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Die 17-jährige Apollonia Parker will frei und ungebunden sein. Sie träumt davon, mit ihrem Motorrad Bonnie durch Schottland zu fahren. Allerdings verfügt sie über eine Gabe, die sie besonders hasst: Sie ist wie ihre Mutter eine Muse. Apollonia hat aber keine Lust, sich an einen Künstler zu binden, diesen zu inspirieren und zu hätscheln. Als der junge, äußerst begabte Singer-Songwriter Nick ihr einen Song widmet, verliebt sie sich Hals über Kopf in ihn. Nick ist von Apollonias Fähigkeiten ganz hingerissen. Doch der habgierige Konzernchef Viktor Tyrell ist gegen diese Verbindung. Er will Apollonias Gabe für seine Zwecke nutzen — und setzt die schwarze Muse Velika auf Nick an. Gelingt es Apollonia am Ende, ihren Freund aus deren Fängen zu befreien?
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Seitenzahl: 355
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CAROLA WOLFF
AUSGERECHNETMUSE
Roman für Jugendliche
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2017 by Carola Wolff
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Elmar Klupsch, Stuttgart
Illustration: Matej Kovacic, Böblingen
Umschlaggestaltung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg
Herstellung: Fabulus-Verlag, Fellbach
E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-944788-46-3
Besuchen Sie uns im Internet unter: www.fabulus-verlag.de
Für Ariane, Nadja und Lea:
Apollonia Parker, so, wie du aussiehst, kriegst du nie einen Mann.«
Verdammter Mist. Wie es schien, waren die großen Ferien erst mal gelaufen. Parker schlurfte an ihrer Mutter vorbei in die Küche und konzentrierte sich aufs Überleben. Wenn Miranda wieder da war, brauchte Parker zuallererst einen Kaffee. So schnell und so viel wie möglich. Am besten ’ne ganze Kanne voll.
»Kaffee ist gar nicht gut für die Haut«, meinte Miranda.
Die Miranda Parker, skandalumwitterte Muse des genialen Surrealisten Gregory Filli sowie des großen abstrakten Malers Martin Holzer. Und des gefeierten Bildhauers Randolf Berger. Ihr spontanes Bad im römischen Trevi-Brunnen, natürlich splitternackt, hatte Anita Eckberg ganz schön alt aussehen lassen. Mirandas mannigfaltiges Liebesleben hätte selbst Casanova erstaunt.
Parker schüttete Kaffee in den Filter und versuchte, die Stimme ihrer Mutter auszublenden beziehungsweise auf ein erträgliches Maß herunterzuschrauben. Miranda hatte gut reden. Ihr Teint strahlte zart pfirsichfarben, ihre blonden Locken ringelten sich malerisch um das herzförmige Gesicht, und dass ihr Mund gerade unwillig gespitzt war, tat dem umwerfenden Eindruck ihrer vollen Lippen keinen Abbruch.
Kurzum, Miranda Parker war mit ihren knapp vierzig Jahren noch immer eine umwerfend schöne Frau. Ganz im Gegensatz zu Apollonia, ihrem einzigen Kind. Miranda war durchaus in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Welche Enttäuschung musste allein Parkers Äußeres für sie sein. Vielleicht lag das daran, dass diese die leicht schiefe Nase von Gregory Filli geerbt hatte, die schwarzen Strubbelhaare von Martin Holzer und die schlaksige Figur von Randolf Berger.
Miranda konnte Parker nicht sagen, wer von den dreien ihr Vater war. Oder wollte sie nicht? Parker hatte keine Ahnung. Und Miranda interessierte es nicht die Bohne.
»Hier, ich habe dir einen Bio-Detox-Kräutertee aus Frankreich mitgebracht. Für strahlend reine Haut und glänzende Haare.«
Parker fuhr sich durch den schwarzen, strubbeligen Haarschopf und gähnte dabei herzhaft.
»Was machst du überhaupt hier?«, brummte sie ihre Mutter an.
»Ich wohne auch hier«, sagte Miranda.
Auf ihrer makellosen Stirn erschien eine feine Falte. Wenn sie die im Spiegel sah, war garantiert wieder ein mittelgroßes Lamento fällig. Und eine Botoxspritze.
»Ach nee«, sagte Parker, »davon merkt man aber nix.« Und das war ihr auch recht so. Die Kaffeemaschine begann, leise zu blubbern.
»Wundert dich das?«, fragte Miranda. »Es ist so … schrecklich spießbürgerlich hier. Wie hältst du das nur aus? Die Berliner Künstlerszene ist in Neukölln oder Friedrichshain, da tobt das Leben, nicht in Tegel.«
»Lass es toben«, sagte Parker. »Genau das mag ich an dieser Gegend. Lauter Rentner, alles schön ruhig, keiner hält sich für den nächsten Picasso und nervt.«
Ein bitteres, dunkles Aroma erfüllte die Küche und verdrängte den Duft von Mirandas süßem Blümchenparfüm, in dem sie mal wieder gebadet zu haben schien.
»Und überall liegen Bücher rum«, machte Miranda gnadenlos weiter. »Du hast schon früher deine Nase immer in ein Buch gesteckt. Das ist nicht gut. Geh lieber raus, dein Leben wartet.«
»Ich lese halt gern«, entgegnete Parker.
»Wer weiß«, sagte Miranda verträumt, »vielleicht wirst du ja mal die Muse eines Schriftstellers? Und der bekommt dann den Literaturnobelpreis.«
O Mann, konnte sie nicht endlich Ruhe geben?
»Was ist mit Heinz passiert?«, wechselte Parker das Thema.
»Henri!«, schnappte Miranda, »Henri Delcourt hat sein letztes Bild bei einer Auktion in Paris für zwei Millionen Euro verkauft.«
»Gratuliere«, meinte Parker.
»Er ist ein Genie!«, verkündete Miranda stolz.
»So wie alle deine Männer«, murmelte Parker.
»Sonst wären sie einer Muse auch nicht würdig.«
Jetzt ging das schon wieder los. Warum war Miranda nicht in Frankreich geblieben? Am Küchenfenster war ein leises Klopfen zu hören. Parker wusste genau, wer das war, ignorierte aber die schwarz gefiederte Silhouette.
»Du kannst den Armen da draußen doch nicht in der Kälte lassen«, sagte Miranda prompt.
Kälte? Es war Juni, nicht Dezember. Es regnete auch nicht. Parker suchte einen sauberen Becher und fand im Kühlschrank sogar noch einen Rest Milch. Sie goss sich ihren Kaffee ein und sog genießerisch dessen Duft durch die Nase. Erneutes Klopfen an der Scheibe. Parker setzte sich mit dem Rücken zum Fenster an den Küchentisch.
