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The subject of autism has enjoyed a considerable boom in recent years. A wealth of autobiographical reports on autistic perception, thinking and action by individuals who are affected has challenged the widespread clinical and pathologizing view of autism. This volume aims to understand the views of autistic individuals and to compare them with scientific findings, especially from the field of the neurosciences. Neuroscientific findings are shedding new light on the abilities and intelligence of people in the autistic spectrum. The characteristics that have been identified are then illuminated here by autistic persons themselves & with an ?inside view=, so to speak: perceptual peculiarities, unusual learning behaviour, focused thinking, difficulties in communicating and in social interaction, etc.
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Seitenzahl: 486
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Der Herausgeber
Universitätsprofessor em. Dr. Georg Theunissen (Dipl.-Pädagoge, Heilpädagoge), Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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2., aktualisierte Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037906-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-037907-7
epub: ISBN 978-3-17-037908-4
mobi: ISBN 978-3-17-037909-1
Vorwort
Vorwort zur 2. Auflage
Außen- und Innensichten. Eine Einführung
Wolfram Kulig
Teil I: Außensichten
1 Autismus – das neue Verständnis aus der Außensicht in Anlehnung an Vorstellungen von Betroffenen
Georg Theunissen
1.1 Zur traditionellen Sicht von Autismus
1.2 Zum DSM-5
1.3 Zum Autismus-Spektrum
1.4 Zum Ansatz der Neurodiversität
1.5 Zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und Annahmen
1.6 Autistische Fähigkeiten und autistische Intelligenz
1.7 Autismus aus Elternsicht – Erfahrungen und positives Denken
Kerstin Rückerl und Gina Wohlert
Teil II: Innensichten von Persönlichkeiten aus dem Autismus-Spektrum
1 Wahrnehmungsbesonderheiten bei Autismus
Gee Vero
2 Unübliches Lernverhalten
Ralf Drenkhahn mit Imke Heuer
3 Fokussiertes Denken und ausgeprägte Interessen in speziellen Bereichen – die Stärken-Perspektive
Stefan Wepil
4 Ungewöhnliche, sich wiederholende Bewegungsmuster und motorische Behinderungen mit Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit
Dietmar Zöller
5 Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung
Peter Schmidt
6 »Treffsicher und bezeichnend, oft freilich auch recht abwegig« – Autistische Sprache und Kommunikation
Imke Heuer
7 Zu den Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren
Hajo Seng
Teil III: Zusammenfassende Schlussbetrachtungen
1 Mit autistischen Merkmalen, Fähigkeiten und Stärken umgehen – ein zusammenfassendes Resümee aus der Innensicht
Jürgen Boxberger
2 Abschließende Bemerkungen aus der Außensicht
Georg Theunissen
Literatur
Die Autorinnen und Autoren
In den letzten Jahren hat es beim Thema Autismus sehr viele Veränderungen und Entwicklungen gegeben. Neuere Statistiken aus führenden Industrienationen zeigen auf, dass Autismus nicht mehr als eine eher seltene Behinderungsform in Erscheinung tritt. Dies hat verschiedene Gründe: Auch wenn viele Betroffene diesen Punkt kritisch sehen, so hat doch der Film »Rain Man« zu einem wachsenden gesellschaftlichen Interesse für Autismus beigetragen. Das gilt gleichfalls für Mark Haddons Roman »Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone«. Ferner sind in den letzten Jahren die Diagnose-Instrumente zur Erfassung autistischer Verhaltensweisen verfeinert und weiterentwickelt worden. Wurden früher vermeintlich schwer kognitiv beeinträchtige und verhaltensauffällige Kinder eher als »geistig behindert« denn »autistisch« diagnostiziert, so hat sich dies mittlerweile geändert. Hierbei spielen mitunter Interessen und die Hoffnung von Eltern eine Rolle, dass ihr behindertes Kind durch eine Autismus-Diagnose bessere Unterstützungsleistungen bekommt. Daher scheint die Zunahme von Autismus-Diagnosen auch künstlich gesteigert zu sein.
Gleichwohl gab es in der Vergangenheit oftmals Fehldiagnosen. Darüber berichten Personen aus dem Autismus-Spektrum. Zudem scheint es aber auch häufig zu einem Wechsel an Autismus-Diagnosen zu kommen. Immer wieder begegnen wir Erwachsenen, denen zunächst im Kindesalter ein »frühkindlicher Autismus«, später ein »hochfunktionaler Autismus« oder das »Asperger-Syndrom« attestiert wurde. Bei manchen anderen schwanken die Diagnosen zwischen »atypischem Autismus«, der »nicht näher bezeichneten Form« und dem »hochfunktionalen Autismus«.
Vor diesem Hintergrund dominiert heute im Lager der Autismusforschung die Auffassung, dass es zwischen den verschiedenen klinischen Bildern des Autismus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Das war mit ein Grund dafür, dass sich die US-amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie (American Psychiatric Association) dazu entschied, zukünftig in ihrem Klassifikationssystem DSM-5 auf die bisher üblichen Einteilungen von Autismus zu verzichten.
Diese Entscheidung entspricht gleichfalls der Vorstellung der zur Zeit aktivsten Selbstvertretungsorganisation autistischer Personen, dem US-amerikanischen Autism Self Advocacy Network. Deren erklärtes Ziel ist es, dass Autismus nicht als Krankheit oder psychische Störung, sondern als eine Form menschlichen Seins angesehen wird. Daher wird nicht von Autismus-Spektrum-Störungen (autism spectrum disorders) gesprochen, stattdessen werden Bezeichnungen wie »Autismus-Spektrum« (autism spectrum/autism spectrum condition) oder »Menschen im Autismus-Spektrum« bevorzugt.
Ferner engagiert sich die Organisation als »Stimme der Betroffenen« auf politischem Gebiet und wendet sich unmissverständlich gegen gesellschaftliche Diskriminierung und Benachteiligung autistischer Menschen, vor allem auch gegen »zwangstherapeutische« Heilungsabsichten und Ausgrenzung von Personen, denen eine schwere Form von Autismus und zusätzliche (schwere) kognitive Beeinträchtigungen oder Verhaltensprobleme nachgesagt werden. Damit vertritt die US-amerikanische Organisation alle Personen aus dem Autismus-Spektrum und nicht etwa nur autistische Menschen, die für sich selber sprechen können oder mit speziellen beruflichen Fähigkeiten imponieren.
Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass Autismus keine neurologischen Defekte, Defizite oder Fehlschaltungen zugrunde liegen. Vielmehr handelt es sich um »von Natur aus« anders strukturierte Netzwerke im Gehirn, die als Ausdruck einer neurologischen Variation und Neurodiversität betrachtet werden. In ähnlicher Bahn argumentieren auch hierzulande selbstorganisierte Zusammenschlüsse wie Aspies e. V. aus Berlin oder autWorker e. G. aus Hamburg.
Bemerkenswert ist, dass darüber hinaus aus dem Lager der Selbstvertretungsgruppen sowie von autistischen Persönlichkeiten in zunehmendem Maße autobiografische Berichte publiziert sowie Vorträge über autistisches Wahrnehmen, Denken und Handeln gehalten werden. Damit beweisen sich Betroffene als »Experten in eigener Sache«, die uns gegenüber der bislang weit verbreiteten klinisch-pathologisierenden Sicht ein anderes Bild von Autismus vor Augen führen. Wurde die »Innensicht« zunächst in der Autismusforschung kaum zur Kenntnis genommen, so scheint sich diese Ignoranz allmählich, wenn auch sehr langsam, zu legen. Immer mehr renommierte Autismusforscher*innen erkennen mittlerweile, dass die Stimme der Betroffenen ausgesprochen wertvoll ist, wenn es darum geht, Autismus besser zu verstehen und den Bedürfnissen und der Situation von Personen aus dem Autismus-Spektrum Rechnung zu tragen. »Denn was Autismus wirklich bedeutet, können autistische Personen am besten sagen« (Robison 2014).
Genau an dieser Stelle setzt die vorliegende Schrift an. Als erster Lehrstuhlinhaber für Pädagogik bei Autismus im deutschsprachigen Raum bin ich seit einigen Jahren bemüht, die Sichtweisen von autistischen Personen zu verstehen und mit wissenschaftlichen Erkenntnissen abzugleichen. Solche Erkenntnisse stammen vor allem aus den Neurowissenschaften, die in letzter Zeit Theorien oder Erklärungsmodelle entwickelt haben, welche nicht selten mit dem Selbsterleben, den Aussagen oder Auffassungen von autistischen Personen in Einklang stehen. Von Menschen aus dem Autismus-Spektrum habe ich in den letzten Jahren am meisten über Autismus gelernt. Die Aufbereitung der Betroffenen-Perspektive mit neurowissenschaftlichen Befunden hat zu einer »Außensicht« geführt, die für eine neue Betrachtung von Autismus wegbereitend ist.
Spannend wird der fachwissenschaftliche Diskurs aber erst dann, wenn er nicht auf dieser eher traditionellen Ebene der »Außenperspektive« stehen bleibt, sondern ebenso der Stimme betroffener Personen einen gleichwertigen Raum gibt, authentische Aussagen zu würdigen weiß und die darin enthaltene Sichtweise auf Autismus respektiert und akzeptiert. Daher gibt es einen zweiten Teil der Schrift, der zuvor herausgearbeitete Merkmale von Autismus aufgreift, die von autistischen Persönlichkeiten beleuchtet und beschrieben werden. Damit kommt es zu einer »Innensicht«, deren Wert nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, wenn Autismus besser als bisher verstanden werden soll. Viele autobiografische Berichte imponieren mit einem Facettenreichtum an wertvollen Erfahrungen, Situationsbeschreibungen und Überlegungen, die dem traditionellen Verständnis über Autismus, wie es viele Fach- oder Lehrbücher verbreiten, überlegen sind.
Zugleich bietet dieser Teil der Schrift wertvolle Anregungen für die Praxis, von denen Eltern, pädagogische oder therapeutische Fachkräfte sowie andere Personen aus dem unterstützenden und gesellschaftlichen Umfeld profitieren können.
Abgerundet wird der Band mit einem Resümee, das nicht nur ein neues Denken über Autismus, sondern zugleich ein Überdenken bisheriger Gepflogenheiten nahelegt – werden doch bislang Betroffenen kaum Möglichkeiten gegeben, an Forschung kooperativ zu partizipieren oder ihre Sichtweisen über einen angemessenen Umgang mit Autismus kundzutun.
