Ausgesetzt - James W. Nichol - E-Book + Hörbuch

Ausgesetzt Hörbuch

James W. Nichol

5,0

Beschreibung

Neben einer Landstraße in Ontario wird ein dreijähriger Junge ausgesetzt. Seine Mutter flüstert ihm noch zu, sich an einem Zaun gut festzuhalten - doch sie kehrt nie zurück. Mit neunzehn weiß Walker Devereaux immer noch nicht, wer er eigentlich ist. Außer einem Foto von zwei Mädchen und dem Brief eines Teenagers, die man damals in seiner Jackentasche fand, hat er keine Anhaltspunkte. Aber er gibt nicht auf. Walker will das Rätsel um seine Familie lösen - und kreuzt den Weg eines mörderischen Psychopathen. Ausgesetzt von James W. Nichol: Spannung pur im eBook!

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Zeit:9 Std. 15 min

Sprecher:Norman Matt
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James W. Nichol

Ausgesetzt

Psychothriller

Aus dem Englischen von Silvia Visintini

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelDank

Für Judi

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1

1995

Der dreijährige Walker Devereaux steht an einer Straße, auch wenn er zu klein ist, um sie zu sehen. Hohes Gras umgibt ihn, Gras von der gelbbraunen Farbe einer Löwenmähne in der späten Nachmittagssonne. Hin und wieder rauscht ein Auto vorbei.

Er hält sich mit aller Kraft an einem Quadrat eines Maschendrahtzauns fest und schaut unverwandt hindurch, auf noch mehr Gras, das steil einen Hang hinaufwächst, auf silbriges Moos weiter oben und hoch aufragenden schwarzen Fels.

»Halt dich fest«, hatte sie geflüstert, »halt dich ganz fest.« Ihr Schatten über ihm, ihr dunkles Haar, das herabfiel und sein Gesicht bedeckte, ihr warmer Atem an seinem Ohr.

Aber er hielt sich ja schon fest, so fest, dass der Draht in seine Hand einschnitt, so voller Angst vor etwas oder jemandem, dass er es nicht wagte, seine Augen von diesem Quadrat und dem Gras abzuwenden. Und dann war sie verschwunden.

Der rostige Draht färbt seine Hände orange, die Nachmittagssonne wird kälter. Er beginnt zu schwanken. Der Berg beugt sich über ihn, das hohe Gras marschiert wie eine Armee an ihm vorüber, schwatzend, die Fahnen zum Himmel gestreckt. Er konzentriert sich noch immer auf das Geräusch näherkommender Fahrzeuge, jedes bringt ihm die Mutter zurück, jedes fährt vorbei.

Und dann bleibt eines stehen.

Er hört, wie eine Autotür zugeschlagen wird. Sein Herz macht einen Sprung, aber er kann sich nicht umdrehen, um hinzusehen, er ist schon Teil des Zauns. Er kann sich nur mehr daran festklammern, den Hang hinaufstarren und warten.

Eine Männerstimme ertönt. »Was hab ich gesagt? Komm herauf. Schau dir das an.«

Er hört den Mann durchs Gras rascheln. Ein aufgedunsenes rotes Gesicht taucht aus der Düsternis auf, verharrt schwebend neben seinem Ohr.

»Lass den Zaun los, Junge«, sagt das rote Gesicht.

Aber er kann nicht, so sehr er es auch versucht, und so muss der Mann jeden seiner Finger einzeln vom Drahtgeflecht lösen, einen nach dem anderen.

»Menschenskind«, sagt der Mann.

 

So hatte alles begonnen. Das war das erste, woran der neunzehnjährige Walker Devereaux sich erinnern konnte. Er war ausgesetzt worden: nicht bei einem Freund oder dem Jugendamt abgegeben oder notfalls in irgendeinem schäbigen Motelzimmer »vergessen«, sondern am Straßenrand abgeladen wie ein lästiges Hundebaby. Und immer die Frage, die schmerzliche Frage, warum?

Der Bus machte einen Ruck. Der Verkehr floss immer langsamer, eine ununterbrochene Kette von Autos, Wohnmobilen und Bootsanhängern. Wochenendausflügler, die sich an einem Sonntagabend wieder nach Toronto hineinzwängten.

Walker sah aus dem Fenster. So viele Leute, Großstädter. Schon kam er sich vor wie das letzte Landei.

Er sah auf seine abgewetzten Jeans hinunter. Am rechten Knie war ein Riss, aber in seinem Fall war das kein Tribut an die Mode, sondern einfach nur ein Riss.

Er versuchte, die Beine auszustrecken, ohne die Frau mittleren Alters zu berühren, die sich in den Platz neben ihm gequetscht hatte. An die sechzehn Stunden waren sie so nebeneinander gesessen, gelegentliche Berührungen waren unvermeidlich gewesen, aber gesprochen hatten sie so gut wie nichts. Einmal hatte sie ein Taschentuch herausgezogen und sich ein paar Tränen abgetupft. Walker hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, also hatte er nichts gesagt. Er hatte angenommen, sie sei einsam, weil er einsam war, ohne seine Adoptivfamilie, ohne seine Freunde. Und ohne Cathy.

Eines musste man seiner Familie lassen, da hielten alle zusammen. Am vergangenen Abend hatten sie eine Riesenfete für ihn veranstaltet, und auch am nächsten Morgen waren sie – alle außer seiner Mutter und seinen drei jüngeren Schwestern verkatert und mit Brummschädeln – ganz früh angetreten, um in der strahlenden Morgensonne tapfer mit ihm auf den Bus aus Thunder Bay zu warten.

Und als der heranfuhr, überhäuften ihn alle seine sechs Schwestern mit guten Tips für das Überleben in der Großstadt, als ob sie eine Ahnung davon hätten, seine drei Schwäger schüttelten ihm die Hand, und Gerard Devereaux, sein ganzes Leben ein Waldarbeiter, sein ganzes Leben ein Trinker, schwieg wie immer inmitten der Weiberkakophonie, aber er sah Walker tief in die Augen, als ob er nicht damit rechne, ihn allzu bald wiederzusehen. Auf einmal fühlte er die Arme von Mary Louise Devereaux um seinen Hals und ihre Lippen fest auf seiner Backe und seinen Lippen; sein bester Freund Stewey half ihm, seine Sporttasche im Bauch des Busses zu verstauen, und all seine Freunde und seine ganze Familie scharten sich um ihn und sagten, viel Glück, Walker. Viel Glück!

Nur Cathy war weggeblieben. Und das hatte ihn auch nicht überrascht. Eines Nachts, als sie in seinem alten Pick-up saßen, hatte sie gesagt: »Walker, das hat alles nichts mit mir zu tun.«

»Du könntest mitkommen«, hatte Walker gesagt, und es eigentlich nicht gemeint. »Was von der Welt sehen.«

»Blödmann«, hatte sie gesagt und sich weggedreht.

Er hätte sie küssen können. Flüstern können: »Ich will dich nicht verlieren.« Er hätte ihren köstlichen Duft einatmen können, zusammen mit dem Parfüm, das sie sich immer hinters Ohr tupfte und das ihn verrückt machte. Er hätte sie noch einmal an sich ziehen, ihre Brüste mit seinen Händen umfassen und flüstern können: »Wir können gehen, wir können bleiben. Hauptsache, wir sind zusammen, Cath«, und die Autoscheiben hätten sich noch einmal mit ihrem Atem beschlagen. Aber er tat nichts davon. Weil es um mehr ging als um sein Verlangen, die Welt zu sehen. Er hatte etwas entdeckt. Etwas, von dem er niemandem erzählen wollte.

»Ich gehe, Cath«, hatte er gesagt.

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2

1961

Bobby rieb seine Nase am Fliegengitter im Fenster. Das fühlte sich gut an. Beruhigend. Auf und ab. Auf und ab. Er konnte seinen Vater im Gartenpavillon sitzen sehen. Nicht als Ganzes, nur seine Beine in den Leinenhosen, die so weiß waren, dass Bobby die Augen weh taten. Und dann bewegte sich sein Vater, schlug einen riesigen zweifarbigen Schuh über den anderen, die Schnürsenkel zu Schleifen gebunden, das weiße Leder nicht ganz so weiß wie seine Hosen, das braune Leder genau in der Farbe seiner Socken.

Tief unter sich sah Bobby, wie seine Mutter durch den Garten ging und die fächerförmigen Stufen zu seinem Vater hochstieg. Sie trug ein Tablett. Gläser blinkten, Eis klirrte.

Sie stand einen Augenblick da, ihr Kopf vom Dachgesims abgeschnitten, ihr Körper bedeckt mit Blumen, die sich auf einem transparenten Stoff wiegten, durch den Bobby hindurchsehen konnte.

Sein Vater war bei der Arbeit. Er war immer bei der Arbeit. Meistens war er irgendwo weit weg, aber manchmal arbeitete er unten in dem Zimmer, das nach Zigarren roch, und Bobby musste leise sein. Manchmal saß sein Vater draußen.

Bobby hörte seine Mutter plappern. Plapper. Plapper. Schließlich setzte sie sich auf die Stufen, ihr Gesicht unscharf im späten Sommerlicht. Sie sprach nicht mehr, sondern sah einfach vor sich hin. Jetzt fuhr sie sich mit der Hand über den Mund, hin und her.

