Aura - Lena Obscuritas - E-Book

Aura E-Book

Lena Obscuritas

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Beschreibung

Aura möchte von dieser Welt verschwinden. Als der Froschkönig sie in den Zauberwald ruft, scheint sie dieses Ziel endlich erreicht zu haben. Doch ihre Reise wird schnell zum Albtraum, da der Froschkönig ihr nach mehr als nur dem Leben trachtet. Die Kreaturen des Waldes schließen sich zusammen, um Aura zu retten und eine alte Schuld zu begleichen. Schon bald tobt ein Krieg, aus dem nur einer als Sieger hervorgehen kann.

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Aura

Lena Obscuritas

Kapitel 1

 

Das Rasseln der Samen

 

Die rote Mohnblume in meiner Hand war wie ein Geschenk. Ein Geschenk an ein Leben, das ich nicht mehr führte. Meine Finger waren blutig. War ich es, die sie so blutig biss? Mir fehlte dazu jede Erinnerung. Dieses eine Mal zählte das Jetzt und in diesem Jetzt betrachtete ich das Blut, das an meinem Arm herunterlief. Mit ihm verschwand ein Teil von mir.

Ich erstarrte. Hatte ich nicht Schritte gehört? Ich war nicht mehr allein in meinem Gefängnis. Waren die anderen eingesperrt, wie ich selbst, oder waren sie meine Wärter? Ich wusste es nicht mehr. Was, wenn ich die falschen Menschen hasste?

Dann hasse dich selbst.

Du hast es verdient, unglücklich zu sein.

Die Stimmen drangen laut und bösartig an mein Ohr. Sie machten mir Angst und ich verkroch mich in die dunkelste Ecke meines Dachbodens. Überall riefen sie nach mir.

 

Ich hielt mir die Ohren zu, dämpfte die Laute, die sich wie glühende Schürhaken in mein Trommelfell bohrten. Sie verschwanden nie, wie die eine Frage, die über mein ganzes Leben bestimmte: Warum machte ich alles falsch?

Sie pulsierte in meinem Herzen, in meiner Seele. Tag und Nacht hörte ich ihr Knurren, wie sie die Zähne fletschte, um den Zweifel in mich zu schlagen.

Aura …

Sie rief mich wieder, die eine unter den Stimmen, die mich nie enttäuschte.

Aura, komm zu mir, du musst diesen Schmerz nicht länger ertragen.

Was konnte ich schon tun? Sie war meine treueste Gefährtin; die Stimme der Verzückung, die auf jede Enttäuschung folgte. So folgte auch ich ihrem Ruf.

Auf allen Vieren kroch ich aus der Ecke, auf die andere Seite meines Zimmers. Dort saß eine Puppe in einem blauen Kleid. Die weißen Plastikhaare waren verfilzt, ich musste sie wieder kämmen. Nur nicht jetzt; jetzt hatte ich Besseres zu tun.

Sanft schob ich die Puppe beiseite, legte mein dunkelstes Geheimnis frei. Wie kam es, dass es nie entdeckt wurde? Die Blindheit der Menschen erstreckte sich eben nur auf hässliche Dinge. Keiner konnte das Messer sehen oder die Wunden, die es schlug.

Willkommen zurück.

„Du hast mir gefehlt“, flüsterte ich der Klinge zu, während ich meinen Ärmel zurückschlug.

Als ich das Messer in die Hand nahm, blitzte es silbern im Licht. Fast, als hätte ich ihm auch gefehlt.

Ich holte tief Luft, dann setzte ich den ersten Schnitt. Ich schloss meine Augen, als das Blut langsam meinen Arm herunterlief. Schmerz zog sich durch meinen Körper und die Stimmen verstummten. Sie hatten ihr blutiges Opfer gefordert und bekommen, für den Moment waren sie befriedigt.

Ich griff nach einem Taschentuch und wischte das Blut von meinem Arm. Danach nahm ich meine Puppe auf den Schoß und strich ihr durch das Haar, entknotete es, so gut es ging, mit den Fingern. Ich hörte erst auf, als mein Wecker klingelte.

Wie immer waren meine Eltern schon wach; ich konnte sie im unteren Geschoss des Hauses herumlaufen hören. Ich stand auf und schaltete den Wecker aus; ich schlief bereits seit Tagen nicht mehr. Die Puppe setzte ich auf mein Bett, während ich mich anzog. Ich streckte meine Arme aus, um zu prüfen, ob mein Oberteil lang genug war, um alle Narben zu verstecken. Nichts war zu sehen. Zufrieden klebte ich ein Pflaster auf den frischen Schnitt, falls er wieder anfing zu bluten. Dann hob ich die Puppe hoch und verließ mein Zimmer.

Mein Vater saß bereits am Frühstückstisch. Ich murmelte ein „Guten Morgen“ und setzte mich auf meinen Platz. Die Puppe bettete ich in meinem Schoß. Ich nahm ein Brot und bestrich es langsam mit Butter, mehr wollte ich nicht essen. Eigentlich wollte ich lieber gar nichts essen und so knabberte ich nervös an meinen Fingernägeln.

„Aura, hör bitte auf, an deinen Nägeln zu kauen“, ermahnte meine Mutter mich.

Ich zuckte zusammen. Ich hatte sie gar nicht kommen hören. Sie stellte eine Kanne Kaffee auf den Tisch und setzte sich zu uns, während ich schnell die Hand sinken ließ, als hätte ich mich verbrannt. Dabei hatte meine Mutter den Blick schon wieder abgewandt.

Sie sah müde aus. Ich betrachtete sie genauer und fragte mich, ob ich einmal aussehen würde wie sie. Mittlerweile trug sie ihre blonden Haare kurz, früher waren sie lang gewesen. Ihre Mundwinkel waren nach unten gezogen und ein grimmiger Zug hatte sich um ihren Mund gelegt, der nicht mehr verschwinden wollte. Mehr als einmal fragte ich mich, ob es an mir lag.

