Aus Liebe loslassen - Monica Wesolowska - E-Book

Aus Liebe loslassen E-Book

Monica Wesolowska

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Beschreibung

Nur wenige Stunden nach der Geburt stellt sich heraus, dass der kleine Silvan eine schwere Hirnschädigung hat. Wird er je selbstständig schlucken, laufen oder ein Bewusstsein entwickeln? Die Eltern ringen mit ihrer Verzweiflung und ihrer Hoffnung für dieses Neugeborene. Was bedeutet es, ein Kind zu lieben, das nur mithilfe der Apparatemedizin am Leben gehalten wird? Die Liebe zu ihrem Sohn führt die Eltern schließlich zu einer schweren Entscheidung: Das Baby soll nicht länger künstlich ernährt werden, sondern sterben dürfen. Eine außergewöhnliche und berührende Geschichte über Mut und Verzweiflung, über Entscheidungen an den Grenzen des Lebens und ganz besonders über eine Liebe bis in den Tod - und darüber hinaus.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Monica Wesolowska

Aus Liebe loslassen

Das kurze Leben meines kleinen SohnesAus dem Amerikanischen von Thomas Bertram

Patmos Verlag

INHALT

Die Geburt

Eine Liebesgeschichte

Es leichter machen

Ich hoffe, Mama stirbt

Der Abgrund

Panforte

Eine Entscheidung

Firmung

Destillation

Wir steigen hinauf

Von A. zu Z.

Kämpfe

Mögliche Reue

Silvan im Arm halten

Teller zerbrechen

Perlen

Die Zukunft

Auf Wiedersehen, kleiner Mann

Die erste Nacht

Spannungsprüfer

Das Wunderbaby

Freude

Kreise schließen sich

Vogeljungen

Mutation

Krähen

Sonnenschein

Danksagung

Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat,egal wie es ausgeht.VÁCLAV HAVELYou’ll never know, dear,How much I love you.Please don’t take my Silvan away. (Nie wirst du erfahren, mein Lieber,Wie sehr ich dich liebe.Bitte nimm mir meinen Silvan nicht weg.)VARIATION ÜBER „YOU ARE MY SUNSHINE“

Die Geburt

Am Morgen klingelt das Telefon neben meinem Krankenhausbett. Nachdem ich mir den Schweiß und das Blut der gestrigen Geburt von der Haut geschrubbt habe, trete ich aus der Dusche und schiebe mich an David vorbei, um meinen alten Morgenrock anzuziehen und zum Telefon zu gehen. Ich mache mir keine Sorgen. Ich erwarte eine weitere Freundin, eine Verwandte, mehr Gratulationen, die zu der plötzlichen Freude über mein Baby passen – einem gesunden, nach der vollen Schwangerschaftszeit geborenen Jungen, der mich im Säuglingssaal erwartet –, aber die Frau am anderen Ende der Leitung ist eine Fremde.

»Hallo, meine Liebe«, sagt die Fremde mit heiserer, beruhigender Stimme. Sie ruft aus einem anderen Krankenhaus an. Sie sagt, sie müsse vor der Verlegung irgendeine Verwirrung wegen der Schreibweise meines Namens ausräumen. Auch ich bin verwirrt. Als ich der Fremden sage, dass ich sie nicht verstehe, dass ich gerade den Flur hinuntergehen wollte, um mein Baby abzuholen, weil es Zeit zum Stillen sei, sagt sie: »Es tut mir so leid, dass ich diejenige bin, die es Ihnen sagen muss, meine Liebe.«

Bei diesen vagen, aber liebevollen Worten beginnt der verzückte Glanz der Mutterschaft, der mich seit Silvans Geburt umgeben hat, zu verblassen.

Ein Krankenwagen wartet; die Verlegung erfolgt jede Minute. Noch immer in meinen schmutzigen Morgenrock gehüllt, mit dem steifen Fleck von getrocknetem Blut auf dem Rücken, öffne ich die Badezimmertür und versuche David, der im Dampf unsichtbar ist, die Worte der Fremden zu übermitteln. Obwohl David mir seit der Geburt gesagt hat, dass er sich Sorgen wegen Silvan macht, habe ich sie samt und sonders als bloße Symptome frischer Vaterschaft abgetan.

»Warte auf mich«, sagt er und dreht das Wasser ab, aber das ist ausgeschlossen.

Wenn ich könnte, würde ich zu meinem Sohn fliegen.

Im Säuglingssaal umstehen fünf Leute Silvans Bett. Fünf Leute. Dies ist das »Transportteam« des Babys, wie jemand es ausdrückt – zwei Leute, um das Bett zu rollen, einer als Fahrer und noch zwei »nur für den Fall«. Für welchen Fall? In der Nacht, als die Assistenzärztin mir Silvan weggenommen hatte, weil er einfach nicht aufhören wollte zu schreien – maunzte wie ein Kätzchen, piepte wie ein Vogel –, wollte sie nur, dass ich schlafe. Sie hatte versprochen, ihn zurückzubringen, wenn es Zeit zum Stillen wäre. Selbst als sie ein paar Stunden später zurückkam, um mir zu sagen, dass sie Silvan »zur Beobachtung« dabehalten müssten, hatte ich nicht angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich war zu müde, zu glücklich. Ich hatte mich aufgerafft und war hinunter zum Säuglingssaal gegangen, um zu sehen, weswegen sie besorgt waren – süße kleine, sich windende Fäuste, was sie Krampfanfälle nannten. Ich hatte Silvan im Arm gehalten, bis ich dachte, ich würde ohnmächtig werden, und war dann ohne ihn wieder ins Bett gegangen. Neun Monate der Hoffnung sind eine schwer abzulegende Gewohnheit. Außerdem, selbst wenn sie in der Nacht vielleicht recht hatten: Jetzt ist er vollkommen ruhig und schläft friedlich. Zumindest hat er aufgehört zu schreien. Das ist doch sicher ein gutes Zeichen?