Und auch Bobby rieb seine Nase sanft am Fliegengitter. Hin und her. Hin und her.

Plötzlich stand seine Mutter auf, ging über den Rasen und war verschwunden.

Die Beine seines Vaters blieben weiß und unbeweglich, die Falten in seinen Hosen messerscharf.

Bobby presste seine Nase fester auf das warme Drahtnetz. Leise, ganz leise riss es weit auf. Er kletterte hinaus auf das Fensterbrett und saß da, von grünen Efeublättern umrankt, seine runden Beinchen in den gelben Pyjamahosen hingen hinunter.

Die langen weißen Beine seines Vaters bewegten sich immer noch nicht.

Bobby ließ los und fiel durch einen langen grünen Efeutunnel, stürzte auf den darunter liegenden Steingarten und die Sträucher zu. Er ging über den Rasen zum Pavillon. Da stand sein Vater auf und trat auf die oberste Stufe, um ihn zu empfangen, und sein gebräuntes Gesicht verzog sich zu seinem berühmten Lächeln, die Zähne so weiß wie die eines Filmstars, und er staunte über seinen Sohn, über seine Tapferkeit, seine Unverwüstlichkeit. Jeden Moment würde er ihn jetzt hochheben und Bobby an seine kratzige Backe drücken, der Duft seines Eau de Cologne würde Bobby zu Kopf steigen und ihn in Geborgenheit, Schläfrigkeit, Glückseligkeit wiegen.

Bobby rieb sich die Nase am Fliegengitter wund. Die Beine seines Vaters hatten sich nicht bewegt.

Bobby berührte seine Nasenspitze mit dem Finger. Es tat weh.

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3

Walker hatte die Adresse einer Jugendherberge in der Church Street. Dort wollte er ein, zwei Nächte schlafen, bis er eine dauerhafte Bleibe gefunden hatte. Sobald er sich irgendwo niedergelassen hätte, würde er sich eine Arbeit suchen. Er hatte zweihundert Dollar Bargeld in der Brieftasche und zweitausend Dollar in Reiseschecks.

Seine Mutter war beinahe in Ohnmacht gefallen, als er ihr gesagt hatte, dass er sein Konto komplett plündern würde.

»Um Himmels willen, nimm doch nicht das ganze Geld mit. Eröffne ein Konto bei einer Bank in Toronto und lass dir das Geld überweisen. Die werden dich ausrauben und umbringen, noch bevor du richtig angekommen bist!«

Aber Walker blieb stur. Er wollte nicht das ganze Theater mit der Bank, er würde sofort acht-, neunhundert Dollar für die erste Monatsmiete und die Kaution brauchen, und wenn er auch ein paar Tage auf seinem mitgebrachten Bettzeug auf dem Boden schlafen und in einer Kneipe essen konnte, würde er sich doch bald ein richtiges Bett anschaffen müssen, und einen Topf und einen Wasserkocher und einen Löffel und ein Messer und …

»Wird schon schiefgehen, Mom«, hatte er gesagt und seine Hand auf die ihre gelegt.

Ein altes chinesisches Pärchen ging Arm in Arm über die Kreuzung in der Nähe des Busbahnhofs. Sie sahen Walker nicht an. Sie sahen niemanden an. Walker sollte in den nächsten paar Tagen lernen, dass einen in der Stadt, mit Ausnahme von Nutten, Schnorrern und Irren, selten jemand ansah.

»Können Sie mir vielleicht sagen, wo die Church Street ist?«, fragte Walker.

Die alte Frau zog ihren krummbeinigen Gemahl nahe an sich heran und ging weiter. Der Mann sah auf, ein plötzliches zahnloses Lächeln glitt über sein Gesicht, und er deutete über seine Schulter.

»Danke«, sagte Walker.

Er überquerte die Straße und ging in die angezeigte Richtung, nach Osten, obwohl er das nicht wusste. Er schritt in lockerem Gang dahin, froh, seine Glieder wieder strecken zu können. Die warme Stadtluft füllte seine Lunge und roch seltsamerweise schwach nach frisch gebackenem Brot. Er hatte nicht daran gedacht zu fragen, ob die Church Street zwei oder zwanzig Häuserblocks entfernt war. Er hatte einfach angenommen, dass sie, wo sie auch sein mochte, auf jeden Fall zu Fuß erreichbar wäre. Er war auf eisverkrusteten Schneeschuhen meilenweit durch Erlengestrüpp und über gefrorenes Sumpfland marschiert, hartnäckig der Route folgend, entlang der Gerard Devereaux gerne Fallen aufstellte, um sich ein Zubrot zu verdienen. Durch eine Stadt zu wandern, egal wie weit, musste ein Kinderspiel sein.

Als die Unterlagen über Walkers endgültige Adoption angekommen waren, im Juni vor seinem dreizehnten Geburtstag, hatte die Familie Devereaux eine Party gegeben. Seine kleinen Schwestern hatten ihm witzige Geschenke gemacht, wie zum Beispiel eine Dose Schälerbsensuppe, weil er ja jetzt halb Frankokanadier (väterlicherseits) war, und eine Schachtel Tee, weil er zur anderen Hälfte Anglokanadier (mütterlicherseits) war. Seine älteste Schwester hatte ihm eine große, blaue selbstgestrickte Babymütze geschenkt. Walker hatte sich bei ihr bedankt und sich die Mütze über den Kopf gezogen. Jeder hatte eine Rede gehalten, überraschenderweise sogar Gerard.

Als er jetzt an den beleuchteten Schaufenstern vorüberging, hatte Walker ein schlechtes Gewissen. Seit Wochen hatte er ihnen Lügen darüber aufgetischt, warum er nach Toronto wollte, hatte etwas von rauskommen, seinen Horizont erweitern, Unabhängigkeit testen dahergeredet.

In Wahrheit war er nach Toronto gekommen, um seine richtige Mutter zu suchen – die, die sich vor sechzehn Jahren über ihn gebeugt hatte, die dunkle Schattenfrau, die rätselhafte Erscheinung, die ihm ins Ohr geflüstert hatte: »Halt dich fest, halt dich ganz fest.«

Letzten Sommer – am Tag, nach dem Walker seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und damit das gesetzliche Mindestalter erreicht hatte, um Einblick in seine Akte im Büro des Jugendamts in Sudbury nehmen zu dürfen – hatten er und Stewey sich in Walkers verrosteten Pick-up gesetzt und auf den langen Weg nach Sudbury gemacht. Irgendwie schien es angebracht. Eine Art Volljährigkeitsritus.

Das Jugendamt war in einem alten zweistöckigen Gebäude aus gelben Ziegeln mit Reihen kleiner Fenster. Die Kinderzeichnung eines windschiefen Hauses, aus dessen Schornstein Rauchwölkchen schwebten, klebte an der gläsernen Eingangstür. Walker erkannte das Gebäude nicht wieder, obwohl er wusste, dass er zumindest einmal schon hier gewesen war, nämlich als er drei war.

Heather Duncan erkannte er jedoch, und sie ihn. Er hatte in der vergangenen Woche angerufen, und sie wusste, dass er kommen würde. Trotzdem sagte sie, dass sie ihn überall wiedererkannt hätte. Sie stand kurz vor der Pensionierung – ihr Haar war nun nicht mehr braun, sondern stahlgrau –, aber ihre Augen hinter den Gläsern mit dem Schildpattgestell waren die alten, ebenso ihre herzhafte Umarmung.

Ihm war klar, dass sie Stewey ein wenig lächerlich vorkommen mussten. Walker war nämlich mit seinen einsneunzig einen ganzen Kopf größer als sie, so dass sie sich das Gesicht an seiner Brust platt drückte. Aber es war Walker egal, was Stewey dachte, auch er drückte Heather an sich. In all den Jahren, die er in Sudbury in Pflege gewesen war, war sie seine Fürsorgerin gewesen. Er war auf ihren Schoß geklettert, hatte sich an ihre Hand geklammert, wenn sie ihn zu neuen Pflegeeltern brachte, und dann wieder zu neuen Pflegeeltern – fünf Pflegefamilien in acht Jahren.

»Warum kann ich nicht bei dir bleiben?«, hatte er mehr als einmal gefragt.

»Gegen die Vorschriften«, hatte sie geantwortet. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert.«

Was sich als nicht ganz richtig erwies, denn in der ersten Familie drückten ein paar Kinder seinen Kopf in die Toilette, in der zweiten zog ihm sein Pflegevater eins mit der Gürtelschnalle über und in der dritten steckte ihm ein Mädchen, das gerade eine schlimme Pubertätskrise durchmachte, Stifte in den Po.

Aber er erzählte niemandem davon, niemals. Er wurde einfach schwer erziehbar, weshalb ihn Heather Duncan immer wieder ins Auto setzen und woanders hinbringen musste.

Sie tat ihr Bestes. Sie küsste ihn auf die Wange. Sie schenkte ihm Kaugummi. Sie war seine beste Freundin.

