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Studienarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Pädagogik - Schulpädagogik, Note: 1.0, Universität Osnabrück, Sprache: Deutsch, Abstract: Der Begriff der „vaterlosen Gesellschaft“ ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Benutzt wird er heute meist im Zusammenhang mit den Lebensumständen von Patchworkfamilien, der Situation allein von der Mutter erzogener Kinder und der Rolle getrennt lebender Väter, die nicht selten zu reinen Alimentezahlern degradiert ihre Sprösslinge nur noch stundenweise oder gar nicht mehr sehen, geschweige denn Einfluss auf deren Erziehung haben. Doch der ursprünglich von Sigmund Freud geprägte Begriff ist weitaus vielschichtiger. Der Arzt, Historiker und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich beispielsweise umschreibt damit in seinem 1963 erschienenen Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ die sozialpsychologischen Konsequenzen des Wandels von einer traditionellen paternistischen Gesellschaftsordnung zu einer modernen industriellen Massengesellschaft. Nach einem Jahrzehnte langen feministisch geprägten Diskurs beschäftigen sich in jüngster Zeit auch wissenschaftliche Studien vermehrt mit den Folgen von Vaterlosigkeit und der Bedeutung von Männern für die Sozialisation. So hat sich im Zuge der "gender-studies" in den letzten Jahren neben der Frauenforschung auch die Männer- bzw. Vaterforschung allmählich etabliert. In der vorliegenden Arbeit wird der in unterschiedlichen Kontexten verwendete vielschichtige Terminus „vaterlose Gesellschaft“ zunächst einmal entschlüsselt, differenziert und exakt definiert. Dazu werden die historischen, sozialphilosophischen und psychologischen Grundlagen zur Funktion des Vaters dargestellt. Welche möglichen Vorteile birgt männlicher Einfluss für die Sozialisation von Kindern? Welche Defizite könnten durch einen Vatermangel auftreten? Die Differenzierung zwischen genetischer und sozialer Vaterschaft wirft die Frage nach der Austauschbarkeit von Vätern auf. Wie weit reicht die Vaterrolle? Kann sie ohne Einschränkung auf männliche Bezugs- und Betreuungspersonen ausgedehnt werden? Können soziale Väter den Verlust des genetischen Vaters kompensieren? Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse auf die gegenwärtige z. T. durch Überfeminisierung geprägte Situation in der institutionellen Erziehung angewandt. Inwiefern könnten Auswirkungen der vaterlosen Gesellschaft in unseren Schulen auftauchen und sich im Verhalten der heutigen Schüler widerspiegeln, das zunehmend durch Auffälligkeiten und Schulversagen insbesondere bei männlichen Heranwachsenden gekennzeichnet ist?
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Auswirkungen der „vaterlosen Gesellschaft“
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Einleitung
Der Arzt, Historiker und Psychologe Alexander Mitscherlich machte mit seinem 1963 erschienenen Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft - Ideen zur Sozialpsychologie“ den auf Sigmund Freud zurückgehenden Begriff von der „vaterlosen Gesellschaft“ bekannt. Er beschreibt darin die sozialpsychologischen Konseque nzen, die mit dem Wandel von einer traditionellen paternistischen Gesellschaftsordnung zu einer modernen industriellen Massengesellschaft einhergehen. Als hervorstechendstes Merkmal schildert Mitscherlich den Bedeutungsverlust der Rolle des Vaters, dessen frühere herausragende Stellung als familiäre Autorität durch die Errungenschaften moderner Produktionsweisen und den damit verbundenen veränderten Lebensumständen ins Wanken gerät, bis sie schließlich ganz verschwindet. Befand man sich 1963 laut Mitscherlich „auf dem Weg“, so müssten wir heute gut 40 Jahre später, anno 2005, am Ende des Weges angekommen oder zumindest ein gutes Stück weiter vorangeschritten sein. Dieser Arbeit liegt die These zugrunde, dass sich viele der von Mitscherlich beschriebenen und für die (damalige) Zukunft prognostizierten gesellschaftlichen Ersche inungen, die mit Vaterlosigkeit in Verbindung stehen, mittlerweile etabliert haben und sich in den heut igen sozialen Strukturen widerspiegeln. Dies bliebe dann auch nicht ohne Folgen für die Sozialisation der heutigen Heranwachsenden und müsste sich dementsprechend auf die Institution Schule auswirken.
