Autismus neu verstehen - Klaus Kokemoor - E-Book

Autismus neu verstehen E-Book

Klaus Kokemoor

4,9

Beschreibung

SIE SIND EINFACH ANDERS, sie verhalten sich anders, sie leben in einer ganz eigenen Welt - Menschen mit Autismus. Doch: Was ist Autismus eigentlich?Eine neue Sicht liefert Klaus Kokemoor vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung. Seine These: Menschen mit Autismus sind Menschen mit einer anderen Kultur, ihre Vorstellung von Wirklichkeit und ihre Empfindungen sind grundlegend anders. Nur so lassen sich die besonderen Denk- und Handlungsweisen verstehen, nur so wird wirkliche Begegnung möglich.Der Autor erklärt die frühkindliche Entwicklung bei Autismus sowie die unterschiedlichen Erscheinungsformen, und er zeigt Wege auf, Kinder und Jugendliche einfühlsamer zu begleiten.

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KLAUS KOKEMOOR

AUTISMUS NEU VERSTEHEN

fischer & gann

AUTISMUS

KLAUS KOKEMOORNEU VERSTEHEN

Begegnung mit einer anderen Kultur

fischer & gann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

© Verlag Fischer & Gann, Munderfing 2016Umschlaggestaltung | Layout: Gesine Beran, TurinUmschlagmotiv: © shutterstock/Aleksei PolarGesamtherstellung | Druck: Aumayer Druck + Verlag Ges.m.b.H. & Co KG, MunderfingPrinted in The European Union

ISBN 978-3-903072-35-0ISBN E-Book 978-3-903072-42-8

www.fischerundgann.com

INHALT

EINLEITUNG: AUTISMUS NEU VERSTEHEN

AUTISMUS – BEGEGNUNG MIT EINER »ANDEREN KULTUR«

Eine Vielzahl an neuen Eindrücken

Kulturelle Übereinstimmungen

Eine Jacke ist mehr als eine Jacke

WAS IST AUTISMUS?

Klassifikation

Ursachen

Hinweise zur Diagnostik

AUTISMUS – EIN ANDERER REIFUNGSPROZESS

Ein Leben vor der Geburt

Das Erleben einer neuen Einheit

Archaische Ängste

Der Weg zur neuen Einheit

Die Spiele der tiefgreifenden Rückversicherung

Identifikation und innere Bilder

Die Geburt des »autistischen« Kindes

Der Ursprung der Selbstbezogenheit

Das Aushebeln der intuitiven Elternschaft

Die Einheit eines anderen Selbst

Die Face-to-Face-Interaktion

Autistische Rückversicherungsprozesse

Bewegen, Handeln, Denken

Die Bedeutung emotionaler Sicherheit

EINE BALINESISCHE TEMPELTÄNZERIN

Die Umdeutung autistischer Handlungen

Ein Weg zur Veränderung

Essen mit den Ohren

EIN ZUG NACH NIRGENDWO

Das Experiment

Rätselhafte Seifenblasen

Äußere und innere Bilder

Ein Krokodil kann nicht sprechen

Eine Realität ohne versteckte Bilder

Die Suche nach Harmonie

DIE BEDEUTUNG AUTISTISCHER VERHALTENSWEISEN

Das Bild vom anderen

Ohne Mantel der Geborgenheit

Innere und äußere Bilder

Das autistische Objekt

Das Phänomen der Spezialinteressen beim Asperger-Syndrom

Eine Welt ohne Zusammenhalt

Die »Theory of Mind«

ZWISCHENWORT: DER AUTISTISCHE MIKROKOSMOS

(Matthias Brien)