Sie weinte sogar, als die Familie Graziano beschloss, über dreihundert Kilometer weiter nach Norden zu ziehen, nach Thunder Bay. Und weil sie die besten Pflegeeltern waren, die er jemals gehabt hatte, und weil er dieses Jahr in der Schule in so gut wie keine Rauferei verwickelt gewesen war, hatte das Jugendamt beschlossen, dass er mit den Grazianos dort hinauf ziehen sollte. Da war er elf gewesen und Mündel des Staates.

Heather Duncan fragte ihn, ob er wirklich gehen wolle, und Walker dachte eine Weile intensiv nach, die Anstrengung deutlich sichtbar in seinem Jungengesicht. Er dachte an all die winzigen Schlafzimmer in all den verschiedenen Häusern, all die Kinder- und Stockbetten. An die Angst und die Auseinandersetzungen, die versteckten Drohungen, er solle brav sein, sonst werde er schon sehen, die feuchtfröhlichen Partys, das gefühlsduselige Abgeknutsche, das unerforschliche Kommen und Gehen der Erwachsenen. Er dachte daran, dass er nie sicher sein konnte, was im nächsten Augenblick mit ihm geschehen würde. Er sagte ja.

Leider wurde Mr. Graziano fast zeitgleich mit ihrer Ankunft in Thunder Bay arbeitslos. Eines Abends stieß er seine Frau, die eine vierte Schwangerschaft nicht zu verhindern gewusst hatte, durch das Glas der Eingangstür. Überall war Blut. Wieder einmal wurde Walker von der Fürsorge abgeholt und diesmal zu Gerard und Mary Devereaux nach Big River geschickt, einer kleinen Stadt südlich von Thunder Bay. Das war mitten im Winter, und die Schneewehen waren höher als Heather Duncans Auto.

Walker blickte aus dem vereisten Fenster auf sein nächstes neues Zuhause. Es war ein hohes, altes, weißgestrichenes Schindelhaus, und davor standen drei Schneemänner im Kreis. Einer hatte einen weichen Filzhut auf, der nächste, etwas kleiner, eine Baseballmütze und der kleinste einen Kohlkopf. Auf den Rest der Welt machten sie den Eindruck, in ein äußerst wichtiges Gespräch vertieft zu sein. Walker, der sich an einen alten Pappkoffer mit all seinen Anziehsachen, seiner Zahnbürste und den Comic-Heften klammerte, riskierte ein Lächeln.

Jetzt telefonierte Heather Duncan. Jemand solle herunterkommen. Walker Devereaux sei soeben mit einem Freund – dabei hielt sie inne und taxierte Stewey mit einem kurzen professionellen Blick, als ob sie prüfen müsse, ob er ein guter Umgang sei oder nicht – aus Big River angekommen.

Sie tätschelte Walker die Wange und drohte ihm mit der Höchststrafe, sollte er sich nicht noch einmal bei ihr blicken lassen, bevor er ging. Sie wollte ihn und Stewey am Abend zum Essen ausführen. Walker sagte, das sei ein verlockendes Angebot, Stewey pflichtete ihm bei, und damit wandte Heather Duncan sich um und verschwand auf dem Flur.

»Die ist nett«, musste Stewey zugeben.

Walker fischte Zigarettenpapier aus der Tasche. Er war nervöser, als er gedacht hätte.

Stewey wusste alles über Walker, zumindest alles, was Walker ihm erzählen konnte. Sie waren beste Freunde geworden, bald nachdem Walker bei den Devereaux’ eingezogen war. Stewey und seine Bande hatten ihm nach der Schule aufgelauert. Stewey hatte sich auf seinen Rücken gesetzt, ihm Schnee in den Kragen gestopft und fröhlich verkündet, dass er ihm den Schädel einschlagen werde.

Auf einmal, und Stewey konnte später nicht sagen, wie es zugegangen war, saß nicht mehr er auf diesem mageren Bürschchen mit dem rabenschwarzen Haar, sondern der auf ihm, und eine kleine Faust mit harten Knöcheln raste mit Lichtgeschwindigkeit auf sein Gesicht zu.

Als das Blut aus Steweys Nase schoss, sprang Walker auf, durchbrach den Kreis der verwunderten Kinder und raste wie ein Juwelendieb die schneebedeckte Straße zurück zum Haus der Devereaux’.

Zwei Wochen lang stieß Stewey unheilvolle Drohungen aus. Es gab nichts, was er Walker nicht antun würde. Den Schädel würde er ihm mit einem Baseballschläger einschlagen, beide Arme würde er ihm brechen, den Pimmel würde er ihm abschneiden und an Harvey Chesters Hund verfüttern. Aber etwas war dran an der Art, wie Walker einfach weiterging, den schmächtigen Körper locker und doch gespannt wie eine Stahlfeder; und wie er, als Stewey und seine Bande sich vor ihn hinstellten, so dass er nicht vorbeikonnte, nicht an ihnen vorbeischaute, sondern Stewey unverwandt in seine hellblauen Augen sah. Das machte Stewey Angst, aber auch neugierig. Vor allem aber war es das Schweigen, das es ihm angetan hatte, die abgrundtiefe Stille, die Walker zu umhüllen schien, als bewege er sich, ja sei eigentlich anderswo, auch wenn er direkt vor einem stand.

So kam es, dass Stewey eines Tages, statt zu drohen oder den knallharten Burschen zu mimen, einfach »Hi« sagte, was Walker mit »Hi« beantwortete. Ein paar Tage später lehnten sie in der Pause plötzlich nebeneinander an dem alten Bretterzaun. Sie sagten zwar nichts, aber sie rückten auch nicht voneinander ab. Und eines Tages gingen sie gemeinsam nach Hause, und Stewey erzählte Walker, wie sehr er seinen Vater hasste, weil sein Vater eine Freundin in Terrace Bay hatte, und alle Bescheid wussten außer seiner Mutter. Walker nickte und sagte: »Hört sich nicht gut an.« Und sie wurden Freunde.

Die Person, mit der Heather Duncan telefoniert hatte und die jetzt rasch die Treppe herunterkam, entpuppte sich als die Hüterin der ruhenden Klientenakten im Bezirk Sudbury. Darüber hinaus erwies sie sich als nicht viel älter als Walker und Stewey und Besitzerin langen rötlichen Haares, herrlich runder brauner Augen sowie einer hinreißenden Figur, die in diesem Augenblick gerade in einem blassgelben Hosenanzug Staat machte.

Steweys sommersprossiges Gesicht und sein knallrotes Haar leuchteten noch eine Spur heller, als er sich Carolyn McEwan als L. H. Stewart, Testpilot und bekannter Philanthrop aus Big River, vorstellte. Sie lächelte sehr nett, lachte beinahe und fragte die beiden, ob sie wohl mit ihr kommen würden.

»Ich schon«, sagte Stewey.

Auf dem Weg hinauf in den zweiten Stock wandte sie sich alle paar Stufen zu ihnen um und fragte, wie die Fahrt gewesen sei, wie es in Big River aussehe und ob es diesen Sommer da oben geregnet habe, die Wälder um Sudbury seien nämlich ganz ausgetrocknet.

Walker war klar, dass sie sich umdrehte, weil sie sich bewusst war, dass zwischendrin zwei Augenpaare wie Laserkanonen auf ihr Hinterteil gerichtet waren, und ihr das unangenehm war. Das machte sie ihm sympathisch. Er zwinkerte Stewey zu, und es wurde ihm etwas leichter ums Herz, seine Beine fühlten sich nicht mehr so hölzern an, und es gelüstete ihn nicht mehr ganz so stark nach der selbstgedrehten Zigarette in seinen feuchten Händen, die er hier drinnen sowieso nicht rauchen konnte.

Etwas wirklich Wichtiges würde in seiner Akte nicht stehen. Die Polizei hatte monatelang nach seinen Eltern oder sonst jemandem, der ihn kannte, gefahndet. Jahrelang sogar. Zumindest hatte Heather Duncan das behauptet.

Seine Personenbeschreibung mit Foto war an jede Polizeidienststelle und jede sonst in Frage kommende Behörde in ganz Kanada geschickt worden. Das FBI bekam sie und verteilte sie überall in den Vereinigten Staaten. Soweit er wusste, war sie sogar an Interpol gegangen. Aber nichts war dabei herausgekommen. Kein Mensch suchte verzweifelt oder auch nur halbherzig nach diesem Dreijährigen, der sich selbst Walker nannte, kein sehr wahrscheinlicher Name, und erzählte, dass seine Mama weggegangen sei.

Carolyn führte sie in ein langes, schmales Büro, in das ein Konferenztisch, acht Holzstühle und fünf Reihen metallener Aktenschränke gerade so hineinpassten.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie. Sie nahm zwei Aktenmappen, eine neu und dünn, die andere alt, dick und voller Eselsohren. Beide legte sie vor Walker hin und setzte sich ihm gegenüber.

Walker bekam Herzklopfen. Da steht nichts drin, sagte er sich. Er war nur gekommen, um sich zu vergewissern, dass da nichts drinstand.

»Wie fühlen Sie sich, Walker?«, fragte Carolyn.

»Gut. Wieso?«

»Nur so. Manchmal sind die Leute ein bisschen nervös, wenn sie Genaueres über ihre leiblichen Eltern und ihre Herkunft erfahren. Aber«, sie sah ihn mit aufrichtigem Mitgefühl an, »das hier ist die ungewöhnlichste Akte, die mir je untergekommen ist.«

»Und wieso?«, fragte Walker.