»Es ist das Phenobarbital«, sagt man mir.

Ich würde gerne neben seinem Bett bleiben, bis sie ihn zum Krankenwagen fortgeschoben haben, aber eine Schwester kommt herein. Sie hat nach mir gesucht, ist herumgehetzt, um meine Entlassung zu koordinieren. Jetzt braucht sie mich wieder in meinem Zimmer für eine Untersuchung durch eine Hebamme. Es gibt Papierkram zu erledigen, eine Geburtsurkunde muss beantragt, Milch abgepumpt werden. Sie ist hilfsbereit, aber unfreundlich. »Wollen Sie nun entlassen werden oder nicht? Ich habe nämlich alles beisammen.«

Wieder in unserem Zimmer, ist inzwischen meine Mutter eingetroffen; ebenso Davids Vater und seine Stiefmutter. Während man sie auf den Flur führt, rufe ich ihnen zu, wie süß das Baby sei – »genau wie David«. Die Hebamme spreizt meine Beine. Die Milchpumpe trifft ein, und ich stecke eine Brust in jede Saughaube, unterschreibe eine Geburtsurkunde, stimme dem Hausbesuch einer Krankenschwester zu und was weiß ich noch, während die Milchpumpe ihre pochenden und saugenden Geräusche macht. Das Krankenhauspersonal sagt mir, es müsse mir nicht peinlich sein, sie hätten das alles schon früher gesehen. David durchsucht das Zimmer nach unseren Habseligkeiten, die er in Klarsichtbeutel stopft, die vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt worden sind. Das Einzige, was er nicht finden kann, ist das Ladegerät für sein Handy. Es scheint ein unbedeutendes Detail zu sein, zu unbedeutend, um es zu erwähnen, aber die Symbolik ist eindeutig: Bald wird es fast unmöglich sein, uns zu erreichen.

»Hallo, Mama, hallo, Papa.« Shelley, die Empfangsdame mit der heiseren Stimme, die zuvor angerufen hatte, begrüßt uns in ihrem Krankenhaus.

Ich bewege mich langsam, aber nicht mit Schmerzen. Das Letzte, was ich drüben in dem anderen Krankenhaus gemacht hatte, war, mir meine Schuhe anzuziehen, und meine Mutter hatte mich gelobt, weil ich so kurz nach der Geburt schon wieder auf einem Bein stehen konnte – als verfügte sie selbst nicht über solche mütterliche Stärke. Aber vielleicht bedeutet die Erholung meines Körpers ihr genauso viel wie mir: Es scheint, dass dies das mindeste ist, was ich verdiene, einen Körper, der sich rasch genug erholen kann, um sich um ein Baby zu kümmern, das geschädigt worden sein muss, als es in mir war. Denn obwohl alles um meine Schwangerschaft, die Wehen und die Entbindung herum gesegnet schien, ist offensichtlich irgendetwas schiefgegangen.

Shelly kommt um ihren Schalter herum, um uns zu umarmen.

Wir betreten ihre Welt, die Welt der Neonatal Intensive Care Unit (NICU), der Neonatologischen oder Neugeborenen-Intensivstation, eine Welt, in der Eltern sich Krankenhauskittel anziehen müssen, um ihre Kinder auf den Arm zu nehmen. Shelley erklärt uns die übliche Prozedur: Armbanduhr und Schmuck abnehmen, die Ärmel bis über den Ellenbogen hochschieben, Schwamm und Nagelschaber aus der Plastikverpackung nehmen, das Wasser anstellen, indem man gegen das metallene Kniepedal schlägt, sich Seife nehmen, indem man das quietschende Fußpedal drückt, jede Seite dreißig Sekunden schrubben, schrubben, schrubben bis hinauf zum Ellenbogen. Ich bin entsetzt, als ich auf der Weißwandtafel hinter Shelleys Schalter meinen Nachnamen verzeichnet sehe, Beweis dafür, dass die Elternschaft nicht so verlaufen wird, wie ich es mir vorgestellt hatte. »Männlicher Säugling Wesolowska« steht auf der Tafel, obwohl der Name unseres Sohnes Silvan Jerome Fisher ist.

Dr. A. ist ein stämmiger Mann, fast gutaussehend, mit ruhigen, fast freundlichen Augen. Ich sage fast, weil er nicht mein Baby ist und mein Baby im Augenblick alles auf der Welt ist. Alles andere kann nur fast sein. Dr. A. spricht klar und vernünftig als Silvans Neonatologe mit uns. Wir stehen neben Silvans Kinderbett. Im Gegensatz zu vielen der Babys in den Stubenwagen um ihn herum ist Silvan rundlich und unversehrt. Dennoch sieht er seltsam aus, wie er unter einer Wärmelampe allein daliegt.

Aus Dr. A. spricht Optimismus, aber auch eine Ehrlichkeit, die das Unwägsame zugibt. Seine erste Diagnose ist der günstigste Fall. »Wir haben bislang lediglich Anhaltspunkte für ein sogenanntes Subduralhämatom, ein Blutgerinnsel unter dem Schädel.« Er sagt, das passiere manchmal während der Wehen. Schließlich, erinnert er mich, hätte ich mehrere Stunden gepresst, um das Baby um mein Schambein herumzubekommen. Zwar sei es nicht ungewöhnlich, beim ersten Baby mehrere Stunden zu pressen, aber es sei nicht ideal. Er hält seine Hände hoch, um uns die Platten eines Babykopfes zu demonstrieren und dass sie noch beweglich seien und sich verschieben wie Kontinente. So sollen sie auch sein, aber manchmal, wenn sie im Geburtskanal zusammenkrachen, verursachten sie eine Blutung, die Klumpen zurücklasse. Diese Klumpen würden im Laufe der Zeit schrumpfen.