Vor diesem Hintergrund hoffe ich, ein einzigartiges Buch zusammengestellt zu haben, welches, in einfacher Sprache gehalten, als wissenschaftlich fundierte Einführung in den Autismus konzipiert ist. Ziel war es, auf Anglizismen weithin zu verzichten, und alle Zitate aus englischsprachigen Quellen wurden von uns ins Deutsche übersetzt. Die Schrift wendet sich vor allem an Personen, die mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum zusammenleben oder zusammenarbeiten, die sich über Entwicklungen auf dem Gebiet des Autismus, über neuere Erkenntnisse und moderne Sichtweisen informieren möchten und an einem Umgang interessiert sind, der die Stimme der Betroffenen als Experten in eigener Sache respektiert.
Bedanken möchte ich mich bei allen Autorinnen und Autoren, die zum Gelingen des vorliegenden Werkes beigetragen haben. Ferner gilt mein Dank dem Kohlhammer-Verlag für das verlegerische Interesse und insbesondere Herrn Dr. K.-P. Burkarth für die gute Zusammenarbeit.
Georg Theunissen im März 2016
Sehr erfreut haben mich in den vergangenen vier Jahren die vielen positiven Kommentare und Buchbesprechungen der ersten Auflage von »Autismus verstehen«. Sie haben mir deutlich gemacht, dass die Frage, wie Autismus betrachtet und aufbereitet werden soll, alles andere als marginal ist. So hat sich vor dem Hintergrund der positiven Resonanz die Erkenntnis bestätigt, die schon vor über 20 Jahren die Autistin Jasmin O’Neill (2001, 12 f.) gewonnen hatte: »Zu viele Eltern und Betreuer autistischer Menschen schenken schriftlich oder mündlich weitergegebenen Fehleinschätzungen Glauben. Was Ärzte oder Psychologen sagen, braucht nicht immer wahr zu sein. Manche sogenannte Experten sind schlichtweg inkompetent… Viele Aussagen Außenstehender über autistische Menschen sind reine Spekulation… Besonders empfehlenswert ist es, medizinische Texte mit anderen Quellen zu kombinieren.«
Erfreulicherweise findet diese Einsicht bei Forscher*innen, Angehörigen oder Fachkräften, die sich mit Autismus befassen, immer mehr Zuspruch. Autobiografische Schriften sind in der Tat eine Bereicherung der Außensichten und insbesondere der Autismusforschung und somit zum Verständnis von Autismus unabdingbar. In dieser Bahn bewegt sich ebenso die Ansicht der weltweit wohl bekanntesten Autistin Temple Grandin, die zunächst in ihren ersten Veröffentlichungen ein Bild von Autismus kreierte, dem ihre eigenen Erfahrungen und ihr eigenes Erleben zugrunde lagen. Heute vertritt sie hingegen eine Auffassung von Autismus, in der gleichfalls Erfahrungen und Innensichten anderer autistischer Personen sowie Befunde aus der neurowissenschaftlichen Autismusforschung mit einfließen.
Dieser Prozess der Erkenntnisgewinnung ist längst noch nicht zu einem Abschluss gekommen (vgl. Seng 2019, 16), und das gilt auch für die vorliegende Herausgeberschrift. Gespräche mit Expert*innen und die Durchsicht der Beiträge führten mich allerdings zu dem Schluss, angesichts der noch vorhandenen Aktualität sowie der Zeitlosigkeit einiger Texte auf eine überarbeitete zweite Buchauflage zu verzichten.
Die Zeitlosigkeit besteht in erster Linie darin, dass in mehreren autobiografischen Beiträgen persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse dokumentiert werden, die aus der Perspektive der Betroffenen lebensgeschichtliche Wirklichkeiten widerspiegeln und damit das Wissen um Autismus und autistisches Erleben bereichern.
Die Aktualität betrifft zum einen das im Buch durch sieben Aspekte charakterisierte Verständnis von Autismus, welches bis heute von der weltweit einflussreichsten Selbstvertretungsorganisation, dem Autistic Self Advocacy Network (ASAN), vertreten wird und für eine verstehende, vor allem auch an Stärken und Fähigkeiten orientierte Sicht autistischer Merkmale und autistischen Verhaltens als wegbereitend betrachtet werden kann.
Gleichwohl hat mich das erneute Studium der drei »Erstbeschreibungen« von Autismus, der Schriften von Grunja E. Sschucharewa, von Leo Kanner und von Hans Asperger, dazu veranlasst, noch ein achtes Merkmal von Autismus herauszustellen, das sich auf »emotionale Besonderheiten« bezieht. Darauf bin ich an anderer Stelle näher eingegangen (vgl. Theunissen 2019, 52 ff.; Theunissen & Sagrauske 2019, 60 ff.). Diese »Erweiterung« findet bei nicht wenigen Betroffenen Zuspruch. Emotionale Besonderheiten werden im Autismus-Modell des ASAN zwar vor allem im Rahmen der Wahrnehmungsbesonderheiten und Schwierigkeiten in der Interaktion mitgedacht, sie sind aber als autistisches Merkmal noch nicht aus der Innensicht expliziert worden. Allerdings greifen mehrere Persönlichkeiten aus dem Autismus-Spektrum (z. B. T. Grandin; P. Schmidt; G. Vero) ihr Erleben und emotionales Verhalten auf, indem sie auf eine »qualitativ anders gelagerte Gefühlswelt« verweisen. Autistische Menschen sind somit nicht – wie mitunter behauptet – gefühlslos, es kann ihnen jedoch schwerfallen, Emotionen aus Gesichtern zu lesen oder sich intuitiv in andere hineinzuversetzen. Ein solches Empathieproblem, bei dem jemand nur aus seiner Sicht eine Situation wahrnimmt oder erfasst, kann aber ebenso nicht-autistische Menschen betreffen, wenn sie zum Beispiel Personen aus dem Autismus-Spektrum begegnen. Der autistische Gelehrte Damian Milton (2018) spricht hier von einem »double empathy problem«, welches unter anderem auch vom Hirnforscher Henry Markram (zit. n. Wagner 2018, 135 f.) gesehen wird: »Wenn sie (die autistische Tochter eines Bekannten von H. Markram) unter die Dusche sollte, wuchs es sich zum Drama aus. Wie eine Katze wehrte sie sich, Kratzen, Beißen, Wasserschlacht, und der Vater, wütend, schimpfte mit ihr: Kannst du nicht mal eine Dusche nehmen! Nur eine Dusche! Jeder duscht. Stell dich nicht so an! Es ist nur Wasser! Allein, sie stellte sich nicht an. Die Tropfen fielen nicht wie Tropfen, sie fielen wie heiße Nadeln, folterten sie, und da sie wie viele Autisten nicht sprach, redete sie mit Händen und Füßen, sie versuchte nur ihre Haut zu retten, mit verzweifelter Gewalt. War das denn so schwer zu verstehen? … ›Wir sagen, Autisten fehlt Empathie. Nein. Uns fehlt sie. Für die Autisten‹«.
Aus der Sicht autistischer Menschen ist das »doppelte Empathieproblem« zugleich ein Zeichen dafür, Autismus nicht zu pathologisieren. In dem Zusammenhang berichten viele von ihnen, dass sie nicht unter ihrem Autismus leiden, sondern unter den psychischen Begleiterscheinungen und insbesondere unter den Missverständnissen und Reaktionen ihres Umfeldes, die häufig diskriminierend seien. Das Gefühl fremd zu sein, sei dabei – so ein Ergebnis aus einer Untersuchung von »Innensichten« – ein Kernaspekt autistischen Erlebens (Seng 2019, 231). Leid entstehe oftmals dadurch, dass nicht-autistische Personen ihre autistischen Mitmenschen nicht verstehen und ihrem Verhalten und ihren Sichtweisen gegenüber Unverständnis zum Ausdruck bringen würden. Da aber ebenso autistische Menschen oftmals Schwierigkeiten hätten, das Verhalten der nicht-autistischen Personen zu verstehen, sollte immer ein gegenseitiges Nicht-Verstehen in Betracht gezogen werden. Um sich in autistische Personen besser einfühlen zu können, ist es hilfreich, sich den Unterschied zwischen dem erlebten Wahrnehmen und Denken (thinking self) und dem beobachtbaren Verhalten (action self) zu vergegenwärtigen (vgl. ebd., 51 f.). Leider wird bis heute sowohl in der Autismusforschung als auch im Umgang mit autistischen Personen zumeist nur das beobachtbare Verhalten in den Blick genommen. Dadurch aber wirken und bleiben die Verhaltensweisen häufig unverständlich, da die Innensicht (thinking self) nicht oder unzureichend reflektiert wird.
Zum anderen sind die in der 1. Buchauflage aus der Außensicht skizzierten, mit dem Autismus-Verständnis aus der Betroffenen-Perspektive korrespondierenden Erkenntnisse und Annahmen aus der Autismusforschung nach wie vor aktuell. Das belegen zahlreiche Studien, die sich mit Wahrnehmungsbesonderheiten befassen. Ihnen ist unter anderem zu entnehmen, dass es im frühen Kindesalter zu einer neuronalen Hyperkonnektivität kommt, die mit einem außergewöhnlichen Hirnwachstum einhergeht (vgl. Qin et al. 2018). Im Laufe der Entwicklung scheint sich jedoch die neuronale Konnektivität zu verringern (vgl. Farrant & Uddin 2016).