THERAPIE ALS CHANCE ZUR VERÄNDERUNG

Die Psychomotorische Praxis Aucouturier

Der Psychomotorikraum

Marcel – Die Verwandlung des Balles

Roman – Der Wunsch nach Umhüllung

Die Entdeckung neuer Rückversicherungsprozesse

Roman – Die Suche nach dem richtigen Ort

Roman – Die Lust an der Begegnung mit dem anderen

Die Psychomotoriktherapeutin – der Psychomotoriktherapeut

Die sprachliche Begleitung

Die Phasen der Psychomotoriktherapie

Schnecken, Messer und Pistolen

Arno – Das Auftauchen von inneren Bildern

Arno – Ein Seil als Verbindung

Arno – Herrscher über die eigenen Ängste

Therapie und Transfer in den Alltag

Die Bedeutung der lustvollen Wiederholung

Niklas – Ein therapeutischer Prozess

Der Überraschungsmoment

Das Aufwecken des Körpers

Der Raum und ich

Vom Klauen und Wiegen

Gewinn einer »neuen Einheit«

Ein Krokodil kann doch sprechen

Die Katze, die von innen kommt

Resonanzbilder

Ein neues Selbstbewusstsein

Von der Selbstbezogenheit zur Autonomie

Bericht der Eltern

BERATUNG ALS WERTVOLLE UNTERSTÜTZUNG

Die Marte-Meo-Videointeraktionsanalyse

Ressourcen entdecken und beleben

Der Rahmen der Marte-Meo-Beratung

Fallbeispiele

Jonas – Einladung zum Dialog

Jonas – Pendeln zwischen den Kulturen

Leni – Baden: eine besondere Herausforderung

Review – Eine differenzierte Rückschau

Leni – Ein Lied schafft Übereinstimmungen

Leni – Rückschau und Résumé

Eine Chance nutzen

Die Bedeutung der Bilder

Die Irritation von Empfindungen

Der Runde Tisch

Fred – Gemeinschaft am gedeckten Tisch

Nachgedanken zur Beratungssituation (Matthias Brien)

PÄDAGOGIK UND ERZIEHUNG

Der Teufelskreis des Entwertungssystems

Der unsichtbare Lachpartner

Die Augen der Umwelt

Harmonie und Disharmonie

Das »Dreiraumprinzip«

Der Regenerationsraum

Der Begleitungssraum

Der Leitungsraum

Erziehung und Beziehung

Gewaltfreie Kommunikation

Umgang mit aggressivem Verhalten

Alles außer Ordnung

Verantwortung und Führen

AUSBLICK

ANHANG

Anmerkungen

Literatur

Glossar

Kontaktadressen

»Ich hatte viele kleine Matchbox-Autos, die ich in langen Reihen auf der Marmor-Fensterbank aufzustellen pflegte. Am liebsten mochte ich es einfach, nur deren Räder zu drehen oder die Autos nach verschiedenen Merkmalen zu sortieren.«1

Susanne Schäfer

EINLEITUNG:AUTISMUS NEU VERSTEHEN

DAS »VERSTEHEN« STELLT EINE WESENTLICHE VORAUSSETZUNG DAR, um eine Brücke zu einem anderen Menschen herzustellen. Verstehen heißt noch nicht akzeptieren, sondern meint, die Bedürfnisse eines Verhaltens zu erkennen und den anderen so anzunehmen, wie er ist. Die Annahme des Kindes und das Erkennen der Bedürfnisse, die sich hinter seinem Verhalten verbergen, sind wesentliche Voraussetzungen für unser tägliches Handeln. Das besondere Fühlen, Handeln und Denken eines autistischen Kindes macht es uns jedoch schwer, seine Bedürfnisse zu erkennen. Hier scheinen die sonst vertrauten Fundamente des zwischenmenschlichen Kontaktes zu fehlen, um eine stabile Brücke zu bauen. Das spezifische Verhalten des Kindes fordert uns täglich auf fundamentale Art und Weise heraus, uns mit seinen Handlungen, seinen besonderen Wesenszügen auseinanderzusetzen. Wir müssen den Weg finden, die Bedürfnisse und das Erleben, welches hinter seinem Verhalten steht, zu verstehen. »Denn es gibt keine Handlung ohne Grund, und das, was ein Kind spontan tut, entspricht immer seinen tiefen Motivationen. An uns liegt es, zu verstehen, was dieses Tun wirklich ausdrückt – und dadurch auf unser eigenes Tun zu antworten.«2

»Der Dienstag meiner Geburt war ein besonderer Tag, nicht nur für mich, nicht nur für meine Eltern und meinen Bruder, nicht nur für Eimsbüttel oder Hamburg – es war ein besonderer Tag für alle Menschen. Der Grund dafür ist einleuchtend und unbekannt: Es war der 183. Tag des Jahres 1963. In seiner Bedeutung ist der 183. Tag des Jahres allenfalls mit Neujahr oder Silvester zu vergleichen. Dass die Tatsache so wenigen Menschen bekannt ist, verwundert mich. Der 183. Tag ist die Mitte des Jahres.«3