»Apollonia Parker, das ist keine Art und Weise, seinen Mentor so zu behandeln.«
Die großen goldenen Ohrringe ihrer Mutter klimperten aufgeregt. Wie aufs Stichwort schob sich ein silbergraues, pelziges Monster um die Ecke und strich Miranda mit lautem Schnurren um die Beine.
»Du hast Colette mitgebracht?«
»Aber natürlich. Ohne meine treue Begleiterin gehe ich nirgendwohin«, sagte Miranda, bückte sich und hob die Katze unter sichtlichen Schwierigkeiten hoch.
»Wohl zu viele Croissants gefrühstückt, was?«
»Kanaille!«, fauchte das Pelzmonster.
Klasse, jetzt wurde sie auch noch auf Französisch beschimpft.
»Aber, aber«, tadelte Miranda das Tier milde und kraulte es hinter den Ohren. »Meine Tochter ist doch keine Kanaille, sondern noch sehr jung.«
»Sie ist ein Malheur, eine Schande für alle anständigen Musen«, antwortete die Katze, und ihre Schnurrhaare zitterten empört.
Das war genug.
»Oh, guck mal, eine Maus«, sagte Parker.
»Oui? Wo, wo?«, rief Colette aufgeregt.
»Da, gerade ist sie im Korridor vorbeigeflitzt.«
Die gut genährte Perserkatze wand sich aus Mirandas Armen, plumpste auf den Boden und lief eilig zur Küche hinaus. Parker stand auf und trat hinter ihr die Tür zu. Im Küchenschrank klirrte das Porzellan. Eins zu null.
»Das war unnötig«, sagte Miranda.
Wie ihre Mutter es schaffte, selbst beim Beleidigtsein noch niedlich auszusehen, war Parker ein Rätsel. Sie setzte sich wieder hin, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Kaffee. So langsam wurde der Morgen trotz dieses Überraschungsbesuchs erträglich.
»Kind, wir müssen reden«, meinte Miranda.
Konnte sie denn nicht mal eine Minute lang die Klappe halten? Nein, natürlich nicht, das hatte sie noch nie gekonnt.
»Bist du deswegen zurückgekommen?«
Ein kurzes Zögern, das Parker alles sagte.
»Oder hat Heinz dich rausgeworfen, weil er dich satthatte?«
»Henri! Wir sind übereingekommen, dass er eine künstlerische Pause braucht.«
»Ah ja, so wie bei Gregory Fili, dem Bildhauer? Und Arthur Freundlich, dem Dichter? Oder Ludger Brotwange, dem Aktionskünstler?«
Es hatte noch mehr Männer gegeben, doch Parker konnte sich nicht an alle erinnern. Miranda errötete leicht, was ihr gut stand. Parker bekam große Lust, noch nicht nachzulassen.
»Das verstehst du erst, wenn es so weit ist, Kind. Die Beziehung zwischen Muse und Künstler ist eine ganz besondere …«
»Vergiss es«, unterbrach Parker sie. »Ich will das gar nicht verstehen. Den Job mache ich nicht. Punktum.«
»Das ist kein Job, sondern eine Berufung. Deine Berufung, dein Erbe! Durch deine Adern fließt das göttliche Blut der Musen«, erklärte Miranda. »Auch wenn man es dir nicht ansieht.«
»Danke«, sagte Parker.
»Kind, ich meine es doch nur gut mit dir. Warum kleidest du dich nicht etwas vorteilhafter? Immer nur schwarz, und dann diese kaputten Jeans und diese klobigen Stiefel. Geh doch mal zum Friseur! Und wenn du dich ein wenig schminken und deine schönen blauen Augen betonen würdest …«
Parker imitierte gekonnt das Geräusch, als müsste sie sich übergeben. Die Falte auf Mirandas Stirn wurde ungefähr drei Millimeter tiefer.
»Wofür?«, fragte Parker entnervt. »In der Werkstatt kann ich schlecht im Kleidchen rumrennen.«
»Gehst du etwa immer noch zu Wolf?«
»Der ist wenigstens da, wenn ich ihn brauche!«
Miranda schluckte. »Die Beziehung zwischen Künstler und Muse hat immer Vorrang, man kann auch nicht dagegen angehen. Es schlägt ein wie der Blitz, und du kannst nichts dagegen machen. Du musst einfach deiner Bestimmung folgen. Aber ich habe mein Bestes getan, damit du eine glückliche Kindheit hast.«
Wahrscheinlich glaubte Miranda das sogar. Paris, London, Rom. Künstlerwerkstätten, Ateliers, Vernissagen. Partys. La Vie Bohème. Mit Farben spielen, sich ausprobieren. Keine festen Essens- und schon gar keine geregelten Schlafenszeiten. Wechselnde Väter. Privatlehrer. Völlige Freiheit. Es gab bestimmt Kinder, die sie um dieses Leben beneidet hätten.
Parker hingegen hatte sich nie etwas anderes gewünscht als Ruhe und Sicherheit. Wenigstens ein paar Regeln. Und eine Mutter, die für sie da war. Erst nachdem sie in Berlin gelandet waren (was sie Mirandas neuem Schützling, dem Maler Gustavsson, zu verdanken hatten), kehrte ein wenig Ruhe in Parkers Leben ein.
Gustavsson hatte ihnen eine Wohnung im gutbürgerlichen Tegel besorgt, und Parker konnte aufs Gymnasium gehen. Sie hatte zwar keine Freunde, aber sie hatte Wolf. Der wortkarge Mechaniker hatte Parker erst zusehen und dann mitschrauben lassen.
»Eine Motorradwerkstatt ist kein angemessener Aufenthaltsort für eine Muse.«
»Ich finde die Maschinen sehr inspirierend.«
»Aber du sollst doch nicht inspiriert werden, sondern selbst inspirieren! Und überhaupt, eine Muse auf dem Motorrad?«
»Ich bin keine Muse!«
»Ach Kind, ich verstehe dich nicht.«
»Nein, ich weiß. Dabei ist es ganz einfach: Muse zu sein ist ein echt beschissener Job. Dein ganzes Leben lang rennst du irgendwelchen Kerlen hinterher, umsorgst sie, hegst und pflegst ihre Talente, und wenn sie dann reich und berühmt sind, lassen sie dich wie ’ne heiße Kartoffel fallen.«
»Aber …«
»Nix aber. So läuft das, ich hab’s doch bei dir gesehen. Und das soll ich mitmachen? Nee, danke. Wo bleibe ich denn dabei? Was ist mit meinen Talenten, meinen Wünschen, meinen Zielen?«
»Aber es geht um die Kunst, die unser Leben erst lebenswert macht, Apollonia.«
»Ich hasse diesen Namen und dieses Kunstgefasel. Wenn ich 18 bin und genug Kohle zusammen habe, mache ich meinen Motorradführerschein und bin weg.«
»Kind, wenn du 18 bist, wird sich deine Gabe regen. Vielleicht sogar schon vorher. Du wirst es gar nicht vermeiden können.«
»Und ob ich kann. Wirst schon noch sehen!«
»Aber was willst du denn werden?«, seufzte Miranda.