Viele Indikatoren deuten zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf eine unverminderte, wahrscheinlich sogar wachsende Aktualität der Vaterlosigkeitsproblematik in Deutsch-land und den westlichen Industrienationen hin. Die seit einigen Jahrzehnten in Folge der Gleichberechtigung wachsende wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen durch zunehmende Teilhabe am Arbeitsmarkt haben die Männer in die Defensive gedrängt und den Bedeutungsverlust der väterlichen Rolle weiter manifestiert. Hinter der steigenden Rate von Trennungen und Scheidungen steht eine Vielzahl allein von der Mutter erzogener Kinder. Väter werden nicht selten zu reinen Alimentezahlern degradiert, die ihre Sprösslinge nur stundenweise oder gar nicht mehr sehen, geschweige denn Einfluss auf die Erziehung nehmen. Durch die Gründung von Selbsthilfe- oder Protestgruppen, wie „Väteraufbruch für Kinder e.V.“, versuchen sie auf gesellschaftliche Diskriminierungen und Benachteiligungen im Familienrecht aufmerksam zu machen. Auch in der öffentlichen Diskussion ist das Thema auf der Tagesordnung. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ widmete der vaterlosen Gesellschaft 1997 einen Leitartikel, dem aufgrund der großen Resonanz ein mehrteiliges Special zum „Geschlechterkampf“ folgte. Der verantwortliche Redakteur Matthias Matussek verarbeitete 1998 zusätzlich seine Recherchen zu dem Buch „Die vaterlose Gesellschaft“, in dem er auf die Problematik vaterlos aufwachsender Kinder, getrennt lebender Väter und gesellschaftlicher Benachteiligungen von Männern hinweist. Nach dem Zusammenbruch patriarchalischer Strukturen wurden die Väter nicht einfach nur entmachtet, offenbar gerieten sie sogar ins gesellschaftliche Abseits. Die Ursachen und Hintergründe dieser Entwicklung werden in dieser Arbeit aufgezeigt. Eine männliche Identitätskrise mit zunehmender Orientierungslosigkeit bei männlichen Heranwachsenden scheint die Konsequenz dieser Krise zu sein. Schlechte schulische Leistungen, Disziplinprobleme, eine überproportionale Schulabbrecherquote, Gewalt und eine hohe Kriminalitätsrate sind Anzeichen, die auf eine Bestätigung dieser Sichtweise hindeuten. Mädchen hingegen
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haben im Bildungsbereic h seit den 1970er Jahren nicht nur aufgeholt, sondern Jungen in Bezug auf Abiturquote und Hochschulbesuchsfrequenz mittlerweile überflügelt. Die Wissenschaft beschäftigt sich in jüngster Zeit ebenfalls in zunehmendem Maße mit der Bedeutung des Vaters. Es werden sowohl die Auswirkungen einer vaterlosen Kindheit, z.B. anhand von Untersuchungen der deutschen Nachkriegsgenerationen, er-forscht, als auch die spezielle Bedeutung des Vaters für die Sozialisation von Kindern. Außerdem wird der Wandel der Vaterrolle im historischen Kontext einer genaueren Betrachtung unterzogen. So beginnt sich im Zuge der „gender-studies“ in den letzten Jahrzehnten neben der Frauenforschung auch die Männer- bzw. Vaterforschung allmählich zu etablieren.