Ich legte die Hand auf meine Porzellanpuppe. Ihre weißen Haare waren gekämmt und ordentlich, über mein eigenes Haar dagegen war ich nur flüchtig gefahren. Ich empfand meine blonden Haare nicht als schön, so wie ich nichts an meinem Körper als schön empfand.

„Findest du nicht, du wirst langsam zu alt für diese Puppe?“

Meine Mutter trank aus ihrer Tasse und sah mich über den Rand hinweg durchdringend an.

Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Sie wandte den Blick wieder von mir ab, doch ich wusste genau, was sie dachte:

Etwas stimmt nicht mit meiner Tochter, ein fünfzehn Jahre altes Mädchen sollte nicht mehr mit Puppen spielen. Aber ich habe keine Zeit, mich auch noch darum zu kümmern. Ich muss mich schon um so vieles kümmern, da kann ich mich nicht mit jeder Kleinigkeit, die in diesem Haus passiert, beschäftigen.

Ich zog das Bündel in meinem Schoß näher an mich heran. Die Puppe begleitete mich seit meinem fünften Geburtstag; Asena hatte ich sie genannt.

„Lass sie doch, Liebes“, sagte da mein Vater.

Der Blick, den meine Mutter ihm zuwarf, sprach Bände. In Gedanken hörte ich sie schon Vorwürfe machen, dass mein Vater sie nie unterstützte. Wäre ich nicht am Tisch, würde sie es vermutlich sogar laut aussprechen. Sie vergaßen immer, dass ich sie auch hören konnte, wenn ich auf meinem Zimmer war. Ich biss stumm in mein Brot.

Ich hasse sie, dachte ich.

Sie hassen dich auch, flüsterten die Stimmen zurück.

Kaum war der Gedanke in meinem Gehirn angelangt, fühlte ich mich schuldig. Sie waren meine Eltern, ich durfte sie nicht hassen. Ich umklammerte Asenas Hand, bis meine Knöchel weiß wurden und die Kälte drang beruhigend unter meine Haut. Ich wollte, dass es endlich endete.

Dann beende es doch.

Wer würde schon um dich weinen?

Wortlos stand ich auf und verließ den Esstisch. Meine Eltern reagierten nicht, ich war für sie wieder unsichtbar geworden. Meine Schattenseiten wollten sie nicht sehen, hatten keinen Kopf für meine Probleme. Ich verstand sie. Es war eine schwierige Zeit für sie, meine Probleme waren dabei nicht von Belang.

Die Badezimmertür fiel krachend hinter mir ins Schloss. Der Spiegel reflektierte meine Tränen und ich biss die Zähne zusammen, sodass kein Laut über meine Lippen drang. Sie durften mich nicht hören, sollten nicht wissen, wie schlecht es mir ging. Das war ich ihnen schuldig, schließlich hatten sie ihre eigene Last zu tragen.

„Hab einen schönen Tag!“, rief mein Vater mir durch die Tür zu.

Ich lächelte durch meine Tränen hindurch. „Danke, du auch!“

Das Lächeln verschwand augenblicklich wieder von meinem Gesicht. Wenn er nur wüsste …

Er weiß aber nicht, also halt den Mund.

Sie würden doch sowieso nichts tun.

Wozu auch?

Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Nein, niemand würde etwas tun. Ich musste allein damit fertig werden. Mit einer Hand suchte ich in einer der Schubladen nach einer Nagelschere.

Du weißt, wie es geht, Aura. Schneide den Schmerz aus dir heraus.

„Schneide das Böse aus dir heraus“, flüsterte ich.

Und das tat ich dann auch.

 

 

An welchem Tag hatte alles angefangen? Diese Frage stellte ich mir oft, fand jedoch nie eine Antwort. Wie wichtig war es schon, Anfang und Ende zu kennen? Manchmal hatte ich das Bedürfnis, mich zu öffnen und mein blutrotes Geheimnis mit der Welt zu teilen. Jedes Mal schreckte ich wieder zurück. Ich hatte Angst vor den Menschen, vor den schmerzvollen Dingen, die sie mit Worten verrichten konnten. Manchmal hasste ich sie alle, wollte um mich schlagen, bis Blut wie feiner Regen fiel.

Als ich in die Schule kam, setzte ich eine Maske auf, ein Lächeln, das nie von meinem Gesicht wich. Es saß wie eine zweite Haut. Ich versteckte mich selbst vor meinen Freunden. Auch ihnen traute ich nicht mehr.

Wenn ich mich bewegte, konnte ich den frischen Schnitt auf meinem Körper fühlen. Ich genoss es; für den Moment hatte ich genug gelitten.

Trotz meiner Vorsicht erntete ich misstrauische Blicke. Ich trug immer lange Ärmel, auch im Sportunterricht. Dann steckten meine Klassenkameraden ihre Köpfe zusammen, deuteten auf mich und flüsterten. Sie wussten, dass ich etwas zu verbergen hatte, aber niemand sprach mich darauf an. Es machte mir nichts aus; ich war es gewohnt, allein zu sein.

Als ich endlich nach Hause ging, hatte ein herrliches Gefühl der Gleichgültigkeit mich erfasst. Die Sonne schien und ich ließ mir Zeit, genoss die Natur um mich herum.

Wir wohnten etwas abseits in einem alten Bauernhaus und ich lief verträumt den Feldweg entlang. Tagträume waren alles, was mir noch blieb.

Langsam ging ich an dem See vorbei, der auf unserem Grundstück lag. Ich liebte diesen See, der so dunkel und tief war. Was wohl auf seinem Grund lag? Ob er auch Geheimnisse hütete?