»Das kann ihm im späteren Leben Krampfanfälle verursachen oder auch nicht.«

Mit mütterlichem Stolz gehe ich davon aus, dass nicht. Und wenn doch, nun ja, Leute leben mit Krampfanfällen. Mein Vater, von dem Silvan seinen zweiten Vornamen Jerome hat, hatte zwei Krampfanfälle, als er zwischen zwanzig und dreißig war. Obwohl die Anfälle ihn beunruhigten und ihm peinlich waren, heiratete er später, bekam vier Kinder und hatte eine bedeutsame Karriere.

Und doch, als ich die Neuigkeit höre, fühle ich mich einer Ohnmacht nahe. Ich sage: »Ich muss mich setzen.« Und dann füge ich hinzu: »Es ist nicht wegen dem, was Sie sagen.« Schon jetzt ist mir klar, wie wichtig es ist, dass dieser Mann weiß, er kann ganz offen mit mir sprechen, dass man mich nicht in Watte packen muss. Ich mag Ehrlichkeit. Aber mir ist wirklich schlecht, komisch im Magen, und ich muss würgen. Vielleicht ist es eine postpartale Hitzewallung. »Ich habe gerade entbunden«, erinnere ich ihn, mich entschuldigend, während jemand einen Hocker in meine Richtung schiebt.

Die Krankenschwestern springen für eine Weile ein. Eine bringt mir ein kleines Stück Flanell. »Stecken Sie das in Ihren BH oder irgendwo dicht auf Ihrer Haut und tragen Sie es einen Tag, dann bringen Sie es zurück. Wir werden es an die Nase Ihres Kleinen legen, damit er Sie riechen kann, solange Sie nicht hier sind. Das wird ihn beruhigen.« Eine andere bringt mir Flaschen und zeigt mir ein Zimmer, wo ich Milch abpumpen kann.

»Ich weiß, er kann im Moment nicht gestillt werden, aber wenn es ihm besser geht, werden wir mit den ersten Flaschen anfangen und von da an weitermachen, sodass ihm nichts entgeht. Außerdem liefern Sie dadurch weiter Milch, die für ihn bereitsteht.«

Ihre zuvorkommende Art macht mich sprachlos. Vor seiner Geburt hatten Freundinnen bei mir für Hausgeburten geworben. Krankenhäuser, sagten sie, seien sterile, stressige Orte, an denen die Weisheit des Körpers einer Mutter ignoriert werde. Sie schienen zu denken, dass zu Hause niemals etwas schiefgeht. Aber ich mochte meine Geburtshelferin und traute ihr zu, dass sie mir zutraute, auf natürliche Weise zu entbinden. Und ich hatte Erfolg gehabt. Sechzehn Stunden lang hatte ich mir ankommende und zurückgehende Meereswellen vorgestellt, mich an meinen eigenen Endorphinen berauscht, während mein Körper neuartige Schmerzen durchmachte, und dann hatte ich das Baby herausgepresst … aber statt munter und nicht medikamentös war es kraftlos und still gewesen. Nun trennt sich der Triumph dieser natürlichen Wehen von dem Ergebnis, als seien die beiden Ereignisse unverbunden. Wenn ihm dies in einem Krankenhaus passiert ist, sage ich mir, dann hätte es überall passieren können. Wenigstens bin ich nicht mit dem Vorwurf konfrontiert, eine Hausgeburt riskiert zu haben; wenigstens behandelt man mich gut, als sei ich notwendig und wichtig, als sei ich seine Mutter. Weil ich seine Mutter bin, auch wenn er nicht in meinen Armen ist.

Wir leihen uns eine Milchpumpe, die wir mit nach Hause nehmen können. In dieser ersten Nacht ohne ihn wecke ich mich alle paar Stunden selbst, als hätte ich ein Neugeborenes, das mich weckt, und setze mich ins Wohnzimmer, wo ich meinen Morgenrock öffne und die Saughauben aufsetze; das extrastarke Surren und Pochen beginnt, die Milch fließt, meine Gebärmutter verkrampft sich, wie sie es in den ersten Tagen des Stillens tun soll, und ich weine. Meine Schluchzer vermischen sich mit dem Surren und Pochen, bis David den Menschen von der Maschine unterscheidet und aus dem Bett springt, um mich in die Arme zu schließen.

Immer wieder springt David auf von dem, was er gerade macht – schlafen, essen, telefonieren –, um mich zu trösten – in der Dusche, beim Frühstück, im Auto. Er lässt alles stehen und liegen und konzentriert sich auf mich. Er ist derjenige, der Anrufe erwidert, Nachbarn die Neuigkeit erzählt, während ich wegen nichts im Auto kauere. Er beschafft uns Kittel, die wir im Krankenhaus anziehen können, besorgt uns Gläser mit Wasser, das wir an Silvans Bett trinken können. Er kümmert sich um mich, damit ich mich um unseren Sohn kümmern kann. Er war immer gut darin, sich um mich zu kümmern. Vom ersten Tag unseres Kennenlernens an wusste ich, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Diesmal ist er unentwegt auf den Beinen gewesen, seit meine Fruchtblase platzte, und er sauste durchs Haus, stellte Geschirr in die Spüle, packte meine Zahnbürste ein, maß die Zeit meiner Wehen, bis es – scheinbar Minuten später, obwohl David sagt, es sei eine Stunde gewesen – Zeit war, dass ich mir meinen alten braunen Cordmantel überzog, der sich an den Knöpfen spannte, und wir zusammen zum Krankenhaus fuhren.

