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Inklusion - die neue Herausforderung in Kitas und SchulenInklusion ist das große Thema im Alltag von Schulen und Kitas. Fachkräfte sind häufig mit Kindern konfrontiert, die neue Anforderungen stellen und Pädagogen und Eltern an ihre Grenzen bringen. Klaus Kokemoor gelingt eine einfühlsame Darstellung dieser Kinder mit besonderen Verhaltensweisen und erklärt die Hintergründe. In seinem innovativen pädagogischen Konzept gibt er viele Hilfestellungen und Impulse für die Praxis. Er zeigt, wie Rahmenbedingungen und Kommunikationsweisen so gestaltet werden können, dass sie jedem Kind in seiner individuellen Entwicklung gerecht werden - damit Inklusion tatsächlich möglich wird.
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Seitenzahl: 328
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KLAUS KOKEMOOR
DAS KIND, DAS AUS DEM RAHMEN FÄLLT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© Verlag Fischer & Gann, Munderfing 2018
Umschlaggestaltung | Layout und Satz: Gesine Beran, Turin
Umschlagmotiv: © Gesine Beran, Turin
Gesamtherstellung | Druck:
Aumayer Druck + Verlag Ges.m.B.H. & Co KG, Munderfing
ISBN 978-3-903072-70-1 | ISBN E-BOOK 978-3-903072-71-8
www.fischerundgann.com
IN DER SCHULE ODER IN KINDERTAGESSTÄTTEN begegnen uns immer wieder Kinder, die aufgrund ihres besonderen Verhaltens und ihrer besonderen Entwicklungsbedürfnisse aus dem uns vertrauten Rahmen fallen. Kinder mit herausforderndem Verhalten beschäftigen uns schon seit vielen Jahren, aber das Thema Inklusion konfrontiert uns zusätzlich mit Kindern, die aufgrund einer seelischen, körperlichen oder geistigen Behinderung neue Anforderungen an die Bildungseinrichtungen stellen. Es geht darum, Bildungskonzepte und Rahmenbedingungen auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder auszurichten. Die Anpassung an diese spezifischen Bedürfnisse ist ein Kerngedanke von Inklusion, ebenso wie das Nutzen der Ressourcen jedes einzelnen Kindes. Die Bildung und Begleitung der uns anvertrauten Kinder muss aus der Perspektive von Kindern mit ihren unterschiedlichen Vorausetzungen, Neigungen, Schwierigkeiten und Begabungen gedacht und gestaltet werden. Genau diese Impulse benötigt unsere Gesellschaft in der heutigen Zeit, um den Tendenzen von zunehmender Ausgrenzung und Individualisierung entgegenzuwirken. Die Hypothese dieses Buches lautet: »Es gibt kein Kind, das aus dem Rahmen fällt, wenn wir für das Kind einen geeigneten Rahmen entwickeln.«
Die Erarbeitung solcher Rahmenbedingungen ist eine besondere Herausforderung, aber auch eine einmalige Chance, unser Bildungssystem angemessen zu reformieren. Wir müssen im Bereich von Bildung und Erziehung Konzepte nutzen und pädagogische Grundhaltungen entwickeln, die dem Bedürfnis nach Entwicklung, Bildung und verlässlichen Bindungen des einzelnen Kindes gerecht werden. Die Möglichkeiten der Kommunikation und der pädagogischen Interaktion sind hier unsere wichtigsten Ressourcen und können nach meiner Beobachtung wohl am stärksten inklusive Werte auslösen, da sie Ausgrenzung entgegenwirken und kognitive, emotionale, leibliche und soziale Entwicklung fördern.1 Was zwischen den Menschen geschieht, ist von großer Bedeutung, und es ist mir ein besonderes Anliegen, diese Bedeutung zu einem Kernthema dieses Buches zu machen. Außerdem stelle ich sehr konkrete und praktische Handlungsmöglichkeiten vor, wie wir das, was Inklusion wirklich meint, in die Praxis umsetzen können. Wir verfügen heute über hinreichend pädagogisches Wissen, sehr gute und ausgereifte Konzepte, entwicklungspsychologische Erkenntnisse und rechtliche Rahmenbedingungen, die wir nur konsequent und seriös umsetzen müssen. Dann begegnen wir dieser Aufgabe mit einer Haltung, die das Wesen des Einzelnen ins Zentrum von Bildung und Erziehung stellt.
DIE KERNAUFGABEN VON INKLUSION sind die Herstellung der Anschlussfähigkeit eines jeden Individuums …
… an das eigene Selbst mit der Erfahrung von Selbstwirksamkeit und dem Ziel eines stabilen selbstbewussten und freien Menschen; … an entwicklungs- und bildungsrelevante Themen, mit dem Ziel, Lernen nicht als Muss, sondern als kontinuierliche individuelle Weiterentwicklung zu empfinden und zu begreifen;
… an andere mit dem Ziel, sich als Teil einer Gemeinschaft zu erleben.
Anschlussfähigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie die Möglichkeit des Einzelnen, in einem guten Kontakt zu sich selber, einem Bezug zu einer Aufgabe oder im Kontakt mit anderen zu sein.
Wir müssen uns der Perspektive des Kindes mit all seinen Facetten annähern, um einen Handlungsrahmen zu entwickeln, der das Kind mit seinem Sein, seiner persönlichen Geschichte und seinen individuellen Entwicklungsbedürfnissen einschließt. Zu dieser Perspektive gehört die Art und Weise, wie sich das Kind die Zusammenhänge der Welt erschließt und wie es über Bewegung, Handlung und Denken seinen eigenen Reifungsprozess gestaltet.
Jedes Kind ist einzigartig in seiner Erscheinung, in seinem Ausdruck und in der Art, wie es mit den Herausforderungen, die die Welt für es bereithält, umgeht. Es ist wie bei einem wunderbaren Gemälde, das ein Künstler wie Leonardo da Vinci, Emil Nolde oder Rembrandt erschaffen hat. Ein solches Bild hat einen Rahmen, der das Besondere des Kunstwerks hervorheben soll. Sollte das Bild nun nicht zum Rahmen passen, würden wir nie auf die Idee kommen, etwas so Kostbares, Wertvolles und Einzigartiges wie die Mona Lisa an den Rahmen anzupassen, sondern würden immer den Rahmen an dieses einzigartige Bild anpassen.