»Das haben sie John Lennon in der Schule auch gefragt. Er sollte ’nen Aufsatz darüber schreiben, was er mal werden wollte. Weißt du, was er geantwortet hat? Glücklich. Da haben seine Lehrer gemeint, er hätte die Fragestellung nicht verstanden. Und er hat ihnen geantwortet, ihr habt das Leben nicht verstanden.«
Miranda führte ihre zarte, schmale Hand zur Stirn und strich sich darüber. Das war die »Zeus steh mit bei«-Pose, die Parker bereits zur Genüge kannte.
»Apollonia, du bist ein Kind der Göttinnen, der Musen. In dir schlummert der Funke der göttlichen Kreativität, seit Anbeginn aller Zeiten vererbt von Mutter auf Tochter. Wird dieser erst mal durch einen Mann entzündet, gibt es kein Zurück mehr. Dann bist du durch ein schöpferisches Band mit ihm verbunden. Nur so kannst du deine Bestimmung erfüllen, das ist der Sinn deines Lebens und deine hehre Aufgabe.«
Ihre hehre Aufgabe? In Parkers Herz regten sich Gefühle, die so bitter, schwarz und kalt waren wie der kleine Rest Kaffee in ihrem Becher. Nicht mit ihr. Nein. Niemals. Basta.
Miranda strich sich hektisch über den Hals. Man sah es nur, wenn man wusste, wo es war. Bei Miranda saß es direkt hinter dem rechten Ohr: ein kleines geflügeltes Pferd. Jede Muse trug dieses Zeichen ihres Standes irgendwo am Körper. Eine Art Tattoo, nur fingernagelgroß, von Pegasus, dem geflügelten Dichterpferd.
Parker hatte ihres am linken Oberarm, und sie hasste es zutiefst. Denn das Pferdchen war ein Verräter. Wenn sie jemals einen Künstler so nahe an sich heranließ, dass er es anfassen konnte, würde die Musenverbindung automatisch ausgelöst werden. Muse auf Knopfdruck, sozusagen. Wieder klopfte es am Fenster. Energischer dieses Mal.
»Also, das ertrage ich nicht länger«, sagte Miranda.
Ehe Parker es verhindern konnte, war ihre Mutter aufgestanden und hatte das Küchenfenster geöffnet.
»Ich bin hocherfreut«, sprach der Rabe, hüpfte herein und machte es sich auf der Lehne eines Küchenstuhls bequem. »Und wie prachtvoll, euch zu sehen, Muse Miranda!«
Miranda neigte hoheitsvoll den blonden Lockenkopf.
»Ich grüße dich, Lyngx.«
»Wehe, du kleckerst rum«, sagte Parker.
»Empörend! Entsetzend! Er … laube mal. Als würde ich so was je tun!«
Er plusterte sein schwarzes, glänzendes Gefieder auf, und seine kleinen Augen musterten Parker von oben bis unten.
»Albträume? Nachtmahre?«
Parker hatte in der letzten Nacht tatsächlich nicht besonders gut geschlafen. Jetzt hackte schon der Zweite an diesem Morgen auf ihr rum. Verdammter Mist.
»Halt den Schnabel, wenn du nichts Sinnvolles zu sagen hast. Oder bist du gekommen, um dich über mich lustig zu machen?«
»Nimmermehr.« Der Rabe schlug mit den Flügeln und hustete. »Arx! Bei Zeus, jetzt ist es mir wieder rausgerutscht. Wenn ich noch mal �nimmermehr� sage, darfst du mich erschießen.«
»Gern. Gib mir eine Knarre.«
»Dieser unsägliche Poe hat uns für immerdar mit diesem tumben Todesboten assoziiert.«
»Mit seinem Gedicht �Der Rabe� hat Edgar Allan Poe euch immerhin unsterblich gemacht. Aber wenn du mir nicht auf der Stelle verrätst, was du hier willst, drehe ich dir den Hals um wie einem räudigen Huhn.«
»Apollonia, so redet man nicht mit seinem Mentor«, rief Miranda schockiert.
Der Rabe wechselte unruhig von einem Fuß auf den anderen und legte den Kopf schief.
»Nur mal gucken, mal sehen, mal besuchen. Wie geht’s, wie steht’s, was läuft denn so?«
»Vorhin, als ich aufgestanden bin und glaubte, endlich Ferien zu haben und damit meine Ruhe, ging’s mir prima.«
Ein ungeduldiges Kratzen ertönte an der Küchentür.
»Colette, mein Schätzchen«, sagte Miranda und öffnete die Tür.
Die dicke Perserkatze kam herein und meinte ungnädig: »Da war gar keine Maus!«
»So ein schlankes, flinkes Mäuslein war bestimmt schneller als du«, sagte Parker.
»Bonjour, Bulette«, sagte Lyngx vergnügt.
»Ich heiße Colette, du Krakeeler.«
»Mentoren sollten sich nicht streiten«, sagte Miranda leicht verzweifelt. »Ihr seid Berater und Begleiter, Beschützer und Unterstützer und sollt mit gutem Beispiel vorangehen.«
»Ich brauch keinen, der mir vorangeht. Ich finde meinen Weg auch so, vielen Dank«, schnaubte Parker.
»Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube«, flötete Lyngx.
»Nerv mich nicht mit Goethe.«
»Aber ich bin dir verbunden, o Muse, bis ans Ende«, sagte Lyngx.
»Hör auf, mich zu o-musen«, erwiderte Parker ungehalten und stand auf.
»Wo gehst du hin, Kind?«, wollte Miranda wissen.
»Raus.«
»Ich koche uns heute Abend was Feines. Dann reden mal in Ruhe über alles.«
Miranda und kochen? Das konnte ja heiter werden.
»Bis dahin bist du doch wieder da, ja?«
»Mal sehen«, entgegnete Parker und verließ den Raum.
*
Sie schlüpfte in ihre schwarze Bikerjacke, sodass man ihr Tattoo weder sehen noch es versehentlich berühren konnte. Dann schnappte sie sich ein Buch aus dem Regal (ohne Buch ging sie nirgendwohin) und machte sich vom Acker. Parker ging dahin, wo sie sich sicher und wohl fühlte. Zu Wolf.