Als ich die Tür aufschloss, kam mir meine Mutter bereits entgegen.

„Da bist du ja endlich, Aura. Ich muss doch weg! Hast du das etwa vergessen?“

Ich zuckte nur vage mit den Schultern, denn ich hatte es nicht vergessen.

„Na und? Du hättest doch schon gehen können, ohne auf mich zu warten“, meinte ich.

„Das sieht dir wieder ähnlich“, sagte meine Mutter, ohne auf mich einzugehen, „immer trödelst du. Deine Schwester wäre bestimmt schnurstracks nach Hause gekommen.“

Ich biss die Zähne fest zusammen und schwieg. Ich hasste es, wenn sie mich mit meiner Schwester verglich.

„Essen steht auf dem Herd, ich komme abends wieder.“

Mit diesen Worten fiel die Tür ins Schloss und ich war allein. Ich sah in der Küche nach dem Essen. Eigentlich hatte ich nichts gegen die Kochkünste meiner Mutter, aber …

Iss das nicht.

Wenn du das jetzt isst, wirst du nur dick.

Sofort waren die Stimmen zurück. Hatten sie tatsächlich recht? War es wichtig, wie viel ich wog, wenn ich sowieso nicht geliebt wurde?

Du würdest geliebt werden, wenn du besser aussehen würdest.

Angewidert ließ ich die Töpfe auf dem Herd stehen. Ich wollte mich nicht immer hassen müssen.

Auf dem Dachboden warf ich mich auf mein Bett. Ich dachte an meine Mutter, die gerade auf dem Weg zu meiner Schwester war.

Seit fast zwei Monaten war sie im Krankenhaus. Nachdem sie mit einer Alkoholvergiftung eingeliefert worden war, wurde sie in eine Psychiatrie überwiesen.

Ich fuhr mit der Hand unter mein Shirt und strich über die Narben auf meiner Bauchdecke. Nur wegen ihr hatte ich damit angefangen, nur wegen meiner Schwester war ich unsichtbar geworden.

Lügnerin!

Die Stimmen brüllten so laut in mein Ohr, dass ich zusammenzuckte.

Sie trifft keine Schuld, rede gefälligst nicht so.

Du bist schuld daran, du allein!

Du wolltest in den Abgrund fallen, jetzt hast du deinen Willen.

Du denkst immer nur an dich.

Arrogantes Miststück!

Seufzend rollte ich mich zusammen und umarmte mich selbst. Die Stimmen hatten ja Recht, niemand traf die Schuld an meinen Problemen. Ich suchte nur einen Sündenbock, um mir das Leben zu erleichtern. Ich war ein schrecklicher Mensch.

Später, als ich über meinen Hausaufgaben saß, hörte ich meinen Vater nach Hause kommen, nur wenig später auch meine Mutter. Ich blieb in meinem Zimmer und versuchte, mich auf die Aufgaben zu konzentrieren. Sie riefen nicht nach mir, doch mittlerweile störte mich das nicht mehr. So wich ich wenigstens dem Essen aus.

Als es dunkel wurde, lag ich auf dem Fußboden und starrte an die Decke.

Meine Mutter hatte kurz nach mir gesehen, um von ihrem Besuch bei meiner Schwester zu erzählen. Ich hatte schweigend zugehört. Morgen wollte sie wieder zu ihr fahren.

„Soll ich ihr etwas von dir ausrichten?“, fragte sie.

Ich verneinte und meine Mutter seufzte enttäuscht.

„Du solltest wenigstens versuchen, dich mit ihr zu verstehen.“

Dann ging sie. Seitdem lag ich auf dem Boden und streichelte wie vorhin die Narben auf meiner Bauchdecke. Vielleicht gehörte ich auch in die Psychiatrie, weggesperrt vom Rest der Welt.

Regen begann gegen mein Fenster zu prasseln und Blitze erhellten in unregelmäßigen Abständen das Zimmer. Ich stand auf und ging zu meinem Wandspiegel. Der Spiegel zeigte ein fratzenhaftes Abbild meiner Selbst. Hass floss heiß und zäh wie Lava durch meinen Körper, wärmte mich stärker, als jedes Feuer auf der Erde es könnte.

Ich griff nach dem Strauß Mohnblumen auf meinem Schminktisch. Langsam verteilte ich die roten Blütenblätter um mich herum; sie waren der schöne Gegensatz zu meiner schwarzen Seele. Gedankenverloren riss ich der nächsten Mohnblume den Kopf ab. Das reißende Geräusch gefiel mir, es gab mir ein Gefühl von Befriedigung. Fühlte sich so der Himmel an? Als ich das abgerissene Köpfchen an mein Ohr hielt, hörte ich die Samen darin rasseln. Das Rasseln meiner Hölle.

Regen trommelte nun stetig auf das Dach. Das Geräusch tanzte einen finsteren Reigen mit dem Rasseln der Samen.

Ich öffnete das Fenster und ließ den Regen herein. Einmal mehr fragte ich mich, ob mich ein Sturz aus dem Fenster umbringen würde, doch ich wagte nicht, es auszuprobieren.

Du bist leer, du hast keine Seele.

Keine Persönlichkeit.

In der Ferne lag der See. Blitze zuckten über den Himmel, tauchten die Welt in scharfe Kontraste. Rief er nach mir?

Er lauert auf dich.

Geh zu ihm.

Ich zog mich wieder zurück, in das sichere Gefängnis meines Dachbodens. Mein weißes Oberteil klebte nass und durchsichtig an meinem Körper, genauso wie der gleichfarbige Rock, der die Konturen meines Körpers wie Kreide nachzeichnete.

Jede Hilfe kommt zu spät.

Geh auf den Grund des Sees.