ICH MÖCHTE IN DIESEM BUCH WEGE AUFZEIGEN, wie wir Einstellungen, Vorstellungen, Bedingungen, Handlungsmuster und Kommunikationsweisen so ändern können, dass das Kind nicht mehr aus dem Rahmen fällt. Die Möglichkeit der Veränderung liegt dabei zunächst in uns selbst sowie in der Veränderung pädagogischer Handlungsweisen und Konzepte. Hierin findet sich ein Kerngedanke von Inklusion, die verlangt, dass sich die Gesellschaft mit ihren Bildungsvorstellungen und institutionellen Rahmenbedingungen an die Besonderheiten anpasst, die das Individuum mitbringt. Hier ist auch der wesentliche Unterschied zur Integration von Kindern mit Behinderung in Bildungseinrichtungen zu sehen, die die Anpassungs- oder Eingliederungsleistung mehr in der Verantwortung des Individuums sieht. Ich werde zunächst die Situation, in der sich das einzelne Kind bewegt, handelt und uns in besonderer Weise herausfordert, auf unterschiedlichen Ebenen betrachten und beschreiben; zum einen auf der Metaebene, die uns zeigen soll, wie komplex das System ist, in dem sich ein Individuum bewegt, zum anderen in einer Art Mikrokosmos, der uns erlaubt, in der direkten Alltagsumgebung des Kindes kleine Veränderungen vorzunehmen, die aber eine große Wirkkraft haben.
EINE WICHTIGE GRUNDLAGE FÜR DEN KINDLICHEN Reifungs- und Bildungsprozess ist das Bedürfnis des Kindes nach sicheren Bindungen. Antworten auf dieses Grundbedürfnis sind in den biologisch angelegten Interaktionskompetenzen zu finden, die für das Kind einen Rahmen schaffen, der die Selbstbildungsprozesse fördert. Kinder und Erwachsene verfügen über diese angeborenen Ressourcen, die es zu erkennen, zu beleben und zu nutzen gilt. Zu den natürlichen Ressourcen gehören auch einzelne kindliche Spiele und Verhaltensweisen, mit denen sich Kinder weltweit ausdrücken, um sich bei Unsicherheit und Ängsten rückzuversichern.
Im dritten Kapitel dieses Buches werde ich neben den natürlichen Ressourcen, die das Fundament für eine hilfreiche pädagogische Beziehung sind, die Wirkweisen und Bedeutungen pädagogischer Konzepte ansprechen. In Bildungseinrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen, in denen sich viele Menschen zusammenfinden, benötigen wir ein Bildungskonzept, das einen gemeinsamen Nenner bietet, auf den sich die Akteure über ihre natürlichen Ressourcen und Vorstellungen hinaus, die auch von ihrer persönlichen Geschichte geprägt sind, verständigen können. Ein pädagogisches Konzept enthält theoretische Annahmen zu kindlichen Reifungsprozessen und damit ein weiteres pädagogisches Instrument, um das Kind in seinem Bildungsprozess zu begleiten. Das theoretische Konzept ist immer auch eine Metaebene, über die wir unser eigenes Handeln abgleichen können. Wenn es um Inklusion geht, benötigen diese Konzepte ein hohes Maß an Flexibilität sowie die Bereitschaft, sich täglich durch die Menschen, die mit diesen Konzepten arbeiten, inspirieren und weiterentwickeln zu lassen.
KAPITEL 4 WIDMET SICH DER BEZIEHUNGSGESTALTUNG der Erwachsenen, die sich an der Erziehung und Bildung von Kindern beteiligen. Eltern und pädagogische Fachkräfte müssen trotz oder wegen ihrer unterschiedlichen Hintergründe und Erwartungen daran arbeiten, sich als Team zu begreifen. Eine Allianz oder Übereinkunft der unterschiedlichen Protagonisten schützt uns vor der Gefahr einer möglichen gegenseitigen Bewertung oder sogar Entwertung, die immer beim Kind ankommt, also Auswirkungen auf das Kind hat. Eine Allianz der Erwachsenen eröffnet die Chance, gemeinsam eine positive Perspektive für das Kind zu entwickeln. Eine Unterstützung, um dies zu erreichen, ist gerade bei schwierigen Konstellationen die externe Beratung, auf die ich im sechsten Kapitel zu sprechen komme. Die Beratung hilft uns, den Blick zu weiten und ermöglicht uns, mehr zu sehen als das, was wir uns in diesem Moment gerade vorstellen können. Unsere Vorstellungen werden in der Regel von inneren Bildern dominiert, die in schwierigen Situationen unseren Blick einengen oder uns ohnmächtig machen. Die Beratung, so wie ich sie hier vorschlage, hilft dabei, durch Videosequenzen eine Realität darzustellen, die uns mit Informationen versorgt und uns wieder handlungsfähig macht. Das Konzept für einen Beratungsrahmen, das ich hier vorstellen werde, nimmt die konkrete Alltagssituation mit dem Kind in den Fokus und gibt dem Betrachter ebenso konkrete Handlungsmöglichkeiten. Die beeindruckende Wirksamkeit kann ich täglich erleben. Die Begleitung von Kindern braucht eine engagierte, dem Individuum zugewandte und professionelle Haltung, doch wir dürfen den Begriff der Haltung nicht überstrapazieren. Haltung braucht Halt und verlangt von denen, die den übergeordneten Rahmen in Form von Verordnungen und Konzepten für Bildung und Erziehung entwickeln, dass sie die bestehenden Gesetze und theoretischen Erkenntnisse zum Wohle der zu versorgenden Kinder umsetzen. Ein wichtiger Aspekt von Haltung, dem ich mich in einem weiteren Kapitel widme, ist die Anwaltschaft für das noch nicht reife Kind, den noch nicht reifen Jugendlichen. Der Appell, sich für deren Bedürfnisse einzusetzen, richtet sich an pädagogische Fachkräfte, Eltern und politisch Verantwortliche in gleichem Maße.