Die Werkstatt lag gleich hinter der S-Bahn, ein Paradies für Tüftler, Bastler und Biker aller Art. Parker marschierte durch die Fußgängerzone zum Bahnübergang. Der Tag versprach, sonnig und warm zu werden. Sie würde in ihrer Jacke mächtig schwitzen. Ohne ihren Schutzpanzer verließ Parker jedoch nie das Haus.
Ein Schild an Wolfs Tür warnte: »Biker parking only. All others will be crushed.«
Auf dem Kopfsteinpflaster vor der kleinen Werkstatt stand ein Motorrad, an dem Wolf eifrig herumschraubte. Hinter ihm waren die Türen weit geöffnet, es roch nach Motoröl und Benzin. Aus einem kleinen, uralten Kassettenrekorder ertönte Elvis Presleys Stimme. Er wohnte mal wieder im »Heartbreak Hotel«.
Lyngx flatterte herab und setzte sich auf den Zaun zum Nachbargrundstück. Parker hatte gehofft, er würde sich noch ein wenig mit Miranda unterhalten. Pustekuchen. Parker würde ihn weiter ignorieren. Das konnte sie gut.
»He, Kleine, alles klar?«
Wolf richtete sich zu voller Größe auf. Einsneunzig in schwarzem Leder. Er sah Furcht einflößend aus, doch seine Stimme klang freundlich.
»Geht so.«
Wolf musterte sie nachdenklich. »Ist Miranda wieder da?«
Parker zuckte mit den Schultern. »Ja, aber bestimmt nicht für lange. Du kennst sie ja.«
»Keine Lust mehr auf Paris?«
»Der Maler, mit dem sie zusammen war, hat wohl genug von ihr.«
Betrübt schüttelte Wolf den Kopf. »Sie ist viel zu gut für diese Kunstheinis.«
Parker hatte den Verdacht, dass Wolf eine heimliche Schwäche für Miranda hegte. Armer Kerl. Da konnte er lange warten.
»Was hast du da?«, wollte sie wissen und deutete auf das Motorrad.
»Eine Suzuki. Probleme mit dem Einspritzer. Hat so ein Banker für viel Geld gekauft und nie gewartet.«
»Dämlack. Wo ist Bonnie?«
»Hinten.«
Parker ging in die Werkstatt hinein.
»Da ist noch Pizza übrig, wenn du Hunger hast«, rief Wolf ihr vom Hof aus nach.
Zwischen Schraubenschlüsseln und öligen Fetzen lag der aufgerissene Pappkarton mit zwei kalten Margherita-Ecken. Pizza zum Frühstück?
»Nee, danke.«
Parker schlängelte sich an zwei aufgebockten Motorrädern vorbei und ging in die hinterste Ecke.
»Hallo, Bonnie«, sagte sie und strich mit der Hand über das Lenkrad der Maschine. Eine Triumph Bonneville, ein echter englischer Klassiker, leider in ziemlich traurigem Zustand. Wolf hatte sie bei einer Hausauflösung günstig bekommen, und jetzt baute er sie für Parker wieder auf.
»Dann gehen wir zwei auf Tour, und nichts wird uns aufhalten«, flüsterte Parker. Liebevoll klopfte sie Bonnie auf den Sattel. Wann immer sich Parker einsam fühlte oder traurig war, wenn sie Zuspruch brauchte oder einfach nur einen Ort, um in Ruhe nachzudenken, besuchte sie Wolf. Sie mochte den Geruch nach Öl und Benzin, nach Stahl, Schmierfett und Gummi. Und ihr Motorrad.
Parker legte die Jacke ab. Bei Wolf fühlte sie sich so sicher wie sonst nur zu Hause. Sie nahm sich einen Lappen und begann, Bonnie zu polieren. Sie liebte das charmante alte Mädchen mit den klobigen Gussfelgen, das so aussah, als käme es geradewegs aus den Siebzigern. Zu einer Zeit, als man, so behauptete Wolf zumindest, noch mit ein paar Schraubenschlüsseln, Draht und Kaugummi die meisten Reparaturen selbst ausführen konnte. Heutzutage wurden die Fehler per Computer ausgelesen, und das stank Wolf gewaltig.
Für nichts und niemanden in der Welt würde Parker ihre Maschine eintauschen. Bonnies altmodisches Äußeres täuschte. Leerlauf, Kupplungshebel ziehen, Anlasser drücken, und schon schnurrte sie zufrieden wie eine Katze, die gerade ein Schälchen Milch verdrückt hatte. Tempo 120 kein Problem. Bei der Motorradpflege beruhigten sich Parkers Gedanken, ihr Hirn arbeitete wieder normal, und es dauerte meistens auch nicht lange, bis sie sich wieder gut fühlte. Eine Idee hatte, wie sie ihr Problem lösen konnte, oder einfach nur besser gelaunt war. Bonnie hatte noch nie versagt.
»Wir schaffen das«, murmelte Parker vor sich hin und polierte Chrom mit heftigen Bewegungen. »Ich werde genug Kohle verdienen, und dann touren wir zwei durch Schottland. Frei wie der Wind.«
Bis dahin musste sie es allerdings mit Miranda aushalten. Musste sich deren Vorträge, Mahnungen und Zurechtweisungen anhören. Es hätte so ein schöner Sommer werden können.
»Scheißdreck!«, fluchte Parker leise.
Lyngx, der auf einem Regal in der Ecke hockte, krächzte resigniert.
»Deine Wortwahl, o Muse, lässt zu wünschen übrig.«
»Ach ja? Scheiß drauf!«
Parker sprang auf, und der Rabe zuckte nervös zusammen.
»Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«
»Du bist eine Muse, o Muse …«
»Leg mal ’ne andere Platte auf.« Parker schwenkte das schmutzige Tuch drohend in Lyngx’ Richtung. »Bevor ich dir den Schnabel poliere.«
Der Rabe hüpfte unter eines der aufgebockten Bikes. »Weggefährten sind wir nun schon so lange, o Muse, und trotzdem …«
»Eben. Solange ich denken kann, bist du bei mir. Du hast miterlebt, wie Miranda mir in Alkohol getränkte Schnuller verpasste, nur damit ich ruhig war. Du hast gesehen, wie sie mich von einer Atelierparty zur nächsten schleifte und in irgendeiner Ecke ablud, nur damit sie sich ins Getümmel stürzen konnte. Als ich bei einer dieser Partys beinahe im Swimmingpool ertrank, hast du für Aufmerksamkeit gesorgt und mich letztendlich gerettet. Du warst dabei, als sie mit mir von einem Kerl zum nächsten zog. Bildhauer, Maler, Performance Artist, egal. Hauptsache Künstler. Jedes Mal war sie in jeden verliebt.«
Immer war es die einzige, große Liebe gewesen. Bis der nächste Kerl auf der Matte stand. Parker bezweifelte, ob Miranda überhaupt wusste, was Liebe ist. Sie, Parker, hatte jedenfalls nicht vor, ihrer Mutter nachzueifern.