Außer zum Schlafen verlassen wir während der nächsten paar Tage kaum das Krankenhaus. Stundenlang haben wir nur mit der engsten Familie Kontakt – Davids Vater und Stiefmutter, meine Mutter, mein Bruder und seine Freundin, Davids Schwester und ihr Freund –, die sich draußen in der Eingangshalle versammelt. Ich war schon im Mutterschaftsurlaub, als die Wehen einsetzten, aber David muss an diesem ersten Vormittag zu Hause seinen Chef anrufen, und sein Chef sagt ihm, er solle die Welt der Arbeit vergessen. Wie dankbar wir sind.

Nur zwei Personen auf einmal dürfen am Bett des Babys sein. Wir holen sie abwechselnd herein. Manchmal lassen wir zwei zusammen herein, während wir eine Pause machen. Wir machen eine Pause, um zur Toilette zu gehen, um unten in der Cafeteria etwas zu essen. Am zweiten Nachmittag verlassen wir sogar das Krankenhaus, um Mittagessen zu gehen, solange Silvan zu einer Untersuchung weg ist. David hält das für eine gute Idee, weil das Krankenhausessen so fade schmeckt, dass es kaum genießbar ist, und weil es uns ablenken wird, solange Silvan sich in der Obhut anderer Leute befindet.

Hinauszugehen ist eine Qual. All diese Leute, die in ihren Arbeitspausen essen, zwischen Vollkorn- und Weißbrot wählen, als sei das Leben selbst in der Schwebe. Wählt nur aus und esst, ihr Dummköpfe, denke ich, denn drüben im Krankenhaus spielt sich das wahre Leben ab.

Als wir an diesem Tag vom Deli zurückkehren, kommt es dazu, dass wir für ein Baby auf einer Tragbahre die Türen des Fahrstuhls aufhalten. Wir treten zurück an die Wände, einer auf jeder Seite des Fahrstuhls, während das Bett des Babys zwischen uns geschoben wird. Ich möchte lieber gar nicht hinsehen. Ich habe an meinem eigenen Unglück schon genug zu tragen. Aber David sagt: »Schau, es ist Silvan.«

»Nein, ist er nicht«, sage ich, beinahe verächtlich, denn wie kann er es besser wissen als ich?

»Doch, er ist es.«

»Nein, ist er nicht«, sage ich mit Bestimmtheit, wobei ich über das Bett des Babys hinweg spreche, denn als sie ihn nach der Geburt zum ersten Mal weggeschoben haben – »nur für ein paar Minuten« –, hielten sie kurz an, um ihn mir zu zeigen, und es war genau das Baby, das ich mir erhofft hatte und das überhaupt nicht so aussah wie ich, sondern wie sein attraktiver Vater: ein dunkler Haarschopf; von schweren Wimpern umkränzte Augen; breite, rosarote Wangen, die sich nach unten zu dicken roten Lippen verjüngten, welche sich klar gegen seine olivenfarbene Haut abzeichneten. Als wir zum ersten Mal in dieses zweite Krankenhaus kamen, war nicht ich es, die ihn – platzend vor Stolz – in seinem Stubenwagen entdeckte? Während David sagte: »Aber woher weißt du, dass er es ist?« Bestimmt ist David verwirrt, weil Neugeborene alle diese merkwürdigen, gequetschten Gesichter haben, die gleichen Stupsnasen. Ist es überhaupt möglich, dass ein Baby, das gerade noch in mir war, jetzt hier draußen ist, kaum wiederzuerkennen?

»Entschuldigen Sie«, sagt David zu dem Krankenhauspersonal, das uns bislang ignoriert und stur geradeaus geguckt hat. »Das ist der kleine Wesolowska-Junge, nicht wahr?«

Sie nicken, aber argwöhnisch, als könnten wir Kindesentführer sein oder als hätten wir sie soeben erwischt, wie sie unser Baby zum Spaß im Krankenhaus herumschieben, oder als hätten sie gerade eine schlechte Nachricht erfahren. Diese letzte Möglichkeit sehe ich heute, denn die nächste MTA ein paar Stunden später benimmt sich genauso. Zunächst scheint sie froh zu sein, uns eintreffen zu sehen. Silvan ist im Bett, Elektroden kleben überall an seinem Kopf, und er schläft. Sie versichert uns, dass das Elektroenzephalogramm ihm nicht wehtun werde. Sie sagt, wir können helfen. Sie ist sehr freundlich, sagt uns, wie süß er sei, und spricht liebevoll über seinen ruhigen, niedlichen Körper. Ich nehme an, er ist so ruhig wegen des Phenobarbitals, das man ihm seit den Krampfanfällen seiner ersten Nacht gibt. Er schläft immer. Sie klappt ihren Laptop auf. Sie wird selber ruhig, als sie die Muster studiert, die sie dort abliest.

»In Ordnung«, sagt sie freundlich, »würden Sie ihn ein bisschen streicheln?«

Gern reibe ich seine Brust, seine Arme.

»Gut«, sagt sie, »ein bisschen fester.«

Ich streichle ihn trotzdem sanft.

»Könnten Sie ihn kneifen?«

David kneift ihn.

»Ein bisschen fester«, sagt sie. Und dann: »Haben Sie ihn wirklich gekniffen?«

Plötzlich klappt sie ihren Laptop zu. Sie weigert sich, Blickkontakt herzustellen. Sie geht, ohne irgendetwas zu sagen.