Mit einer Selbstsicherheit, die ich nie zuvor verspürt hatte, verließ ich mein Gefängnis und ging leise durch die Flure. Von meinen Eltern war nichts zu hören, sie schliefen wohl bereits. Barfuß schlich ich die Treppe hinunter; das alte Holz knarrte leise. Bevor ich die Haustür öffnete, lauschte ich noch einmal in die Stille. Nichts …. Ich zog die Tür auf und ging nach draußen.

Der See lag ruhig da, eine blanke Oberfläche, die im Stakkato der Blitze schimmerte. Ich verspürte weder vor dem Sturm noch vor der Kälte Angst.

Anesa hielt ich fest umklammert. Mein ganzes Leben begleitete mich die Puppe nun schon, auch an meinem Ende sollte sie teilhaben. Sie lächelte ihr stummes Puppenlächeln; ich weinte in leiser Qual.

Das schwarze Wasser wurde an ein steiniges Ufer gespült und umschmeichelte meine nackten Füße. Die Schultern meines Oberteils rutschten an meinem Arm herunter, bauschten die langen Ärmel auf. Langsam saugte sich mein Rock mit Wasser voll. Ich ließ es geschehen, das Wasser sollte schließlich mein neues Zuhause sein.

So ist es gut, Aura.

Komm zu mir, tief und tiefer.

Die Stimme der Verzückung, immer war sie bei mir. Sie tat mir nie weh, eröffnete mir stattdessen neue Welten. Sie streichelte meine geschundene Seele, liebte mich. Das einzige Wesen auf der Welt, das mich liebte.

Dich kann ja auch niemand lieben.

Getroffen taumelte ich ein paar Schritte zurück. Wieso schwiegen die Stimmen nicht, jetzt, da sie ihren Willen hatten?

Das gaben mir die Stimmen zur Antwort:

Du bist undankbar.

Du willst sie einfach verlassen, nach allem was sie für dich getan haben.

Schuldbewusst drehte ich mich um und blickte zurück. Unser Bauernhof lag im Dunkeln. Meine Eltern schliefen tief und nichtsahnend; sie hatten schließlich noch nie mein Leid gesehen.

Warum willst du sie noch mehr belasten?

Machen sie nicht schon genug durch?

Zeig gefälligst etwas mehr Verständnis.

Sie haben es nicht leicht, lass sie nicht alleine.

Ich hielt mir die Ohren zu und krümmte mich gequält zusammen. Ich presste meine Augenlider fest aufeinander, sperrte das helle Licht der Blitze aus. Plötzlich hatte ich Angst, dabei hasste ich es doch, vor mir selbst Angst zu haben.

Langsam ließ ich mich zu Boden sinken. Mit den Armen umschlang ich meine Knie, umarmte mich selbst, wo es doch sonst niemand tat. Anesa lag an meiner Brust. Kälte durchdrang meine Haut, erfüllte meinen ganzen Körper. Der Regen benetzte mich von oben, das Wasser des Sees ließ mich von unten erfrieren.

Leide für alles, woran du schuld bist.

Ich schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, ließ meinen zerwühlten Kopf auf meinen Armen Ruhe finden. Hier wollte ich letztendlich vergehen, bis die Stimmen schwiegen und ich im Nichts der Zeit erfror.

„Was tust du hier?“

Das heisere Flüstern riss mich aus meiner Trance. Mein Kopf zuckte nach oben, ließ die Welt in einem matten Schleier aus schwarz und grau verschwimmen.

Vor mir kniete ein junger Mann. Blaue Augen leuchteten mir aus einem weißen Gesicht entgegen, Wassertropfen flossen über die wächserne Haut in sein langes schwarzes Haar hinein. Ich wusste nicht, wo er herkam, darum wagte ich auch nicht, ihm zu antworten. Vielleicht war er auch nur eine Halluzination meines Geistes.

„Was tust du hier?“, wiederholte er, diesmal eindringlicher.

Er legte den Kopf schief und sah mich neugierig an. Ich starrte zurück, konnte kaum glauben, was meine Augen sahen. Hatten die Stimmen nun doch ein Gesicht, das Gesicht eines Engels? Konnte es nicht hässlich und bösartig wie sie selbst sein?

Der Engel hockte auf seinen Fersen. Seine Füße waren nackt, die Kleidung hing in nassen Fetzen von seinem Körper. Jeder Knochen zeichnete sich deutlich unter der Haut ab und verlieh ihm die morbide Schönheit eines Skeletts.

„Du bist noch gar nicht tot.“

Es klang anklagend und gekränkt. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein“, bestätigte ich.

„Du hast eine schöne Stimme“, sagte er sehnsüchtig. „Ich habe schon so lange mit niemandem mehr gesprochen.“

„Wieso tust du es dann jetzt?“, wollte ich wissen.

Ich war fasziniert von der Trauer in seinen Augen, die der meinen so sehr ähnelte.

„Ich dachte, du stirbst“, antwortete er. Seine Gasflammen-Augen schienen auf den Grund meiner Seele zu sehen. „Ich wollte, dass du stirbst.“

Auch er wünscht dir Verderben.

Auch er hasst dich.

Ich senkte den Blick. Wahrscheinlich hatten die Stimmen Recht und ich war es nicht wert, geliebt zu werden.

„Dann wäre ich endlich nicht mehr allein gewesen“, fügte er da hinzu.

Ich sah ihn überrascht an.

Hasste er mich etwa doch nicht? Er erwiderte meinen Blick.

„Bist du tot?“, fragte ich und ein bitteres Lächeln huschte über seine Züge.

„Es ist schon lange her“, erzählte er, „aber ich bin hier in diesem See gestorben. Jedenfalls glaube ich das.“ Er runzelte die Stirn. „Nein, da war noch etwas anderes, ein verzauberter Ort, der mein Herz gefangen und mich getötet hat.“

Der Engel sprach weiter, wundervolle Musik schien zwischen seinen Lippen hervorzusprudeln: Die Geschichte seiner Seele.