DIE INTENSIVE BEOBACHTUNG VON KINDERN wird in diesem Buch eine zentrale Rolle spielen. Sie ist Grundlage dafür, dass wir kindliche Interessen und Entwicklungsinitiativen besser verstehen und die Aufmerksamkeit des Erwachsenen auf die Dinge lenken, die das Kind bereits entwickelt hat und die letztlich seine Persönlichkeit ausmachen. Die Beschreibung dieser Beobachtungen soll uns vor allem helfen, uns den Selbstbildungsinteressen der Kinder zu nähern, und ermöglicht uns, die Welt aus der Perspektive der Kinder zu betrachten. In der Beobachtung ist das individuelle Interesse des Kindes nach Entwicklung zu sehen. Dieses Interesse zu erkennen, eröffnet den pädagogischen Fachkräften Handlungsmöglichkeiten, um das Kind in seiner Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen.
Auch wenn sich ein Schwerpunkt dieses Buches mit den Gedanken einer inklusiven Pädagogik im Kindergarten beschäftigt, werde ich außerdem darauf eingehen, welche Konsequenzen Inklusion für den Bereich Schule hat und wie sie an Schulen bereits Umsetzung findet. Dort, wo Inklusion positiv wirkt, kommt es zu einer Art Aufbruchstimmung und Menschen entwickeln ganz neue Gedanken, Perspektiven, Konzepte und Visionen. Neue Eindrücke und Erfahrungen wecken im Einzelnen häufig die Bereitschaft, sich durch die Möglichkeiten, die der Grundgedanke der Inklusion bietet, verändern zu lassen.
AUF DER ANDEREN SEITE ERZEUGT DAS THEMA WIDERSTÄNDE, weil sich Menschen übergangen oder vor dem Hintergrund ungünstiger Rahmenbedingungen überfordert fühlen. So wird Menschen dieses Thema übergestülpt, ohne ihnen nötiges Wissen, Handwerkszeug oder Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Gerade im Bereich Schule gibt es zurzeit sehr kontroverse Reaktionen, die den Begriff Inklusion schon zu einer Art Unwort in unserer Gesellschaft machen.
Aus diesem Grund möchte ich auf sehr pragmatischer und verständlicher Ebene darstellen, welchen Gewinn der einzelne Mensch und unsere Gesellschaft bei einer professionellen, angemessenen und seriösen Umsetzung von Inklusion haben. Es geht um einen Paradigmenwechsel – um ein Verständnis von pädagogischem Handeln und Konzepten, das die Individualität des Einzelnen mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten erfasst und zentrale Aspekte der Gesellschaft wie Wertschätzung, Solidarität, Gemeinschaft und gegenseitiges Vertrauen in den Mittelpunkt stellt.
DIESES BUCH HAT EINE VORGESCHICHTE, die mich dazu veranlasst hat, mir intensivere Gedanken zu den unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Kindertagesstätten und Schulen sowie deren Wirkung auf menschliches Verhalten zu machen: Bei Studientagen zum Thema Inklusion stellten Erzieherinnen drei Kindergartenkinder vor, deren Verhaltensweisen sie gerade sehr beschäftigte. Die Kinder zeigten ein Verhalten, das die Kolleginnen immer wieder an ihre Grenzen brachte und im Vergleich mit anderen Kindern in vielen Situationen aus dem Rahmen fiel. Damit wir uns die belastenden Situationen nicht nur vor unserem inneren Auge vorstellen mussten, hatte das Team Videosequenzen von diesen mitgebracht.
Im ersten Video wird sehr deutlich, dass es dem vierjährigen Paul schwerfällt, sich auf den täglich stattfindenden Morgenkreis einzulassen. Während es allen gelingt, aufmerksam zu sein und ihre sitzende Position am Boden zu halten, bewegt Paul sich unentwegt. Er lässt sich immer wieder auf den Boden fallen und streckt dabei seine Füße in Richtung zur Mitte des Kreises. Dann rappelt er sich kurzzeitig wieder auf, bevor er sich wenige Augenblicke später wieder hintenüber auf den Boden gleiten lässt. Er scheint nicht an den Angeboten und Aktivitäten interessiert. Vielmehr signalisiert er Desinteresse und bindet durch sein Verhalten die Aufmerksamkeit der anderen Kinder.
Auch die Kollegin, die an diesem Tag die Aktivitäten im Morgenkreis anleitet, wirkt, als würde Pauls Verhalten sie immer wieder aus dem Konzept bringen. Zunächst versucht sie, das ihr schon bekannte Verhalten zu ignorieren, doch spätestens als die anderen Kinder ebenfalls unkonzentriert werden, spricht sie Paul, der sowieso schon prophylaktisch neben ihr sitzt, direkt an. Sie nimmt Körperkontakt auf und bittet ihn, sich richtig hinzusetzen. Paul folgt ihren Anweisungen einige Augenblicke lang, bevor er sich erneut nach hinten fallen lässt.
DIE ERZIEHERINNEN VERFOLGEN DEN FILM, der ihr tägliches Erleben zeigt, sehr konzentriert. Zwischendurch gibt es einzelne Worte, dann stecken zwei Kolleginnen die Köpfe zusammen. In diesem Moment halte ich den Film an und frage die Kolleginnen, was es zu beobachten gibt. In den Aussagen bei diesem Studientag wird deutlich, dass der Film genau die belastende Alltagsrealität abbildet, in der Paul alle Fachkräfte ziemlich anstrengt. Im Film wiederholt sich die Situation einige Male, bis Paul nach hinten rutscht und sich auf den Bauch legt. Er wirkt nun wie ein Kleinkind, das sich gerade von der Rücken- in die Bauchlage gedreht hat. Auch seine Aufmerksamkeit ist nun eine andere, und diese Beobachtung wird plötzlich Thema unter den Erzieherinnen. Als wieder zwei Kolleginnen beim Betrachten des Videos tuscheln, halte ich den Film an und bitte die beiden, die Gruppe an ihren Worten und Gedanken teilhaben zu lassen. Eine pädagogische Fachkraft sagt daraufhin: »Ja, die Situation ist jetzt viel ruhiger, wenn Paul da so außerhalb des Morgenkreises liegt. Die anderen Kinder, aber auch Paul, wirken jetzt ruhiger und konzentrierter.«
Der Film läuft weiter, und es entsteht der Eindruck, dass jetzt alle die Bilder noch aufmerksamer betrachten. Dann unterhalten sich wieder zwei Erzieherinnen, und ich stoppe den Film erneut. Ohne Aufforderung sagt eine Kollegin: »Paul wirkt nun wirklich sehr konzentriert. Er versucht dem Geschehen im Morgenkreis zu folgen, auch wenn er nicht alles sehen kann!« – »Ja, das lässt sich regelrecht an seinen Augen ablesen«, ergänzt ihre Kollegin. Ich lasse den Film weiterlaufen, bis sich eine weitere Kollegin zu Wort meldet und, während der Film wieder angehalten wird, sagt: »Paul bewegt eindeutig die Lippen. Er versucht das Morgenkreislied mitzusingen.« – »Ja«, bestätigt eine andere Kollegin, »Paul singt wirklich mit!« – »Der versucht sogar in Bauchlage zu klatschten. Ist ja irre«, ergänzt eine Fachkraft.