Trotz unserer Hoffnungen werden die Neuigkeiten schlechter. Spätestens am dritten Tag wissen wir, dass die Krämpfe auf mehr als auf Hämatome zurückzuführen sind; sie werden nicht einfach mit der Zeit verschwinden. Es gibt nun Anzeichen dafür, das Silvan irgendeine größere »Schädigung« seines Gehirns erlitten hat. Wir möchten die Ärzte darauf hinweisen, dass sie sich widersprechen. Wir möchten, dass sie bei einer früheren Diagnose bleiben wie bei einer am Morgen in der Zeitung veröffentlichten Bekanntmachung. Wir möchten zu jenen ersten paar Minuten nach der Geburt zurückkehren, als wir dachten, das Einzige, was nicht stimme, sei eine leichte Erschöpfung, eine leichte Lethargie. Wir möchten, dass unsere einzige Enttäuschung ist, dass er nicht auf Anhieb auf meiner Brust liegen konnte. Wir möchten erleichtert sein, dass sie, nachdem sie ihn für jene »paar Minuten« fortgeschoben hatten, um seine Lunge abzusaugen, ihn lebhaft und kräftig genug zurückbringen konnten, sodass er gestillt werden konnte.

Damit würden wir uns zufriedengeben.

Stattdessen haben wir ein Baby, das geboren wurde, das getrunken und geschrien hat, aber das jetzt im Koma liegt – dieses Wort wurde zuletzt benutzt –, und das vielleicht stirbt, bevor wir überhaupt wissen, was mit ihm nicht stimmt. Obwohl er einfach ruhig zu schlafen scheint, kommt er vielleicht nie wieder zu sich. An unserem dritten Morgen zu Hause weckt uns das Klingeln des Telefons. Mein Herz pocht wild, als David rangeht. Aber nein, seinem Ende des Gesprächs kann ich entnehmen, dass das Schlimmste nicht eingetreten ist. Silvan ist nicht gestorben, bevor ich mich für den Tag anziehen und ihn abermals sehen konnte. Aber was David sagt, ist beängstigend genug.

»Eine Besprechung mit einer Neurologin?«

Und: »Um ein Uhr?«

Und dann: »Können Sie es mir nicht jetzt sagen?«

Im Nu bin ich aus dem Bett, packe eine Tasche fürs Krankenhaus, mit Monatsbinden, der Sprühflasche für meine verheilenden Stiche. Als David vom Telefon kommt, sagt er: »Das EEG sah nicht gut aus.«

»Aber was bedeutet das?«, frage ich.

»Gehirnschaden?«, sagt David, als würde er eine Frage stellen.

Ich sehe ihm ins Gesicht, aber jetzt dreht mein Kopf sich weg, dann mein Oberkörper; ich falle aufs Bett, und alles, was ich sehe, ist ein graues Kaleidoskop, das langsam den letzten Lichtfleck am Ende des Tunnels einholt. »Ich kann nicht mehr«, sage ich. Genau das empfand meine Mutter, denke ich, als sie am Fuß der Kellertreppe lag, nachdem sie erfahren hatte, dass Marks Leiche gefunden worden war. Aber noch während ich diesen Gedanken habe, vergeht das Gefühl, weil ich nicht meine Mutter bin, mein Sohn hat sich nicht umgebracht, mein Mann liegt nicht im Sterben, und schon kann ich mich von außen sehen, schon mache ich mich über mich selbst lustig wegen des melodramatischen Getues, weil ich früher schon Tragödien durchgemacht habe, und das hier ist keine Tragödie. Immerhin wartet mein Baby.

Ein Uhr. Wir sitzen nebeneinander, dicht zusammen, aber ohne uns zu berühren. Ich kann David nicht berühren. Die Situation kommt mir zu gefährlich vor; ich spüre, wie mein Gehirn sich duckt, zum Sprung ansetzt. Ich gehe Dinge mit dem Verstand an. Die Krise beschleunigt mein Denken. Wir sind in einem hässlichen Raum, schmal wie ein Flur, in den ein zu großer Tisch geschoben wurde, eine Schachtel Papiertaschentücher in der Mitte, ein Durcheinander von Gesichtern. Dr. A. ist da, eine Assistenzärztin, eine Sozialarbeiterin, eine Krankenschwester und noch mindestens ein halbes Dutzend weitere Personen. Ich blicke sie nicht an. Ich blicke nur die neue Ärztin an, die Spezialistin, diese Neurologin, die nun anscheinend zuständig ist. Das hier ist ihre Besprechung. Sie sieht aus wie einundzwanzig mit ihren glatten blonden Haaren, die frei herabfallen. Sie sieht aus, als sei sie ein Mädchen gewesen, das einmal beliebt war und seine intellektuellen Fähigkeiten konsequent herunterspielte, bis ihr eines Tages aufging, dass sie sich nicht zwischen Aussehen und Verstand entscheiden musste, dass sie genug von beidem hatte, um die Welt zu erobern. Und jetzt ist sie hier, bereit, unsere zu erobern.

»Der Säugling wurde nach beobachteten Krampfanfällen in dieses Krankenhaus verlegt. Der anfängliche Eindruck waren Subduralhämatome …«, fängt sie an, und dann sprudeln ihr die Wörter aus dem Mund, medizinische Fachausdrücke, »Basalganglien«, »Thalami« und »sagittaler Blutleiter«. Ich versuche sie zu unterbrechen. Ich sage: »Was bedeutet das?«, aber sie redet weiter, als hätte ich nichts gesagt. Sie scheint zu glauben, dass sie zu einem Expertengremium spricht und nicht zu zwei Eltern, deren Bedürfnis zu verstehen vorrangig ist. Der Raum kommt mir sehr hell vor. Sie redet von »Burst-Suppression-Mustern« und »EEGs«. Wieder sage ich: »Was bedeutet das?«, aber wie in einem Traum, wo man die Worte nicht herausbekommt, scheint sie mich nicht zu hören. Schließlich kommt sie zu dem, was für uns wirklich wichtig ist. Zur Prognose. Sie sagt: »Körperliche und geistige Beeinträchtigung.« Sie sagt es genau so ungeschminkt und hält inne.