Das autistische Kind hat seine sehr eigene Art und Weise entwickelt, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Doch die Vorstellung: »Jeder andere Mensch muss das Gleiche fühlen und denken und glauben wie ich«, entspricht zunächst unserer Natur. Aus diesem Grund ist es nicht einfach, eine andere Sicht zu akzeptieren, und es bedarf der Bereitschaft, die Perspektive des anderen einzunehmen, damit wir seine besondere Art und Weise zu verstehen und anzuerkennen lernen.4 Das autistische Kind wirkt wie ein Kind einer anderen Kultur, einer anderen Lebensform, die wir nur begreifen, wenn wir erfassen, mit welchem Bewusstsein das Kind in der Welt agiert.5

Ein Anliegen dieses Buches ist es, uns intensiv mit dem »kulturellen Hintergrund« des autistischen Kindes zu beschäftigen, um uns seinen Bedürfnissen, seinen Empfindungen sowie seinem Erleben zu öffnen. Die Suche nach den Motiven und Hintergründen der besonderen Verhaltensweisen, an denen das Kind so existenziell festhält, führt zu Erkenntnissen, die eine elementare Bedeutung für das Therapeutische und das Pädagogische haben.

Den Ausgangspunkt meiner Suche bilden vor allem die praktische Erfahrung aus der pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit autistischen Kindern sowie die Beratung von Eltern und pädagogischen Fachkräften. Neben der Individualität des jeweiligen Kindes und dem breiten Spektrum an besonderen Verhaltensweisen kann ich eine gewisse Übereinstimmung beobachten, die mich letztlich dazu animiert hat, stets nach den Wurzeln der tiefgreifenden Entwicklungsstörung Autismus, mit seinen spezifischen Symptomen, zu suchen. Nun haben viele kompetente Wissenschaftler, mit modernsten Methoden, jahrzehntelang geforscht, und es ist bis heute nicht möglich, die Ursache von Autismus klar zu bestimmen. Nach meiner Auffassung folgt die Wissenschaft einer zu linearen Betrachtungsweise, sie sucht nach dem Faktor in der Genetik beziehungsweise im menschlichen Gehirn, der, kommt ein auslösendes Moment dazu, unausweichlich im Autismus mündet, jedoch niemals als Ursache für das ganze Bündel der charakteristischen Symptome herangezogen werden kann. Peter Hobson beantwortet dies mit dem Satz: »Wir müssen anders an die Sache herangehen und uns klarmachen, daß einer der stärksten Einflüsse auf die kindliche Entwicklung das ist, was zwischen den Menschen geschieht. Anders gesagt, einer der schädlichsten Einflüsse auf die kindliche Entwicklung besteht darin, daß – wie etwa beim Autismus – verschiedene Formen der Interaktion zwischen den Menschen nicht zustande kommen.«6

Die Aussage von Hobson rückt die Bedeutung der Interaktion ins Zentrum der Auseinandersetzung und deckt sich mit den Überlegungen von Leo Kanner, der den autistischen Kindern eine von Geburt an bestehende Unfähigkeit, sich mit der personellen und dinglichen Umwelt in Wechselbeziehung zu setzen, attestierte.7 Ich ersetze den von Kanner verwendeten Begriff der »Unfähigkeit« durch »Schwierigkeit«, da ich beim autistischen Kind immer auch Interaktionsmomente beobachten konnte. Ich unterstreiche an dieser Stelle jedoch ausdrücklich, dass es die Schwierigkeit des Kindes ist, in den für den frühkindlichen Reifungsprozess so wichtigen Dialog mit seinen Eltern zu gehen. Aus dem Konflikt, auf die elterliche Fürsorge nicht angemessen reagieren zu können, entwickeln sich Bewältigungsstrategien und Rückversicherungsprozesse, die letztlich das gesamte Fühlen, Handeln und Denken des Kindes bestimmen.8 Das Realitätsempfinden dieser Kinder resultiert nicht aus einem Beziehungserleben mit seinen Eltern, sondern aus den sensorischen Erfahrungen, die sich aus der frühen Bewältigungsstrategie ergeben. Aus den damit verbundenen Empfindungen erlebt und gestaltet das Kind seine eigene Wirklichkeit, seine Welt, in die es die anderen nicht aktiv einlädt.