 

 

Gedankenverloren saß Stefan auf seinem Fensterbrett. Von seinem Zimmer aus konnte er auf den See sehen. Oft saß er stundenlang einfach nur da und starrte auf die spiegelblanke Oberfläche. Wie sehr er diesen See doch liebte!

Erneut war er dankbar, dass seine Eltern diesen alten Bauernhof gekauft hatten, auf dessen Grundstück der See lag. Er spürte, dass das stille Wasser gut für ihn war.

Leise Musik drang an sein Ohr, seine Schwester übte gerade Klavier. Vor wenigen Tagen war sie fünfzehn geworden, zwei Jahre jünger als Stefan. Er lächelte liebevoll. Er liebte seine kleine Schwester, so wie er auch seine Eltern liebte. Nur sich selbst hasste er.

Niemand trug die Schuld daran, jedenfalls nicht in seinen Augen. Er hatte es so gewollt und jetzt konnte er nicht mehr damit aufhören. Einen Anfang konnte er schon längst nicht mehr benennen. Eines Tages war er aufgewacht mit dem Dämon in seinem Kopf. Seitdem hasste er sich, empfand nichts als Ekel, wenn er sich selbst betrachtete.

Stefan stand von seinem Fensterplatz auf und stellte sich vor den großen Wandspiegel. Seine Augen waren eingefallen und düster, seit Tagen hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Er hatte Wichtigeres zu tun, trieb exzessiv Sport und verweigerte feste Nahrung. Alles nur, um perfekt zu sein. Doch nichts half.

Er fühlte sich wertlos in dieser Welt, war nicht perfekt genug für sich selbst und erst recht nicht für seine Eltern. Obwohl sie nie etwas Derartiges sagten; sie standen immer hinter ihm und seiner Schwester. Genau deswegen wollte er, dass sie stolz auf ihn waren. Doch er hatte versagt; es war besser, alledem ein Ende zu setzen. Er musste nur noch warten, bis es dunkel war.

Als die Nacht hereinbrach, senkte sich die Dunkelheit auch über Stefan. Er verließ das alte Bauernhaus und überquerte die taufeuchte Wiese. Der See lag ruhig vor ihm und Stefans Herz lief über vor Zärtlichkeit. Das Wasser war sein Zuhause, ein Teil seiner Seele und bald würde es auch seine letzte Ruhestätte sein.

Stefan trug für diesen Anlass nur eine schwarze Hose und ein gleichfarbiges Oberteil. Auf Schuhe hatte er verzichtet, er wollte spüren, wie es zu Ende ging, jedes Steinchen, jede Alge, jeden Fisch, der an seinem verwesenden Körper knabberte.

Langsam und feierlich schritt Stefan in das Wasser. Sofort griffen die Dämonen nach ihm, bissen sich in seinen Beinen fest, schlugen ihre Klauen in ihn und zogen ihn tiefer in die Dunkelheit. Stefan legte lächelnd den Kopf in den Nacken. Am Ende durfte er also doch noch Glück verspüren.

Da sah er eine Gestalt, die aus dem Wasser ragte und ihn zu sich heran winkte. Er watete zu ihr, bezaubert von der milchig leuchtenden Schönheit. Je näher er kam, desto mehr versank die Gestalt, zog sich in das tiefe Wasser zurück. Stefan ging trotzdem weiter, bis er die zierliche Gestalt erkennen konnte.

Die Nixe wartete bereits auf ihn. Sie lächelte Stefan an, das rote Haar loderte wie flüssiges Feuer um ihren Kopf herum. Kleine weiße Hände streckten sich ihm entgegen. Erleichtert ergriff er sie, dankbar für die Gnade, die ihm zuteilwurde. Da entblößte die Nixe ihre nadelspitzen Zähne und zog ihn in die eiskalte Tiefe.

 

 

„Ich war nicht sofort tot“, beendete Stefan seine Erzählung. Seine blauen Augen starrten ins Leere. „Bevor ich wieder in meinen See zurückkehren konnte, musste ich erst eine Prüfung bestehen. Nun haben sich alle Splitter meines Herzens wieder zusammengesetzt. Sieh her.“ Er knöpfte sein Hemd auf und entblößte seine Brust. Ein Schloss war darin eingelassen, umgeben von einem massiven Kupferherz, das reich mit Schnörkeln und Blumen verziert war. „Als es wieder ganz wurde, habe ich mir geschworen, es niemandem mehr zu schenken.“

Ich saß im Schneidersitz im Wasser und streichelte Anesas Haar.

„Warum bist du deiner Familie nicht gefolgt?“, fragte ich. „Du hättest bei ihnen bleiben können.“

Stefan schien nachzudenken, bevor er antwortete: „Zuerst wollte ich das, aber dann bist du gekommen. Du warst oft an diesem Ufer. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, habe gespürt, dass du bist wie ich. Ich habe nur darauf gewartet, dass du zu mir kommst.“

Ich nestelte an Anesas blauem Kleid herum. Ihr Kopf war geneigt, als hätte sie dem toten Jungen zugehört. Hatte ich sie tatsächlich in diese Position gebracht?

„Heißt das, ich könnte bei dir leben, hier auf dem Grund des Sees?“, fragte ich schüchtern.

Ich rechnete mit einer Zurückweisung, als Stefan mich eine Weile nachdenklich ansah. Dann trat ein träumerischer Ausdruck auf sein Gesicht.

„Ich würde mich sehr freuen, wenn du bei mir bleiben würdest“, sagte er. „Die weiße Dame auf dem Grund des Sees, das würde mir gefallen.“

Ich errötete und senkte den Blick wieder auf meine Puppe. Anesa hatte mir ihr Porzellangesicht zugewandt und ich runzelte verwundert die Stirn.