In Anbetracht der aktuellen öffentlichen Diskussion und des wissenschaftlichen Diskurses scheint die „vaterlose Gesellschaft“ seit Mitscherlichs Buchveröffentlichung sogar an Bedeutung gewonnen zu haben. Seine tiefgreifende Analyse wird jedoch nicht selten ignoriert, instrumentalisiert oder sogar fehlinterpretiert. Daher muss der in unterschiedlichen Kontexten verwendete vielschichtige Begriff der „vaterlosen Gesellschaft“ zunächst einmal entschlüsselt, differenziert und exakt definiert werden. Dazu werden die historischen, sozialphilosophischen und psychologischen Grundlagen zur Funktion des Vaters dargestellt. Welche Vorteile birgt männlicher Einfluss für die Sozialisation von Kindern? Welche möglichen Defizite können durch einen Vatermangel auftreten? Die Differenzierung zwischen genetischer und sozialer Vaterschaft wirft in einer Zeit, in der die Patchworkfamilie allmählich zum Normalfall wird und immer häufiger Ersatzväter in Erscheinung treten, die Frage der Austauschbarkeit von Vätern auf. Wie weit reic ht die Vaterrolle? Kann sie ohne Einschränkung auf männliche Bezugs- und Betreuungspersonen, z.B. in der institutionellen Erziehung, ausgedehnt werden? Können soziale Väter den Verlust des genetischen Vaters kompensieren? Diesen Fragen wird in der vorliege nden Arbeit mit dem wissenschaftlichen Ansatz der Vaterforschung nachgegangen. Ein wesentliches Ziel dieser Arbeit besteht darin, den gegenwärtigen Wis-sensbestand dieser verhältnismäßig jungen Forschungsrichtung zu sichten. Danach werden die gewonnenen Erkenntnisse auf die gegenwärtige Situation an unseren pädagogischen Institutionen angewandt. Inwiefern spiegeln sich Symptome der vaterlosen Gesellschaft in unseren Schulen wider und wirken sich auf das Verhalten der heutigen Schüler aus? Aktuell sind 96% der Erzieher in Kindergärten und -tagesstätten und 85% des Lehrkörpers an Grundschulen weiblich. Es wird insbesondere bei der Betreuung unterer Jahrgänge eine Überfeminisierung, bzw. ein eklatanter Mangel an männlichen Bezugspersonen offenbar, was zunehmend in den Fokus bezüglich der Schulprobleme männlicher Heranwachsender rückt. Abschließend werden erste Ansätze einer spezie llen Jungenpädagogik vo rgestellt, mit der versucht wird, eine mögliche Benachteiligung der Jungen gegenüber den Mädchen auszugleichen.
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1. Der historische Hintergrund
Eine geschichtliche Aufarbeitung der Funktionen des Vaters in Familie und Gesellschaft erweist sich als schwierig, besonders die frühgeschichtliche. Autoren beklagen das rare Quellenmaterial, das häufig unzuverlässig ist oder sich vielfältig interpretieren lässt. Höhlenmalereien, archäologische Funde oder kurze Textstellen aus frühen Hochkulturen geben nur wenig Aufschluss über das reale familiäre Alltagsleben und elterliche Funk tionen. Auch die Analogiebildung aus Erkenntnissen der Ethnologie, z.B. von Margret Mead, über die Lebensumstände in grauer Vorzeit stellt nur einen Behelf dar: „Aus Mangel an historischen Quellen ist der Rückschluß aus Informationen über heut ige segmentäre Gesellschaften auf historische Frühstufen der entwickelten Kulturen innerhalb gewisser Grenzen zulässig. Es gibt natürlich keinen Beweis dafür, daß die Menschen jener Zeit in gleicher Weise gelebt haben...“ (Lenzen, S. 34). Jeder historische Überblick über die Bedeutung des Vaters bleibt also immer stark verallgemeinernd und bildet nur grob eine gesellschaftlich vorherrschende Tendenz ab, während die alltägliche Wirklichkeit wesentlich vielfältiger gewesen sein wird. Beschränken wir uns also auf wenige allgemeingültige, kaum bestreitbare Aussagen. Im Gegensatz zur Mutterrolle, die durch Schwange rschaft, Geburt und Stillen von Beginn an stark biologisch geprägt ist, definieren gesellschaftliche Rahmenbedingungen die Vaterrolle. „Väterliches Engagement war immer stärker von bestimmten Bedingungen abhängig als das der Mutter.