DIE PÄDAGOGISCHEN FACHKRÄFTE ENTWICKELN aus sich heraus eine andere Sicht auf die gleiche Situation. Die Perspektive hat sich für sie verändert. Am Studientag können sie Pauls Verhalten in Ruhe, differenziert und konzentriert beobachten – eine Betrachtung, die im Alltagsgeschehen nicht so einfach möglich ist, da die Erzieherinnen in der realen Situation eine andere Rolle einnehmen und auch die anderen Kinder im Raum sind. Doch nun gibt es die Chance des Innehaltens, die Konzentration auf den einen Moment, in welchem Pauls Verhalten und Ausdruck ins Zentrum der Betrachtung rücken. Die Einstellungen, Meinungen und Befürchtungen in Bezug auf das Kind und die Situation, die an innere Bilder gebunden sind, werden durch die Beobachtungen, also durch äußere Bilder, verändert oder sogar vorübergehend gelöscht. Die Darstellung hilft den Kolleginnen, sich in diesem Augenblick von ihren inneren Bildern in Bezug auf Paul zu lösen, und bietet mir als Berater eine gute Grundlage, um in der Folge den Rahmen der Gedanken zu erweitern.
Der Film bleibt nun an dieser Stelle stehen und ich frage in die Runde: »Was fällt euch auf?« Die Erzieherinnen wiederholen ihre Eindrücke von der Ruhe, der Konzentration, der Beteiligung sowie einem Engagement, das jetzt bei Paul sichtbar wird. Ich bestätige diese Beobachtung mit den Worten: »Ja richtig, eine sehr genaue Beobachtung! Aber fällt euch noch etwas auf?« Es folgt ein Moment der Stille, bis ich sage: »In der Art, wie ihr eure Beobachtung mit euren Worten zum Ausdruck bringt, klingt Begeisterung mit! – Begeisterung für ein Kind, das ihr noch vor wenigen Minuten sehr kritisch betrachtet habt, weil es aus dem Rahmen fällt!«
Die Erzieherinnen wirken überrascht und gleichzeitig zufrieden. Überrascht, weil diese Situation eine Realität darstellt, die sie in ihrem Alltagserleben nicht wahrnehmen konnten. Zufrieden, weil alle Kinder jetzt irgendwie beteiligt sind, auch wenn sich Paul »außerhalb« der Gruppe befindet. Doch ist er wirklich außerhalb der Gruppe? Es stellt sich also die Frage, ob diese Situation nun Inklusion oder Exklusion darstellt. Genau diese Frage diskutieren die pädagogischen Fachkräfte jetzt, und sie werden sich schnell in der Einschätzung einig, dass Paul innerhalb des Geschehens ist, auch wenn er sich auf der anderen Seite außerhalb des Morgenkreises und somit außerhalb des gedachten Rahmens befindet. Er musste also buchstäblich »aus dem Rahmen fallen«, um sich am Rahmenprogramm beteiligen zu können.
Die Kolleginnen diskutieren einige Zeit diesen Widerspruch und die neuen Eindrücke. Sie erweitern ihren Rahmen in Bezug auf die Möglichkeit, Paul auf eine andere Weise am Morgenkreis teilhaben zu lassen. Alles scheint plötzlich ganz einfach, auch wenn sich alle darüber im Klaren sind, dass dies nur ein Ausschnitt aus dem Kindergartenalltag ist. Ihnen ist auch bewusst, dass ihnen diese Gedanken aus der Alltagsperspektive nur schwer gekommen wären.
DIE ERWEITERUNG DES RAHMENS, DIE IN DIESEM FALL in den Köpfen der pädagogischen Fachkräfte stattgefunden hat, braucht also selbst einen erweiterten Rahmen. In diesem Fall sind es zwei Studientage, die Raum für Fragen, Betrachtungen, Verständnis, Selbsterkenntnisse, Informationen und Reflexionen lassen. Dieser besondere Rahmen gibt den pädagogischen Fachkräften erst die Möglichkeit, eine andere Perspektive in Bezug auf die konkrete Situation einzunehmen und diese auf ihre tägliche Arbeit zu übertragen. Darüber hinaus kann das Wiederholen und Anhalten der Bilder das Alltagsempfinden entschleunigen: Durch den Rhythmus von abwechselndem Anschauen der Bilder und Beschreiben des nun neu Erlebten findet eine sehr grundlegende Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Alltag statt, und die Komplexität des Alltagserlebens tritt währenddessen zurück.
Die Geschichte von Paul steht stellvertretend für alle Kinder, die manchmal oder auch häufig aus dem Rahmen fallen. Sie macht zunächst einmal deutlich, dass wir uns einem Thema auf unterschiedliche Weise nähern können, um eine belastende Situation zu verändern. Nun können wir nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass die Intervention, die an dem Studientag stattgefunden hat, die vom Team beschriebene Problematik dauerhaft auflöst. In der Regel braucht eine Veränderung und somit die Entwicklung eines Kindes oder Teams mehrere Interventionen, die sich über einen Zeitraum von Wochen und Monaten erstrecken. Auf der anderen Seite konnte ich beobachten, dass eine Intervention, wie sie oben beschrieben wurde, häufiger eine fundamentale Entwicklung zur Folge hat, wenn ein komplettes Team einen solchen Prozess miterlebt. Aus dieser Erfahrung habe ich ein Handlungsschema abgeleitet, welches ich in Kapitel sechs darstellen werde. Grundsätzlich müssen wir uns bewusstmachen, welche Faktoren oder Bedingungen dafür verantwortlich sein können, dass ein Kind, zumindest aus unserer Sicht, aus dem Rahmen fällt.