»Könnten Sie beschreiben, was Sie meinen?«, frage ich.

Zum ersten Mal sieht sie mich an. »Es könnte einfach steife Gliedmaßen bedeuten«, sagt sie gedrechselt, als würde ich sie zwingen, eine Sprache zu sprechen, die sie kaum beherrscht.

»Gegen steife Gliedmaßen habe ich nichts«, sage ich.

»… und er wird kein Überflieger sein.«

»Tja, das ist nicht akzeptabel«, sage ich. Es ist mein Humor, der Humor meines Vaters, schwarz, trocken, so nahe an der Wahrheit, dass er von ihr abgleitet wie ein Speer, ein Humor, der meinen Vater manchmal in Schwierigkeiten brachte, wenn er unverstanden verpuffte. Niemand reagiert.

»Aber es könnte viel schlimmer sein als das«, sagt sie, kühl und ohne zu lächeln.

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass diese Frau schon einmal gelitten hat. Ihre Kinder, die sie noch nicht bekommen hat, werden natürlich nur Einser mit nach Hause bringen, wie sie, und ich hasse sie dafür – derart ist das Gift des Schmerzes, das sich in mir auszubreiten beginnt.

So geht es hin und her, und wir stellen Fragen, aber sie will sich nicht festlegen; sie macht uns weiter Hoffnung, hält sie uns hin wie Süßigkeiten, bis ich die Nase voll habe. Sie beschönigt irgendetwas Schreckliches. Ich sage etwas in diesem Sinne. Ich sage, ich will wissen, was man für ein Baby tun kann, dessen Leben gerettet wurde für ein Leben, das eigentlich überhaupt kein Leben ist. Ich benutze das Wort Sterbehilfe; ich wisse, aktive Sterbehilfe sei illegal, sage ich, aber was sei denn erlaubt? Im Raum herrscht das blanke Entsetzen. Oder vielleicht ist das Entsetzen, das ich spüre, mein eigenes. Ich spüre es in meiner Brust, ein Herzflattern, als ob ich zu fallen drohe, aber das Einzige, was ich möchte, ist, vom glatten Eis der Hoffnung hinüberzuwechseln zur Wahrheit.

David neben mir scheint plötzlich nicht mehr still sitzen zu können. Er kratzt sich am Hals, am Schienbein, er runzelt die Stirn, er seufzt. Ich berühre seinen Arm: »Hältst du diese Besprechung nicht mehr aus?« Obwohl ich nachhaken möchte, obwohl ich sie mit Fragen löchern und auf diese Weise zwingen möchte, mir mehr zu verraten, als irgendwer jemals über die Zukunft wissen kann, obwohl ich lieber auf einer intellektuellen Ebene weitermachen würde, als mich von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen, sagt David: »Wir müssen jetzt sofort allein sein.« Er bricht jeden Moment in Tränen aus.

Augenblicklich sind sie auf den Beinen und gehen eilig der Reihe nach hinaus. Ihre Erleichterung darüber, diesen Teil ihrer Aufgabe erledigt zu haben, ist offenkundig.

Sobald wir alleine sind, umarmen wir uns. Und schluchzen.

»Versprich mir, was auch immer geschieht, dass diese Sache nicht unsere Ehe zerstört«, sage ich, während ich mich von ihm löse; und gleichzeitig sagt David: »Lass uns versuchen, irgendwann später noch ein Kind zu bekommen, okay?« Es hat den Anschein, als seien dies liebevolle Worte; aber als ich sie hier aufschreibe, wird mir unbehaglich zumute, und ich frage mich, ob in ihnen genug Liebe für Silvan ist.

Eine Liebesgeschichte

Eines Nachmittags, etwa um die Zeit, als David und ich zu der Überzeugung kamen, wir seien bereit für Kinder, machten wir eine Wanderung in den Redwoods. Wir hatten uns Zeit gelassen, zu dieser Entscheidung zu kommen. Genau genommen war es mein Arzt gewesen, der den Ausschlag gab, als er Statistiken ins Spiel brachte und mir erklärte, dass, wenn ich mich nicht bald für die eine oder andere Möglichkeit entschied, die Natur für mich entscheiden würde. Ich war schon sechsunddreißig, seit neun Jahren mit David zusammen und seit zwei Jahren mit ihm verheiratet.

Und so beschlossen wir, es zu versuchen; und an jenem Nachmittag unternahmen wir nach dem Sex eine Wanderung. Es war ein heißer, sonniger Tag, und der kühle, süß riechende Wald passte zu der angenehmen Erinnerung an den Sex, sodass, während wir wanderten, unser Liebesakt sich auszudehnen und den Tag auszufüllen schien. Gelbes Sonnenlicht spielte mit den roten Stämmen der Bäume und dem weichen, vermodernden Waldboden. Wir rechneten nicht damit, dass ich schwanger werden würde, aber wir waren bereit für eine Schwangerschaft, wenn sie denn einträte.

»Wir sollten uns an diesen Tag erinnern«, rief ich David weiter oben auf dem Weg zu, »falls der Tag der tatsächlichen Empfängnis weniger schön ist.« Schließlich kannten wir viele Paare, die sich sehr bemüht hatten, Kinder zu bekommen. Wir wanderten bergauf und keuchten vor Anstrengung. Ein Flugzeug flog über uns hinweg, Vögel raschelten im Unterholz. Wir stiegen jetzt hinab, und das lebhafte Schweigen verstärkte sich, während wir langsamer atmeten.