“ (Fthenakis 1999, S. 27) Der Mann (er-)zeugt zwar das Kind, damit ist jedoch zwingend erst einmal keine unmittelbare Verpflichtung zur Erfüllung weiterer Funktionen verbunden. Hinzu kommt die Unsicherheit der genetischen Zuordnung. Es bleibt unklar, ab wann die Menschheit überhaupt eine Verbindung zw ischen dem Beischlaf mit möglicher Zeugung und der 9 Monate später eventuell erfolgenden Geburt erkannt hat. Durch den zeitlich relativ großen Abstand dieser beiden Ereignisse, die außerdem, z.B. bei Unfruchtbarkeit eines Partners, noch nicht einmal immer zwingend miteinander verknüpft sind, könnte den Urzeitmenschen im Paläolithikum (600.000 - 8.000 v. Chr.) der biologische Zusammenhang lange Zeit verborgen geblieben sein. Aus ethnologischen Forschungen ist lediglich bekannt, dass in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Zeugungstheorien kursieren. Sie reichen von der alleinigen Leistung der Frau unter göttlicher Mithilfe über den Mutterbruder als Veranlasser bis zum im Sperma enthaltenen Homunkulus, der lediglich zum Reifen in die Gebärmutter der Frau eingepflanzt wird (vgl. Lenzen, S. 35). Eines der frühesten Zeugnisse, die die menschliche Einsicht über die genetische Funktion des Vaters eindeutig belegen, stammt aus dem Neolithikum (ab ca. 2000 v. Chr.). In einer Quelle aus dem Jahr 1728 v. Chr. aus dem alten Ägypten wird der Ehemann als Erzeuger des von der Mutter geborenen Kindes identifiziert (vgl. Lenzen, S. 41). Viel entscheidender als die genetische Vaterschaft war aber offenbar, ob ein Mann das Kind annahm, weil er sich darin wiedererkannte. Verstieß er es, bedeutete das in der Regel das Todesurteil, akzeptierte er es, erwuchs daraus eine patronistische Verpflichtung. Der Vater musste das Kind beschützen, anleiten, versorgen und es hatte Erbansprüche. Dies ist aber noch nicht mit einer patriarchalischen Herrschaft, die durch eine gottähnliche Überhöhung gekennzeichnet ist, gleichzusetzen. Deren Entstehung sieht Lenzen (vgl. S. 56ff) im Zusammenhang mit dem Aufkommen und der Verbreitung des
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Ein-Gott-Glaubens im alten Israel (1500 - 500 v. Chr.) und dessen Übertragung auf familiäre Verhältnisse. In gleicher Weise wie Gott Jahwe den König und sein Volk erwählt hat, heiligt der Vater durch Annahme seinen Sohn. Aus einer göttlichen Erhöhung des Vaters erwuchs das klassische Patriarchat mit seinen Elementen Kindsannahme, Traditionsvermittlung, Verfügungsgewalt, Beschützer-, Versorgerfunktion, Erbrecht und pädagogischem Auftrag. Vergleichbare Konstellationen, d.h. Übertragungen von Gottvaterkonzeptionen auf die Familie, finden sich mit Zeus auch im antiken Grieche n-land (ca. 2500 - 64 v. Chr.) und mit Remus in der römischen Antike (ca. 753 v. Chr. -300 n. Chr.). Doch der Patriarch als uneingeschränkter Alleinherrscher wird schnell von vielen Seiten herausgefordert und in seinen Kompetenzen beschnitten. Durch Erbansprüche werden Söhne zu Konkurrenten des Vaters, die auf die Machtübernahme drängen. Die Einsetzung von Lehrern für heranwachsende Söhne im antiken Griechenland beschneidet die pädagogische Kompetenz. Eine Zunahme staatlicher Verfügungsgewalt schränkt die legislativen Funktionen des Vaters ein, so wurde z.B. im antiken Rom die Bedeutung von „Vater Staat“ durch einen Zuwachs g esetzlicher Regelungen immer größer. Auch richterliche Funktionen des omnipotenten Patriarchen werden zunehmend auf staatliche Institutionen verlagert. Während väterliche Macht historisch einem schle ichenden Demontageprozess ausgesetzt ist, wächst im Gegenzug der mütterliche Einfluss, was z.B. in der Marienverehrung des Christentums mit einer Vergöttlichung des Mutter-Kind-Verhältnisses Ausdruck findet.