DIE ANALYSE DER RAHMENBEDINGUNGEN braucht eine differenzierte und wohlwollende Betrachtungsweise, da sich der Rahmen aus einem komplexen System von Bedingungen zusammensetzt. Es ist zielführend, bei der Betrachtung dieser Bedingungen darauf zu schauen, welche Ressourcen und Konzepte die handelnden Personen in den Situationen und die Einrichtung bereits entwickelt haben. Das gilt unabhängig davon, aus welcher Perspektive wir die Betrachtung vornehmen, aus der einer Beratungsperson, einer Einrichtungsleitung oder einer pädagogischen Fachkraft, aus Sicht der Eltern oder in der Selbstreflexion. Hier findet ein Gedanke von Bernard Aucouturier Anwendung: Ich interessiere mich für das, was du zu tun vermagst, und nicht für das, was du nicht kannst.2 Das bezieht sich in dieser Formulierung auf die Beobachtung des Kindes, schließt jedoch alle an der Erziehung, Begleitung und Bildung beteiligten Erwachsenen mit ein. Auf die Ressourcen der Menschen, des Konzeptes und der Bedingungen zu schauen, können wir üben. Und aus dieser Übung kann sich die Erfahrung abbilden, tendenziell das halbvolle Glas zu sehen und nicht das halbleere.
Auch wenn sich das Kind in einem komplexen Zusammenhang bewegt, ist es sinnvoll, zunächst einzelne Faktoren in den Blick zu nehmen, um einen überschaubaren Betrachtungs- und Handlungsrahmen zu haben. Diese einzelnen Faktoren, die zusammen den gesamten Rahmen darstellen, in dem sich das Kind bewegt und entwickelt, werden in den folgenden Fragestellungen aufgegriffen.
Folgende Fragen helfen dabei, den Rahmen zu erkennen:
Wie ist der Bezug des Kindes zu sich selbst, zum anderen, zu der Gemeinschaft, zum Ort, zu den Materialien sowie zu den bildungsrelevanten Themen?
Welche Möglichkeiten hat das Kind entwickelt, sein inneres Bewegtsein, seine Kompetenz und seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen?
Welche Möglichkeiten erhält das Kind, um seine Kompetenzen und Bedürfnisse auszudrücken?
Welche Verhaltensweisen zeigen die pädagogischen Fachkräfte, die das Kind darin unterstützen, einen guten Kontakt zu sich selbst, zu anderen Kindern sowie Interesse und Bezug zu entwicklungs- oder bildungsrelevanten Themen herzustellen?
Welche Strukturen, Methoden, Haltungen, Gedanken, Rituale, Maßnahmen und Vorstellungen beinhaltet das pädagogische Konzept, um der Individualität von Kindern mit ihrer Suche nach Herausforderung und Stabilität sowie ihren heterogenen Entwicklungsmöglichkeiten gerecht zu werden?
Wie ist die Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen?
Wie werden Kinder an Entscheidungs- und Bildungsprozessen beteiligt?
Welche Kommunikationskultur und -struktur haben die Erwachsenen (pädagogische Fachkräfte, Therapeuten und Eltern) entwickelt, um dem gemeinsamen Auftrag der Fürsorge, Begleitung und Bildung von Kindern gerecht zu werden?
Welche personellen und zeitlichen Ressourcen sind in der pädagogischen Arbeit vorhanden, um den pädagogischen Fachkräften einen Rahmen zu geben, in dem sie den Kindern mit Ruhe und Respekt begegnen können?
Welche personellen und zeitlichen Ressourcen sind in der pädagogischen Arbeit vorhanden, um den pädagogischen Fachkräften einen Rahmen zu geben, in dem sie ihre Erfahrungen, ihre Gedanken, ihr Wissen und eigene konzeptionelle Überlegungen einbringen können?
WENN WIR UNTERSCHIEDLICHE Betrachtungsmöglichkeiten nutzen, um auf ein Kind oder eine Situation zu schauen, stehen uns auch eher unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Diese Handlungsoptionen sind enorm wichtig, um Gefühlen wie Ohnmacht oder Verunsicherung entgegenwirken zu können. Auch wenn alle Handlungsoptionen letztendlich natürlich mit dem Kind zu tun haben und es das vordergründige Ziel ist, eine Veränderung oder Entwicklung beim Kind herbeizuführen, sind die Veränderungsmöglichkeiten zunächst im System, der pädagogischen Konzeption, in den örtlichen Bedingungen, in dem pädagogischen Team sowie in den begleitenden Erwachsenen zu finden.3 Diese Vorgehensweise, verschiedene Faktoren zu betrachten, hält für Eltern und pädagogische Fachkräfte eine Vielzahl an Möglichkeiten bereit und hilft gegen eine mögliche Fixierung. Dieses Vorgehen bewahrt uns davor, die Lösung der Schwierigkeiten primär im Kind zu suchen. Gleichzeitig werden dadurch in der Regel Prozesse in Bezug auf die Entwicklung des Einzelnen, eines Teams, einer Institution oder einer guten Zusammenarbeit mit den Eltern in Gang gesetzt. Ergibt sich aus Fragen zu einem Kind oder aus einer schwierigen Situation, die nicht selten mit dem Gefühl der Hilflosigkeit oder der Ohnmacht einhergeht, die Entwicklung des Einzelnen oder eines Teams, so stellt sich bei den Akteuren ein Gefühl der Zufriedenheit ein. Wachstum ist Glück – und so kann die intensive Auseinandersetzung mit den besonderen Entwicklungsbedürfnissen eines Kindes einen Prozess und bei uns selbst das Bedürfnis nach Entwicklung zur Folge haben.
DIE ATMOSPHÄRE, IN DER SICH DIE BEZIEHUNGEN von Eltern, pädagogischen Fachkräften und Kindern gestalten, hat eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes und für das Klima der Lernumgebung, in der sich das Kind bewegt. Wenn die Beziehungen aller Beteiligten von gegenseitigem Respekt, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit geprägt sind, schaffen die Erwachsenen einen Beziehungsrahmen, der dem Kind wiederum die Möglichkeit gibt, der Umwelt und seinen Mitmenschen mit Respekt und Aufmerksamkeit zu begegnen und seine natürlichen Ressourcen zu nutzen.