»Könnten wir«, sagte David mit verträumter Zuneigung.

Einen Monat später empfing ich Silvan, obwohl ich nicht genau weiß, wann. Jene Tage sind in der alltäglichen Wiederholung untergegangen. Woran ich mich stattdessen erinnere, ist Sonnenschein, der zwischen Bäumen hindurchschimmerte, auf einer Mückenwolke oder wirbelndem Holzstaub hängen blieb, während die Luft ein paar Schritte voraus ständig glitzerte.

Lange vor jenem sonnigen Tag im Wald mit David pflegte ich mir immer eine andere Geschichte zu erzählen, eine Geschichte über den Jungen, den ich eines Tages heiraten würde. Ich entdeckte ihn – diesen zukünftigen Ehemann von mir – zum ersten Mal, als ich zwölf war und mich auf einer Pilgerreise nach Lourdes befand, die meine Familie in einem Sommer als Tagesausflug unternahm, als wir in Frankreich waren, um Verwandte meiner Mutter zu besuchen. Es war ein einmalig heißer Tag, und ein schmuddeliger, blasser Junge mit glattem, hellbraunem Haar stand trinkend an einem Brunnen. »Trink«, sagten seine Eltern jedes Mal, wenn er aufhörte. Als sie uns Englisch sprechen hörten, drehten sie sich um und fragten: »Haben Sie Aspirin? Er hat Kopfschmerzen.« Da ich noch nie erlebt hatte, dass ein Kind unter Kopfschmerzen litt, sah ich ihn mir neugierig an, sein blasses, angespanntes Gesicht, seine platten Haare. Aber wir hatten kein Aspirin dabei, und im Weggehen sagte meine Mutter leise: »Ich wusste nicht, dass auch Kinder Kopfschmerzen haben.« Sie sagte es, als könne sie es nicht glauben oder fände es irre.

Wir waren auf dem Weg zu der Grotte Massabielle (massevieille, »alter Fels«), wo die spätere Ordensschwester Bernadette Soubirous 1858 als Mädchen mehrere Marienerscheinungen gehabt hatte. Obwohl meine Eltern liberale Intellektuelle waren, die noch weiter für ein gutes Museum gereist wären, waren sie auch überzeugte Katholiken, die an Heilige und Wunder glaubten. Während ich dastand und zu den Reihen von Krücken hinaufsah, die Krüppeln gehört hatten, die in Lourdes auf wundersame Weise geheilt worden waren, sagte ich mir, dass ich den Jungen mit dem hellbraunen Haarschopf nicht vergessen dürfe. Er könnte eines Tages mein Mann werden. Nicht dass er hübsch, witzig oder interessant gewesen wäre. Ich fühlte mich einzig seines Leidens wegen zu ihm hingezogen.

Wieder zu Hause, hielt ich nach zukünftigen Ehemännern Ausschau. Diese waren niemals Jungen, die ich attraktiv fand, nur irgendwie hilfsbedürftig. Vor allem Einsamkeit rührte mich, einschließlich der Einsamkeit von Puppen, die daheim zurückblieben, während ich fort war in der Schule, oder von auf Fensterbänken gefangenen Fliegen. Es gab eine Fliege, der ich im Badezimmer den ganzen Nachmittag Gesellschaft leistete, bis meine Mutter hineinstürzte – die hölzernen Sohlen ihrer Sandalen klapperten auf den Fliesen – und sie totschlug. Da lag meine Freundin, sechs schwarze Beine in der Luft, während ich um sie weinte. »Aber du hast mir nicht gesagt, dass sie dein Freundin war!«, sagte meine Mutter, bevor sie davonstürzte, um sich um andere Kinder zu kümmern.

Meine Mutter hatte vier von uns, um die sie sich kümmern musste, das Pflegekind, das wir gelegentlich hatten, nicht mitgezählt; ich war die Älteste, gefolgt von Mark, Katya und Kim. Meine Eltern waren weit gereist, um einander kennenzulernen – mein Vater, schon zu Beginn der Highschool Waise geworden, war aus seinem Fabrikjob in Wisconsin ausgebrochen, um in Physik zu promovieren; meine Mutter, ein Kind des Londoner Blitzkriegs, war ausgebrochen, um ihrerseits in den Staaten zu promovieren. In Berkeley waren sie entschlossen, eine Familie zu gründen, genauso katholisch wie ihre eigenen jeweiligen Herkunftsfamilien. In einer solchen Familie schien Heiligkeit eine achtbare Beschäftigung zu sein, und so strebte ich weiter danach, lag im Bett und ersehnte und fürchtete gleichermaßen den Moment, wo Gott über dem gelben Velours meines Bettvorlegers erscheinen würde. Vielleicht würde Er um etwas so Großes bitten, dass ich es nicht bewältigen könnte, beispielsweise eine Armee führen, oder um etwas so Kleines, dass ich es nicht verkraften könnte. Ich hatte zum Beispiel Angst vor dem Leben der heiligen Monika. Meine Mutter sagte, ich sei nach einer liebenswürdigen Heiligen genannt worden, aber ihr Leben klang nicht so, als sei es etwas für mich. Sie verbrachte es mit Gebeten für die Seele ihres Sohnes.