Die Zersplitterung und Aufteilung der Vateraufgaben setzen sich vom Mittelalter über die Reformationszeit bis ins 17. Jahrhundert fort. „Dem Vater bleibt die Rolle des Familienoberhauptes, die Ernährungs- und Schutzfunktion, aber als Erzieher und somit anteilig als Identifikationsfigur und Ablöser von der Mutter, ist er mehr oder weniger ersetzt worden.“ (Ax, S. 21) Priester, Obrigkeit, Hauslehrer, Lehrer und Mütter übernehmen immer mehr klassische väterliche Funktionen, wobei es zwischen Aristokratie, Bürgertum und bäuerlichen Familien große schichtenspezifische Unterschiede gibt. Das Familienleben von Bauern konnte sich stark von dem von Handwerkern, Kaufleuten, Beamten oder von Adeligen unterscheiden. Auch regional bedingte Unterschiede führen zu einer großen Differenziertheit des familiären Alltagslebens. Der Familienbetrieb eines Bergbauern in den Alpen oder Pyrenäen konnte schon mit dem eines Weinbauern an der Mosel wenig gemeinsam haben (vgl. Ax, S. 22). In Bergregionen kam es vor, dass ein Vater bis zu 9 Monate im Jahr getrennt von der Familie verbrachte, um den Lebensunterhalt für die Familie sic her zu stellen (vgl. Hufton, S. 11), wodurch sein Einfluss auf das häusliche Leben und die Kindererziehung zwangsläufig stark einschränkt war. Die traditionelle Stellung des Vaters als Familienoberhaupt ist zwar unbestritten, inwiefern daraus jedoch allumfassende Machtansprüche und direkte Einflussnahme abzuleiten sind, hängt von vielen Faktoren, wie Organisationsgrad des gesellschaftlichen Umfeldes, soziales, kulturelles oder geographisches Umfeld ab. Die weltweite, über Jahrtausende währende und in nahezu allen Kulturen vorkommende Verbreitung des patriarchalischen Modells deutet darauf hin, dass es sich unter bestimmten Umweltbedingungen um die offenbar Erfolg versprechendste Lebensform handelt. Pauschale his-torische Darstellungen von Vaterbildern, gleichgültig, ob es sich um eine Dämonisierung oder Idealisierung handelt, sollten misstrauisch stimmen. Auch eine Beschreibung als kontinuierlicher Veränderungsprozess, z.B. vom Patriarchat zur ausschließlichen Alimentation oder zur Androgynität, ist „vö llig unangemessen, um die Komplexität der
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Transformationen zu erfassen“. (Fthenakis 1999, S. 27) Andererseits sind Verallgeme inerungen notwendig, um übergeordnete gesellschaftliche Prozesse erfassen zu können.
Trotz einer Zunahme an Aufzeichnungen in den letzten Jahrhunderten bleibt auch das Vaterbild der jüngeren Vergangenheit diffus. „(W)ir (wissen) bis jetzt nur sehr wenig über das Familienleben der Väter, während über die Frau in der Familie sehr viel gefo rscht wurde.“ (Burgess, S. 58) Außerdem scheinen viele historische Schilderungen die tendenziöse Absicht zu verfolgen, den Vater undifferenziert als brutalen Patriarchen darzustellen, der autoritär ein grausames Regiment über die Familienmitglieder führt. Burgess beklagt die Ungenauigkeit der Forschungen von Familienhistorikern besonders aus den 1970er Jahren, die Quellen häufig selektiv auswerteten, um „ihre Vorstellung vom distanzierten Zuchtmeister, die so tief in der westlichen Psyche verankert ist“, (S. 60) zu bestätigen. Dagegen beförderten jüngere Forschungen zahlreiche Aufzeichnungen aus den letzten 3 Jahrhunderten zu Tage, die ein anderes Bild zeichnen. „Aus jeder geschichtlichen Epoche erfahren wir, daß die Väter sich ihren Kindern eng verbunden fühlten und mit vielen Sorgen kämpften, die Vätern auch heute noch zu schaffen machen.