Sie warf einen Blick auf Stewey.

»Flash und ich sind Kumpel«, beruhigte Stewey sie. »Stimmt’s, Flash?«

Stewey nannte Walker »Flash«, seit Walker sich vor sechs Jahren in einem Eishockey-Jugendturnier freigelaufen hatte und über die blaue Linie der anderen Mannschaft gestolpert war.

Walker nickte.

Carolyn lächelte Stewey an, und er wurde wieder rot.

»Diese Akte«, Carolyn tippte mit ihrem Stift auf die pralle, alte Mappe, »ich glaube nicht, dass die Sie besonders interessieren wird, aber Sie können Sie natürlich durchblättern. Da sind die üblichen Klientenberichte drin, wie Sie mit Ihren diversen Pflegefamilien und in der Schule zurechtkamen, und viele Briefe von den Lehrern und an die Lehrer. Und über ein paar Begegnungen mit der Polizei. Wegen Schlägereien. Davon gab’s ja wohl eine ganze Reihe, oder?« Sie sah zu Walker hoch. Er sah gut aus, mit seinen hohen Backenknochen, nur die Nase war flachgedrückt und schief.

Walker grinste sie an. »Keine Schlägerei. Ein Hockeyschläger.«

Sie errötete ein wenig und fuhr rasch fort. »Da sind die ganzen Unterlagen über die staatliche Vormundschaft. Und über den Umzug nach Thunder Bay. Aber die persönlichen Dinge und alles darüber, wieso Sie überhaupt der Fürsorge übergeben wurden, habe ich in eine kleinere Mappe getan, da ich mir dachte, dass Sie das am meisten interessiert.« Sie tippte mit dem Stift auf die nagelneue Mappe.

»Persönliche Dinge«, wiederholte Walker und merkte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er war sich nicht sicher, ob er wirklich wollte, dass sich etwas änderte. Er hatte sich an die Dinge gewöhnt, so wie sie waren. Es hatte auch Vorteile, eine Vergangenheit, so unendlich trostlos wie ein unbeschriebenes Blatt Papier zu haben. Man konnte alles darauf schreiben, was man wollte, und im Laufe der Jahre hatte er das auch getan. Vielleicht hatte seine Mutter ja einem Mafia-Clan aus New Jersey angehört, und sie wollte, dass ihr Kind geschützt vor einer Familienvendetta aufwuchs. Oder vielleicht war er ein entführter Millionenerbe aus Europa. Oder vielleicht – wegen seines rabenschwarzen Haares und seines dunklen Teints jahrelang als uneheliches Kind einer indianischen Säuferin gehänselt – war er ein halber Ureinwohner Amerikas, Abkömmling stolzer Krieger. Oder vielleicht war er wie Superman von liebenden Eltern von einem dem Untergang geweihten Planeten hierher geschickt worden, nur hatte er bis jetzt noch keine besonderen Fähigkeiten an sich entdeckt. Oder vielleicht …

Carolyn sah ihn wieder mit diesem teilnahmsvollen, besorgten Blick an, der wohl mehr mit ihrem Charakter als mit ihrem Beruf zu tun hatte. »Vielleicht hätte ich nicht ›persönliche Dinge‹ sagen sollen«, erklärte sie. »Es gibt nur zwei Dinge, die man ›persönlich‹ nennen könnte. Im wesentlichen geht es darum, wie man Sie gefunden hat und was die Polizei alles unternommen hat, um ihre Identität festzustellen. Es gibt eine Zusammenfassung, die die Polizei der Provinz Ontario unserem Direktor geschickt hat. Nachdem sie, mmh …«

»… aufgegeben hatten?«, ergänzte Walker.

»Ja. Walker, Sie verstehen doch, dass ich Ihnen nicht dabei helfen kann, Ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen? Ich wünschte, ich könnte es, aber ich habe überhaupt keine Anhaltspunkte. Ich hatte zwei Fälle, wo ein Neugeborenes ausgesetzt und die Mutter niemals gefunden wurde. Das Ungewöhnliche an Ihrem Fall ist, dass Sie schon drei waren.«

»Mehr oder weniger. Als ich schon größer war, hat Heather mir gesagt, dass ich nicht wusste, wann ich Geburtstag hatte. Also hat man mir einen verpasst. Den ersten Juli.«

Zum ersten Mal sah es so aus, als wäre es Stewey unangenehm, dabei zu sein. Er betrachtete eingehend seine sauber abgekauten Fingernägel.

Carolyn schlug den neuen Ordner auf, nahm einen gefalteten Brief heraus, der obenauf lag, und überreichte ihn Walker. Dabei fiel ein kleines Farbfoto aus dem Brief.

»Hoppla«, sagte sie.

Walker sah sie an. Sie schüttelte den Kopf. »Die Polizei hatte die zwei Sachen auch und ist damit nicht weitergekommen.«

Er nahm das Foto. Zwei kleine Mädchen trieben auf einem See, die eine hielt sich an einem Schwimmreifen fest, die andere saß rittlings auf einer Luftmatratze. Sie sahen selbst nicht viel älter als drei Jahre aus.

Zwischen den beiden Mädchen, das Wasser bis zur Taille, stand eine attraktive Frau, eine Hand auf dem Reifen, die andere auf der Schulter des kleinen Mädchens auf der Matratze. Das Haar der Frau steckte unter einer weißen Badekappe, und sie trug einen schwarzen Badeanzug. Sie lächelte die Person an, die, im tieferen Wasser stehend, das Foto machte. Hinter ihnen – und zwar ziemlich weit hinten, denn es sah so aus, als stünden sie weit draußen im See – leckten kleine, trübe Wellen über einen Sandstrand.

Oberhalb des Strandes warf auf der einen Seite des Fotos eine steile, mit Kiefern gesäumte Sandklippe ihren Schatten über das Wasser. Auf der anderen Seite duckte sich eine niedrige rötliche Blockhütte mit einer verglasten Veranda in ausgedörrtes Gras. Davor stand ein Fahnenmast ohne Fahne. Etwas näher am Wasser ragte ein großer, runder, blendend weiß gestrichener Felsbrocken aus dem Sand.

»Hinten steht was drauf«, sagte Carolyn.

Walker drehte das Foto um und las, was mit Bleistift darauf geschrieben war: »Mary’s Point, 2. Juni 1964.«

»Flash«, flüsterte Stewey, der Walker über die Schulter spähte, »vielleicht ist das deine Mutter.«

Walker brannten die Augen. Er drehte das Foto wieder um. Das lächelnde Gesicht der Frau war jetzt verschwommen.

Walker rechnete nach. Er war irgendwann um 1976 geboren, das Foto war also zwölf Jahre älter. Soweit er das beurteilen konnte, war die Frau Mitte Dreißig, sie müsste also um die siebenundvierzig gewesen sein, als er geboren wurde. War das möglich, mit siebenundvierzig ein Kind zu bekommen?

»Ich glaube nicht, dass das Ihre Mutter ist«, sagte Carolyn sanft. »Wenn man den Brief liest.«

Walker hatte das Gefühl, seine Finger gehörten nicht zu ihm. Er faltete das Papier auseinander. Der Brief war, nicht allzu säuberlich, mit blauem Kugelschreiber geschrieben.

Liebe Lennie!

Ist ja toll! Ich kann’s gar nicht erwarten!

Rat mal, was ich gefunden habe? Sind wir nicht süß? Glaubst du, er sieht dir ähnlich? Nur hübscher? War nur Spaß. Aber er ist sicher gaaanz süß! Wie sein Vater, oder? Und ich bin noch immer Jungfrau! Das darf ja nicht wahr sein! Und dabei hab ich mich diesen Sommer doch so bemüht!! Egal, bald bist du da, mit deinen zwei Männern. Ich hab auch schon ein Geschenk für ihn, den kleinen, mein ich. Um den großen kümmerst ja du dich, oder??? Ich hasse Geheimniskrämerei, aber ich schwöre bei Gott, ich hab wirklich den Mund gehalten. Drei Jahre lang!!! Wenn das kein Rekord ist!

Ich muss gleich Schluss machen, weil ich zur Bridge muss, und ich bin eh schon spät dran. Ruf gleich an, wenn du da bist, oder wenn das nicht geht, schick mir eine Brieftaube mit einer Botschaft, irgendwas! Ich sehne mich so, so danach, dich zu sehen! Alle zu sehen! Der große Vogel, in toto. Toll!

 

Deine beste Freundin, auf immer und ewig

Alles Liebe, Liebe, Liebe

Kim

Walker sah zu Carolyn hoch. »Wo haben die das her?«

»Es steckte in Ihrer Tasche, als man Sie fand. Der Brief und dieses Foto, so steht’s im Polizeibericht. Aber leider war das auch alles.«

»Darf ich mal?«, sagte Stewey und zog an einer Ecke des Briefes.

Walker ließ ihn los und wandte sich wieder dem Foto zu. Jetzt interessierte ihn nicht mehr die Frau, sondern die beiden kleinen Mädchen. Die eine mit dem Schwimmreifen war halb abgewandt, Strähnen ihres dunklen nassen Haares klebten an ihrem Gesicht und den nackten Schultern. Die andere, mit ihrer gelbgetupften Badekappe und dem gerüschten gelben Badeanzug, lächelte direkt in die Kamera.