»Ich weiß ja noch nicht mal, wer mein Vater ist. Miranda hat sich nie die Mühe gemacht, das herauszufinden. Und als sich einer der Typen für mich zu interessieren begann und mich malen wollte, natürlich nackt, da hat sie mich abgeschoben. Und du willst, dass ich so werde?«
Parker knüllte das Putztuch zusammen und warf es in eine Ecke. Lyngx blinzelte mit den Augen. »Nimmermehr.«
»Du hast es schon wieder gesagt.«
»Arx! Trotzdem, mein Ziel ist es, dir dabei behilflich zu sein, deinen ganz eigenen Weg zu finden.«
»Werde ich auch, aber ohne dich.«
*
Also gut. Keine Ruhe in der eigenen Wohnung. Keine Ruhe in der Werkstatt. Wohin dann? Parker zog ihre Jacke wieder an.
»Gehst du schon?«, wollte Wolf wissen.
»Runter zum See«, sagte Parker.
»Gute Idee. Grüß Miranda von mir.«
Parker kannte ein stilles Plätzchen am Wasser, wo sie sich hinsetzen und nachdenken konnte. Darüber, wie die nächsten Wochen zu überleben waren und woher sie das Geld für den Motorradführerschein bekam. Sie hatte sich ursprünglich einen Ferienjob suchen wollen. Irgendwo kellnern oder so. Aber sie konnte sich lebhaft vorstellen, was Miranda dazu sagte. Wenigstens hatte Lyngx ein Einsehen gehabt und ließ sie vorläufig in Ruhe.
Parker ging zurück durch die Fußgängerzone, an diversen Cafés vorbei, vor denen zufriedene Rentner ihren Cappuccino und die Sonne genossen, runter zum Tegeler See. Der war Ferien pur. Dampfer fahren, Eis essen, im Grünen um ihn herum spazieren gehen. Vor allem aber gab es fast überall kleine versteckte Ecken unter Bäumen, wo man es sich mit einem Buch so richtig gemütlich machen konnte.
Parker stiefelte auf knirschenden Kieswegen vorwärts und tauchte ins Sonnengrün unter den dichtbelaubten Bäumen ein. Der Pfad beschrieb eine leichte Kurve. Parker blinzelte und kniff die Augen zusammen. Nicht nur wegen der Sonnenstrahlen, die durch das grüne Blätterdach fielen, sondern weil sie geblendet war von der grandiosen Vorstellung, die sich genau vor ihr auf dem grünen Rasen abspielte.
Da saß Nicholas Brenner – Nick oder Nicky, wie seine überwiegend weiblichen Fans ihn gern nannten – im Schneidersitz auf einer Wiese und bearbeitete mit hingebungsvoll geschlossenen Augen seine Gitarre. Die blonde Mähne wurde durch einen Gummi aus dem Gesicht gehalten. Weißes Baumwollhemd, die Ärmel lässig hochgekrempelt. Dunkelgrüne Cargohosen, Turnschuhe. Und was spielte er? »Stairway to Heaven«, diese alte Schnulze. Schlimm genug. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren seine Fans.
In der Schule wurde Nick ständig von einem Haufen kichernder Mädchen verfolgt. Peinlich. Parker wurde schon vom Zusehen übel. Da waren vier von ihnen, hockten auf einer Bank in der Nähe des Gitarristen. Schnatterten und kicherten wie eine Horde wild gewordener Äffchen. Nele, Charlotte, Julia und Gitti, die Wortführerin, von Parker nur »Igitti« genannt. Blond von außen und innen, alle vier. Handy am Ohr, Täschchen über dem Arm, Farbe im Gesicht und Luft im Hirn.
Was war nur los? Fuhr denn keiner mehr in Urlaub, mussten sie sich alle hier am See herumtreiben? Für Parker war der kurze Hüpfer ihres eigenen treulosen Herzens jedoch am allerschlimmsten, ausgelöst durch den unverhofften Anblick von Nicks Händen, die über die Saiten strichen.
Parker fuhr sich mit der Linken durch den schwarzen Haarschopf, sie straffte die Schultern. Niemand hatte sie gesehen. Klein, dünn und unscheinbar zu sein hatte auch Vorteile.
Die Igitti-Clique schmachtete unisono Richtung Gitarrist. Nick hielt die Augen immer noch geschlossen. Grüne Augen, die nie auch nur einen einzigen flüchtigen Blick in Parkers Richtung geworfen hatten. Oder je werfen würden. Warum auch? Er hatte die Auswahl unter den schönsten Mädchen der Schule.
Was auch immer man über die Igitti-Clique sagen konnte, hässlich waren die Mädels nicht. Schon gar nicht im Sommer mit knappen bunten Blusen und noch knapperen Röcken.
Trotz des Lärms um ihn herum spielte Nick völlig versunken weiter. Die Lady erklomm ihren »Stairway to Heaven« und musste feststellen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Das hätte Parker ihr gleich sagen können. Sie befahl ihrem Herzen, sich wieder abzuregen, und ihren Füßen weiterzugehen, möglichst geräuschlos. Vergeblich.
»Guck mal, da drüben ist Polly Pocket. Quadratisch, praktisch, schwarz«, rief Igitti voll Häme.
Die anderen Äffchen kreischten ebenfalls los, schrill und boshaft. Parker hätte gern mit Bananen geworfen, um die Bande abzulenken. Bei diesen Losern waren intelligente Antworten und jede Art von Reaktion verschwendet. Am Ende machten sie wieder Fotos von ihr und posteten sie als Zicke des Tages auf Facebook. Alles schon dagewesen. Der Pfad machte eine scharfe Biegung nach links, und Parker beeilte sich wegzukommen. Hinter ihr wurde das Gekicher leiser. »Stairway to Heaven« ebenfalls.
Hoffentlich hatte Nick das nicht gehört, dachte Parker unwillkürlich, nur um sich sofort über die eigene Dummheit zu ärgern. Wahrscheinlich hatte er es nicht nur gehört, sondern lachte gerade kräftig mit. Aber das konnte ihr egal sein. Sie würde sich am Ufer unter diesen alten, krummen Baum setzen, und alle konnten sie mal kreuzweise.
Parker holte das Buch aus der Jackentasche, einen Schottland-Reiseführer, den sie in der Grabbelkiste einer Buchhandlung gefunden hatte. Sie blätterte durch die Seiten, betrachtete die Fotos. Kleine Sonnenpunkte tanzten auf ihrem Gesicht, wärmten es durch das Blätterdach hindurch. Die Wellen glucksten leise am Ufer, Wind rauschte durch die Blätter.
