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Die epische Fortsetzung von Der Aufstieg von Kyoshi! Kyoshis Stellung als wahrer Avatar ist endlich gefestigt – doch der Preis ist hoch. Nun, da ihre Mentoren fort sind, bereist Kyoshi allein die Vier Nationen und kämpft darum, den Frieden zu wahren. Sie erlangt immer größere Bekanntheit. Doch dann zeigt sich eine mysteriöse Bedrohung aus der Geisterwelt. Um zu verhindern, dass die Vier Nationen vernichtet werden, müssen Kyoshi, Rangi und ihre widerwilligen Verbündeten ihre Kräfte vereinen. Diese packende Fortsetzung berichtet weiter vom Weg des mittellosen Mädchens Kyoshi zu der unerbittlichen Streiterin für Gerechtigkeit, die noch Jahrhunderte nachdem sie Avatar wurde, gefürchtet und bewundert werden wird.
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Seitenzahl: 479
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Die deutsche Ausgabe von AVATAR – DER SCHATTEN VON KYOSHI
wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Übersetzung: Bernd Sambale;
verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch;
Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster/Cross Cult; Cover Artwork: Jung Shan Chang;
Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.
Printed in the EU.
Titel der Originalausgabe: AVATAR – THE SHADOW OF KYOSHI
German translation copyright © 2020 by Cross Cult.
Original English language edition copyright
© 2020 Viacom International Inc. All rights reserved.
Nickelodeon, Nickelodeon Avatar: The Last Airbender and all related titles, logos and characters are trademarks of Viacom International Inc.
Originalausgabe veröffentlicht von Amulet Books, ein Imprint von ABRAMS.
Print ISBN 978-3-96658-317-6 (Dezember 2020)
E-Book ISBN 978-3-96658-318-3 (Dezember 2020)
WWW.CROSS-CULT.DE | WWW.NICK.DE
Ich erzähle diese Geschichte oft bei Panels oder Interviews, aber ich möchte sie hier für die Nachwelt festhalten. Es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich hatte noch keinen Roman verfasst. Damals dachte ich darüber nach, fürs Fernsehen zu schreiben. Um das eigene Können zu zeigen, muss man unverlangt ein Drehbuch einreichen, etwa eine Episode zu einer aktuellen TV-Serie – also im Prinzip Fan-Fiction. Gerade hatte ich Buch II: Erde der Originalserie Avatar – Der Herr der Elemente gesehen, also schrieb ich ein Drehbuch darüber, wie Sokka, unzufrieden, weil er kein Bändiger ist, sich einen tollen Meister sucht, der ihn unterweist. Von ihm sollte er lernen, wie man mit Wing Chun und allerlei technischem Schnickschnack kämpft (rückblickend wäre das Ergebnis Asami ziemlich ähnlich geworden).
Bei diesen ersten Schreibversuchen hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich selbst einmal etwas zum Kanon der Avatar-Welt beitragen würde. Für diese Gelegenheit habe ich im wahrsten Sinne euch, den Fans, zu danken. Schon länger als ein Jahrzehnt brennt ihr für dieses Universum und ich könnte mir als Fan und Autor nichts sehnlicher wünschen, als euch mit meinem Schaffen weiterhin Freude zu bereiten. Diese Bücher sind euch gewidmet. Ich danke euch von Herzen.
Hochachtungsvoll,F. C. Yee
PROLOG
UNERLEDIGTE GESCHÄFTE
DIE EINLADUNG
VERGANGENE LEBEN
DAS WIEDERSEHEN
KULTURDIPLOMATIE
DIE AUFFÜHRUNG
DIE REKTORIN
GESCHICHTSSTUNDE
DER ZUSAMMENBRUCH
DAS NACHSPIEL
DAS RITUAL
DER FEUERWEISE
SPIRITUELLE ÜBUNGEN
DIE BOTSCHAFT
INTERMEZZO: ÜBERLEBEN
RESIGNATION
SCHWÄCHE
ESKALATION
DIE GEFÄHRTIN
DER ABGRUND
FORMEN VON LEBEN UND TOD
HAUSPUTZ
ZWEITE CHANCE
VERLORENE FREUNDE
INTERMEZZO: DER MANN AUS DER GEISTERWELT
WIEDER ZU HAUSE
DAS TREFFEN
EPILOG
DANKSAGUNGEN
»JUNGE!«
Yun kratzte sich am Hals, bis Blut kam. Noch immer konnte er den Schleim und die Zähne auf seiner Haut spüren.