»Die Kleinen sind wahrscheinlich so um die drei. Wenn also eine von ihnen meine … meine Mutter ist«, Walker rechnete wieder nach, »und dieses Foto 1964 geknipst wurde …«

»Wäre sie ungefähr fünfzehn gewesen, als Sie auf die Welt kamen.«

»Mensch.«

Stewey beugte sich herüber, um sich das Foto noch einmal anzusehen. »Welche, glaubst du, ist es?«

Walker kam sich lächerlich vor, während er die Mädchen ansah, als ob sie ihm eine befriedigende Antwort geben oder gar das schwarze Loch schließen könnten, das sich in ihm auftat. Es war ein Fehler gewesen herzukommen. So mies hatte er sich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt. Er kam sich wieder ganz verloren vor.

Er sah Stewey an. »Keine Ahnung.«

 

Nach wenigen Minuten hatte Walker die Straße erreicht, nach der er gesucht hatte. Er sah sich die Hausnummern an, damit er in die richtige Richtung lief, und ging auf der Church Street nach Süden zur Jugendherberge. Jetzt kann es nicht mehr lang dauern, dachte er. Wie herrlich würde es sein, sich auf einer Pritsche ausstrecken zu können und ein wenig zu schlafen. Morgen würde er sich eine Wohnung suchen, und einen Job musste er auch finden.

Es stellte sich heraus, dass die Church Street an einem Sonntagabend um diese Zeit wie ausgestorben war. Er ging an mehreren Pfandleihern mit vergitterten Fenstern vorbei, an einem Laden, der wissen ließ, dass er Schmuck an- und verkaufte, und an einem anderen, hinter dessen staubigen Schaufenstern ein riesiger Stapel gebrauchter Computer zum Verkauf angeboten wurde.

Zwischen zwei dieser Läden bemerkte er in einem dunklen Eingang ein Pappschild, auf dem in großen roten Buchstaben zu lesen war: »Wohnung zu vermieten«, auf den leeren Platz darunter hatte jemand gekritzelt: »Drinnen nachfragen.«

Er sah zum ersten Stock des alten Gebäudes über dem Pfandleiher hoch, wo, fast unsichtbar unter einer reichverzierten Dachtraufe aus vermoderndem Holz zwei Fenster lagen. Irgendwo da oben hörte er Tauben gurren, aber sehen konnte er sie nicht, weil es pechschwarz war. Beide Fenster waren dunkel.

Er sah sich um. Fast genau gegenüber überragte eine wuchtige Kirche die Bäume.

Ich werde Mom erzählen, dass ich in der Nähe einer Kirche wohne, dachte er und lächelte. Sie war die Kirchgängerin in der Familie.

Natürlich hatte Mary Louise über seinen Ausflug nach Sudbury letzten Sommer Bescheid gewusst. Sie hatte ihn dazu ermuntert, weil er sehen musste, dass es nichts zu sehen, nichts zu erfahren gab – um das alles hinter sich zu lassen, die High School fertigzumachen, aufs College zu gehen, an die Zukunft zu denken. Und als sie Walker ansah, lag ein Leuchten in ihren ausdrucksvollen grauen Augen. Es spiegelte ihre absolute Gewissheit wider, dass er eine große Zukunft vor sich habe, so als ob sie allein kraft ihres Willens den Schicksalsgöttern alles abringen könne.

Als er nach Hause gekommen war, hatte er sich an den Küchentisch gesetzt und ihr und der ganzen Familie erzählt, was er und Stewey erlebt hatten, wie er mit Carolyn McEwan seine Akte durchgesehen und an jenem Abend mit Heather Duncan zum Abendessen ausgegangen war.

Er erzählte ihnen von den Polizeiberichten – dass er, als man ihn auf einer Nebenstraße des Highway 69, etwa fünfzehn Kilometer südlich des French River gefunden hatte, nagelneue Sachen trug, alle mit Etiketten amerikanischer Hersteller. Dass er von sich selbst immer als Walker sprach, und man deshalb annehmen musste, dass Walker sein Vorname war. Dass er, auch wenn er sonst nicht viel sagte, ständig wiederholte, dass seine Mama ihn wieder abholen würde, und nach seinem Papa fragte und in der Nacht ein, zwei Mal etwas rief, das wie »Anna« oder »Nana« klang.

Was den Brief und das Foto in seiner Tasche anging, stand in den Berichten, dass sich diese beiden Gegenstände trotz intensiver Bemühungen, die Personen zu identifizieren und Mary’s Point zu lokalisieren, als nicht zweckdienlich erwiesen hatten, und dass zwar ein Foto und eine Beschreibung von Walker sowohl in Kanada als auch international in Umlauf gebracht worden, aber keine Anfragen oder Hinweise eingegangen waren.

»Wir werden diese Akte nicht schließen, aber ich muss leider sagen, dass es über dieses Kind nicht mehr Anhaltspunkte gibt als an dem Tag, an dem es gefunden wurde.« Letzteres stand im Bericht von Inspector John Hayes von der Polizei der Provinz Ontario an den Leiter des Jugendamts Sudbury aus dem Jahre 1983.

Die Devereaux’ hatten am Küchentisch gesessen, den Brief und das Foto herumgereicht und, wie es Walker schien, immer wieder betreten zu ihm hingesehen. Er wusste, dass er ihnen leid tat und sie sich Sorgen um ihn machten, deshalb sagte er scherzhaft, seine Mutter habe ihn durch göttliche Intervention empfangen, schließlich sei sie erst fünfzehn gewesen. Aber wenn jemand von solch schwer fassbaren Schatten der Vergangenheit verfolgt wurde – was gab’s da zu lachen?

Walker lief die Church Street entlang und dachte wieder einmal daran, dass im Großraum Toronto fast drei Millionen Menschen lebten. (Diese statistische Größe war ihm nämlich sehr wichtig geworden, und er ließ sie sich immer wieder durch den Kopf gehen, in der Hoffnung, sie werde ihm doch irgendwann einmal ihre Bedeutung offenbaren.)

Drei Millionen Menschen. Und unter denen musste er eine Frau namens Kim ausfindig machen, eine Frau, die mittlerweile vierunddreißig war. Denn eines Nachts, als er ausgestreckt auf seinem Bett lag und zum x-ten Mal diesen Brief las, sprang ihm plötzlich etwas ins Auge, das ihm schon von Anfang an Rätsel aufgegeben hatte.

»Der große Vogel, in toto.« Darauf hatte er sich überhaupt keinen Reim machen können, und genau darüber zerbrach er sich deshalb auch am meisten den Kopf.

Lennie, das musste seine Mutter sein (hieß sie Lenore?), hatte offensichtlich gehofft, dass der Brief und das Foto der Polizei bei der Identifizierung helfen würden. Aber wenn das ihr Beweggrund war, warum dann so vage Anhaltspunkte? Die Polizei hatte sie, nach ihren Berichten zu urteilen, nicht zweckdienlich gefunden.

Es wurde ein Mary’s Cove erwähnt, eine kleine Bucht in der Nähe des Parry Sound. Man hatte sogar einen Polizisten hingeschickt, um nach dem Häuschen auf dem Foto zu suchen, aber nach einer langen Bootsfahrt stellte sich heraus, dass Mary’s Cove eine abgelegene, unbewohnte, von Felsen umzingelte Bucht war.

In den Berichten stand auch, dass die Einheimischen Stränden, Buchten und eben auch Landspitzen alle möglichen inoffiziellen Namen gaben, tausende Ortsnamen im ganzen Norden. Die Polizei hatte einfach nicht genügend Personal, sie alle zu überprüfen.

Aber nirgendwo ein Hinweis, dass man über »der große Vogel, in toto« gerätselt hatte.

Meinte Kim also tatsächlich einen großen Vogel? Toto? Sollte seine Mutter, diese Erscheinung (deren Gesicht er sich nicht in Erinnerung rufen konnte, so sehr er sich auch bemühte, nur ihr dunkles Haar, ihren Atem auf seiner Haut, die Worte, die sie gesprochen hatte), etwa nicht nur mit ihren beiden Männern im Schlepptau auftauchen, sondern auch noch mit einem Papagei auf ihrer Schulter? Unwahrscheinlich. Und warum »in«?

Meinte Kim, die Briefschreiberin, vielleicht das lateinische in toto, was »im ganzen« hieß? Nicht, dass Walker jemals Latein in der Schule gehabt hätte, aber irgendwie war ihm diese Redewendung eines Nachts durch den Kopf gegangen und er hatte sie im Wörterbuch nachgeschlagen. »Der große Vogel, im ganzen.« War das der Spitzname seiner Mutter, großer Vogel, und Kim sagte einfach nur, sie freue sich, dass Lennie heil zurückkehren würde? Gewiss, das passte im Ton zum restlichen Brief. Aber es war auch etwas weit hergeholt. Ein Teil des Problems war Kims Handschrift. Schönschreiben war offensichtlich nicht ihre Stärke gewesen.