Während ich auf göttliche Weisung wartete, übte ich mich außerdem in »guten« Taten. Diese Taten machten das Leiden anderer Menschen für mich erträglicher. Einmal veranstaltete ich einen Wettlauf für einen Jungen namens Leo. Leo war zwei Jahre jünger als ich und ging in Marks Klasse. Leo war zu pummelig, um unbeschwert mit den anderen Kindern zu spielen, und stand in der Pause bei Spielen oft abseits und sah zu, während ich noch weiter draußen saß und ihm beim Zusehen zusah. Ich ging davon aus, dass er einsam war; ich ging davon aus, dass der Sieg bei einem Wettlauf ihm Freunde einbringen würde. Ich sorgte dafür, dass Mark so tat, als ob er stolperte, damit Leo gewinnen konnte. Mark muss dasselbe verquere Mitgefühl gehabt haben wie ich, jenes noch nicht zu wahrem Mitempfinden herausgebildete Mitgefühl eines Kindes. Der Tag des Wettlaufs kam. Obwohl sich eine Horde versammelte, als Mark stürzte, obwohl ich in einer Tour schrie: »Renn, Leo, renn«, und dachte, sein Sieg wäre umso befriedigender, weil er Zuschauer hatte, sah Leo nur verwirrt aus und lief dann zurück, um Mark aufzuhelfen. Und als ich jubelte: »Du hast gewonnen, du hast gewonnen!«, brachte er noch immer kein Lächeln zustande. Er führte danach wieder sein eigenes Leben, und ich führte wieder meines, und jeder von uns lernte, allein zurechtzukommen.

Als David und ich uns in Berkeley zum ersten Mal trafen, hatte ich meinen Traum, jemanden zu heiraten, um seine Einsamkeit zu lindern, seit Langem aufgegeben. Und David war eindeutig nicht mein Jüngling mit hellbraunem Haar am Brunnen. Nein, David war Jude, ein dunkler, gut aussehender Typ, und er war niemals in Lourdes gewesen. Damit nicht genug, war er auch kein gequälter Künstler, der Partner, den ich mir immer für mich erträumt hatte. Stattdessen war er mein zuständiger Vorgesetzter; und mit vierundzwanzig schien eine Verantwortung auf ihm zu lasten wie auf einem Mann mittleren Alters. David seinerseits hatte sich immer eine Frau mit einem festen Job vorgestellt. Stattdessen war ich eine achtundzwanzigjährige Aushilfskraft und aufstrebende Schriftstellerin, die gerade wieder bei ihren Eltern eingezogen war, um Geld zu sparen. Mit anderen Worten, David war anders als all die blassen, verletzten, ungestümen Männer, die ich vorher geliebt hatte, so wie ich anders war als all die gepflegten Frauen mit Fettpölsterchen, mit denen er vorher gegangen war, und keiner von uns erwartete allzu viel von dieser ersten Verabredung.

Da stand er auf der Veranda meiner Eltern, allzu beflissen, einen guten Eindruck zu machen, allzu sehr darauf bedacht, nicht aufzufallen; selbst seine lockigen Haare hatte er so platt gekämmt, wie er es während seiner gesamten Jugendzeit in New Jersey getan hatte; ich dagegen trug ein Kopftuch mit leuchtendem Paisleymuster, geschnitten aus dem Saum eines bodenlangen Rocks, den meine Mutter während meiner Kindheit in Berkeley getragen hatte. Dieses Tuch war so grell, dass man den Verkehr damit hätte regeln können, und meine nicht zu bändigenden Haare standen ringsherum ab wie ein Heiligenschein. Nachdem ich meinen Ampelkopf eingezogen hatte, kam David ins Haus, wo mein Vater im Wohnzimmer saß. David versuchte, meinen Vater zu verscheißern, indem er vorgab, mehr über den Schriftsteller in dem Film, den wir uns ansehen wollten, zu wissen, als er tatsächlich wusste. Er vermasselte es, indem er andeutete, mein Vater müsse das Werk dieses Autors selbst kennen, aber mein Vater verneinte und bat David, ihm mehr zu erzählen, was David nicht konnte. Es war mir peinlich. Ich war in dem Glauben großgezogen worden, dass die einzige Lernmöglichkeit darin bestand zuzugeben, was man nicht wusste. Ehrlichkeit als der Weg zur Wahrheit.

Mein Vater war damals schon krank, aber er hatte sich aus seinem Sessel gestemmt, um dem jungen Mann entgegenzugehen, der seine Tochter zu einem Rendezvous ausführte, und sobald klar wurde, dass David weiterreden würde, ohne auf den Punkt zu kommen, nur um ihm zu gefallen, setzte mein Vater sich schwerfällig wieder hin, wünschte uns viel Spaß und fing wieder an, aus dem Fenster zu starren.

Nach dem Film war ich weiter frustriert. Ich wollte tiefschürfend über den Film reden, und David wollte mir den Ort zeigen, wo er zuallererst auf dem Campus gearbeitet hatte. Warum also verliebte ich mich? Weil ich mich verliebte. Die Geschichte unseres Zusammenkommens, wie wir sie erzählen, handelt davon, dass wir uns miteinander absolut wohlfühlten. Als hätten wir uns schon seit ewigen Zeiten gekannt. Obwohl ich ihn nicht dazu bringen konnte, so über Filme, Bücher und Kunst zu reden, wie ich es wollte, wenn wir zusammen durch die Stadt gingen, konnte ich ihn dazu bringen, über Dinge zu reden, die auf einer tieferen Ebene wichtig waren. Obwohl er meinen Vater hinsichtlich seines Faktenwissens verscheißert hatte, war er, was seine Gefühle betraf, vollkommen ehrlich. In seiner Ehrlichkeit lagen eine angenehme Vertrautheit und Sicherheit. Beispielsweise sagte er, als ich bei ihm nachhakte, er fände nicht, dass mein Kopftuch mir gut stünde.