Vor diesem Hintergrund gewinnt die an der Lebensspanne orientierte Arbeit von Braun, Achim und Sahakian (2017) an Bedeutung, die auf der Grundlage von 70 Vergleichsstudien mit bildgebenden Verfahren Daten von 3749 autistischen Personen und von 3828 »neurotypischen« bzw. nicht-autistischen Personen ausgewertet haben. Demnach scheint es bei autistischen Personen drei miteinander verbundene Phasen der Gehirnentwicklung zu geben, die sich von der Hirnentwicklung nicht-autistischer Menschen weithin unterscheiden: Zunächst lassen sich im Kleinkindesalter Besonderheiten wie ein rapides Hirnwachstum, ein vergrößertes Hirnvolumen und eine allgemeine erhöhte neuronale Konnektivität beobachten; danach haben wir es im Kindesalter bis zur Adoleszenz mit einer Phase der erhöhten, kompensatorisch ausgerichteten Verlangsamung der Hirnentwicklung und Stabilisierung des Hirngewebes zu tun; und anschließend kommt es im Jugend- und Erwachsenenalter zu einer »Normalisierung« bzw. »Konsolidierung« der Hirnentwicklung, wobei eine (leichte) atypische neuronale Architektur bzw. Konnektivität bestehen bleibt. Kritisch sollten wir jedoch die negative (defizitorientierte) Sicht dieser Studie und ihre Implikationen für die Praxis betrachten, welche auf bloße Anpassung an die »normale« menschliche Entwicklung hinauslaufen. Dass wir es mit einer von Natur aus atypischen und qualitativ anderen Entwicklung bei Personen aus dem Autismus-Spektrum zu tun haben, deren Besonderheiten nicht per se nachteilig sein müssen (vgl. Mottron 2017; Grandin 2014; Seng 2019), kommt der Forschergruppe leider nicht in den Sinn.
Dieser Vorbehalt gilt ebenso für viele andere neurowissenschaftliche Forschungsarbeiten im Kontext von Autismus, die Abweichungen von der Norm als pathologisch auslegen. Das betrifft unter anderem Studien, die den im Buch skizzierten Ansatz des Ungleichgewichts zwischen erregenden und hemmenden neuronalen Prozessen bei autistischen Menschen bestätigen und mit diesem Befund (v. a. mit der reduzierten GABAergen Inhibition) zum Beispiel erhöhte Ängstlichkeit, Anfallsgefährdung, Lernschwierigkeiten, sensorische Hypersensibilität sowie die atypische visuelle Kontextmodulation assoziieren (vgl. Coughlan et al. 2012; Robertson, Ratai & Kanwisher 2015; Snijders & Kemmer 2013).
Ferner gibt es noch weitere Befunde, welche die im Buch genannte These stützen, dass angesichts einer erhöhten neuronalen Konnektivität im Bereich des sogenannten Salience Netzwerkes (dieses dient der Reizerkennung und Aufrechterhaltung einer zielgerichteten Aufgabenbewältigung) sowie einer atypischen Konnektivität im Default Netzwerk (dieses ist für sozio-emotionale und empathische Prozesse bedeutsam) autistische Personen (v. a. im frühen Kindesalter) im Unterschied zu nicht-autistischen Menschen seltener emotional zur Ruhe kommen und häufiger »restriktives und repetitives Verhalten«, erhöhte Reizempfindlichkeit und Anpassungsschwierigkeiten (Vulnerabilität) bei Veränderungen zeigen (Uddin et al. 2013, 8). Genaue Zusammenhänge im Hinblick auf eine atypische Konnektivität in Bereichen des Thalamus sowie Auswirkungen auf autistisches Erleben und Verhalten scheinen bis heute unklar zu sein (vgl. Tomasi & Volkow 2019). Diskutiert wird, ob veränderte thalamische Konnektivitätsmuster, eine normabweichende neuronale Synchronisation zwischen spezifischen Hirnbereichen und funktionelle Hirnkoordination sowie eine schwache neuronale Übergangsfrequenz einer atypischen Stabilität der Hirndynamik zugrunde liegen, die bei sogenannten hochfunktionalen Erwachsenen aus dem Autismus-Spektrum festgestellt wurde und die mit autistischem Verhalten und den spezifischen kognitiven Fähigkeiten (z. B. Detailwahrnehmung) positiv korreliert (vgl. Watanabe & Rees 2017, 10).
Zu guter Letzt soll noch eine Hypothese aufgriffen werden, die abgeleitet vom Ansatz der »erweiterten Wahrnehmungsfähigkeit« (vgl. Mottron et al. 2014) davon ausgeht, dass bei nicht-autistischen Menschen das sprachbezogene Denken mit dem wahrnehmungsbezogenen untrennbar verbunden sei, während bei vielen Personen aus dem Autismus-Spektrum beide Denktypen getrennt zutage treten würden (vgl. Seng 2019, 234, 238 f.). Das sei der Dominanz des wahrnehmungsbezogenen Denkens geschuldet und würde unter anderem den erschwerten intuitiven Zugang zu sozialen Kontexten bei autistischen Personen erklären. Dieser vermeintlichen Schwäche steht jedoch eine Stärke gegenüber, die H. Seng als »Intuition für funktionale Zusammenhänge« (241) beschreibt. Zudem lässt sich seiner qualitativen Forschung entnehmen, dass autistische Personen neben dem logisch-analytischen Denken und einer Genauigkeit und Zuverlässigkeit sehr wohl auch eine »soziale Intuition« entwickeln können, was dem Anschein nach weiblichen Autisten leichter fällt als männlichen (vgl. ebd., 116, 156, 212). Hierbei handelt es sich um eine bereits von H. Asperger (1944, 117; 1961, 186) angedeutete Fähigkeit autistischer Personen, anderen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen und gegenüber ihren Gefühlslagen sowie gegenüber Geschehnissen im Alltag besonders sensibel zu sein. Angesichts des eben genannten erschwerten intuitiven Zugangs zu sozialen Kontexten könnte hier ein Widerspruch vermutet werden, der sich für H. Asperger aber auflösen lässt. Denn angesichts der Fähigkeit zur Distanzierung seien autistische Personen in der Lage, »Abstand von den konkreten Dingen« zu zeigen und Gegenstände oder Situationen mit »Klarsichtigkeit« zu erfassen. Diese spezifische Fähigkeit autistischer Menschen sei Voraussetzung zur »Abstraktion, zur Bewusstwerdung, zur Begriffsbildung« und zur »begrifflichen Erfassung der Welt« (1944, 117 f.) – letztlich eine Form von »autistischer Intelligenz«.
An dieser Stelle, die als ein Plädoyer für die Wertschätzung von autistischen Fähigkeiten und Stärken sowie für die Bedeutsamkeit einer verstehenden Sicht von Autismus betrachtet werden kann, möchte ich meine Anmerkungen zur 2. Auflage des Buches beenden. Bedanken möchte ich mich für den großen Zuspruch der vorliegenden Schrift, und ich hoffe, dass sie auch weiterhin auf großes Interesse stoßen wird und zum Verständnis von Autismus ein Gewinn sein kann.
De singularibus non est scientia
(Der Einzelfall/Das Einzelne ist keine Wissenschaft)
Antiker Grundsatz
Ein einziger, wirklich analysierter Fall eines pädagogischen Verhaltens […] hat für die
Theorie der Pädagogik mehr wissenschaftlichen Wert als ein ganzes Heer statistischer
Angaben über das Zusammenbestehen von Merkmalen und Reaktionsweisen […].
Richard Hönigswald (Philosoph und Pädagoge 1927)
Auch wenn dieser Band kein wissenschaftstheoretisches Werk ist und beileibe keine Diskussion dieser Grundsatzfrage um Einzelfälle und allgemeine Aussagen führen möchte, hat er dennoch etwas mit dem Problem zu tun, das die beiden Zitate umreißen.
Geht es doch in diesem Buch darum, das Leben mit Autismus aus der Sicht der Wissenschaft und aus der Einschätzung der Betroffenen heraus darzustellen. Dabei werden einerseits Forschungsergebnisse und Theorien vorgestellt, die auf wissenschaftliche Weise (das heißt unter Einhaltung genau festgelegter Wege und Verfahren) gewonnen wurden. Sie stellen den Stand der Forschung auf pädagogischem, psychologischem und zum Teil neurologischem Gebiet bezüglich des Autismus dar. Zum anderen kommen Menschen aus dem Autismus-Spektrum zu Wort, die über spezifische Phänomene berichten und dabei ihr eigenes Leben und Erleben in den Mittelpunkt der Darstellungen rücken.
Dieses Buch möchte also den Leserinnen und Lesern Außen- und Innensichten zum Phänomen Autismus vorlegen. Dabei geht es nicht darum, dass die Einzelfallbeschreibungen die allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisse lediglich illustrieren und veranschaulichen sollen, sondern sie werden als ein eigenständiger Zugang mit eigenen Stärken und Schwächen verstanden. Zumal eine ausschließlich wissenschaftliche Darstellung vieles eben nicht zu erhellen vermag, was das Leben mit Autismus ausmacht. Eine bloße Sammlung von Fallgeschichten hingegen bliebe ebenfalls eine Verkürzung, würde sie doch ohne eine Einordnung und übergreifende Interpretation unvollständig bleiben. So ist beispielsweise ein neurologisches Erklärungsmodell oder eine Ursachentheorie von Autismus insgesamt nur als wissenschaftlicher Ansatz sinnvoll darstellbar; was es hingegen bedeutet, wenn bis ins Kleinste durchgeplante Rituale den Alltag bestimmen, erschließt sich nur aus einer persönlichen Fallbeschreibung.
Dieses gleichberechtigte Nebeneinander beider Zugangsweisen bildet das Grundkonzept des vorliegenden Bandes. In der Zusammenschau sollen sie ein Bild des Phänomens Autismus aus wissenschaftlicher Sicht ebenso zeigen wie eines des alltäglichen Lebens von Menschen im Autismus-Spektrum mit ihren speziellen Stärken und Schwächen. Beide Zugänge treten – so die Hoffnung – in einen ›Dialog‹ miteinander.
Der erste Teil ist der Darstellung der aktuellen Forschungsergebnisse gewidmet. Georg Theunissen nimmt dabei drei Schwerpunkte in den Blick:
Zum ersten geht es – nach einem kurzen Blick auf das traditionelle (überwiegend medizinische) Verständnis – um die Vorstellung der modernen Auffassung eines Autismus-Spektrums. Dieses Spektrum wird anhand von sieben Kriterien beschrieben, die ursprünglich von der Autistin D. Raymaker stammen und von der US-amerikanischen Selbstvertretungsbewegung (»Autistic Self Advocacy Network«) übernommen und von G. Theunissen ins Deutsche übersetzt sowie weiter bearbeitet wurden.
Zum zweiten werden aktuelle Theorien zur Erklärung von Autismus vorgestellt. Diese sind vor allem neurowissenschaftlicher Art. Anliegen des Autors ist es dabei, die teils komplizierten Darstellungen der Fachliteratur verständlich aufzubereiten. Alle englischsprachigen Zitate sind daher übersetzt worden, und die Zahl der Literaturverweise ist so gering wie möglich gehalten. Insgesamt werden sieben verschiedene Ansätze zur Erklärung von Autismus behandelt.