Ich möchte im Folgenden vor allem beschreiben, wie sich die Beziehung zwischen der pädagogischen Fachkraft und dem Kind gestaltet und was das für die Anschlussfähigkeit des Kindes an das eigene Selbst, die Umgebung, die eigene Handlungsfähigkeit und die Gruppe bedeutet. Wird dem Kind die Anschlussfähigkeit an das eigene Selbst ermöglicht, befriedigt dies das Grundbedürfnis nach Bindung und hilft dem Kind, seine natürlichen Ressourcen zu nutzen. Dem Beziehungsrahmen der Erwachsenen untereinander werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt widmen.
FÜR KINDER IST DIE ANFANGSZEIT in der Kindertagesstätte (Kita) mit einer Umstellung verbunden. Sie müssen in Zukunft für einen längeren Zeitraum ohne ihre Eltern den Alltag bewältigen. Um den Kindern diesen Übergang zu erleichtern und ihnen zu helfen, Vertrauen in die neue Umgebung aufzubauen, führen Kitas nach unterschiedlichen Modellen Eingewöhnungsphasen durch, die drei bis sechs Wochen umfassen können. In dieser Phase sind die Eltern anwesend oder begleiten ihr Kind sogar durch den Kitaalltag. Wenn die Eltern sich dann nach der Eingewöhnungsphase von ihren Kindern lösen, benötigen einzelne Kinder noch ihren kleinen Tröster. Mit dem Tröster, den nicht alle Kinder haben, ist das Übergangsobjekt, zum Beispiel der Teddy, die Puppe, das Tuch, der Schnuller oder etwas ähnlich Vertrautes gemeint. Diese Objekte sind für die Kinder unmittelbar mit Empfindungen oder Bildern von ihren Eltern und ihrem vertrauten Zuhause verbunden und vermitteln ein Gefühl von Sicherheit.4
Auch Frida, die anderthalb Jahre alt ist, hat eine Phase der Eingewöhnung mit ihren Eltern gehabt und es entsteht auch zunächst der Eindruck, als wäre dieser neue Lebensabschnitt für Frida kein Problem. Doch nach einiger Zeit fällt es ihr schwer, ihre Mutter oder ihren Vater morgens gehen zu lassen. Sie klammert sich an die Eltern und fängt an, herzzerreißend zu weinen, wenn die Eltern letztlich doch gehen und sie scheinbar völlig allein zurückbleiben muss. In dieser Situation hilft es Frida nur, wenn die Erzieherinnen sie auf den Arm nehmen und sie für eine Weile durch die Kita tragen. Die pädagogischen Fachkräfte stellen hier die Ersatzpersonen für die Eltern dar, auch wenn sie diese natürlich nicht ersetzen können und sollen.
FÜR DIE ERZIEHERINNEN ist die Eingewöhnungsphase eine besondere Belastung, da sie in dieser Zeit mit dem Schmerz vieler Kinder, eine Zeitlang ohne die Eltern zu sein, konfrontiert werden und natürlich nicht alle gleichzeitig auf den Arm nehmen können. Frida muss mehrere Wochen lang, also über einen langen Zeitraum, immer wieder auf den Arm. Zum einen kommen die pädagogischen Fachkräfte dadurch an ihre Grenzen, zum anderen fragen sie sich, ob man Frida nicht ein Verhalten angewöhnt, welches dazu führt, dass sie auf Dauer getragen werden will. Hier sind die Teammitglieder unterschiedlicher Meinung. So gibt es eine Kollegin, die für Fridas Trauer sehr empfänglich ist und sie sofort auf den Arm nimmt, wenn sie weint, während andere zunächst schauen, ob sie sich nicht selber beruhigt. Diese Unterschiede sind normal, wenn verschiedene Menschen mit diesem scheinbar existenziellen Bedürfnis eines Kindes konfrontiert sind. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Fridas Bedürfnis tatsächlich immer ist, auf den Arm genommen zu werden, oder ob auch andere pädagogische Handlungen dazu beitragen können, sie gegenüber ihrer Angst vor dem Verlust der Eltern rückzuversichern.
Das Auf-den-Arm-Nehmen im Zusammenhang mit den beruhigenden Worten: »Mama kommt ja wieder!«, ist eine Form der »Umhüllung« über die Worte, wie die Berührung und das Getragenwerden. Alle Kinder kennen dieses Gefühl der Führsorge und Umhüllung aus dem Kontakt mit ihren Eltern. Aus diesem Grunde tut es dem Kind gut und wirkt sich im aktuellen Moment positiv auf die emotionale Stabilität des Kindes aus. Es ist nun wichtig, genau zu beobachten, was passiert, wenn Frida den Arm der Erzieherin wieder verlässt. Die pädagogischen Fachkräfte haben mittlerweile ein Gefühl dafür entwickelt, wann für Frida der richtige Moment gekommen ist und sie, zumindest ohne zu weinen, im Raum auf eigenen Beinen stehen kann.
WENN FRIDA SO AUF EIGENEN BEINEN STEHT, wirkt sie nicht mehr völlig aufgelöst, weint nicht mehr und wirkt nicht ängstlich. Sie sieht jedoch auch nicht glücklich aus, steht etwas verloren im Raum und schaut umher. Die Erzieherin sitzt etwa einen Meter von Frida entfernt am Tisch und wendet sich nun mit ihrem Blick den anderen Kindern zu, die bestimmten Aktivitäten nachgehen. Sie findet auch Worte für die Handlungen der Kinder. Frida steht weiter fast regungslos an derselben Stelle und schaut, was die anderen Kinder machen. Die Erzieherin blickt zwischendurch zu Frida, ohne sie jedoch noch einmal anzusprechen. Die anderen Kinder scheinen mit der Situation überfordert und nehmen keinen Kontakt zu dem Mädchen auf, das wie angewurzelt im Raum steht.