Parker lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie dachte an leere grüne Ebenen, dunkelgraue wilde Berge, einsame Seen. Kilometerweit kein Haus, kein Mensch. Nur Schafe. Eine leere Straße, verlockende Kurven, die schwere Maschine unter ihr, elegant und kraftvoll. Das beständige Brummen des Motors. Eins werden, verschmelzen, fahren. Ein Zelt in der endlosen Weite errichten. Den Sternenhimmel in der Nacht bewundern, so klar, so funkelnd, so unerreichbar …
»Was nützt mein Gedicht, o Muse, wenn es den Edlen weckt in dem Augenblick, wenn er sich selbst vergisst.«
Parker öffnete die Augen und blinzelte ins grüne Blätterdach über sich. Eine Wurzel des Baums drückte sie schmerzhaft zwischen den Schulterblättern. Der Motorradreiseführer lag auf ihrem Bauch. Vom untersten Ast spähte der Rabe auf sie herab.
»Halt den Schnabel, Lyngx«, brummte sie.
Nicht mal im Park fand sie Ruhe. Dabei hatte sie sich so ein schönes, verstecktes Plätzchen gesucht. Aber Lyngx entdeckte sie überall.
»Respektlos, o Muse. Das ist Goethe.«
Parker setzte sich auf, gähnte herzhaft und drückte den Rücken durch. Sie stopfte das Buch in die Tasche ihrer ledernen Bikerjacke und fuhr sich mit der Hand durch den Haarschopf.
»Ich kann’s gar nicht erwarten, bis ich 18 bin und endlich abhauen kann.«
Der Rabe wechselte mehrmals von einem Bein auf das andere, als würde er einen missglückten Steppversuch auf einer heißen Herdplatte hinlegen.
»Schutzlos und ganz allein in der weiten Welt, o Muse?«
»Jammer nicht so rum, ich bin nicht schutzlos. Und ich halte mich bedeckt. Werde keinem auffallen. Hier ein bisschen kellnern, da ein wenig putzen. Was eben so anfällt. Hauptsache, ich bin volljährig und frei.«
»Aber wenn deine Berufung dich ergreift, was dann, o Muse?«
Warum waren alle nur so scharf darauf, einem das Leben zu verplanen? Die Lehrer in der Schule, die ständig betonten, wie wichtig ein guter Notendurchschnitt sei, wenn man studieren und einen guten Job haben wollte. Lyngx und Miranda, die Parkers einzige Bestimmung im Muse-Dasein sahen. Niemanden interessierte es, was sie selbst wollte. Nicht, dass sie das so genau gewusst hätte. Denn es gab so viel, was sie in ihrem Leben gern getan hätte. Doch niemand ließ sie in Ruhe darüber nachdenken. Alle machten immer nur Stress.
»Mich greift nix und niemand. Ich geb jedem ein Ding vors Schienbein, der das zu tun wagt!«
Parker bewegte die Zehen in den Combat Boots. Die Stiefelspitzen waren stahlkappenverstärkt.
Der Rabe seufzte theatralisch. »Man kann seiner Berufung nicht entfliehen, o Muse. Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen reißt es hinfort.«
»Verschone mich mit Goethe.«
»Seneca, o Muse, römischer Philosoph der Antike.«
»Scheiß drauf.«
Der Rabe zuckte zusammen.
Parker gähnte erneut. »Wie spät ist es?«
»Später Nachmittag, o Muse. Die Sonne brütet nicht mehr allzu stark, und auf der Wiese fliegen die Käfer tief. Leckere, fette Käfer.«
»Dann sollte ich mich besser auf den Weg machen.«
Der Rabe legte den Kopf schief.
»Hörst du das, o Muse? Orpheus spielt.«
Parker lauschte. Kinderlachen, ein Hund bellte. Und dann noch die einsame Gitarre. Nicht weit weg. War das etwa immer noch Nick? Warum war er mit seinem Fanclub nicht Eis essen gegangen?
»Orpheus? Pfft. So gut ist er nun auch wieder nicht«, sagte Parker.
Ein mythischer Sänger, der sogar Felsen zum Weinen gebracht haben soll. Doch im entscheidenden Moment hatte er versagt. Seine Frau Eurydike war in die Unterwelt entführt worden. Orpheus wickelte die Götter mit seiner Musik um den kleinen Finger. Er konnte sich Eurydike aus der Unterwelt zurück ins Tageslicht holen. Einzige Bedingung: Er durfte sich unterwegs nach ihr nicht umschauen. Und was hat er getan? Na klar, genau das.
Männer.
Der Wind wehte ihr Töne zu, leise, zögernde Töne. Fetzen einer gezupften Melodie. Wenn das wirklich Nick war, dann hatte er diesen »Stairway«-Song endlich beendet. Was spielte er jetzt? Parker kannte es nicht. Sie lauschte wider Willen und würde es nur ungern zugeben, aber es klang nicht schlecht. Wirklich gut war Nick jedoch auch nicht. Zu mechanisch in der Ausführung, zu stolz auf seine Fingerfertigkeit. Zu wenig Leben, Liebe, Trauer und Wut in der Musik. Technik gut. Gefühl mangelhaft.
Männer.
Etwas streifte ihr Gesicht, rauschte vorbei. Parker schreckte auf. Lyngx saß vor ihr auf dem Boden und verspeiste gerade die Reste eines sich windenden Regenwurms. Er sah sie an, schluckte hastig, und legte den Kopf schief.
»Tadle mich nicht, o Muse, auch der Weise muss essen.«
Sie sollte Lyngx dankbar sein, denn ihm gelang es immer wieder, sie auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen. Nick hatte sie mit seiner Musik zum Träumen gebracht. Der Fluch der Musen: diese verflixte Affinität zu Musik. In dem Wort steckte nicht umsonst die Muse drin.
Und das war ja nicht alles: Von Kunst, Malerei, Literatur, Dichtung fühlt sich eine Muse ebenfalls magisch angezogen. Dinge, die sie auslösen, vertiefen, vervollkommnen konnte. Dinge, die sie in einen Rausch versetzen, genauso wie denjenigen, der diese Dinge erschuf. Künstler.
Männer.
Parker würde sich von diesen Typen fernhalten. Vor allem von Künstlern. Sie würde ihr eigenes Ding machen, um nicht als Anhängsel einer egozentrischen Berühmtheit zu enden. Entschlossen rappelte sie sich hoch. Dann nahm sie die Stimmen wahr. Hässliche, böse Stimmen. Idioten auf der Suche nach Ärger. Hörte sich ganz so an, als wäre Nick in Schwierigkeiten.
Aber das war nicht Parkers Problem.