Walker hatte das Wort toto so lange angestarrt, bis er, wie durch ein kleines Wunder, sah, was tatsächlich dastand.

Es war gar kein einziges Wort. Das erste »o« und das zweite »t« waren nicht verbunden, sie stießen nur irgendwie zusammen. Es waren zwei Wörter: »to« und »to«. Und als er sie erst einmal voneinander getrennt hatte, konnte er erkennen, dass das erste durchgestrichen war, der Querstrich auf dem zweiten »t« saß ein wenig höher als der auf dem ersten, und das zweite »o« war ein wenig größer als das erste. Großbuchstaben sollten das also sein. »Der große Vogel, in TO.« Die Leute aus Toronto nannten ihre Stadt üblicherweise TO. Das wusste sogar Walker.

Sein Vater und seine Mutter hatten die Absicht gehabt, nach Toronto zu fliegen, und zwar ziemlich bald, nachdem Kim diesen Brief geschrieben hatte. Neunzehn Tage später hatte man ihn gefunden, am 4. Oktober.

Walker sah sich noch einmal die zwei kleinen Mädchen auf dem Foto an. Das eine lächelte noch immer zurück. Das andere, dessen dunkles, nasses Haar sein Gesicht verdeckte, wandte sich immer noch ab. Plötzlich stand fest: Er musste nach Toronto.

 

Verblichene Goldlettern auf einer Strukturglastür an der Church Street hatten verkündet: Internationaler Verband der Jugendherbergen – Geschäftsstelle Kanada.

Walker lag auf einer Pritsche in einem modrig riechenden Raum, seine Brieftasche und einen Bankumschlag mit Reiseschecks im Wert von zweitausend Dollar unter seinem Kopfkissen, die alte Hockeytasche mit seinen Kleidern auf dem Boden neben ihm. Er versuchte, die Farbe der Zimmerdecke zu erkennen. Er versuchte, all den Rissen zu folgen, die den Verputz über ihm wie ein Spinnennetz überzogen. Er hörte auf den schweren Atem seiner Zimmergenossen, links und rechts von ihm je drei dunkle Gestalten unter leichten Decken. Er versuchte, an nichts zu denken.

Er schloss die Augen. Sein Körper fühlte sich an, als säße er noch immer im fahrenden Bus, als schaukle er ein wenig hin und her. Der Raum begann sich langsam zu drehen.

Angestrengt versuchte er, die Stimme seiner Mutter zu hören. Klang sie ängstlich? Zornig? Oder traurig? Resigniert? Oder erleichtert, ihn loszuwerden?

Er konnte sie noch immer sehen – nicht ihr Gesicht, aber ihren Schatten, ihr Haar, das sein Gesicht streifte –, die Wärme ihres Atems an seinem Ohr fühlen. Doch der Klang, der Tonfall ihrer Worte wollte nicht deutlich werden.

Es war, als hätte er damals gewusst, was sie zu ihm sagte, aber sich geweigert, zuzuhören, hinzunehmen, was mit ihm geschah, und damit den Klang ihrer Stimme verloren. So hatte er nicht nur sie selbst, sondern gleichzeitig auch ihre Stimme verloren.

Walker war schon am Einschlafen, dennoch stellte er sich die alte Frage: Warum? Wenn seine Mutter ihn geliebt hatte, worauf der Brief und auch die Polizeiberichte hinzudeuten schienen – »gepflegtes Kind, neue Kleider, bei bester Gesundheit« –, und wenn sie den Brief und das Foto in seine Tasche gesteckt hatte, in der verzweifelten Hoffnung, jemand würde ihn identifizieren, dann musste das bedeuten, dass sie ihn dort nicht hatte zurücklassen wollen. Und wenn sie schon bei ihm gewesen war (er wusste, dass sie dagewesen war, wusste, dass diese Frau seine Mutter gewesen war, hatte nicht einen Tag, seit er gefunden worden war, daran gezweifelt), warum war sie nicht zurückgekommen? Welche Mutter, die von ihrem Kind getrennt war, einem Kind, das sie liebte, würde nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um es wiederzubekommen?

Eine neue Frage also, noch furchterregender als die erste. Nicht nur »Warum?«, sondern auch »Wer hat dich daran gehindert zurückzukommen, was ist dir zugestoßen?«

Und Walker dämmerte weg, griff nach einem Geist, zwei Geistern: einem dunkelhaarigen Kind, das sich an einen Schwimmreifen klammerte, und einer Frau mit Worten, doch ohne Stimme.

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4

1968

Bobby streckte die Hand aus und knipste den mittleren Schalter an. Im Keller ging das Licht an. Darauf hatte er schon den ganzen Tag gewartet, den Stundenzeiger der Uhr im Klassenzimmer seiner fünften Klasse beobachtet, der sich mit quälender Langsamkeit über den 180°-Winkel zwischen neun und drei vorwärtsschob. Aber jetzt war er wieder zu Hause, allein. Er hatte sich ein Erdnussbutter-Sandwich gemacht, es langsam bestrichen und noch langsamer verspeist, um die Vorfreude zu steigern. Jetzt lag alles in seiner Hand.

Vater saß weit weg in seiner Rechenstube und zählte sein Geld. Mutter war auch irgendwo unterwegs und gab es aus. Oder besuchte Freunde. Oder tat dieses oder jenes gute Werk. Sie blieb tagsüber nicht gern daheim, um, wie sie es nannte, in dem riesigen Haus herumzurumoren. Und das Mädchen hatte heute frei.

Bobby stieg die verzogenen, nackten Holzstufen in den düsteren Keller hinunter. Sein Vater hatte das Kellergeschoss nicht wie andere Familien mit Fernseh- und Spielzimmer, Kamin und Bar ausgestattet. Er nannte es auch nicht Kellergeschoss, sondern »da unten«. Und er war der Meinung, die vierzehn Zimmer über der Erde seien ausreichend für jedermann. Also gab es da unten nur die Waschküche, den Vorratskeller, obwohl von Vorräten weit und breit nichts zu sehen war, einen übergroßen Kohlenkasten neben einem großen und relativ neuen Ölofen und eine Reihe von Lagerräumen. Einige dieser Räume waren vollgestellt mit Kartons und ausrangierten Möbeln, in dem Raum neben der Hintertreppe standen noch ein Kühlschrank und ein Gefrierschrank.

Bobby ging den schmalen Gang entlang, der sich über die ganze Länge des Kellers erstreckte, und machte dabei alle Lichter an, bis er die letzte Tür erreicht hatte.

Er konnte sie bereits hören. Was sagten sie? Er presste sein Ohr gegen den abblätternden Anstrich und lauschte. Es war eine Fremdsprache. Doch bestimmt sprachen sie über ihn. Über wen denn sonst? Machten sie sich über ihn lustig? Kicherten sie hinter seinem Rücken? Hassten sie ihn?

Bobby öffnete die Tür und machte Licht.

Es sah aus, als kniffen die Mäuse in dem plötzlichen grellen Licht die Augen zu, ertappt auf ihren Drahträdern und Drahtleitern, im Wassernapf und im Futternapf, oben, unten und, ja, sogar im Keller des Stalls, den er kunstvoll mit eigenen Händen gebaut hatte.

Sie wirbelten herum und sahen zur offenen Tür, ihre rosa Schnäuzchen und schwarzen Diamantäuglein auf Bobby gerichtet.

Dies hier war Bobbys Rechenstube, seine Stadt der Mäuse. Hier war Bobby der Chef, so wie sein Vater Chef war im »Betrieb«, wie er die Anordnung Dickens’scher Ziegelbauten nannte, die er unten am See besaß. Gleichgültig, was die Mäuse denken mochten, während sie eilig durch das Sägemehl trippelten und übereinander stolperten, hier hatte Bobby alle Macht. Er war der Herr.

Er schloss die Tür und setzte sich auf einen Klappstuhl mit Armlehnen, den er aus einem der anderen Lagerräume gerettet hatte. Bald würde er ihnen Wasser bringen müssen. Und Futter. Vielleicht auch das Sägemehl wechseln. Er sah, dass es an manchen Stellen durchweicht war und schwarzgesprenkelt von Kacke. Aber momentan saß Bobby nur da und blickte sie unverwandt an.

Damals, als er den Stall aus allen möglichen Resten zusammengebaut hatte, ihn mit einem Dutzend weißer Mäuse bevölkert und dann seinem Vater gezeigt hatte, hatte der Vater gelächelt.

»Was ist das?«, fragte sein Vater.

»Eine Mäusestadt«, antwortete Bobby.

Sein Vater streckte die Arme aus und zog Bobby so fest an sich, dass sich die Gürtelschnalle schmerzhaft in sein Gesicht presste. Er strich Bobby über den Kopf, als hätte der soeben ein Tor geschossen.

»Es war sehr tüchtig von dir, das alles selbst zu bauen«, sagte er. Und dann fügte er noch hinzu: »Du bist auch eine Maus.«

Bobby sah zu seinem Vater hoch in der Hoffnung auf ein weiteres Lächeln, aber nur die bekannte Missbilligung zog wie ein Schatten über das Gesicht seines Vaters.

»Verbring nicht zuviel Zeit hier unten«, sagte er im Gehen.