Drittens schließlich legt der Autor seinen Schwerpunkt auf die Beschreibung von autistischen Fähigkeiten, besonders der autistischen Intelligenz. Zwölf verschiedene Eigenschaften werden beschrieben, die (auch) als Stärken des Denkens von Menschen im Autismus-Spektrum begriffen werden können.
Die für die autistischen Menschen selbst (zumindest im Kindes- und Jugendalter) wichtigste ›Außensicht‹ auf ihr Leben und ihr Denken ist sicher die ihrer Eltern. Auch hier zeigen sich aktuell Veränderungen im Bezug auf das Verständnis autistischen Seins. Kerstin Rückerl und Regina Wohlert berichten darüber.
Diesen ›Außensichten‹ auf Autismus stehen im zweiten Teil des Buches die ›Innensichten‹ gegenüber. Die oben genannten sieben grundlegenden Merkmale des Autismus-Spektrums werden von Autorinnen und Autoren, die sich selbst zu diesem zählen, in einzelnen Artikeln diskutiert. Gee Vero nimmt Fragen der Wahrnehmung in den Blick, Ralf Drenkhahn und Imke Heuer schreiben über unübliches Lernverhalten und Problemlösungsstrategien. In einem sehr persönlichen Bericht erzählt Stefan Wepil von fokussiertem Denken und seinen ausgeprägten Spezialinteressen. Ungewöhnliche, sich wiederholende Bewegungsmuster und motorische Behinderungen, die teilweise die Handlungsfähigkeiten beeinflussen, nimmt Dietmar Zöller in den Blick und zeigt dabei offen die Probleme, die in den alltäglichen Lebensvollzügen entstehen können. Das Thema Routinen ist für das Leben beinahe aller Menschen im Autismus-Spektrum bedeutsam; sie helfen ihnen den Tag zu strukturieren und vermitteln Sicherheit in stressigen Situationen. Peter Schmidt thematisiert in seinem Artikel das Bedürfnis nach Routine, Beständigkeit und Ordnung. »Treffsicher und bezeichnend, oft freilich auch recht abwegig«, nennt Imke Heuer ihren Beitrag zu autistischer Sprache und Kommunikation und weist damit schon im Titel auf zentrale Aspekte hin. Als letztes in der Reihe der sieben Grundmerkmale des Autismus-Spektrums greift Hajo Seng das Problem der sozialen Interaktion auf.
Die ›Innensichten‹ schließt Jürgen Boxberger mit einem zusammenfassenden Resümee.
Den Abschluss bildet eine Zusammenschau der verschiedenen Positionen. Georg Theunissen interpretiert die vorgestellten Gedanken konsequent aus einer Stärkenperspektive heraus. Da für fast alle Menschen im Autismus-Spektrum der Umgang mit Ängsten und Stress ein zentrales Lebensthema ist, liegt darauf ein besonderer Schwerpunkt. Den Abschluss des Buches bilden einige Gedanken zum Thema Autismus und Alter, das bislang nur wenig untersucht ist.
»Ich träume davon, dass wir eines Tages in einer gereiften Gesellschaft wachsen können, in
der niemand ›normal‹ oder ›anormal‹ ist, sondern in der jeder einfach ein Mensch sein kann,
der alle anderen Menschen akzeptiert – bereit, gemeinsam mit ihnen weiter zu wachsen.«
(Mukhopadhyay 2005, 91).
Dieses Zitat steht für Inklusion. Um sie für die Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft autistischer Personen sowie für das Zusammenleben, Zusammenarbeiten und den Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum fruchtbar werden zu lassen, bedarf es:
• Einer verstehenden Sicht autistischer Merkmale. Diese ist mit Respekt vor dem personalen So-Sein unmittelbar verknüpft.
• Der Wertschätzung einer »autistischen Intelligenz«. Diese wird wie die Verstehensperspektive vom Ansatz einer »Neurodiversität« (dazu später) fühlbar durchdrungen. Zugleich legt sie eine ressourcen- und kontextorientierte Praxis (Förderung, Therapie, Unterricht, Lebensweltgestaltung) nahe.
• Der funktionalen Sicht von (zusätzlichen) Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen als Begleiterscheinungen bei Autismus. Diese erfordern eine Positive Verhaltensunterstützung, Strategien einer Stressbewältigung und bei schwerem psychischem Leiden psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfen.
Statistiken aus führenden Industrienationen zeigen auf, dass Autismus heute nicht mehr als eine seltene Behinderungsform in Erscheinung tritt. Nach US-amerikanischen Untersuchungen nimmt Autismus im Kontext von Behinderungen derzeit am stärksten zu. So wird mittlerweile in den USA davon ausgegangen, dass bei 59 Kindern im Alter von acht Jahren mit einem autistischen Kind gerechnet werden muss. Dabei handelt es sich seit 2012 um einen 15-prozentigen Anstieg an Autismus-Diagnosen (vgl. Autism Speaks 2018).
Für Deutschland liegen dagegen keine verlässlichen Daten vor. Es scheint sich aber auch hierzulande die Zahl an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer »Autismus-Diagnose« deutlich zu erhöhen. Expert*innen gehen davon aus, dass die Prävalenz unabhängig von sozio-ökonomischen Einflussfaktoren bei etwa 1% liegt.
Interessant ist die Frage nach den Gründen für den skizzierten Trend. Neben einem wachsenden gesellschaftlichen Bewusstsein und einer größeren Sensibilität in Bezug auf Autismus wird auf verfeinerte, genauere Instrumente zur Erfassung bzw. Diagnostizierung autistischer Merkmale verwiesen. Ferner spielen Interessen und die Hoffnung von Eltern eine Rolle, durch eine »Autismus-Diagnose« anstelle einer anderen Diagnose wie etwa »geistige Behinderung« bessere Unterstützungsleistungen zu bekommen. Insofern hat die Zunahme an »Autismus-Diagnosen« auch einen »künstlichen« Charakter, der jedoch statistisch gesehen nicht überbewertet werden darf. Vielmehr erklärt sich der »reale« Zuwachs neben dem verbesserten Assessment (Diagnostik) durch einen »Nachholeffekt«, vor allem in Bezug auf das sogenannte Asperger-Syndrom, das in der Vergangenheit kaum beachtet und diagnostiziert wurde.
Nach den bis heute viel zitierten Klassifikationssystemen ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und dem US-amerikanischen DSM IV gilt Autismus als »tiefgreifende Entwicklungsstörung«. Die in beiden Systemen vorgenommene Einteilung in verschiedene Formen von Autismus, vor allem die Unterscheidung zwischen frühkindlichem (oder klassischem) Autismus und Asperger-Syndrom, geht zurück auf L. Kanner (1943) und H. Asperger (1944), die unabhängig voneinander auffällig zurückgezogene und einzelgängerische Kinder als »autistisch« beschrieben. Aus den von ihnen beschriebenen Auffälligkeiten (Besonderheiten) sind dann in der Folgezeit drei Kernbereiche von Funktionsstörungen abgeleitet und im Jargon des psychiatrisch-klinischen Defizitdenkens herausgestellt worden:
1 Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und zwischenmenschlichen Beziehungen
Hierzu werden zahlreiche Defizite genannt, so zum Beispiel das Unvermögen vieler autistischer Menschen, altersentsprechende Beziehungen zu entwickeln, fehlende Freundschaften zu Gleichaltrigen, der fehlende Wunsch, mit anderen Interessen zu teilen, die verminderte Fähigkeit, soziale bzw. nonverbale Signale anderer Personen intuitiv zu erkennen und zu interpretieren, sozial und emotional unangepasstes Verhalten oder fehlende soziale und emotionale Gegenseitigkeit.
2 Beeinträchtigungen der (verbalen) Kommunikation
Während Personen, denen ein (schwerer) frühkindlicher Autismus nachgesagt wird, sich häufig kaum sprachlich verständigen können (z. B. nur mit Lauten, in Ein- oder Zwei-Wort-Sätzen oder Echolalie), fallen sogenannte Asperger-Autist*innen oft durch eine monotone Sprachmelodie, einen exzentrischen oder auch pedantischen Sprachstil auf.
3 Ein eingeschränktes Repertoire an Interessen und Aktivitäten, verbunden mit repetitiven oder stereotypen Verhaltensweisen
Hierbei geht es zum Beispiel um eine Fixierung auf spezielle Dinge, die üblicherweise nicht als Spielzeug verkauft werden, um den ungewöhnlichen Gebrauch der Dinge, um eine lang anhaltende Beschäftigung mit bestimmten (Teil-)Objekten, um eine rigide Befolgung von Routinen, um ein Beharren auf Routine sowie Streben nach Gleicherhaltung der Umwelt, um ein zwanghaftes Verhalten oder auch um motorische Manierismen oder Auffälligkeiten (Hände flattern, bizarre Fingerbewegungen, Drehbewegungen, Zehengang, Hyperaktivität, Unbeholfenheit in der Grob- oder Feinmotorik, unbeholfene Körpersprache, eingeschränkte Gestik und Mimik).
Diese traditionelle Sicht ist in den letzten 20 Jahren zusehends in Kritik geraten. So wurde erkannt, dass es zwischen den verschiedenen Autismus-Formen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt (vgl. Grinker 2007, 59; auch Sacks 2000, 266 f.). Zuvor hatte übrigens schon H. Asperger (1968, 143) auf »große Ähnlichkeiten« hingewiesen.
Unterschiede betreffen den sprachlichen und motorischen Bereich. Ferner nehmen G. McAlonan und Team (2009) auf der Basis ihrer Befunde an, dass bei sogenannten hochfunktionalen Autist*innen die linke Hirnhälfte von der weißen Hirnmasse bestimmt wird, während es bei sogenannten Asperger-Autist*innen die rechte Hirnhälfte sei.
Gemeinsamkeiten gibt es vor allem in Bezug auf soziale Interaktionen, repetitive Verhaltensweisen, Streben nach Gleicherhaltung der Umwelt sowie Wahrnehmungsbesonderheiten. Darüber hinaus hat die Hirnforschung Gemeinsamkeiten hinsichtlich der allgemeinen und lokalen Verteilung sowie der Entwicklungsverläufe der grauen Hirnmasse festgestellt (vgl. Via et al. 2011).