Das autistische Kind durchläuft also einen von der »Norm« abweichenden Reifungsprozess, in welchem in der Folge die unterschiedlichsten Faktoren zum Tragen kommen, die zu der tiefgreifenden Entwicklungsstörung mit ihren charakteristischen Symptomen führen. Zur Orientierung beschreibe ich in diesem Buch auch den natürlichen Reifungsprozess des Kindes unter drei Jahren. Die dargestellten Entwicklungsphasen sind lediglich Ausschnitte, in denen jedoch Faktoren herauszustellen sind, durch die eine Unterscheidung in Bezug auf den Reifungsprozess des autistischen Kindes darzustellen ist. Durch diese Betrachtung erhalten wir die Möglichkeit, die Bedeutung einzelner Symptome besser zu verstehen, um darauf sinnvoller, zielführender und emphatischer zu reagieren. Die theoretischen Gedanken orientieren sich hierbei im Schwerpunkt an Autoren wie Daniel Stern, Martin Dornes, Peter Hobson, Frances Tustin, Donald Winnicott und Bernard Aucouturier.

Aucouturier sieht in der individuellen Ausdrucksweise eines jeden Kindes, welches damit seine Geschichte und seine Realität zum Ausdruck bringt, die Grundlage für unser pädagogisches und therapeutisches Handeln.9 Im Zentrum der therapeutischen Arbeit liegt ein tonisch-emotionales Erleben, in der Wechselbeziehung mit dem Kind. Die Psychomotorische Therapie ist eine Einladung an das Kind, andere, neue sensomotorische Erfahrungen in der Beziehung zum Therapeuten zu machen, um sich seiner selbst rückzuversichern. Die Psychomotorische Praxis Aucouturier in der Arbeit mit autistischen Kindern, die neben dem Körperausdruck auch die symbolischen Dimensionen berücksichtigt, wird in diesem Buch ausführlich an Hand von Fallbeispielen beschrieben.

Doch auch das Umfeld des Kindes benötigt dringend Begleitung, um Antworten zu finden und Anregungen zu erfahren, wie den Momenten dieser Wechselbeziehung mehr Bedeutung gegeben werden kann. Da wir das autistische Kind in der Regel nicht verstehen, wird gerade im Alltagserleben unsere Fähigkeit der Empathie in Bezug auf das Kind außer Kraft gesetzt. Mit der Marte-Meo-Videoberatung erhalten Eltern und pädagogische Fachkräfte sehr konkrete und alltagstaugliche Informationen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Handlungen mit dem Kind. Im Zentrum stehen hier die Bedeutung einer gelingenden Kommunikation mit dem Kind sowie die Botschaften, die sich hinter seinem Verhalten verbergen. Dieser von Maria Aarts entwickelte Beratungsansatz ist ein anschauliches Lernen am eigenen Modell, welches der Selbstwirksamkeit und Ressourcen der Protagonisten Raum bietet und deshalb eine hohe Wirksamkeit hat.10

Eine wesentliche Handlungslinie der Psychomotorischen Praxis Aucouturier sowie der Marte-Meo-Beratung sind die Aufmerksamkeit und der Respekt gegenüber den Protagonisten. Beide Ansätze bieten die Chance der Herstellung oder Wiederherstellung eines Rahmens, in dem Beziehung wieder ermöglicht wird und eine unterbrochene Verbindung wieder aufgenommen werden kann.11

Meine Gedanken in diesem Buch resultieren aus der ständigen theoretischen Auseinandersetzung und jahrzehntelanger praktischer Erfahrung mit Menschen mit Autismus. Wobei die Richtung der Gedanken vom praktischen Handeln zur Theorie geht und nicht umgekehrt. Mit diesem Buch ist es also möglich, die Theorie aus der Praxis und die Praxis aus der Theorie heraus zu betrachten. Theorie und Praxis bilden hier eine Wechselbeziehung, aus der eine Einheit hervorgeht, die durch die Sicht von Betroffenen eine bedeutsame Ergänzung erfährt. Die Begegnung mit betroffenen Erwachsenen, die mir ihre Kultur und ihre Gedanken zum Autismus sehr anschaulich darstellen konnten, hat mich veranlasst, Autismus immer wieder neu zu denken. Weitere Anregungen resultieren aus der Beschäftigung mit autobiografischen Texten von Betroffenen. Hier sind vor allem die Autoren Axel Brauns, Susanne Schäfer, Daniel Tammet, Peter Schmidt, Dietmar Zöller sowie Matthias Brien zu nennen, die uns Anregungen geben, um unsere Gedanken zum Autismus neu zu sortieren.