*
Nick schloss die Augen und ließ seine Finger über die Saiten streichen. Schlug einen Akkord an, spürte den Tönen nach. Da war dieser eine Song in seinem Kopf. Hinter einem dunklen Vorhang, den er noch nicht lüften konnte. Der Song zu einer Melodie, die so frei und wild war wie der Wind, der sich jederzeit in einen Sturm verwandeln konnte. Eine Melodie, die Flügel hatte, auf Sturmwolken ritt und nach Regen schmeckte. Ein Song, der aufs Ganze ging, der sich dieses dreckige, rotzige, wunderbare, verwirrende Leben vornahm. Nick wollte nichts anderes, als den verdammten Song zu schreiben. Er wusste, dass er das konnte. Mit der passenden Melodie. Sie war da, irgendwo, doch er bekam sie nicht zu fassen.
»Guck mal, der Milchbubi.«
»Gitarrenheini.«
»Schwuchtel!«
Eine leere Bierflasche landete auf der Wiese, keinen Meter von Nick entfernt. Er ließ die Gitarre sinken und blinzelte ins Sonnenlicht, das durch das Blätterdach der alten Kastanie fiel, unter der er saß.
Sie waren zu dritt. Kahl rasierte Köpfe, Springerstiefel, Lonsdale T-Shirts, dazu Zigaretten, Bier und gähnende Leere im Hirn. Gelangweilte Nachwuchsherrenmenschen auf der Suche nach verprügelnswertem Leben. Bisher hatten sie sich darauf beschränkt, einander herumzuschubsen und ab und an Nick etwas zuzurufen (Dinge wie: »langhaariger Penner«).
Nick hatte sie meist ignoriert. Er kam gern zum See und suchte sich ein ruhiges Eckchen zum Üben, weil er das zu Hause nicht machen konnte. Meistens gab’s keine Probleme. Er hatte schon begeisterte Zuhörer gehabt, die ihm Geld geben wollten (was er nicht nahm) oder ein Bier spendierten (eine volle, nicht geworfene Flasche), dazu zwei Heiratsanträge (von ihm völlig fremden, viel älteren Frauen, und er hatte noch nicht mal eine Freundin). Und einmal war er zu einer türkischen Hochzeit eingeladen worden, um dort zu spielen (ein lustiger Nachmittag und eine sehr lange Nacht).
Die Mädchen aus der Schule hatten glücklicherweise schon aufgegeben. Er ignorierte sie so lange, bis sie sich langweilten. Manchmal tauchten Kerle auf, für die ein Junge in Jeans, weißem Baumwollhemd und mit Pferdeschwanz, der unter einem Baum saß und Musik machte, eine persönliche Beleidigung war. Normalerweise hatten diese Typen die Aufmerksamkeitsspanne einer Eintagsfliege, und er hatte gehofft, sie würden sich anderen Dingen zuwenden. Wie zum Beispiel sich gegenseitig die Nasen blutig zu hauen. Hatte leider nicht funktioniert.
»Spiel mal was Deutsches.«
»Ja, spiel mal Rammstein!«
»Kannste überhaupt deutsch?«
Die Melodie hatte sich versteckt. Nick konnte es ihr nicht verübeln. Am liebsten hätte er sich ebenfalls versteckt. Zu spät. Manchmal kamen Polizisten vorbei. Nick war schon ein Mal gefilzt worden, weil sie ihn für einen Dealer hielten. Dabei rauchte er überhaupt nicht. Manchmal kamen auch Mitarbeiter des Ordnungsamtes und wollten eine Genehmigung für das Musizieren auf öffentlichen Plätzen sehen. Da Nick jedoch kein Geld nahm, hatten sie ihn in Ruhe lassen müssen. Wo war die Staatsmacht, wenn man sie mal brauchte?
»Er kann nur Scheiße spielen.«
»Er hat nur Scheiße im Hirn.«
»Sollen wir ihm die rausprügeln?«
Schnell kamen sie auf ihn zu. Er hätte nicht so lange warten, sondern gleich abhauen sollen. Nick konnte schlecht zuschlagen, aber gut rennen. Er stand auf und lehnte die Gitarre hinter sich an den Baum. Der durfte unter keinen Umständen etwas passieren. Er besaß nur die eine, und es hatte sehr lange gedauert, bis er genügend dafür zusammengespart hatte.
Sie umringten ihn mit grinsenden Gesichtern und brachten eine unappetitliche Mischung aus Schweiß, Zigarettenqualm und Bierdunst mit. Nick schätzte seine Lage als aussichtslos ein, doch er war wild entschlossen, zumindest ein paar ordentliche Tritte auszuteilen. In weiche Körperregionen. Hätte er Springerstiefel statt Turnschuhen an gehabt, wäre das vielleicht sogar wirksam gewesen.
»Schwuler Penner!«
»Dreckige Bettler.«
»Linke Sau!«
Nick zog die Schultern hoch, ballte die Fäuste, drehte den Kopf hin und her, versuchte, alle drei gleichzeitig im Auge zu behalten, wollte abschätzen, woher der erste Schlag kam. Dann hörte er eine vierte Stimme, trocken, klar, sehr deutlich:
»Sau ist weiblich, der entsprechende männliche Begriff lautet Eber, die Gattung Hausschwein. Schweine sind sehr intelligente Tiere. Was man von euch drei nicht behaupten kann.«
Das Trio drehte sich um, Nick spähte zwischen ihren breiten Rücken hindurch. Hinter ihnen stand ein Mädchen auf der Wiese. Sie hatte kurze, dunkle Haare, die ihr wild vom Kopf abstanden, trug eine Lederjacke, in der ihre schmale Figur fast verschwand, dazu große schwarze Stiefel.
»Was’n das?«
»Ne Punkerschlampe?«
»Hält sich wohl für besonders schlau?«
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine fest auf den Boden gestellt. Rührte sich auch nicht, als das Trio sich in ihre Richtung zu bewegen begann. Stand einfach nur da, klein, trotzig, unverrückbar, unbeirrbar.
»Die nehmen wir uns vor.«
»Ich zuerst.«
»Nee, die fass ich nicht an, da hole ich mir ja was weg!«
Nick bewunderte ihren Mut. Die meisten anderen Menschen wären so schnell wie möglich vorbeigegangen. Sie hatte eingegriffen. Was nun? Gegen das Trio konnte sie unmöglich etwas ausrichten. Nick suchte mit Blicken schnell die Umgebung ab. Immer noch keiner da, der ihnen helfen konnte.
»Lasst sie in Ruhe«, sagte Nick und machte einen Schritt nach vorn.
»Der Penner wird mutig.«
»Der Assi reißt sein Maul zu weit auf.«
»Wir stopfen es ihm!«
Über Nick raschelte es im Baum. Dann rauschte ein schwarzer Schatten an ihm vorbei, brachte einen kühlen Luftzug mit sich, der entfernt nach Lorbeeren und Meer duftete.