In einer Videobetrachtung dieser Szene im Team wird an Fridas Gesichtsausdruck deutlich, dass sie von dem Moment, in dem sie wieder auf eigenen Beinen steht, allein gelassen wirkt. Dieses Bild ist ein starker Kontrast zu den Momenten, in denen sich Frida auf dem Arm einer Fachkraft befand. Sie fühlt sich durch die fehlende Ansprache und den nun fehlenden Körperkontakt mit ihren Emotionen allein gelassen. Die direkte emotionale und körperliche Umhüllung des Armes fällt weg, doch die Emotionen scheinen zu bleiben, auch wenn sie deutlich abgemildert sind. Diese Emotionen werden jedoch schnell wieder angerührt, beispielsweise durch andere Eltern, die in der Eingewöhnung noch im Raum sind, so dass Frida wieder zu weinen beginnt.
Sie wirkt ohne die Worte und Berührungen verloren. Sie zeigt sich scheinbar handlungsunfähig und bekommt somit auch kein Gefühl zu sich selbst. Doch stimmt das? Ihre Augen verraten uns mehr. Mit ihren Augen schaut sie zunächst, was die anderen Kinder machen. Dann blickt sie zu einem kleinen Gegenstand, der sich in ihrer Hand befindet, dann zu einer Mutter, die noch mit ihrem Sohn in der Eingewöhnung ist. In der Teambesprechung, in der wir die Szene im Film betrachten, ergibt sich der Eindruck, dass Frida für diese kaum wahrnehmbare Handlung des Schauens, die wir im Alltagsgeschehen häufig nicht so differenziert als Handlung wahrnehmen, begleitende Worte braucht.
DREI TAGE SPÄTER FOLGT DIE NÄCHSTE BEOBACHTUNG, und Frida befindet sich wie jeden Morgen, wenn ihre Mutter die Kita verlässt, auf dem Arm einer Erzieherin. Diese trägt Frida auf einem Arm, während sie mit dem anderen Arm versucht, die Tätigkeiten auszuführen, die außerdem noch zu erledigen sind. Sie setzt sich nun mit Frida auf einen Stuhl, und als sie das Gefühl hat, dass Fridas Zustand sich stabilisiert hat, stellt sie Frida neben sich auf den Boden. Frida steht immer noch ein wenig Unsicherheit ins Gesicht geschrieben. Sie hat einen leichten Schmollmund, wirkt sehr schlaff in ihrem Muskeltonus und hat ihren Kopf leicht nach unten gesenkt. Dann bewegt sie ganz leicht ihre linke Hand, in der sich ihre kleine Stoffpuppe, ihr Tröster, befindet. Während dieser leichten Bewegung, die nur ganz zart ist, geht ihr Blick zur gleichen Hand. Die Erzieherin, die nun mit den Augen dem Blick und der Initiative von Frida folgt, sagt: »Ja, du hast deine Puppe in der Hand!« In diesem Moment folgt eine weitere zarte Bewegung, bei der Frida ihre Puppe mit ihren Augen begleitet. »Ja, deine Puppe!«, wiederholt die Erzieherin, während Frida Blickkontakt zu der pädagogischen Fachkraft aufnimmt. Frida huscht nun ein zartes Lächeln über das Gesicht, und ihre Bewegung, die sie ausführt, wird stärker. Sie reißt ihren linken Arm mit der Puppe nach oben und schaut dabei zunächst die Puppe und dann erneut die Erzieherin an. Diese lacht und sagt: »Oh, nach oben!«
Dieses Spiel mit der Puppe wiederholt sich einige Male, bis Frida die Puppe aus der Hand fällt und so landet, dass weder die pädagogische Fachkraft noch Frida die Puppe im ersten Moment sehen können. Auf Fridas verwundertes Gesicht folgen die Worte ihrer Begleiterin: »Oh, nun ist die Puppe weg!« Worauf Frida sofort Laute äußert, die wie »weg« klingen, und weiter erstaunt und suchend schaut. Die Erzieherin fischt die Puppe nun hinter einem kleinen Stuhl hervor und gibt sie Frida mit den Worten: »Wieder da!« Nun lacht Frida, schaut mit einem kurzen Blick auf ihre Puppe, bevor sie die Puppe wieder wegschleudert. Danach richtet sie die Augen sofort zur Erzieherin, macht »Oooh«, und die Erzieherin antwortet sofort mit den Worten: »Und wieder weg!«
DIE ERZIEHERIN SCHEINT Spaß an diesem kleinen Spiel gefunden zu haben und baut durch die Art und Weise, wie sie jetzt erneut nach der Puppe sucht, eine hohe Aufmerksamkeit bei Frida auf. Sie sagt mit lang gezogener Stimme: »Jaaaa, wo ist denn deine Puppe bloß?«, um dann fast im gleichen Moment zu sagen: »Hiiieeeeeer ist sie!«, und sie Frida freudig entgegenzustrecken. Bei Frida gibt es in dieser Situation eine große Veränderung zwischen tonischer Anspannung, die sie im Moment der erhöhten Aufmerksamkeit hat, sowie tonischer Entspannung, als sie ihre Puppe wieder in den Händen hält. Dieses hindert Frida nicht daran, ihre Puppe erneut wegzuschleudern, und dieses Spiel setzt sich einige Male fort.
Da die Erzieherin Fridas Initiativen auf feinfühlige Weise wahrgenommen hat und ihnen mit ihrem Blick und ihren Worten gefolgt ist, setzt sich für Frida das Gefühl des unmittelbaren Kontaktes, das sie vorher auf dem Arm hatte, fort. Sie fühlt sich in ihren zunächst sehr zarten Handlungen gesehen und wahrgenommen. Dies gibt Frida das Gefühl, dass ihre Handlungen, die immer unmittelbar mit einem Gefühl des Seins in Verbindung gebracht werden, für den anderen eine Bedeutung haben, wichtig sind. Die Verbindung zwischen ihrem Handeln und den Worten und Blicken der Erzieherin berührt das Grundbedürfnis des Kindes nach Bindung.