Folgerichtig wurden die bisherigen Einteilungen und Differenzierungen in Frage gestellt. Von hier aus war der Schritt nicht weit, auf eine Einteilung analog der Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM IV zukünftig zu verzichten. Mit dem DSM-5 liegt nunmehr seit Frühjahr 2013 ein entsprechendes System vor, das unter dem neuen Begriff »Autism Spectrum Disorder« (Autismus-Spektrum-Störung) die bisherigen Merkmale und Symptombeschreibungen verschiedener Autismus-Bilder wie folgt eingeebnet und eingearbeitet hat (übersetzt ins Deutsche vom Verfasser):
A. Dauerhafte Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion (die nicht für eine allgemeine Entwicklungsverzögerung sprechen) in allen drei Unterkategorien:
1. Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit (z. B. im Rahmen einer »normalen« Konversation; reduzierter Austausch von Interessen oder Emotionen; reduzierte Initiative oder Vermeidung sozialer Interaktionen)
2. Defizite in der nonverbalen Kommunikation im Rahmen sozialer Interaktionen (z. B. schlecht integrierte verbale und nonverbale Kommunikation; fehlender Blickkontakt, schwache Körpersprache, Mimik oder Gestik; Defizite im Verständnis und Gebrauch nonverbaler Kommunikation)
3. Defizite in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Beziehungen, entsprechend dem Entwicklungsstand (z. B. Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung von Interaktionen in verschiedenen sozialen Kontexten; Schwierigkeiten beim gemeinsamen Fantasiespiel und bei einer Schließung von Freundschaften; scheinbares Desinteresse an anderen Personen).
B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten in mindestens zwei von vier Unterkategorien:
1. Stereotype(r) oder repetitive(r) Sprache, motorische Bewegungen oder Gebrauch von Objekten (z. B. einfache, motorische Stereotypien; Echolalie, repetitiver Umgang mit Objekten; idiosynkratische [eigensinnige] Sätze)
2. Exzessives Festhalten an Routine, ritualisiertes Sprachverhalten (verbal, non-verbal), ausgeprägter Widerstand gegenüber Veränderung (z. B. motorische Rituale; Beharren auf Routine oder gleichförmige Nahrung; sich ständig wiederholende Fragen; Veränderungsangst bzw. extreme Stressreaktionen bei schon geringen situativen Veränderungen)
3. Stark eingeschränkte, fixierte Interessen, die mit »abnormer« Intensität oder Fokussierung einhergehen (z. B. starke Bindung an ungewöhnliche Objekte; eng umschriebene, exzessive, perseverative Beschäftigung mit ungewöhnlichen Dingen oder Interessen)
4. Hyper- oder Hypo-ausgeprägtes (Wahrnehmungs-)Verhalten im Hinblick auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Umgebungsreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber sensorischen Reizen wie Schmerz, Hitze, Kälte; ablehnende Reaktion in Bezug auf bestimmte Geräusche oder Gewebe; übermäßiges Beschnuppern oder Berühren von Objekten; Faszination in Bezug auf leuchtende oder sich drehende Objekte).
C. Die Symptome sollten in der frühen Kindheit zutage treten (müssen aber noch nicht voll ausgebildet sein und können im Erwachsenenalter kompensiert werden).
D. Die Gesamtheit der Symptome begrenzen und beeinträchtigen das Alltagsverhalten (everyday functioning).
Darüber hinaus sollten sogenannte »specifiers« verwendet werden (z. B. mit/ohne ›intellektuelle Beeinträchtigung‹ [»geistige Behinderung«]; mit/ohne Sprachstörung); und es gibt zusätzliche Codes für »Komorbiditäten« bezüglich psychischer Störungen oder anderer Beeinträchtigungen (u. a. auch ADHS [jetzt als ›Doppeldiagnose‹ zugelassen]).
Im Unterschied zum DSM IV und zu der bisherigen Übereinkunft, zwischen drei Kernbereichen von Funktionsstörungen zu differenzieren, werden mit der Zusammenfassung der ersten beiden Bereiche nur noch zwei Hauptkategorien unterschieden. Dieser Schritt wird vor allem mit der engen Verflechtung von Defiziten in der Kommunikation mit sozialen Verhaltensweisen begründet. Jenseits der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist eine neue Kategorie »soziale (pragmatische) Kommunikationsstörung« (»social [pragmatic] communication disorder«) eingeführt worden, die Personen mit Defiziten in der sozialen Kommunikation erfassen soll, welche ansonsten keine Kriterien der ASS erfüllen.
Des Weiteren soll die Auswahl der genannten Symptome, die sorgfältig empirisch erforscht wurde, zu einer verbesserten spezifizierten Beurteilung von Autismus im Sinne der ASS beitragen. Hierzu ist zudem eine Einschätzung der beiden Kernkategorien in drei unterschiedliche Schweregrade zur Bestimmung eines Unterstützungsbedarfs vorgesehen.
Bis heute wird dieses neue System kontrovers diskutiert. So gibt es zum Beispiel die Befürchtung, dass zukünftig viele Personen, die bisher als »Asperger-Autist*innen« oder sogenannte »hochfunktionale Autist*innen« diagnostiziert wurden, nicht durch das DSM-5 adäquat erfasst werden. Es gibt aber auch die Ansicht, dass durch das DSM-5 die Gefahr der Überdiagnostizierung vermieden werden könne. Anderen Personen ist hingegen das neue System nicht zu eng, sondern zu weit gestrickt, weshalb sie eine unüberschaubare Zunahme an Autismus-Diagnosen befürchten. Des Weiteren wünschen sich neben einigen Eltern(vereinigungen) von sogenannten Asperger-Autist*innen auch manche Erwachsene, die sich selbst als Asperger oder Aspies bezeichnen, aus identitätsstiftenden Gründen die Beibehaltung dieser Diagnose.
Weithin begrüßt wird die Neuerung von einer großen Gruppe an Eltern, Familien und autistischen Erwachsenen aus jenen US-Staaten, zum Beispiel Kalifornien, in denen sogenannte Asperger-Autist*innen gegenüber anderen Personen mit sogenanntem klassischen Autismus bislang eine unzureichende staatliche Unterstützung erfahren.
Ebenso findet die DSM-5 Kategorie Autismus Spectrum Disorder in der US-amerikanischen Autism Society (AS) sowie im Lager des Autistic Self-Advocacy Network (ASAN) Zuspruch, die zu Neuerungen angestiftet und auf den Veränderungsprozess Einfluss genommen hatten. Allerdings war es der Betroffenen-Bewegung ASAN nicht um eine defizitorientierte Sprache zu tun. Zudem wird die unzureichende Berücksichtigung von eigenen Lernstrategien, Stärken oder Ressourcen, sprachlichen Kommunikationsproblemen, motorischen Besonderheiten, geschlechts- und erwachsenenspezifischen Aspekten sowie die Verwendung des Störungsbegriffs kritisiert.
Insofern gilt es, den Umgang mit dem DSM-5 abzuwarten. Das betrifft ebenso das Klassifikationssystem ICD-11, welches derzeit eingeführt wird und gleichfalls auf die bisherigen klinischen Bilder des Autismus verzichtet. Diese werden ähnlich wie im DSM-5 unter »Autismus-Spektrum-Störungen« zusammengefasst.
Im Unterschied zur traditionellen Lehrmeinung (nach ICD oder DSM) gehen (einflussreiche) Selbstvertretungsorganisationen wie das ASAN davon aus, dass Autismus nicht per se eine psychische Krankheit oder Störung darstellt und ebensowenig nur durch Defizite charakterisiert werden darf: »Autismus als eine Störung zu beschreiben, ist ein Werturteil und nicht etwa ein wissenschaftlicher Fakt« (Walker 2014a, 3). Deshalb wird gegenüber der Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung der neutrale Begriff des Autismus-Spektrums bevorzugt. Dass eine solche »korrekte, respektvolle Begrifflichkeit« (Courchesne et al. 2015, 9) benutzt werden sollte, und dazu zählen ebenso die Ausdrücke »autistische Person« statt »Mensch mit Autismus«, ist gleichfalls die Botschaft der renommierten Forscher*innengruppe um L. Mottron und M. Dawson aus Kanada. Auch einige bekannte Autismusforscher (z. B. S. Baron-Cohen; S. Bölte) aus dem europäischen Raum stehen dieser Position aufgeschlossen gegenüber, indem sie von Begebenheiten oder Bedingungen (autism spectrum condition) sprechen. Insofern bemühen sie sich, Autismus nicht von vornherein als Störung zu bezeichnen beziehungsweise den Störungsbegriff zu vermeiden (so z. B. Brown et al. 2010; Lai, Lombardo & Baron-Cohen 2014, 897). Ebenso gibt es für die renommierte Autismusforscherin U. Frith (2013, 188) »keinen Hinweis, dass es sich beim Autismus um eine Krankheit handelt, die sich mit modernen Medikamenten heilen ließe«. Daraus sollte freilich nicht geschlussfolgert werden, dass mit Autismus keine schweren Beeinträchtigungen oder Störungen einhergehen können, unter denen eine betroffene Person leidet (vgl. hierzu die Ausführungen von D. Zöller im vorliegenden Band).