Aber Bobby verbrachte eine Menge Zeit da unten. Er sah den Mäusen beim Bumsen zu. Sah, wie sie Junge bekamen. Die besorgten Mütter verbuddelten ihre rosa Kinderschar immer tief im Sägemehl. Und oft drängte sich eine aufgeregte Horde heran und schnappte die Kinder weg. Sie zerrten an den winzigen Körpern, schleiften sie herum, fraßen sie.

Bobby begann, die Mäuse genauer zu beobachten. Bald erkannte er, dass alle verschieden waren. Er gab ihnen Namen.

Manche waren ängstlicher als andere. Manche versuchten, für sich zu bleiben. Manche bumsten wild herum. Und manche drangsalierten die anderen, waren stärker als die anderen, rannten sie über den Haufen und bissen sie in den Schwanz, saßen im Futternapf, wurden fett und kackten hin, wo es ihnen passte.

Seit ein paar Tagen spielte sich ein ganz bestimmter Mäuserich als Mäusekönig auf. Er stolzierte durch den Stall, ging hin, wo und wie es ihm passte, hinauf, hinunter, schubste die anderen von den Rädern und Leitern, als ob er alle Macht hätte. Bobby hatte die ganze Woche an ihn gedacht. Mit jedem Tag steigerte sich seine Erregung, die Spannung und die Vorfreude. Und jetzt war die Zeit gekommen.

Er hatte das schon früher getan. Würde es immer wieder tun müssen. Als Herr über die Stadt der Mäuse blieb ihm gar nichts anderes übrig.

Bobby stand auf, öffnete die obere Tür des Stalls, fasste rasch hinein und schnappte sich den Übeltäter. Er hielt ihn fest in einer Hand und streichelte den rosa Bauch mit dem Mittelfinger der anderen Hand. Er drückte fester zu und konnte fühlen, wie der Puls des Mäuserichs unter seinem Finger schlug, wie das Blut pochte, pochte.

Arnold – so hatte Bobby ihn getauft – sah zu ihm hoch, schwarze Perlenaugen starrten in Bobbys Augen.

Atemlos vor Erregung stellte sich Bobby auf seinen Stuhl, streckte den Arm aus und schnippte ein Stück Schnur von dem Sparren, auf dem er es versteckt hatte. Es hing über der Stadt der Mäuse. Ein Ende an einen Nagel gebunden, das andere mit einer Schlaufe versehen, baumelte es hin und her.

Bobby steckte Arnolds Kopf durch die Schlinge, die er schon mehrmals verwendet hatte, und zog sie fest um seinen Hals. Dann ließ er Arnold los.

Arnold zuckte und quiekte und verdrehte sich, versuchte, die Schnur hochzuklettern, fiel wieder hinunter, erstickte, baumelte in der Luft.

Und Bobby stand da, wie angewurzelt, und sah zu.

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5

Am nächsten Morgen um halb zehn stand Walker vor der schweren Holztür neben der Pfandleihe. Das Wohnung-zu-vermieten-Schild klebte noch immer daran.

Er versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie war verschlossen. Er trat zurück, um noch einmal einen Blick auf das Gebäude zu werfen. Ganz so vielversprechend wie im Dunkeln sah es nicht mehr aus. Er sah, dass ein rostiges Stück Dachtraufe herunterhing und Streifen von Taubenkot die roten Ziegel wie willkürlich gesetzte Pinselstriche und die beiden Fensterbretter wie Girlanden zierten. Die Verursacher dösten zu Dutzenden auf der Kante des Blechdachs. Sprünge im Glas waren mit ausgefransten Streifen weißen Gewebebands repariert worden, und eine Scheibe war durch etwas ersetzt worden, das aussah wie ein Teil einer Cornflakesschachtel.

»Was gibt’s?«

Ein winziger, unrasierter Mann in einer beigen Windjacke, die ihm zwei Nummern zu groß war, und mit einer Brille, die er auf der Nasenspitze balancierte, öffnete die Tür der Pfandleihe und schaute Walker über seine Brille hinweg eindringlich an.

Die Church Street war jetzt wesentlich belebter. Autos und Lieferwagen und Taxis kämpften Stoßstange an Stoßstange um einen Platz auf der engen Straße. Hupen ertönten, Abgase erfüllten die Luft, ein Windstoß fegte alte Zeitungen und weggeworfene Zigarettenpackungen den Gehsteig entlang.

»Nichts. Ich interessiere mich nur für die Wohnung, aber da steht ›drinnen nachfragen‹, und die Tür ist zugesperrt.«

»Wenn diese Tür nicht abgeschlossen wäre, wissen Sie, was hier los wäre?«

»Nein.«

»Das wollen Sie nicht wirklich wissen, und das will ich nicht wissen. Besoffene, Drogensüchtige, Nutten, Penner. Sie wollen eine Wohnung mieten?«

»Ja.«

»Kommen Sie rein. Kommen Sie«, sagte der Mann, verschwand im Laden, schaltete die piepsende Alarmanlage aus und das Licht an drei verschiedenen Stellen an.

Der Laden war bis zur Decke vollgestopft mit allem, was einem nur einfallen konnte, von Stereoanlagen über aufwendig verzierte Messinglampen und Mikrowellenherde, bis hin zu Schwertern, Musketen und von der Decke hängenden elektrischen Gitarren.

Der Mann trat hinter eine lange Theke mit Glasplatte, unter der Münzsammlungen, Uhren, Schmuck und Messer aller Art lagen. Er zog seine Windjacke langsam aus, hängte sie an einen Kleiderständer aus Holz und wandte sich wieder Walker zu.

»Drinnen nachfragen heißt hier drinnen«, sagte er. »Ich hab zwei hübsche Wohnungen. Zufällig gerade frei.«

»Das ist ja großartig.«

Der Mann nahm seine Brille ab, zog ein sauberes weißes Taschentuch hervor und putzte die Gläser. Walker hatte das in seinem ganzen Leben noch nie jemanden tun sehen, außer Leute in alten Schwarzweißfilmen.

»Ich hab eine Zweizimmerwohnung, ich hab eine Einzimmerwohnung.«

»Also, ich glaube, die Einzimmerwohnung wird reichen.«

»Dann sind Sie also allein?«

»Ja.«

»Wie steht’s mit Arbeit?«

»Ich bin erst gestern abend angekommen. Heute suche ich mir eine Arbeit«, sagte Walker und sah den Mann mit festem Blick an.

Der Mann setzte seine Brille wieder auf. Walker schätzte ihn auf knapp sechzig. Er hatte graues, schütteres Haar. Sorgenfalten, wie seine Mutter sie nannte, waren tief in sein Gesicht eingegraben.

»Sie sind ein ehrgeiziger junger Mann?«, fragte er.

»Ich mache jede Arbeit.«

»Können Sie sich fünfhundertfünfzig im Monat leisten, elfhundert im voraus für die erste Miete und die Kaution?«

»Sicher.«

»Wann?«

»Jetzt sofort. Und innerhalb einer Woche habe ich einen Job.«

Der Mann sah Walker noch einmal lange an, musterte ihn von oben bis unten, mit seiner abgenutzten Hockeytasche über der Schulter, seinem schwarzen Haar, das ihm lässig in die Stirn und über den Kragen seiner Jacke fiel.

»Wenn ich keine Arbeit finde, haben Sie immer noch die Kaution«, fügte Walker aufmunternd hinzu.

Der Mann lächelte dünn und nickte.

Nachdem er Reiseschecks im Wert von elfhundert Dollar ausgestellt hatte, besaß Walker noch neunhundert, zusätzlich zu den achtzig Dollar Bargeld. Dafür war er jetzt stolzer Besitzer zweier Messingschlüssel, einer für die Haustür und einer für die Wohnungstür. Es stellte sich heraus, dass seine Wohnung der zur Straße gelegene Raum mit den zwei hohen, schmalen Fenstern unter der Dachtraufe war.

Das Zimmer war sehr geräumig und hoch, hatte Tapeten voller Wasserflecken und aluminiumfarben gestrichene Heizkörper.

Es gab ein kleines Bad am Ende eines engen Flurs, ohne Wanne, dafür mit Dusche, und eine fensterlose Küche, groß genug für einen kleinen Tisch, wenn er einen gehabt hätte. Ein Herd stand darin und ein Kühlschrank, die aussahen wie jene, die die Leute im Norden in ihre Blockhütten schleppten – alt, gelb und nahe daran, den Geist aufzugeben.

Doch es war Walkers erste eigene Wohnung, und für ihn war es die tollste Wohnung in ganz Toronto.

Begleitet vom Geflatter und Gekreische eines Taubenchors schob er eines der Fenster auf.

Er steckte den Kopf hinaus und inspizierte die Church Street, die Kirche auf der anderen Straßenseite und den Park, der sie umgab.

Ein paar Männer und Frauen – Obdachlose, wie er später feststellen sollte – sammelten sich auf den Bänken unter den dichtbelaubten Bäumen. Weiter hinten konnte er hohe Bürogebäude erkennen. Das Hupen von Autos, das Dröhnen von Motoren, das Klingeln und Rattern von Straßenbahnen erfüllte die Luft. Straßenhändler brüllten, Kurierfahrer flitzten auf ihren Fahrrädern vorüber, und Menschen eilten hierhin und dorthin, ohne groß auf den Verkehr zu achten, weil sie, wie Walker vermutete, an den Lärm und das Durcheinander längst gewöhnt waren.