„Aber ich fürchte, sie hat andere Pläne für dich“, fügte Stefan da hinzu. Ich sah ihn wieder an. Seine Miene hatte sich verdunkelt.

„Ich verstehe nicht“, sagte ich.

„Anesa“, antwortete mein toter Prinz. „Sie hat andere Pläne für dich.“

Ich sah verwirrt auf die Puppe hinunter.

Es sah aus, als hätte sich ihr Gesicht verändert, als sähe sie mich böse an. Was hatte ich getan?

Nichts, kleine Lady. Ich könnte nie böse auf dich sein.

Ich zuckte zusammen. Die Stimme in meinem Kopf war sanft und liebevoll. Wärme floss wie Blut durch Anesas Körper; ich konnte es durch meine Hände deutlich fühlen.

Geh wieder ins Haus, lass dich nicht von den Nixen verführen. Sie wirken Zauber, an die Stefan sich nicht erinnern kann. Kindlich und rein hallte ihre Stimme in meinem Ohr wider. Ich war für einen Moment vollkommen gefangen in einem surrealen Gefühl der Sicherheit.

Ich hob meinen Kopf, wollte dem toten Jungen sagen, dass ich wiederkommen würde und wir eine neue Existenz im Wasser beginnen würden. Doch er war verschwunden. Ich sah mich in der Dunkelheit um, konnte aber nichts erkennen. Stefan hatte sich einfach in Luft aufgelöst.

Als ich enttäuscht den Kopf hängen ließ, ertönte plötzlich sein heiseres Flüstern: „Ich warte hier auf dich.“

Mit der nächsten Welle, die meinen Körper umschmeichelte, wurde ein Gegenstand angespült. Ich hob ihn auf, reinigte ihn von Schlamm und Algen. Glücklich presste ich den kleinen Schlüssel fest an mein Herz.

„Ich werde zu dir kommen“, flüsterte ich. „Das verspreche ich.“

Kapitel 2

 

Der Froschkönig

 

Hinter Bergen und tausend Bäumen, fern von neugierigen Menschenaugen, lag ein schillerndes Königreich. Ein Wald, so wunderschön, als entstammte er einem prächtigen Märchenbuch. Denn er war verzaubert und wurde nur durch einen hauchdünnen Schleier von der Welt der Menschen getrennt.

Jedem Stamm gehörte ein Reich. So gab es die Vögel, die von den Baumkronen aus den Wald bewachten, den Bären, der in einer steinernen Höhle die Berge hielt, die Wölfe, die seit jeher im Schatten lebten und den Froschkönig, der den düsteren Tümpel regierte.

Es gab Menschen, die sich dorthin verirrten. Der Wald rief nach ihnen, nach den verlorenen Seelen, die in ihrer eigenen Welt nichts als Leid erfuhren. Die Menschen kamen, weil sie den Tod gesucht hatten, nannten diesen Ort in ihrer beschränkten Sicht der Dinge "friedlich". Es waren die Tiere, die es besser wussten.

 

Die Vögel blieben in den Bäumen, der Bär in den Bergen und die Wölfe im Schatten, um dem Tümpel nicht zu nahe zu kommen, denn dem Froschkönig kam niemand in die Quere. Sein riesiges Schloss lag in den Sümpfen, war immer in braunem Schlamm gehüllt. Nur der dunkle Turm ragte wie ein mahnender Zeigefinger aus dem Wasser. Schreckliche Dinge geschahen dort; Schreie hallten durch die Räume, warfen ihr Echo zurück in den Wald. Über allem saß der Froschkönig und lachte.

Der Herrscher des Tümpels spielte gerne und ließ sich dafür von seinen Bediensteten geeignetes Spielzeug heranschaffen. Früher oder später kam jeder lebensmüde Mensch zu ihm.

Was es war, das ihm daran Freude bereitete? Ihr würdet meinen Worten keinen Glauben schenken, ihr müsstet es erleben. Doch dazu müsstet ihr in einen Abgrund stürzen, aus dem es kein Entrinnen mehr gäbe.

 

 

Der Froschkönig saß gelangweilt auf seinem Thron, in der linken Hand die goldene Kugel, die ihm als Zepter diente. Seine schwarzen Augen blickten seelenlos die Schar seiner zitternden Bediensteten an.

„Ich langweile mich.“

Das dumpfe Grollen seiner Stimme rollte über die ängstlichen Kröten hinweg wie eine Flutwelle.

„Wir suchen bereits nach einem geeigneten Spielzeug, mein Herr“, ertönte es aus der grauen Masse.

„Das dauert mir zu lange.“

„Die Menschen sind blind geworden für unsere Welt. Niemand verirrt sich mehr hierher“, quietschte eine ängstliche Stimme.

Die Faust des Königs fuhr auf die Armlehne seines Throns hernieder. Wie eine Einheit wich die graue Masse seiner Diener zurück.

„Dann tragt Sorge dafür, dass sie es wieder tun!“, brüllte der König. „Schwärmt in ihrer Welt aus, vergiftet ihren Verstand, wie ihr es schon so viele Male getan habt.“

Ohne ein weiteres Wort zogen die Kröten ab. Der Froschkönig lehnte sich entspannt in seinem Thron zurück. Er würde bekommen, was er wollte, so wie er es immer tat.

In groteskem Gegensatz zu seiner abscheulichen Erscheinung, erhob er sich elegant und durchquerte den Thronsaal. Es gelüstete ihn zwar nach einem neuen Spielzeug, doch bis es soweit war, würde er sich mit seinem alten zufriedengeben müssen.