Dieser Wandel der Gedanken ist nötig, um nicht einem starren Konzept zu unterliegen, denn jede Theorie und jedes pädagogische oder therapeutische Konzept ist nur dann überlebensfähig, wenn es nach Möglichkeiten der Reflexion und Veränderung sucht. Veränderung kann dann gelingen, wenn wir die Bereitschaft mitbringen, unsere Vorstellungen durch den anderen verändern zu lassen. Gerade das autistische Kind ist hier auf unsere Bereitschaft angewiesen, da es kaum über Möglichkeiten verfügt, Veränderungen vorzunehmen, um sich an die Welt und die anderen anzupassen.

Um sich auf das besondere Kind einzulassen, sich mit ihm solidarisieren zu können, ist es erforderlich, sich mit der Entwicklung und Bedeutung einzelner Symptome zu befassen. Die Auseinandersetzung mit den Verhaltensmotiven des autistischen Kindes beinhaltet die Chance, uns vom Eindruck des Erscheinungsbildes zu lösen und uns der tatsächlichen Persönlichkeit des Kindes zu öffnen. Es geht dabei um ein Symptomverständnis, welches uns zu einer Haltung führt, die Verhaltensweisen des anderen als dessen Existenzgrundlage anzuerkennen. Das tiefe Verstehen, mit dem Versuch, Autismus aus einer anderen Perspektive zu erfassen, ist das Fundament, um dem Kind dort zu begegnen, wo es sich jeweils in seinem Reifungsprozess befindet. Anerkennende und somit hilfreiche pädagogische Beziehungen brauchen diese Unmittelbarkeit zum Kind und eine daraus resultierende solidarische Motivation von Seiten der Entwicklungsbegleiter.12 Im pädagogischen und therapeutischen Handeln ist ein Einlassen auf die Perspektive des autistischen Kindes nötig, um dessen besonderen Bedürfnissen die nötige Aufmerksamkeit widmen zu können.

Dieser Perspektivwechsel ist für das autistische Kind und den autistischen Erwachsenen nur schwer möglich. Denn das autistische Kind hat zunächst nicht die Vorstellung, dass die anderen die Welt auf andere Weise wahrnehmen könnten. Es lernt spätestens als Erwachsener, dass es sich in einer Welt bewegt, die nach Vorstellungen und Maßstäben von Nichtbetroffenen eingerichtet wurde. Diese Tatsache zeigt viele für uns unsichtbare Barrieren auf, die es für Menschen mit Autismus so schwierig machen, sich in der Welt zurechtzufinden. Trotz des gegenseitigen Bemühens von Betroffenen und Nichtbetroffenen gibt es viele Missverständnisse, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren oder teilweise unmöglich machen. Ein Grundproblem ist hier der bewusste oder unbewusste Wunsch jedes Menschen, dass sich der andere – in diesem Fall das autistische Kind – an unsere Vorstellungen und Bedingungen anpassen möge. In diesem Punkt könnten die Grundgedanken der Inklusion, die unter anderem auf die fundamentale Bedeutung des Perspektivwechsels hinwiesen, einen großen Gewinn für ein autistisches Kind und in diesem Sinne für viele Menschen darstellen.

Das autistische Kind zeigt uns auf eindrückliche Weise, wie Entwicklung verläuft, wenn wir die Kommunikation der Menschen untereinander vernachlässigen, und wie bedeutsam andererseits die Interaktion für den kindlichen Reifungsprozess ist. Es hält unserer technisierten und zunehmend medialen Welt in gewisser Weise einen Spiegel vor. So gesehen richten sich viele Gedanken dieses Buches an die Gesellschaft, das einzelne Kind, den einzelnen Erwachsenen.

»Der Schlüssel zum Autismus ist der Schlüssel zum Wesen des Menschen.«13 Die Suche nach diesem Schlüssel bringt die Erkenntnis der elementaren Bedeutung von Beziehung für die Reifungsprozesse aller Kinder und für das Menschsein zum Vorschein. Wenn ich eine Brücke zu einem anderen Menschen bauen will, dann benötigt die Brücke tragfähige Fundamente, die Akzeptanz, Achtsamkeit und Wertschätzung des anderen einschließen.