Eine schwarz-weiße Katze landete auf dem Fensterbrett. Ihre Schnauze war mit alten Kampfnarben übersät, und eines ihrer Ohren fehlte so gut wie ganz. Nach einem Augenblick kühner Berechnung rieb sie ihren runden Kopf an Walkers Arm, trippelte an ihm vorbei und sprang ins Zimmer hinein. Mit hocherhobenem Schwanz glitt sie geräuschlos durchs Zimmer und den Flur entlang auf der Suche nach der Küche.

Walker saß auf dem Boden neben dem Fenster. Die Katze war, weil sie eine leere Küche vorgefunden hatte, zurückgekehrt und legte sich nun neben ihn. Walker streichelte ihren knubbeligen Kopf, und sie begann zu schnurren, laut wie ein Außenbordmotor.

Lange saß Walker so da, beobachtete und lauschte, was in der Welt draußen vor sich ging. Dann breitete er den Brief auf dem abgescheuerten Hartholzboden aus und legte das Foto der Frau und der zwei kleinen Mädchen daneben. Erneut betrachtete er das dunkelhaarige Mädchen, das sich halb abwandte.

»Ich bin da, Mom«, sagte er.

 

An diesem Nachmittag ging Walker in den Goodwill Store in der Jarvis Street, um sich ein paar gebrauchte Möbel zu besorgen. Er erstand ein cremefarbenes Schlafsofa aus Kunstleder mit einer nicht allzu fleckigen Matratze, einen kleinen Holztisch und zwei Holzstühle, glänzend schwarz lackiert, eine kleine Kommode, an der das ursprüngliche Furnier stellenweise noch zu sehen war, und einen kleinen tragbaren Fernseher mit Zimmerantenne. Alles zusammen kostete ihn fünfhundertsechzehn Dollar inklusive Steuer, und man versprach ihm, die Sachen gleich am nächsten Tag zu liefern.

Jetzt blieben Walker noch etwas über fünfhundertsechzig Dollar. Nur einen Tag früher hatte er noch mehr als zweitausend besessen. Etwas anderes hatte er zwar eigentlich nicht erwartet, dennoch verschlug ihm die Plötzlichkeit, mit der er sein Geld losgeworden war, den Atem.

In einem Laden an der Ecke kaufte er sich eine Zeitung und einen Stadtplan, dann drehte er sich eine Zigarette und marschierte die Adelaide Street hinunter.

Arbeit zu finden gestaltete sich schwieriger, als er gedacht hatte. Als es sechs wurde, war er in über einem Dutzend Fabriken, Restaurants und Läden gewesen, war dort jedoch nur auf andere Arbeitsuchende gestoßen. Anscheinend hatte eine Rezession eingesetzt. Oder eine Depression. Je nachdem, ob man seinen Job mit letzter Kraft gerade noch festhalten konnte, oder ob er einen schon abgeschüttelt hatte.

Er hatte sich bereits eine Bratpfanne und einen Wasserkessel gekauft, einen Büchsenöffner, Messer, Gabel und Löffel, und jetzt kaufte er sich ein paar Lebensmittel und eine Sechserpackung Bier. Er machte sich Wiener und Bohnen zum Abendessen und aß sie direkt aus der Pfanne. Er dachte sich, dass er sich ein paar Teller leisten konnte, sobald er einen Job gefunden hatte.

Er überlegte, was er noch alles brauchen würde – eine Müslischale, Gläser, Salz- und Pfefferstreuer, eine schier unendliche Liste. Und als die Sonne unterging, wurde ihm klar, dass er auch ein paar Lampen brauchte. Es gab nur zwei Deckenleuchten in seiner Wohnung, und keine davon im Wohnzimmer.

Er saß im Dunkeln auf dem Boden, rauchte und trank sein Bier und sah zu, wie die Schatten und das Licht der Straßenlampen auf seinen beiden Fenstern Fangen spielten.

Und wieder dachte er an diesen See, auf dem sich die zwei Mädchen hatten treiben lassen. Am 2. Juni 1964 in Mary’s Point.

Im Norden war es an einem 2. Juni schon schwierig, die Hand lang genug ins Wasser zu halten, um eine Elritze aus einem Ködereimer zu fischen; von Herumplanschen im See, wie diese kleinen Mädchen es taten, konnte gar nicht die Rede sein. Aber da waren sie, völlig durchnässt, auch das Haar klatschnass, und alberten mit einem Schwimmreifen und einer Luftmatratze herum. Das hieß, dass Mary’s Point nicht in der Nähe von Parry Sound oder dem French River oder irgendwo in der Gegend, in der man ihn gefunden hatte, liegen konnte. Er wusste nicht, was sich diese Polizisten eigentlich vorgestellt hatten, Mary’s Point konnte gar nicht im Norden sein.

Es war schon nach eins, als er sich in sein Bettzeug einrollte und einschlief.

 

Am nächsten Morgen war die Katze wieder da. Er rief seine Mutter aus einer Telefonzelle an, um ihr seine Adresse zu geben, und versprach, sich umgehend ein Telefon anzuschaffen. Und die Möbel kamen. Alles ließ sich gut an.

Er goss der Katze etwas Milch in die Bratpfanne, wuchtete das Kunstledersofa und die Kommode im Wohnzimmer genau dorthin, wo er sie haben wollte, stellte den Fernseher auf die Kommode und trug den schwarzglänzenden Tisch und die beiden Stühle in die Küche. In Feierstimmung taufte er die Katze Kerouac, zu Ehren seines Lieblingsschriftstellers und der Eingebung, seinen Umzug nach Toronto damit zu tarnen, dass er etwas von der Welt sehen wollte.

Am Spätnachmittag hatte Walker wieder eine lange, ergebnislose Suche auf dem Arbeitsmarkt in Toronto hinter sich. Als er die Parliament Street überquerte, dampfte die Straße regelrecht, und er wäre nicht überrascht gewesen, wenn die Ledersohlen seiner Schuhe zu rauchen begonnen hätten. In seinen Augen tanzten Sonnenflecken. Er hatte Kopfschmerzen. Kein Lüftchen regte sich. In seinem ganzen Leben war er noch nirgends gewesen, wo es so heiß war.

Gedankenverloren starrte er auf eine Garage, die zurückgesetzt auf einem großen Grundstück stand. Der einstöckige Ziegelbau mit abgerundeten Ecken, dessen gelber Anstrich abblätterte, hatte zwei Garagentore und ein schief über der Eingangstür hängendes Holzschild, auf dem »A. P. Taxis« stand und darunter, etwas kleiner, »Inhaber und Betreiber A. Piattelli«.

Wie zum Beweis standen zwei blau-weiß lackierte Taxis davor, über und über mit der Aufschrift »A. P. Taxis 752-8641« verziert, und ein paar andere Autos standen neben der Garage.

Am anderen Ende des Gebäudes stand ganz für sich allein ein makelloser rosa Cadillac Eldorado Baujahr 1958 und glänzte in der Sonne wie ein Traum von Kalifornien.

Walker schlenderte vorbei, besah sich den Cadillac und fragte sich, wo denn die Plüschwürfel waren, die eigentlich vom Rückspiegel herunterbaumeln sollten. Dabei bemerkte er ein Schild hinter der schmutzigen Fensterscheibe an der Vorderseite der Garage. Es war handgeschrieben, große, mit einem breiten roten Markierstift rasch hingemalte Lettern: HILFE!

Walker blieb stehen. Er war unschlüssig, was er tun sollte. Die Polizei rufen? Sich um eine Stelle bewerben?

Er sah sich das Gebäude genauer an. Beide Garagentore standen offen, und in einer der Garagen konnte er undeutlich die Bewegungen eines Mannes ausmachen. Der Mann trat unter einen auf einer Hebebühne aufgebockten Wagen. Walker hörte das Geräusch des Luftschlauchs an einer Fettpresse. Alles sah normal aus. Kein Überfall, keine Brandstiftung oder Körperverletzung im Gange. Er beschloss hineinzugehen.

Als er die Eingangstür aufstieß, blies ihm ein Schwall kalter Luft von einer ächzenden Klimaanlage entgegen. Am anderen Ende des Raums sah er eine Frau hinter einer hohen Holztheke sitzen, die ihm ihren breiten Rücken zuwandte. Ihr borstiges graues Haar stand in die Höhe, als ob es vergeblich auf jemanden wartete, der es bürstete. Sie sprach in ein Funksprechgerät.

»Romeo? Wo bist du, o Romeo?«, fragte sie. Ein unverständliches Krächzen antwortete ihr. Sie tat einen letzten langen Zug von ihrer Zigarette und stopfte sie in einen überquellenden Aschenbecher.

»Was war mit diesem letzten Anruf?«, wollte sie wissen. Mehr Gekrächze.

»Na, du hast einfach zu lang gebraucht. Ich kann die Leute nicht an allen vieren fesseln, weißt du, Romeo. Ich kann sie nicht ewig warten lassen. Die haben zweimal nachgefragt.« Noch mehr Gekrächze.