Er stieg die Stufen zum dunklen Turm nach oben, der einzige Ort in seinem Schloss, der über der Wasseroberfläche lag. Dort bewahrte er nämlich seine Spielzeuge auf, bis sie ihn irgendwann langweilten und entsorgt wurden.

Den letzten Menschen, den seine Diener gefangen hatten, hatte er erstaunlich lange behalten. Der Junge war ein gutes Spielzeug, unberührt und mit dem Gesicht eines Engels. Er war robust, leidensfähig, doch auch Engel waren irgendwann verbraucht. Heute war es soweit.

Die Tür öffnete sich mit einem fürchterlichen Quietschen und der Froschkönig betrat einen winzigen runden Raum. Ein Fenster ließ nur spärliches Sonnenlicht herein. Es gab kein Mobiliar, nur Holzständer, die mit Folterinstrumenten bestückt waren. Nichts ließ die Anwesenheit eines Menschen erahnen, aber der Junge war hier, lag rücklings auf dem kalten Steinboden. Er rührte sich nicht, als der König näher kam. War er geschwächt oder bereits tot?

Über die weiße Haut des Jungen zogen sich hässliche, rote Narben. Der Froschkönig sah seine Untertanen gerne leiden und am liebsten war er selbst es, der ihnen Leid zufügte.

Beim Anblick des nackten Jungen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Was wollte er heute mit seinem Spielzeug anstellen? Tausend verschiedene Möglichkeiten den Jungen zu quälen, wirbelten dem König durch den Kopf. Er war geübt darin, seine Opfer in den kalten Strudel aus Angst, Schmerz und Lust zu ziehen. Es gefiel ihm, wenn sie zitterten, sich ihrer Ekstase hingeben wollten, aber sich kurz vor dem Sprung wieder zurückzogen. Weil sie wussten, dass es falsch war, was sie fühlten; in dieser schrecklichen Situation sollten sie nichts Gutes fühlen.

So sehr der Froschkönig dieses Schauspiel auch genoss, heute wollte er noch weitergehen. Heute wollte er zerstören.

Seine Klaue legte sich sanft auf die Schulter des Jungen, der aus dem Schlaf fuhr, als wäre er geschlagen worden. Die blonden Haare, die ihm mittlerweile weit über die Schultern fielen, hingen ihm schmutzig und zerzaust ins Gesicht. Die Augen waren aufgerissen und voller Angst.

„Nein, bitte nicht.“

Seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Lange hatte der Junge geschrien, doch niemand war ihm zu Hilfe gekommen. Als der Albtraum immer weiterging, hatte er aufgehört zu sprechen. All die Worte, all das Flehen, hatten ihn nicht aus dieser Hölle befreit. Als er jetzt seine eigene Stimme wieder hörte, klang sie selbst in seinen Ohren fremd.

„Nein?“, fragte der Froschkönig beinahe liebevoll. „Du bittest mich um etwas?“

„Ja, mein Herr, ich flehe Euch an, wenn Ihr das wünscht“, keuchte der Junge, als der Mund des Königs an seinen Oberkörper hinunter fuhr.

Die Klaue des Königs legte sich um den dünnen Hals des Kindes. „Du hast etwas vergessen, mein Liebling. Ich erhöre keine Bittsteller.“

Als die Finger des Froschkönigs begannen, ihm die Luft abzuschnüren, schlossen sich seine Lippen um den kleinen Penis des Jungen. Der Junge atmete zischend ein, bog den Rücken durch und biss sich auf die Zunge, um nicht zu schreien. Gefangen in den beiden schrecklichen Zuständen von Angst und Lust, konnte er die Tränen nicht zurückhalten.

Den Froschkönig hinderte das nicht an seinen Taten. Wie all die Male davor genoss er es. So geschah Unaussprechliches, während das Kind weinte und der König lachte.

Als alles getan war, sah der Froschkönig auf sein regloses Spielzeug hinab. Der Junge starrte mit glasigen Augen an die Steindecke, der kleine Brustkorb hob und senkte sich rasch.

„Schade, dass es zu Ende gehen muss, nicht wahr?“, fragte der Froschkönig und ging gelassen auf sein Spielzeug zu. „Doch alles auf der Welt hat ein Ende.“ Er ging neben dem Jungen in die Hocke. „Aber ich nicht“, hauchte der Froschkönig in sein Ohr.

Der Atem des Jungen ging schneller. Er war nicht bereit zu kämpfen, hatte sein Herz bereits für die andere Seite geöffnet. Er wünschte sich, vom Tod in die Arme geschlossen zu werden, wie von seiner längst vergessenen Mutter.

Als der Froschkönig ihm mit der Klinge erst unter das eine, dann unter das andere Auge fuhr, sog der Junge scharf die Luft ein. Doch Schmerzen konnten ihm nichts mehr anhaben. Sie gehörten zur diesseitigen Welt, einer Welt, die er bereit war zu verlassen.

Der Froschkönig schob sich beide Augäpfel in den Mund, kaute genüsslich darauf herum. So würde er weitermachen, bis nichts mehr von seinem Spielzeug übrig war. Und der Junge trat endlich seine Heimreise an.

 

 

Von den Abscheulichkeiten, die sich in dem Tümpel abspielten, bekam Kasma nur wenig mit. Der junge Wolf hatte gelernt, sich von dort fernzuhalten. Es gingen schreckliche Dinge an diesem Ort vor sich. Der Tyrann, der über das Wasser herrschte, duldete keine Fremden in seiner Nähe. Bis heute setzte Kasma nicht eine Pfote in die Nähe des Tümpels.

Er war ein Einzelgänger und sah in der Gesellschaft anderer nur wenig Sinn. Artgenossen langweilten ihn schnell, daher suchte er sein Heil in der Flucht. Seine Streifzüge führten ihn immer wieder durch den gesamten Zauberwald.