Im Moment dieses Erlebens sucht Frida sofort den Blickkontakt zur pädagogischen Fachkraft und es folgt ein kurzer Austausch über die Mimik. Da hier ihre Initiative erkannt und benannt wurde, setzt Frida ihr Handeln fort, um weiter das Gefühl zu genießen, in den Augen des anderen zu existieren. In diesem Moment macht das Kind die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, die mit Wohlbefinden einhergeht:5Mein Handeln hat eine Wirkung auf die mich umgebende Welt. Doch auch die Puppe erhält durch die Aufmerksamkeit der Fachkraft eine besondere und für das weitere Spiel zentrale Rolle. Jedes Objekt bekommt so den Wert, den der Erwachsene ihm gibt, indem dieser die Initiative aufgreift, die mit der Geste des Kindes verbunden ist.6
IN DER STÄNDIGEN WIEDERHOLUNG STECKT DIE LUST, dieses Spiel mit der oben beschriebenen tonischen Veränderung fortzusetzen. In diesem kleinen Spiel, das sich in Qualität und in Intensität ständig weiterentwickelt, bekommt Frida zunehmend ein Gefühl zu ihrem eigenen Erleben und zu sich selbst, das durch die Worte: »Du hast deine Puppe«, noch eine Unterstützung erfährt. Hier finden die Worte von Schiller, »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«,7 ihre Bedeutung.
Das Verschwinden und Wiederauftauchen der Puppe ist ein Spiel, das sich unmittelbar an Fridas Realität orientiert. Durch die Gewissheit, die sich aus dem Erleben des Spiels ergibt, macht sie die Erfahrung der Objektpermanenz: Ein Objekt, das aus dem Blickfeld gerät, ist nicht für immer verschwunden, sondern bleibt weiter existent. In dem Spiel um das Verschwinden und Wiederauftauchen bearbeitet Frida unbewusst das Drama um das tägliche Verschwinden ihrer Eltern. Das Spiel dient in vielen Fällen dazu, dem Kind zu helfen und eine nicht zu ändernde Realität auf spielerische Weise zu verändern und somit zu entdramatisieren. Für dieses Spiel gilt es, günstige Rahmenbedingen zu schaffen. Das Kind muss sich als Handelnder erleben, um nicht von aktuellen, als bedrohlich erlebten Emotionen überflutet zu werden, die es handlungsunfähig machen.8 Der oft von Erwachsenen angebotene Versuch, das Kind durch Worte wie: »Guck mal, was wir hier haben«, oder: »Wollen wir mal …«, abzulenken, ist ein legitimer Versuch, geht jedoch am aktuellen Erleben und Empfinden des Kindes vorbei. Außerdem werden diese Sätze oft durch das Wort »Wir« beherrscht, und es ist zielführender, das Ich und Du aufzubauen. »Du« wirfst die Puppe weg und »ich« hole sie wieder. Wichtig scheint auch, sich noch einmal vor Augen zu führen, wie zart Fridas Handlungen zu Beginn der oben beschriebenen Interaktion waren. Das emphatische Verhalten und das Erkennen der kleinsten Initiative von Frida sind hier das Fundament für die Entwicklung eines Spiels, das sich wie folgt fortsetzt.
ALS FRIDA DIE PUPPE etwa zum zehnten Mal von der Erzieherin, also dem Gegenüber, in die Hand bekommt, rennt sie plötzlich davon und verschwindet hinter einer kleinen Stellwand. Die Erzieherin reagiert sofort und sagt: »Na, jetzt ist die Frida weg! – Wo ist denn bloß die Frida?«, die in diesem Moment, sofort wieder lachend, aus ihrem Versteck hervorkommt. »Ach daaaa bist du!«, lautet die Reaktion der pädagogischen Fachkraft, die Frida sofort wieder animiert, im gleichen Versteck zu verschwinden. Doch es sind nicht nur die Worte, die Frida dazu anregen, sich nun immer wieder zu verstecken. Es ist vor allem auch das lachende und freudige Gesicht der Erzieherin, welches Frida das Gefühl vermittelt, in den Augen des signifikant anderen zu existieren. Auch dieses Spiel wiederholt sich mit zunehmenden Emotionen, und Frida verschwindet immer wieder im gleichen Versteck. Durch dieses Spiel und die damit einhergehenden Worte und Emotionen fühlen sich auch andere Kinder eingeladen, und so verschwindet mal Michi, mal Greta und mal Frida in dem kleinen Versteck. Auch für die anderen Kinder ist es wichtig, Frida handelnd zu erleben, da sie mit den Emotionen, die Frida vorher zum Ausdruck gebracht hat, überfordert waren. Sie können sie in der reinen Angst, dass Mama vielleicht nicht wiederkommt, nicht begleiten. Doch wenn Frida ihre Angst unbewusst auf symbolische Art und Weise durch das Versteckspiel zum Ausdruck bringt, bleibt sie nicht allein. Die Handlung ist Ausdruck eines inneren Erlebens und bildet eine wesentliche Grundlage, um Anschluss zu anderen herzustellen.
Kinder verstecken sich in einem gewissen Alter immer an der gleichen Stelle, weil sie sichergehen wollen, dass man sie auch wirklich findet. Dieses Spiel unterscheidet sich inhaltlich nicht von dem Spiel mit der Puppe, hat jedoch für die Rückversicherung vor dem Verlust des anderen eine größere Wirkkraft, da sie sich unmittelbar auf das eigene und vor allem körperliche Erleben bezieht. Auch die anderen Kinder fühlen sich nun durch dieses Spiel zum Handeln eingeladen. Frida bringt hier, wie auch schon im Spiel mit der Puppe, ihr aktuelles Thema zum Ausdruck. Zu dieser Form, das eigene Thema auszudrücken, können nun auch die anderen Kinder Anschluss herstellen, die mit dem rein emotionalen Ausdruck von Verlust, dem Weinen, überfordert waren. Hier bekommt die Qualität der Handlung und des kindlichen Spiels eine Bedeutung, die ein Erleben mit anderen ermöglicht. Die Bezogenheit der Kinder untereinander unterstützt das Gefühl der Selbstwirksamkeit und das Gefühl der Gemeinschaft. Aus diesem Grund ist es so wichtig, das Kind dabei zu unterstützen und zu begleiten, dass es in Handlung kommt, sonst bleibt es in diesen Situationen allein. Die Videosequenzen wurden in der nächsten Frühbesprechung mit dem gesamten Team diskutiert und Frida konnte sich so innerhalb einer Woche stabilisieren.
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