»Jeder Mensch ist in einem sehr realen Sinn eine Insel für sich, und er kann erst dann Brücken zu anderen Inseln bauen, wenn er zuallererst gewillt ist, er selbst zu sein, und wenn ihm dies erlaubt wird.«

Carl R. Rogers

AUTISMUS – BEGEGNUNGMIT EINER »ANDEREN KULTUR«

DEN BEGRIFF KULTUR KöNNEN WIR AUF DIE GESELLSCHAFT BEZIEHEN, die bestimmte Dinge wie Kunst, Musik, Architektur oder Literatur hervorgebracht hat. Er kann sich auch auf eine Gemeinschaft von Menschen beziehen, die aus dem Gefüge des Miteinanders und gegenseitigen Verstehens eine Grundlage für menschliches Sozialleben geschaffen haben.14 Kulturelle Gepflogenheiten werden durch die Art und Weise erlebt und gelehrt, wie die Mitglieder über Sprache, Geschichten und Tätigkeiten in Beziehung zueinander treten. Ein Ausschnitt daraus sind bestimmte Umgangsformen, die häufig mit moralischen Werten belegt sind. Die meisten dieser Leitsätze oder Gedanken ergeben sich aus den unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen, andere werden bewusst vermittelt. Matthias Brien erzählt in seinem Buch Ich koche für dich von dem ersten Wochenendbesuch bei den Eltern seiner Freundin. Als es zum Ende des Besuches zur Verabschiedung kommt, hat er folgende Gedanken. »Beim Abschied kommt es mir so vor, als erwarten die Eltern von mir einen bestimmten Text, den ich nicht kenne. Irgendwie ist eine enorme Anspannung da und ich sage einfach ›Auf Wiedersehen‹.«15 In solchen Situationen sind Menschen mit Autismus oft überfordert, da sich ihre Umgangsformen nicht aus Empfindungen erschließen, und sie können dann nur auf die bewusst vermittelten oder imitierte Umgangsformen zurückgreifen. Das Verständnis für die angemessenen Worte stellt sich nicht automatisch ein, sondern ist ein Entwicklungsprozess, der sich aus einem Empfinden von geteilter Aufmerksamkeit ergibt.

In dem Roman Das Rosie-Projekt von Graeme Simsion erhält der Protagonist Don Tillman die Telefonnummer einer Frau mit den Worten gereicht: »Rufen Sie mich an!« Don, der das Asperger-Syndrom hatte, wusste, dass so etwas dauernd irgendwo passiert: In Büchern, Filmen und Fernsehserien tun die Leute genau das, was Rosie getan hatte. Durch dieses Ereignis fühlte er sich nun vorübergehend in eine Kultur aufgenommen, die er für sich verschlossen gehalten hatte.16 Don Tillman rekonstruiert dieses Ereignis nicht aus seiner inneren Vorstellung heraus, sondern benutzt äußere Vorbilder, um sich rückzuversichern, dass Rosies Verhalten in ihrer Kultur vorkommt. Das Verstehen von kulturellen Zusammenhängen und Traditionen ergibt sich vorwiegend aus dem frühen Erleben sozialer Zusammenhänge. So wie Kinder weltweit die Muttersprache ihres Landes ohne Anstrengungen aus der sozialen Interaktion mit ihrer Umwelt erlernen, so gehen auch die kulturellen Normen und Vorstellungen durch das soziale Miteinander in »Fleisch und Blut« über. Das soziale Verstehen, welches sich aus der Art und Weise ergibt, wie Kinder und Erwachsene miteinander agieren, erschließt dem Kind die Formen kulturellen Zusammenlebens. Wir werden zwar in eine kulturelle Umgebung hineingeboren, können die kulturellen Zusammenhänge jedoch erst dann für uns nutzen, wenn wir den anderen als handelnden Akteur begreifen. Dieses Verständnis ist Kindern unter neun Monaten noch nicht möglich und fällt vielen autistischen Kindern schwer. Kari Steindal schreibt im Buch von Susanne Schäfer: »Menschen mit Autismus brechen so grundlegend viele unserer gemeinsamen, einleuchtenden, ungeschriebenen Normen, Regeln und Werte. Susanne hat selbst darüber nachgegrübelt: ›Ich sage dir, ich bin überall ein Ausländer, nicht zuletzt in Deutschland.‹«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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