Seit einigen Tagen zog allerdings eine unsichtbare Macht an ihm. Er hörte ein Rufen, das im Einklang mit seinem Herzen schlug. Er sollte seine Heimat verlassen, doch Kasma wagte es nicht. Die Welt der Menschen war grausam, deswegen verirrten sich schließlich so viele von ihnen in den Zauberwald. Er hatte gelernt, diese Welt zu fürchten.

Trotz seiner Zweifel, saß Kasma oft stundenlang am Rand des Waldes, starrte auf das weite Feld und lauschte dem Ruf. Er fragte sich, wessen Stimme ihn rief. Sie war so süß, so verlockend und gleichzeitig so weit entfernt. Wie gern würde er dem Ruf Folge leisten! Am Horizont konnte er seltsame Gebilde ausmachen. Dies, so hatte man ihm erzählt, waren die Höhlen der Menschen. Sie lagen so nah an einem verzauberten Reich und waren gleichzeitig so blind für diese Schönheit.

Kasmas Ohren zuckten, als ein Ast im Unterholz brach. Sofort war er wieder auf den Pfoten, duckte sich drohend, bereit zum Sprung. Ein silberner Wolf kam hervor, in dessen gelben Augen sich das Licht brach. Es war Kasmas Bruder Dorian, der ihn besorgt ansah.

„Deine Besessenheit ist nicht gut für dich“, sagte er.

Kasma setzte sich wieder auf seine Hinterläufe und schüttelte kurz seinen schwarzen Pelz. „Ich bin nicht besessen“, widersprach er. „Ich bin neugierig.“

„Das macht keinen großen Unterschied, wenn du vergisst, wer du bist“, behauptete Dorian.

Kasma schnaubte. „Du verstehst es nur nicht, Dorian.“

Sein Bruder nickte. „Da hast du Recht, ich verstehe dich nicht. Wie kannst du diesem Ruf Beachtung schenken? Wie kannst du begehren, was uns zerstört?“

„Seit ewigen Zeiten hat sich kein Mensch mehr in unsere Gefilde gewagt“, hielt Kasma dagegen. „Wie kannst du behaupten, dass sie uns zerstören?“

„Die Menschen roden Wälder, das weißt du ebenso gut wie ich. Was glaubst du, wird passieren, wenn sie den Zauberwald entdecken?“, fragte Dorian. „Wir werden vertrieben, gejagt und getötet . Vielleicht ist unser Ende näher, als du denkst; Veränderungen liegen in der Luft, ich spüre es.“

Kasmas Nackenfell sträubte sich. Sein Bruder würde Recht behalten, seit seiner Geburt besaß er die Gabe, Dinge zu sehen. Doch selbst diese Warnung konnte Kasmas Herz nicht erreichen. Die Stimme, die nach ihm rief, übertönte alles. Selbst seine Vernunft.

„Du wirst blindlings in dein Verderben stürzen“, prophezeite Dorian.

„Dann sei es so“, sagte Kasma.

Sein Bruder wich verblüfft einen Schritt zurück. „Es ist dir egal?“

„Ich will wissen, wer mich ruft. Ich höre diese Stimme, selbst noch in meinem Schlaf. Wer ist es? Wessen Stimme ist süß und bitter zugleich?“

Dorian schüttelte sich. „Du wirst wahnsinnig.“

Kasma hörte ihn nicht mehr; die Stimme war lauter geworden. Wie gebannt sah er zu den Menschensiedlungen hinüber. Kam von dort der unheimliche Ruf?

Kasma schloss seine gelben Augen und hörte genauer hin. Die Stimme schien zu singen, von Blut und Verderben.

„Ich muss wissen, wer es ist“, murmelte er. „Ich muss es einfach.“

„Selbst, wenn es deinen Untergang bedeutet?“

Kasma sah ihn mit wilder Entschlossenheit in den Augen an. „Das Ende ist nichts weiter als ein neuer Beginn.“

„Wenn dies dein Wille ist“, gab Dorian sich geschlagen.

„Der Moment ist noch nicht gekommen“, erwiderte Kasma. „Spürst du das denn nicht?“

Ein bitteres Lächeln huschte über Dorians Züge, entblößte für einen Moment seine Reißzähne. „Ich weiß viel, Kasma. Trotzdem bin ich blind geworden für die Taten meines eigenen Bruders.“

Sie schwiegen. Keiner der beiden bemerkte den kleinen grauen Schatten, der sich in einem Busch versteckt hielt. Vorsichtig schlich er näher, wich wieder zurück, als er genug gehört hatte. Die Kröte lächelte süffisant; diese Nachricht musste sofort dem König überbracht werden.

 

 

„Was sagst du da?“

Erneut donnerte die Stimme des Froschkönigs durch die Säle, diesmal schwang freudige Erwartung in ihr mit.

„Ja, mein Herr, Ihr habt richtig gehört.“ Die Kröte verbeugte sich tief. „Ein Rufen lockt die Wölfe aus den Schatten. Die Menschen kehren zurück.“

„Ha!“ Der Froschkönig lachte schadenfroh auf. „Ich habe euch doch gesagt, es ist nur eine Frage der Zeit. Diese Narren! Sie werden sich in der Dunkelheit des Tümpels verirren, wie sie es seit ewigen Zeiten tun.“

„Die Sehnsucht in dem Ruf ist stark, mein Herrscher und Gebieter“, sagte die Kröte kriecherisch. „Ihr könnt den Mensch bestimmt erreichen.“

Der Froschkönig besaß die Macht, Menschen in den Selbstmord zu treiben. Sie erhörten seinen Ruf, wurden von ihm magisch angezogen. So kam er an seine neuen Spielzeuge.

Er erhob sich und stieg erneut in den dunklen Turm hinauf.

---ENDE DER LESEPROBE---