Diese Position wird auch vom ASAN vertreten, das wie U. Frith Autismus als Behinderung ausweist. Zugleich betrachtet das ASAN Autismus als eine genetisch basierte »neurologische Variation« in Form eines menschlichen Seins, welches durch sieben typische Merkmale gekennzeichnet werden kann, die ich in den letzten Jahren konzeptionell aufbereitet habe (vgl. Theunissen 2014b; Theunissen & Sagrauske 2019). Diese Aufbereitung erfüllt weithin Kriterien, die nach N. Walker (2014a, 1) für eine »gute Einführung« gelten sollten:
1. Übereinstimmung mit den gegenwärtigen Erscheinungsformen von Autismus
2. keine Verankerung im Paradigma der Pathologie
3. Prägnanz, Einfachheit und Zugänglichkeit
4. eine praktikable Form für den professionellen und akademischen Gebrauch.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die Merkmalsaufbereitung als Vehikel für eine verstehende Sicht und funktionale Betrachtung autistischen Verhaltens angesehen werden kann. Gerade dieser Aspekt macht sie besonders wertvoll – ermöglicht sie doch die Abkehr von einer bloßen Symptombeschreibung zugunsten der Hinwendung zu Kontexten, in denen autistisches Verhalten einen Sinn erfährt. Diese Überlegung war bereits Ende der 1970er Jahre für G. Feuser (1979) bedeutsam, als er im Rahmen seiner Dissertation eine entpathologisierende Sicht von Autismus zu begründen versuchte. Im Zentrum seiner Ausführungen stehen wie bei der aktuellen Betrachtung durch Betroffene Bemühungen um ein Verstehen von Autismus. Von hier aus lässt sich eine Brücke zu neurowissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen schlagen, die die funktionale Betrachtung stützen, für das Verstehen von Autismus hilfreich sind und einer Sicht den Weg ebnen, die eine »autistische Intelligenz« wertzuschätzen weiß. In einer ähnlichen Bahn wie die von mir aufbereitete funktionale Sicht autistischer Merkmale und Verhaltensreaktionen betroffener Personen bewegen sich zwei soeben veröffentlichte Beiträge von B. Prizant (2015) und K. McLaren (2015), denen es gleichfalls um eine Abkehr vom Pathologie- und Defizit-Modell und Hinwendung zu einer neuen und positiven Herangehensweise in Bezug auf Autismus zu tun ist, um aus der Betroffenen-Perspektive zu einem besseren Verständnis und Umgang zu gelangen.
Dieser Aspekt lenkt den Blick auf das breite Feld an Wahrnehmungsbesonderheiten. Wie wir später noch sehen werden, legen neuere neurowissenschaftliche Theorien den Schluss nahe, dass dem Bereich der Wahrnehmung eine Schlüsselfunktion zum Verständnis von Verhaltens- und Erlebensweisen im Autismus-Spektrum zukommt. Nach E. Marco und Team (2011, 1) scheinen nahezu alle Kinder (über 96 %) aus dem Autismus-Spektrum von Wahrnehmungsbesonderheiten betroffen zu sein, insbesondere von einer Hyper- oder Hyposensibilität gegenüber Geräuschen, Lichtverhältnissen, Temperaturen, Schmerzen, Textilien, Körperberührungen oder Geschmacksstoffen. So
»kann ein autistisches Kind die Geräusche eines Staubsaugers lieben, während sich ein anderes davor fürchtet. Einige (autistische Kinder, GT) fühlen sich vom Geräusch des fließenden oder plätschernden Wassers angezogen und verbringen Stunden mit dem Bedienen der Toilettenspülung, während andere beim Nasswerden ihrer Hosen in Panik geraten, weil sie die spülenden Geräusche wie das Brausen der Niagara Fälle wahrnehmen« (Grandin 2006, 63).
Dies hatte auch schon vor einigen Jahrzehnten C. Delacato (1985) erkannt. Seine Beobachtungen bezogen sich auf über 1000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Autismus-Spektrum. C. Delacato stellte fest, dass fast alle von ihm beobachteten autistischen Kinder Probleme in der taktilen Wahrnehmung hatten, dies häufig in Form einer Tastunterempfindlichkeit. Darüber berichtet zum Beispiel S. Schäfer (2006). So empfand sie lange Zeit kein Gespür für Kälte. Solche Kinder neigen häufig dazu, sich Reize zu verschaffen, die ihnen ein intensives Tasterleben oder eine starke Körperwahrnehmung ermöglichen.
Eine sensorische Unterempfindlichkeit kann zum Beispiel als eine mangelnde Schmerzwahrnehmung oder Schmerzunempfindlichkeit zutage treten, die eine erhöhte Verletzungsgefahr beinhaltet. Ferner kann sich eine Hyposensitivität in der Weise äußern, dass beispielsweise Gegenstände nicht nur befühlt oder ständig beklopft, sondern ebenso beschnuppert oder optisch fixiert werden, um sich die Dinge anzueignen und/oder sich daran zu erfreuen. Ein solches, oft intensives Beschnuppern oder Beklopfen von Dingen ist nicht etwa nur ein Verhalten, das bei autistischen Personen mit zusätzlichen schweren kognitiven Beeinträchtigungen beobachtet wird, sondern das ebenso für andere Menschen aus dem Autismus-Spektrum (z. B. für T. Mukhopadhyay) bedeutsam sein kann (vgl. Grandin 2006, 80).
Freilich gibt es auch Beispiele einer taktilen Überempfindlichkeit. Recht bildhaft beschreibt zum Beispiel L. Willey (2014, 94),
»dass es sich für mich so anfühlte, als würden meine Finger auseinander gerissen, wenn er (gemeint ist ihr Mann, GT) mit seinen Fingern meine umfasst hielt, dass es sich für mich so anfühlte, als hätte ich Insekten auf meiner Haut, wenn er mich sanft berührte«.
Nach C. Delacatos Beobachtungen reagieren autistische Kinder vor allem in Bezug auf akustische und visuelle Reize sehr überempfindlich. Auf der Grundlage seiner Studien kam er zu dem Schluss, dass bei einigen autismustypischen Verhaltensweisen (v. a. im Bereich der sozialen Kommunikation und Interaktion, bei repetitivem, auch selbststimulierendem Verhalten) sowie bei zusätzlichem Problemverhalten Formen einer Hypersensibilität, Hyposensibilität oder ein sogenanntes »weißes Geräusch« (Wahrnehmung körpereigener Geräusche; Rauschen) den modulierenden Hintergrund bilden.
Diese Annahme entspricht weithin den heutigen Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften (vgl. dazu das nachfolgende Kapitel). Dabei werden vor allem Überempfindlichkeiten als ein zentrales Merkmal herausgestellt, die sehr oft als stresshaft, angstauslösend oder aversiv erlebt werden und dementsprechend bewältigt werden müssen. Diese Annahme wird von vielen autistischen Personen gestützt: »Als ich im College war«, so T. Grandin (2006, 63), »hörte sich der Haartrockner meiner Mitbewohnerin wie ein abhebender Düsenflieger an«; und N. Walker (zit. in ebd., 71) berichtet von einer autistischen Person, die sich weigerte, auf dem Rasen zu gehen, weil sie den Grasgeruch nicht ertragen konnte. Bemerkenswert ist ebenso der Hinweis der Autistin G. Gerland (1998, 114):
»Als ich 8 Jahre alt war, entwickelte ich eine Überempfindlichkeit gegen Kämme und Haarbürsten. Ich sträubte mich dagegen, mich zu kämmen. Plötzlich konnte ich den Schmerz nicht ertragen, der beim Kämmen entstand. Es war, als würde auf dem ganzen Kopf und im Nacken ein synthetisches Feuer brennen.«
Nicht selten berichten autistische Personen, dass sie zum Beispiel den Geräuschpegel in einer Diskothek oder die Atmosphäre auf einer Geburtstagsparty schon nach kurzer Zeit als reizüberflutend, unangenehm und stresshaft erleben.
»Meine sensorischen Überempfindlichkeiten sorgten dafür, dass laute Musik und Bässe massive Ohrenschmerzen verursachten« (Florian P., zit. n. Aspies e. V. 2010, 113).
Eine Strategie zur Bewältigung solcher Erfahrungen (Coping) besteht im Verlassen oder Vermeiden der Situation. Häufig kommt es jedoch zu Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu psychischen Störungen:
»Es wird oft berichtet, dass autistische Kinder hypersensitiv gegenüber Berührungen, Geräuschen und visuellen Reizen sind und mit Wutanfällen, extremer Angst oder gar Panik reagieren, wenn sie neuen oder reizüberladenen Situationen ausgesetzt sind« (Markram & Markram 2010, 11).
Diesbezüglich schreibt Miggu (zit. n. Aspies e. V. 2010, 14):
»Dieses Licht, diese Geräusche, sie waren einfach überwältigend für mich. Heute weiß ich mit großer Sicherheit, dass es jeweils Overloads waren, die mich zum Ausrasten brachten.«
Die subjektive Bedeutsamkeit von Verhaltensauffälligkeiten (Verweigerung, Abwehr …) als Problemlösungsversuch macht auch das folgende Beispiel deutlich: So weigerte sich der autistische Junge Tito angesichts seiner hohen Sensibilität im Hinblick auf Quietschgeräusche der Schuhe beim Gehen, die Schuhe anzuziehen (vgl. Mukhopadhyay 2005, 13).
Eine andere Form, sich Situationen oder Stress erträglich zu machen, besteht im sogenannten Stimming (dazu später) oder in dem Bemühen um eine mentale Verhaltenskontrolle:
»Zum Beispiel im Baumarkt mit seinen vielen Dingen, Menschen, Geräuschen, Werbebildschirmen, Musikuntermalungen und Kauf-mich-Schildern oder chaotische Menschenmengen großer Städte. In diesen Momenten schaltet mein Inneres auf Sparflamme und alle Einflüsse von außen nehme ich nur noch stark gedämpft, wie durch eine mattierte Glasscheibe wahr« (L. v. Dingens, zit. n. Aspies e. V. 2010, 162).
Solche Beispiele signalisieren die Bedeutsamkeit einer Stress-Bewältigung beziehungsweise von Lernprogrammen, die ein erfolgreiches und sozial verträgliches Coping oder eine entsprechende Kompensation der sensorischen Überempfindlichkeit ermöglichen. Dies verspricht das Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung, auf die wir in anderen Schriften ausführlich eingegangen sind (vgl. Theunissen 2014a; 2019; Theunissen & Sagrauske 2019). Ferner können Programme der Positiven Psychologie in Bezug auf Kompensations- oder Bewältigungsstrategien erhöhter Vulnerabilität bei Personen aus dem Autismus-Spektrum weiterhelfen (vgl. Groden et al. 2011). Grundsätzlich ist es hilfreich, dass dann, wenn autistische Personen Schwierigkeiten haben, ihren Stress rechtzeitig zu erkennen und sozial verträglich zu bewältigen, Umkreispersonen präventiv intervenieren. In dem Fall geht es um ein frühzeitiges Erkennen erster Anzeichen eines sensorischen Overload (z. B. Hautrötung, körperliche ›Unruhe‹, Koordinationsprobleme, Bauchschmerzen, Echolalie), um daraufhin eine entlastende Situation anzubieten beziehungsweise Entlastungs- oder Kompensationsmöglichkeiten zu schaffen ( Kap. III/2).