»Junge! Stell dich nicht so an!«
Er dachte daran, wie Jianzhu das Räucherstäbchen entzündet hatte, an den klebrig-süßen Duft und die Taubheit, die sich in seinen Gliedmaßen ausgebreitet hatte. Stechquallengift, das wusste er aus seinem Training. Erst vor Kurzem hatte er angefangen, mit Sifu Amak Gifte zu studieren und sich eine gewisse Immunität anzutrainieren.
Yun blinzelte und blickte sich verwirrt um. Anstelle des Staubs der Bergbaustadt fanden seine Finger nur feuchtes, schwammiges Moos am Boden. Er befand sich in einem Mangrovenwald. Der Himmel leuchtete in der ekelhaft schummrigen Farbe von ätzender Säure.
Er kroch umher, Sumpfschlamm schmatzte unter seinen Knien. Kahle, knorrige Baumstämme, kaum mehr als Schemen, ragten ringsumher empor. Durch das lockere Flechtwerk der Äste blickte ein riesiges, leuchtendes Auge auf ihn herab.
Das Auge hatte gesprochen. Es hatte gesagt, er sei nicht …
Ein Schmerz, schrecklich und vertraut, fuhr in seinen Magen. Er krümmte sich zusammen, platschte mit seinen Unterarmen ins Sumpfwasser. Die Landschaft um ihn herum begann zu erbeben. Hier war kein Erdbändigen am Werk, sondern etwas Ursprünglicheres, etwas Unkontrollierbares.
Er war nicht. Hier endete der Satz. Er war nichts.
Das seichte Wasser tanzte wie Regentropfen auf einer Trommel und schoss in Fontänen aufwärts. Es kam und ging, rüttelte an den Bäumen, sodass sie gegeneinander schlugen wie Hirschgeweihe im Kampf. Yun warf sich zu Boden, die makabre Parodie eines Schülers, der sich vor seinem Meister verbeugt.
Jianzhu. Der Name füllte seinen Geist wie ein Schrei, ein einzelner schriller Ton aus einer kaputten Flöte. Seine Stirn klatschte in den brackigen Schlamm. Jianzhu.
»Hör auf, du armseliger kleiner Bengel!«, brüllte das Auge. Trotz seines Ärgers schien es vor ihm zurückzuschrecken, fürchtete sich offenbar vor seinem wilden Schmerz. Der Boden zuckte und flatterte wie das Herz eines Mannes, der in den Tod stürzte. Ein Trommelschlag, der vor dem drohenden Aufprall lauter und lauter wurde.
Yun wollte, dass es aufhörte. Er wollte, dass die Qual ein Ende hatte. Es tat so weh zuzusehen, wie alles, wofür er gearbeitet hatte, zu Funken und Staub zerstob. Der Schmerz fraß ihn von innen auf.
Dann lass ihn raus.
Seine eigene Stimme flüsterte ihm diese Worte zu. Nicht die des Auges, nicht Jianzhus Stimme.
Trag ihn nach draußen. Irgendwo anders hin.
Zu jemand anderem.
Der Riss begann bei seinen Füßen, ein Nadelstich in überdehnter Seide. Dann lief er ins Wasser hinein und zuckte über die Erde wie ein Blitz über den Himmel. Der Boden teilte sich, die gesamte Gewalt des Bebens entlud sich auf einen schnellen, verheerenden Schlag.
Und dann … Stille.
Yun konnte wieder atmen. Er konnte sehen. Das Beben hatte sich erschöpft, hatte einen langen Spalt im Boden hinterlassen, eine widernatürliche Wunde in der Landschaft. Sumpfwasser strömte hinein und verbarg einen Abgrund, in dessen Tiefe er nicht blicken wollte.