»He, nimm das Biest weg!«
Ein schwarzer Rabe, ein richtiges Riesenvieh. Er stürzte sich wie ein Kamikazeflieger in kühnen Manövern mal hier in ein Gesicht, mal da auf eine Glatze, flatterte mit den Flügeln, krächzte böse und kratzte mit seinen Klauen über rote Wangen. Das Mädchen holte aus und trat zu. Der erste ging zu Boden, hielt sich das Knie.
»Zur Seite, Lyngx«, rief sie.
Der Rabe flog auf. Sie hatte etwas aus der rechten Jackentasche geholt, streckte die Hand aus und nebelte das Trio gründlich ein. Hustend, spuckend, heulend wälzten sich zwei am Boden. Der Dritte hingegen war nicht so leicht einzuschüchtern. Wie ein Stier, der kapiert hatte, das nicht das rote Tuch, sondern der Torero sein wahrer Feind war, raste er wutschnaubend auf das Mädchen zu.
Doch seine Augen waren zugeschwollen, und er sah nicht mehr richtig. Nick stellte sich ihm mit geballten Fäusten in den Weg. Bevor er einen linken Haken ausprobieren konnte, den er bei Bruce Willis abgeguckt hatte, stolperte der Typ über eine Wurzel und krachte fluchend zu Boden.
»Hau ab!«, sagte das Mädchen zu Nick. »So lange wirkt das Zeug nicht.«
Der Rabe saß auf ihrer Schulter und musterte Nick mit schief gelegtem Kopf.
»Gehört der zu dir?«, wollte Nick wissen.
»Vergiss deine Gitarre nicht.«
Er lief zum Baum zurück, griff nach dem Instrument, drehte sich wieder um.
»Was ist denn hier los?«
Ein Mann und eine Frau vom Ordnungsamt. Nicht ganz aufs Stichwort, aber immerhin. Das Trio rappelte sich auf und rannte, die Ordnungshüter flitzten hinterher. Wo war das Rabenmädchen?
Mitten in der Wiese blitzte etwas rot-metallisch. Nick bückte sich und hob es auf. Ein Schweizer Taschenmesser. Hatte sie das verloren? Links von ihm, unter den Bäumen, krächzte heiser ein Rabe. Interessante Tonfolge. Könnte man einen Song draus machen. Ein Rabenlied. Wieder regte sich die Melodie in Nicks Kopf. Gut, denn manchmal kamen sie nicht wieder. Aber diese schon. Sie hatte Flügel bekommen. Rabenschwarze Flügel. Sie war klein und tough, trug eine Bikerjacke, und wo sie hintrat, wuchs kein Gras mehr.
Nick schulterte seine Gitarre und folgte der Melodie.
*
Parker stampfte vorwärts, unter ihren Stiefeln knirschte der Kies. Sie wollte nur ihre Ruhe haben. Am liebsten hätte sie sich zu Hause mit einem Buch aufs Sofa verkrochen. Aber dort wartete Miranda auf sie. Und das war Parker gerade eindeutig zu viel. Ihre Füße trugen sie von ganz allein wieder in Wolfs Werkstatt.
Sie schwitzte höllisch in der Lederjacke. Aber um nichts in der Welt würde sie sich von ihrem Schutzpanzer trennen. Gerade hatte er sich wieder als sehr hilfreich erwiesen. In den diversen Taschen steckten nicht nur zerfledderte Reclam-Heftchen (für den Lyrik-Notfall) und zerdrückte Schokoladenriegel (für den Hungernotfall) sowie der Schottland-Reiseführer (Traumfutter), sondern auch Überraschungen für Dummköpfe. Das Pfefferspray war nur eine davon.
»Eine wahrhaft edle Tat, o Muse«, krächzte der Rabe, der neben ihr her flatterte.
»Das war eine ausgemachte Dummheit, Lyngx, und das weißt du auch. Ich sollte mich nicht einmischen.«
»Drei gegen einen, höchst unfair, o Muse.«
»Hör doch mal auf, mich ständig zu o-musen! Das Leben ist nicht fair. Basta.«
»Rabenscheiße, mit Verlaub, o Muse.«
»Mach die Flatter«, sagte sie unwirsch.
»Respektlos«, krächzte der Rabe.
Er stieg etwas höher auf, und sie verlor ihn aus den Augen. Manchmal hörte er auf sie. Meist nicht. Parker wünschte sich, sie würde besser auf sich selbst hören und sich immer schön bedeckt halten.
Die wichtigste Regel: Wer klein und schutzlos war, sollte besser keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Schon gar nicht, wenn er oder sie über ein ganz spezielles Talent verfügte, dass er oder sie nicht vorhatte, jemals einzusetzen. Auch dabei half ihr die Lederjacke.
Parker kickte eine leere Coladose über die Straße. Scheppernd knallte sie gegen einen alten Fernseher, den jemand an einer Laterne am Straßenrand abgeladen hatte. Mann, die Straße war doch keine Mülldeponie. Ein Witzbold hatte an den Fernseher einen Zettel geklebt: »Weapon of Mass Distraction«. Parker grinste. Keine Massenvernichtungs-, sondern eine Massenablenkungswaffe. Nicht schlecht. Mit dem Fernsehen war das so wie damals im alten Rom, dachte Parker. Die Cäsaren gaben dem Volk Brot und Spiele, dann hielten alle brav die Klappe und ließen sich ausbeuten.
Parker hielt Ausschau nach etwas, das sie wegkicken konnte. Doch außer ein paar zerfledderten Werbeprospekten und diversen Hundehaufen gab es nichts auf dem Gehweg. Drei gegen einen. Natürlich hatte Lyngx recht, es war unfair. Wenn Parker eines nicht ausstehen konnte, dann so etwas. Also hatte sie sich eingemischt. Nun gut, passiert war passiert. Aus und vorbei.
Niemand hatte sie erkannt, niemandem war sie aufgefallen. Nick würde sich in Zukunft hoffentlich eine andere Stelle suchen. Parker würde ihn in den nächsten Wochen mit etwas Glück nicht mehr treffen.
Da vorn konnte sie Wolf schon sehen, der an einem Bike herumschraubte. Alles war gut.
*
Eigentlich voll peinlich, von einem Mädchen gerettet zu werden, dachte Nick. Und wie schnell das gegangen war. Zack. Krach. Zugetreten hat sie, nicht übel. Das mit dem Spray war ebenfalls krass gewesen. Hatte ausgesehen, als würde sie das nicht zum ersten Mal machen. Das Taschenmesser gehörte garantiert ihr. Bestimmt würde sie es vermissen. Zumindest sollte er dem Rabenmädchen nachgehen und ihr das Messer zurückbringen, um sich bei ihr zu bedanken.