Gleichwohl gibt es immer wieder Situationen, in denen sich Bezugspersonen auf spezifische Momente einstellen müssen, so beispielsweise auf »extreme Ab- oder Zuneigungen zu bestimmten Gerichten« (Schuster) bzw. »extreme Ernährungsgewohnheiten« in Anbetracht sensorischer Über- oder Unterempfindlichkeiten:
»Als Kleinkind konnte ich an keinem richtigen Mittagessen teilnehmen, da ich das Gefühl gekochter Lebensmittel nicht auf der Zunge ertragen konnte. Gemüse habe ich überhaupt nicht gegessen und besonders die Oberfläche von Kartoffeln erzeugte Ekelgefühle, wenn sie mit meinem Mundraum in Berührung kamen. Ganz schlimm waren gekochte Zwiebeln, die ich auf meiner Zunge als widerlich schleimig empfand… Es hat bis in meine Jugendzeit gedauert, bis meine Mutter mich allmählich dazu bringen konnte, ›gemischte‹ Lebensmittel zu essen« (Schuster 2007, 33).
Eng verbunden mit der Übersensibilität ist eine sogenannte Filterschwäche, über die manche Personen aus dem Autismus-Spektrum berichten und klagen:
»Alle unterschiedlichen Geräusche drangen ungefiltert in mich ein, und ich konnte das einzelne Geräusch nicht identifizieren. Wenn es zu viel wurde, habe ich nur noch geschrien« (Zöller 2001, 62).
Solche Situationen erzeugen häufig einen »Dauerstress« (Schuster 2007, 20), führen zu rascher Ermüdung und müssen ebenso bewältigt werden wie die zuvor beschriebene erhöhte sensorische Empfindlichkeit.
Welche Probleme eine Filterschwäche in unterrichtlichen Situationen erzeugen kann, geht aus dem folgenden Rückblick von G. Vero (2014, 48) auf ihre Schulzeit hervor:
»Ich war als Kind in meiner Schulzeit anfangs oft ›falsch aufmerksam‹. Mir wurde unterstellt, ich höre nicht zu oder schaue nicht hin, dabei wusste ich einfach nicht, auf was ich mich konzentrieren sollte. Ich wusste nicht, was wichtig war. In meiner Wahrnehmung war alles wichtig. Ich konnte sagen, wer was anhatte, wer mit dem Stuhl gekippelt hatte und wie die Hefte und Bücher meiner Klassenkameraden auf dem Tisch lagen, wer mit welchem Stift geschrieben hat und so weiter. Aber ich konnte oft nicht wiedergeben, was der Lehrer erzählt hat.«
Bei einer Filterschwäche fällt es betroffenen Personen oftmals schwer, sich in komplexen Situationen zu orientieren. Nicht wenige haben Schwierigkeiten, Wesentliches oder räumlich-zeitliche Zusammenhänge zu erfassen, was ebenso autistischen Personen mit einer Überselektivität nachgesagt wird. Dabei handelt es sich um eine fokussierte Aufmerksamkeit nur auf einen Sinnesreiz.
Gleichfalls werden autistischen Personen mit einer erhöhten Wahrnehmung von Details Schwächen in Bezug auf Erfassung von sozialen, räumlichen oder zeitlichen Zusammenhängen, Kontexten oder Objekten zugeschrieben. Nach Ansicht vieler Autor*innen handelt es sich dabei um eine sogenannte Kohärenzschwäche. Hierfür steht die »Theorie der mangelnden zentralen Kohärenz« (Happé & Frith 2006). Sie darf jedoch nicht verallgemeinert und unkritisch zitiert werden, da die vermeintliche Schwäche eine ebenso bemerkenswerte Stärke sein kann, auf die ich im Rahmen meiner Ausführungen über »autistische Fähigkeiten und autistische Intelligenz« noch ausführlich eingehen werde. Die folgende Aussage deutet bereits an, dass die erhöhte Wahrnehmung von Details auch Vorzüge beinhalten kann:
»Wenn ich einen Raum zum ersten Mal betrete, fühle ich oft eine Art Schwindel bei all den Einzelheiten an Informationen, die mein Gehirn erhält… Die Wahrnehmung von Details geht in dem Fall der Wahrnehmung ihrer Objekte voraus: Ich sehe Kratzer auf der Oberfläche eines Tisches, bevor ich den ganzen Tisch sehe; die Lichtreflexion am Fenster, bevor ich das ganze Fenster wahrnehme; die Muster auf dem Teppich, bevor mir der ganze Teppich in den Blick kommt« (D. Tammet zit. n. Bogdashina 2010, 31).
Ebenso sollte die Filterschwäche nicht per se negativ gesehen werden:
[Sie] »ist auf der einen Seite ganz sicher eine große Belastung, aber gleichzeitig birgt sie auch ein enormes Potenzial. Ein Autist kann dadurch Dinge abrufen und auf Informationen zurückgreifen, die bei anderen Menschen einfach weggefiltert werden und damit… verloren sind« (Vero 2014, 54).
Zwei weitere Wahrnehmungsbesonderheiten, die Stärken darstellen und mitunter bei autistischen Personen beobachtet werden, sind die Raumwahrnehmung und die sogenannte Synästhesie.
Über eine »exzellente Raumwahrnehmung« verfügt beispielsweise Jake Barnett (Barnett 2014, 303). Ob dieses Phänomen nur bei autistischen »Wunderkindern«, sogenannten Savants mit herausragenden, außergewöhnlichen Fähigkeiten oder bei hochbegabten autistischen Personen zutage tritt, sei einmal dahingestellt. Bei J. Barnett zeigt es sich darin, dass »er als Dreijähriger nur wenige Minuten auf eine Straßenkarte zu schauen brauchte, um (seine Mutter, GT)… danach zielsicher durch die Straßen Chicagos zu navigieren« (ebd.).
Bei der Synästhesie kommt es zu einer Kopplung eines sensorischen Reizes mit einer anderen Wahrnehmungsmodalität, indem beispielsweise Geschmacksempfindungen Geräusche auslösen oder Töne »Farben« bekommen. »Am häufigsten wird vom ›Farbenhören‹ berichtet« (Schuster 2007, 55).
Von der Synästhesie sind »intermodale Wahrnehmungsstörungen« zu unterscheiden, bei denen Informationen aus unterschiedlichen Sinneskanälen unzureichend verknüpft und verarbeitet werden. So haben zum Beispiel einige autistische Personen Schwierigkeiten, Hören und Sehen in Einklang zu bringen.
»Das bedeutet, dass ich z. B. von einem Auto das Geräusch so verstärkt wahrnehme, als käme es geradewegs auf mich zu, während mir meine Augen das Auto weit entfernt zeigen« (Zöller, zit. n. ebd., 25).
Für T. Grandin (2006, 117) stellt bis heute das »Multitasking« ein Problem dar.
»Ich hatte einst in einem gut besuchten Restaurant eine schreckliche Zeit, als ich als Kassiererin Wechselgeld herausgeben und dabei zeitgleich mit den Leuten sprechen musste.«
Darüber hinaus haben manche Menschen aus dem Autismus-Spektrum Probleme mit der simultanen Verarbeitung von Sinneseindrücken in Verbindung mit einer Absicht und der Wahrnehmung des eigenen Körpers (Muskelbewegungen etc.):
»Ich befahl meiner Hand, einen Stift aufzunehmen, aber ich konnte es nicht. Ich erinnere mich, wie ich vor langer Zeit meinen Lippen befohlen hatte, sich zu bewegen, und das auch nicht gekonnt hatte« (Mukhopadhyay 2005, 114).
Allem Anschein nach spielt bei derlei Schwierigkeiten mit der sogenannten exekutiven Funktion (Ausführung von Handlungen) die eigene Körperwahrnehmung die zentrale Rolle (vgl. dazu D. Zöller, zit. in Schuster 2007, 269, 302 ff.).
»Es war sehr schwer, in einer neuen Umgebung zurechtzukommen, denn dann hatte er das Gefühl, dass er seinen Körper nicht finden konnte. Nur wenn er schnell rannte oder mit den Händen wedelte, konnte er seine Gegenwart empfinden. Die Hilflosigkeit eines verstreuten Selbst sollte ihn noch jahrelang verspotten« (ebd., 36).
Dass der eigene Körper als etwas Fremdes erscheint, berichten auch andere autistische Personen: »Mein Körper etwa war mir auch nie wirklich vertraut« (Rainer, zit. n. Aspies e. V. 2010, 125); und D. Williams (2015, 225) schreibt, dass Menschen aus dem Autismus-Spektrum häufig ihren Körper »oder einzelne Körperteile als ›leblos‹, als etwas Fremdes oder von der Person Getrenntes erleben.« Das meint ebenso der autistische Jugendliche und Autor N. Higashida (2013, 33):
»Es fällt schwer, ein Körpergefühl wahrzunehmen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass mein Körper nicht zu mir gehört. Ich habe auch Schwierigkeiten meinen Körper angemessen zu kontrollieren.« Was ihm dann hilft, ist das Springen – »weil ich beim Springen meinen Körper fühle, meine Körperteile, fest auf den Boden komme, aber auch beim Hochspringen, Hochschwingen in Richtung Himmel. Wenn ich springe, fühle ich mich erleichtert, es ist ein schönes Gefühl« (ebd., 47).
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn T. Mukhopadhyay (2005, 66, 114 f.) zur Verbesserung der eigenen Körperwahrnehmung und Überwindung der beschriebenen Probleme Übungsprogramme einer »Sensorischen Integration« (Gleichgewichts- und Koordinationsübungen, Übungen mit Händen, Spüren durch Stützen und Berühren, Klettern, Drehen, Hüpfen, Hängen, Rollen…) empfiehlt. Gleichfalls weiß T. Grandin (2006, 81) Aktivitäten »Sensorischer Integration« zu schätzen, wenn es darum geht, den eigenen Körper besser wahrzunehmen beziehungsweise Körpererfahrung aufzubauen.
Eine zentrale Bedeutung zur Entwicklung eines »Körperspürsinns« wie zugleich (vor allem) zur psychischen Beruhigung und Kompensation von Stress kommt allerdings ihrer selbstentwickelten »Quetschmaschine« zu, die wie ein Entspannungstraining (relaxation) wirksam ist (vgl. ebd., 60 ff.). Darüber berichten unter anderem auch K. Barnett (2014, 66) und O. Sacks (2000, 363 ff.).
