immer zum Wasserholen nutzten, umgedreht, war hinaufgeklettert und hatte sich nur ein kleeiiines bisschen zu weit über den Rand gelehnt. Schwupps, war sie hineingefallen.
Auch Lira schaute über die Steine hinweg in die düstere Tiefe des Brunnen, vorsichtig, um es ihrer Schwester nicht gleichzutun und versuchte, Yaras Konturen in der Dunkelheit auszumachen. Die nassen Wände des tiefen Brunnens glitzerten ein wenig im Licht, das die späte Nachmittagssonne mit ihren Strahlen hinein lenkte, doch am Grund des Brunnens ließ sich nichts erkennen.
„Yara?“, rief Lira fragend hinein. „Yara? Yara? Yara...“, warfen die steinernen Wände ihr fragend zurück. Lira wartete noch einen Moment. Es gluckerte wieder.
„Yara, jetzt mach da unten keinen Mist!“, schalt sie genervt ihre kleine Schwester. „Mist, Mist, Mist!“, hallte es aus dem Brunnen wider.
Schließlich band Lira den zerbeulten Eimer an das Seil, das an der Kurbel über dem Brunnen hing und warf ihn in die Tiefe hinab. Dong!
„Aua!“, tönte es von unten. „Pass doch auf, du!“ Triumphierend grinste Lira in sich hinein. Dann war Yara also letztendlich doch wieder an der Oberfläche aufgetaucht.
„Füll den Eimer und halt dich dann daran fest!“, befahl sie ihrer Schwester von oben aus, „ich zieh dich hoch, du Wassernixe!“
Anstatt einer Antwort hörte sie es tief unten im Brunnen platschen und nach einer Minute ruckelte es oben am Seil. Mit den Füßen fest in den Boden gestemmt, begann Lira, mit der Kurbel den Eimer – und hoffentlich auch ihre kleine Schwester – wieder nach oben zu befördern. Sie ächzte unter der Anstrengung. Hätte ihre Schwester sich vor drei Jahren überlegt, einen Ausflug in den Brunnen zu unternehmen, wäre dies definitiv noch leichter gegangen.
Nach einer Ewigkeit – Lira brannte sich diese Formulierung ins Gehirn ein, damit sie es ihrer Schwester noch lange vorhalten konnte – blockierte die Kurbel und zeigte so an, dass es nichts mehr zum Kurbeln gab. Der Eimer war wieder oben angekommen, baumelte vor Liras Nase und ihre putzmuntere kleine Schwester gleich mit.
Vergnügt hin und her schaukelnd lachte Yara sie an, ihre grün geschuppte Schwanzflosse glitzerte dabei farbenfroh im Sonnenlicht.
Tadelnd blickte Lira zu der Unruhestifterin.
„Du weißt doch, wie sehr Mama es hasst, wenn wir uns außerhalb der eigenen Gewässer verwandeln! Wenn ich das erzähle, gibt es bestimmt wieder Ärger!“
Missmutig schaute Yara auf den Boden. Die glitzernden Schuppen ihrer Flosse brachen langsam wieder auseinander und ließen ihre Beine zum Vorschein kommen. Vorsichtig kletterte sie zurück auf die Mauer und sprang schließlich zu Lira herab.
„Ich wollte doch nur mal sehen, ob da tatsächlich noch der alte Wassergeist drin lebt, von dem Großmutter immer erzählt. Aber da war nichts! Nicht mal ein gammeliges Fischskelett oder so. Nur grüner Wassermoder an den Wänden! Bähh!“
Erschöpft seufzte Lira. Na, zum Glück musste sie ihrer Mutter jetzt nicht auch noch erklären, wieso ihre Schwester darauf bestand, einen kleinen grimmigen Fischmann mit nach Hause zu nehmen. Mit einem Blick nach oben bemerkte sie, dass die Sonne noch ein wenig in ihrer Position am Himmel ausharrte, bevor sie sich vom Mond ablösen ließ, der schon in den Startlöchern – hinter dem alten Moor im Osten – auf seinen Einsatz wartete. Sie fasste mit einer Hand nach dem Eimer und streckte die andere ihrer Schwester entgegen, welche diese versöhnlich griff.
„Komm! Wenn wir uns jetzt beeilen, kommen wir noch rechtzeitig, ohne das große Donnerwetter über uns ergehen lassen zu müssen!“
Ihre Mutter, die normalerweise kein Wässerchen trüben konnte, mochte es nämlich gar nicht, wenn man zu spät zum Abendessen kam.
Renate Wunderer
Traurig stand ich am Fenster
sah Kummergespenster
Da landete vor mir ein Fesselballon
Ich stieg in den Korb
und flog auf und davon
Kein Kummer fand zu meinem Glück
an diesem Tag zu mir zurück
er hat sich nämlich
ungelogen
bei meiner Verfolgung
verärgert
verflogen
Foto: Renate Wunderer, Der Fesselballon
Ruth Finckh
Und dann haben sie mir ausgerechnet Bonheur weggenommen! Sie ist die schönste von meinen Enten – schneeweiß mit schwarzen Flügelspitzen. Gestutzt natürlich, damit sie nicht fliegen kann. Aber trotzdem wunderschön! Und klug und freundlich ist sie auch. Gerade deshalb haben sie sie geschnappt. Aber nicht zum Braten, das hätte ich ja noch verstanden. Für die Tafel des Königs ist kein Tier zu schade und hier in Versailles weiß man, den besten Entenbraten der Welt zu bereiten, darauf sind wir alle stolz.
Nein – es war für dieses verrückte Abenteuer mit dem Luftschiff. Wer hat denn sowas je gehört? Aber ich bin ja nur ein Mädchen und hab nichts zu entscheiden. Trotzdem frag ich mich schon, was wohl die heilige Mutter Kirche dazu sagt. Es kann doch nicht recht sein, wenn man so frech an die himmlischen Gefilde heransegelt, durch die Wolken und alles.
Jedenfalls – sie haben sie mir weggenommen und ein paar Tage später war es soweit. Am Freitag, dem 19. September 1783. Notieren Sie das genau, Herr Geschichtsschreiber! Unglaubliches ist geschehen. Ich war damals dabei und Sie nicht, obwohl ich nur eine arme Gänsemagd bin. Aber die brauchten mich, weil Bonheur keine Ruhe gab, als sie sie in den Korb setzen wollten. Ich hab nur kurz mit ihr gesprochen, da war alles in Ordnung.
Und dann kamen alle möglichen verrückten Leute, voran diese beiden Brüder aus Annonay, Monsieur Josephe und Monsieur Etienne. Alle Straßen waren voller Volk und Seine Majestät Louis XVI persönlich beobachtete die Ereignisse von Seiner purpurnen Loge aus.
Der Korb mit Bonheur wurde in einen größeren Korb gestellt, dazu kamen Kisten mit einem Hahn und einem Hammel. Man stelle sich das vor! Mein armes Entchen fing wieder an zu schreien. Aber jetzt konnte ich ihr nicht mehr helfen. Als nächstes brachten sie einen riesigen blauen Sack, der mit goldenen Girlanden bemalt war. Herrlich sah das aus, obwohl das Ganze doch so eine Todsünde war! Hochmut, Sie wissen schon. Der Sack wurde mit heißem Rauch aus einem Ofen gefüllt und es stank fürchterlich.