“ (dies., S. 63) Eine uneinheitliche Darstellung des Vaterbilds sieht auch Fthenakis. „Bezüglich der Rolle des Mannes in der Familie des 18. Jahrhunderts“ macht er „zwei widersprüchliche Standpunkte“ (1999, S. 17) aus, nämlich zum einen den des familiär engagierten Vaters und zum anderen den des distanzierten autoritären Patriarchen, wobei die Frage offen bleibt, ob sich diese Rollenmodelle wirklich gegenseitig ausschließen oder nicht bis zu einem gewissen Grad vereinbar sind. Familien bildeten im vorindustriellen Zeitalter überwiegend eine landwirtschaftlich geprägte Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft. Neben dem Bauernhof als Existenz-grundlage wuchs ab Ende des 17. Jahrhunderts auch die Bedeutung des Handwerks und des Einzelhandels. Der Familienbetrieb unter Führung des Vaters war die vorherrsche nde ökonomische Einheit. Alle Familienmitglieder, selbst junge Kinder, trugen ihren Anteil zum Lebensunterhalt der Familie bei. Eine herausragende Rolle spielte die Beziehung des Vaters zum ältesten Sohn, der in der Regel zum väterlichen Nachfolger bestimmt war. Charakteristisch für die damaligen Lebensverhältnisse waren die räumliche Nähe von Arbeits- und Lebensbereich und die Funktion des Vaters als familiärer Vormund, Vorbild für die Söhne und beruflicher Anleiter. Dies änderte sich mit dem Einsetzen der industriellen Revolution, die ab ca. 1785 von England ausging. Maschinelle Produktionsweisen, Eisenbahnen, Dampfschiffe und das Entstehen von Großstädten veränderten die westlichen Gesellschaften auf nachhaltige Weise. Landwirtschaftliche und handwerkliche Betriebe verloren an Bedeutung und wurden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr durch industrielle Arbeitsplätze ersetzt. Damit ging auch eine Trennung von Arbeits- und Familienleben, wodurch die bis dato hauptsächlich biologisch bedingte geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung vertieft wurde. Während die Mutter immer stärker für Kindererziehung und Haushaltsführung zuständig war, verschwanden die Väter zunehmend aus dem familiären Alltag. Die Berufswelt mit ihren damals sehr harten, zeit- und kraftintensiven Arbeitsbedingungen war den Männern zugeordnet, auch wenn vor allem Frauen aus dem Proletariat aufgrund geringer Löhne der Männer durch Erwerbstätigkeit häufig einen Beitrag zum Familieneinkommen leisten mussten. Doch das förderte zunächst in keiner Weise eine Rollenangleichung, son-
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dern erhöhte das Prestige der Männer, die ihre Familie als Alleinverdiener versorgen konnten. Eine Berufstätigkeit der Ehefrau wurde mit Schwäche und sozialer Unterprivilegierung des Familienvaters gleichgesetzt; er galt als unfähig, seine Frau vor harter Arbeit zu schützen. Die väterliche Funktion beschränkte sich immer mehr auf die des Erzeugers und Ernährers. „Väterliche Autorität beruhte primär auf den materiellen Ressourcen, die ein Mann seiner Familie zur Verfügung stellen konnte.“ (Fthenakis 1999, S. 20f) Der soziale, ideelle und ökonomische Druck auf Männer erhöhte sich stetig. Das schlägt sich in einem enormen Anwachsen des Alkoholkonsums im Verlauf des 19. Jahrhunderts als Kompensation nieder; Fthenakis nennt eine Verdopplung bis Verdreifachung (1999, vgl. 20f). Auf der anderen Seite wurde das häusliche Leben immer frauen- bzw. mütterzentrierter und zum Inbegriff von Weiblichkeit. „Je mehr Heim und Herd mit Frauen und bezahlte Arbeit mit Männern gleichgesetzt wurde, desto mehr distanzierten sich die Männer von der Pflege und Betreuung ihrer Kinder und um so mehr schienen Frauen dies zu unterstützen.“ (Burgess, S. 89) Männern, die sich an der Hausarbeit beteiligten, wurde früher Arbeitslosigkeit unterstellt. So entstanden bis heute wirksame geschlechtliche Rollenstereotype.