Anstelle einer Quetschmaschine gibt es freilich noch andere Möglichkeiten, um die eigene Köperwahrnehmung zu erhöhen. So berichtet G. Vero (2014, 67) über Verbände und Bänder, die sie sich straff um Gliedmaßen band. Das verbesserte ihre Körperhaltung, Koordination und Körperwahrnehmung. Ferner diente ihr ein im Garten selbst gebauter haptischer Pfad zur Sinneswahrnehmung mit unterschiedlichen Stein- und Gummiplatten, Rasengitter und Holzfliesen der Verbesserung der Körper- und Selbstwahrnehmung sowie der Orientierung im Raum und Alltag (ebd., 112 f.).
Autobiografischen Berichten und Beobachtungen zufolge zeigen Menschen aus dem Autismus-Spektrum zumeist ein unübliches Lernverhalten und Problemlösungsverhalten.
»Autistische Kinder lernen anders als normale. Bei ihnen kommt es selten durch intensive Übung zum Lernerfolg. Sie nehmen oft ganz schnell einen Lernstoff auf und können ihn dann auch reproduzieren« (Kehrer & Morcher 1987, 325).
Dies hat K. Barnett (2014, 85) bei ihrem autistischen »Wunderkind« Jake beobachtet:
»Mit drei Jahren, nur wenige Monate, nachdem uns seine Erzieherin gesagt hatte, unser Junge würde das Alphabet nie brauchen, konnte Jake lesen. Ich hatte keine Ahnung wie und wann er es gelernt hatte … Ich wusste nur, dass ich mit ihm nie Leseübungen gemacht hatte, wie ich es mit vielen meiner Tageskinder tat.«
Oftmals handelt es sich bei diesem Lernverhalten um eine Form von Selbstbildung, bei der selbstentwickelte Lernstrategien, kognitive und perzeptive Kompetenzen genutzt werden:
»Meine Oma las mir immer oft Märchen aus alten Büchern mit Sütterlin-Schrift vor. Da es immer dieselben waren, kannte ich sie irgendwann auswendig. So erarbeitete ich mir das Lesen und hatte endlich meine Welt gefunden« (Carsten, zit. n. Aspies e. V. 2010, 218).
Das folgende Beispiel zeigt auf, dass durch den selbstbestimmten und selbsterschlossenen Lösungsweg zugleich bestimmte Schwächen kompensiert werden können:
»Mit dem Zubinden meiner Schuhe hatte ich meine liebe Mühe. Egal, wie oft es mir gezeigt wurde, ich war nicht in der Lage, diese Bewegungen nachzuahmen, um mir die Schnürsenkel zuzubinden. Eines Tages hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dies nun endlich zu lernen. Ich habe die Schuhe studiert und habe mir die Schnürsenkel angeschaut. Ich habe mir den Knoten angeschaut und welchen Weg die Schnüre nehmen. Ich habe daraufhin meine eigene Technik entwickelt, um die Schuhe zuzubinden« (Miggu, zit. n. Aspies e. V. 2010, 19).
Solche Schwierigkeiten dürfen jedoch nicht verallgemeinert werden. So gibt es ebenso autistische Menschen, die keine Probleme haben, andere Personen zu imitieren (vgl. Sacks 2000, 306 f.; Theunissen 2014a, 33; Williams 1992; 1994, 291, 278 ff.): »Ich lerne von anderen«, schreibt D. Williams (1994, 95), »indem ich sie spiegele, und ich kann von ihnen lernen, wenn sie mich spiegeln«. Zudem kann sich ein fehlendes bzw. mangelndes Nachahmungsverhalten in der frühen Kindheit im Laufe der Entwicklung legen (vgl. Schuster 2007, 74, 138).
Des Weiteren scheinen Interessen ein prominentes Vehikel für eine Selbstbildung zu sein:
»Wenn mich ein Fach jedoch besonders interessiert, dann kann ich mich so sehr damit auseinandersetzen, dass ich es mir sogar selber beibringe und den Schulunterricht dafür eigentlich nicht mehr brauche, aber dennoch gerne mache« (Frauke, zit. n. Aspies e. V. 2010, 39).
Interessen können zudem als Bindeglied oder »Kitt« zwischen Wahrnehmungsbesonderheiten und einer Selbstbildung fungieren. So schreibt ein Betroffener, dass er schmerzunempfindlich gewesen sei, wenn er sich einmal das Knie aufschlug, das er sich »dann mit wissenschaftlicher Neugier« angeschaut habe (Rainer, zit. n. Aspies e. V. 2010, 125).
Ferner zeigen einige junge Menschen aus dem Autismus-Spektrum ein ungewöhnliches Lernverhalten, wenn sie mit schwierigen Aufgaben (z. B. im Bereich der Mathematik) beginnen, bevor sie sich einfachen (z. B. Addition) zuwenden. Diese Beobachtung führt uns zu der Annahme, dass sich manche von ihnen spezifischer Denkstrategien bedienen, die nicht-behinderten Personen zumeist unvertraut oder schwer zugänglich sind (vgl. dazu R. Drenkhahn u. I. Heuer im vorliegenden Band). Das gilt beispielsweise für das autistischen Kindern und Jugendlichen nachgesagte »konkrete Denken«. Hierzu führt R. Grinker (2007, 49 ff.) mehrere Beispiele an, unter anderem die folgende Situation: Als vor einigen Jahren eine intensive Suche nach einer vermissten Schülerin mit dem Namen Carmen stattfand, habe ein autistischer Junge ihrer Schule die Polizei schreiend mit den Worten »Ich habe Carmen gefunden« aufgesucht. Er hatte sie tatsächlich gesehen, allerdings auf einem Foto, das er in seinem Klassenraum gefunden hatte und hochhielt. Wie ich noch später aufzeige, stoßen wir in solchen Situationen auf ein eingeschränktes »intuitives Vorverständnis« (Klicpera & Innerhofer), das, wie bei »konkreten Denkern«, zu Missverständnissen führen kann.
Eine weitere bemerkenswerte kognitive Strategie betrifft ein Denken in Bildern oder Mustern, Fähigkeiten eines Systematisierens, Assoziationstechniken sowie herausragende interessenbezogene Gedächtnisleistungen (Faktenwissen).
An späterer Stelle greife ich solche Kompetenzen im Zusammenhang mit »autistischer Intelligenz« auf. Um zu signalisieren, worum es hierbei geht, möchte ich allerdings schon eine Strategie nennen. Sie bezieht sich auf das Denken in Bildern:
»Ich lerne am schnellsten, wenn ich Sachen verbildliche. Zum Beispiel Vokabeln lerne ich, indem ich die zu lernenden Wörter real auf meinen Tisch lege« (zit. n. Realitätsfilter 2013, 2); oder: »Wenn ich lernen muss, benutze ich eine Assoziationstechnik. Ich verbinde den Inhalt aus dem Unterricht mit bestimmten Bildern, die ich dann ›speichere‹« (zit. n. ebd., 2).
Eine solche Lernstrategie trägt unter anderem auch zur Verbesserung von Sozialverhalten oder sozialer Anpassung bei. Hierzu zitiert U. Frith (2013, 58) T. Grandin:
»Je mehr ich weiß, umso normaler kann ich mich verhalten. Viele sagen mir, ich verhalte mich heute weniger autistisch als vor zehn Jahren… Mein Gehirn arbeitet wie eine Internetsuchmaschine, die nur auf Bildersuche eingestellt ist. Je mehr Bilder ich in meinem Gehirn abgespeichert habe, umso mehr Vorlagen habe ich im Kopf, die ich auf eine neue Situation anwenden kann.«
Diese Selbsteinschätzung – so führt U. Frith weiter aus – »stimmt mit dem überein, was mir ein autistischer Mann vor kurzem sagte: ›Es gibt immer mehr Situationen, die ich erkenne und über die ich nicht mehr nachdenken muss‹«.
So wertvoll solche Denk- und Lernstrategien einzuschätzen sind, so mühevoll kann allerdings der Weg der selbsterarbeiteten Vorgehensweise sein. Darüber berichtet G. Gerland (1998, 156 f.):
»Ich konnte immer nur einen Gedanken nach dem anderen denken, weil ich in meinem Kopf keinen Platz fand, wo ich meine Gedanken vorübergehend hätte ablegen können. Ich musste den jeweiligen Gedanken festhalten, ihn wie mit einer inneren ›Hand‹ aktiv halten, während ich meine Energie so umverteilte, dass ich gleichzeitig auch etwas anderes aufnehmen konnte. Dies verlangte eine unerhörte Konzentration. Wenn ich ungestört sein durfte, konnte ich auf jedem ›Finger‹ einen Gedanken balancieren, während ich den nächsten untersuchte, doch dabei musste ich mir gleichzeitig Anhaltspunkte erarbeiten, die mir erlaubten, wieder in die richtige Reihenfolge zu ihnen zurückzufinden. In meiner Umgebung brauchte bloß jemand zu husten, damit mir ein Teil eines Gedankens herunterfiel. Und fiel mir erst ein Teil herunter, dann stürzte gleich alles ein, und ich musste wieder von vorn anfangen.«
Es hat den Anschein, dass viele autistische Personen beim Lernen angesichts ihres »anderen Denkens« und kreativen Potenzials »weitgehend auf sich selbst gestellt« (Seng 2011, 30) sind, um Aufgaben zu lösen. Manche verweigern sich dabei vorgegebenen Lern- und Problemlösungswegen, indem sie ihre eigenen nutzen. »Sie tun sich schwer«, schreibt N. Schuster (2007, 81), »Kenntnisse von anderen Menschen, zum Beispiel dem Lehrer, zu übernehmen. Vieles können sie sich nur autodidaktisch beibringen.« Hierzu die Bemerkung einer autistischen Person:
»Gesichtsausdrücke und dadurch ausgedrückte Emotionen müssen ›gelesen‹ werden, systematisch erarbeitet werden, ausgehend von der Stirn, den Falten an der Nasenwurzel bis hin zum Mund, alle diese Partien werden einzeln betrachtet und dann zusammengebracht« (L. v. Dingens, zit. n. Aspies e. V. 2010, 161).
Vor dem Hintergrund solcher Besonderheiten im Lernverhalten sollte nunmehr nicht der Schluss gezogen werden, dass autistische Personen zu einem »impliziten Lernen