Alles war so viel klarer, wenn sich endlich Erleichterung eingestellt hatte. Yun nutzte die Atempause und sah sich um. Der modrige Hain war anders als alle Wälder, die er je gesehen hatte. Das schwache Licht des Himmels stammte nicht von der Sonne – er konnte keinen solchen Himmelskörper entdecken. Dies war das diffuse Abbild einer wirklichen Landschaft, mit allzu stark verdünnter Tinte gemalt.
Ich bin in der Geisterwelt.
Er wich vor der Kluft zurück, die sich vor ihm erstreckte, wollte nicht von der Strömung mitgerissen werden. Dann drehte er sich um, packte die freigelegten Wurzeln eines ledrigen Baums und zog sich auf trockeneren Boden. Der Geruch von Schwefel und Verwesung hing in der Luft.
Meister Kelsang hatte ihm von der Geisterwelt erzählt. Schön und wild sollte sie sein, voller Wesen jenseits jeder Vorstellungskraft. Das Reich der Geister bot sich seinem Besucher als Spiegel dar, ein Abglanz seiner Gefühlswelt, eine Wirklichkeit, die um die nicht greifbare Projektion seines eigenen Geistes herum Gestalt annahm.
Yun krümmte die Finger und merkte, dass sie so fest und real waren, wie sie es nur sein konnten. Er fragte sich, ob der sanfte Mönch jemals ein solch albtraumhaftes Moor erkundet hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen, was geschähe, wenn man die Geisterwelt betrat, während man noch in seinem Körper steckte.
Es knackte im Geäst und er zuckte zusammen. Er war nicht allein. Das Auge. Aufmerksam beobachtete es ihn aus dem Schatten des Waldes heraus, umkreiste ihn auf durchscheinenden Tentakeln, die, wie er wusste, mit unzähligen menschlichen Zähnen gespickt waren. Er hatte ihren Biss gespürt, in den Bergen, als sie eine Kostprobe seines Blutes genommen hatten.
Schlagartig rauschte eine Welle von Panik durch seine Herzkammern. Yun wusste, dass seine Uhr abgelaufen war. Er versuchte, sich zu erinnern, wie Jianzhu den Geist genannt hatte. »Großvater … Glühwurm?«
Plötzlich kam das Auge auf ihn zugeschossen und ließ sich zwischen zwei Bäumen in seiner Nähe nieder. Yun schrie auf und stürzte rückwärts auf seine Ellenbogen. Er hatte einen Fehler gemacht: Indem er den Namen ausgesprochen hatte, hatte er eine entscheidende, unsichtbare Barriere eingerissen. Nun war er enger mit dem Auge verbunden und verletzlicher denn je.
»So nenne ich mich«, sagte der Geist. Großvater Glühwurms Pupille zuckte auf enervierende Weise umher und die Iris zog sich zusammen. Yun konnte diesen Blick beinahe körperlich spüren, als würde eine schleimige Zunge über seinen Körper lecken. »Und nun, Kind, bist du mir deinen Namen schuldig.«
Im Erdkönigreich gab es zahllose Märchen, die der Bevölkerung als Warnung dienen sollten, und Yun war wie ein Narr genau in eine solche Erzählung hineingestolpert, in die Rolle eines armen Feldarbeiters oder Holzfällers, der mit einem Fluch belegt oder einfach nur gefressen wurde. Wie er wohl verzehrt werden würde? Vielleicht würde er zu Brei zerrieben und dann vom Schleim absorbiert.
»Ich heiße Yun.« Seine Handflächen waren schweißnass, so groß war seine Angst inzwischen. In manchen dieser Geschichten überlebte der dumme Junge durch blanken Schneid. Yun war bereits zur Beute geworden; seine einzige Chance war, sich zu einer interessanten Beute zu machen. »Ich … Ich …«
Doch es gelang ihm nicht, sich zu fassen. Seine Eloquenz, mit dem er den Feuerlord und den Erdkönig, die Häuptlinge der Wasserstämme und die obersten Äbte beeindruckt hatte, ließ ihn im Stich. Avatar Yun hätte vielleicht das Selbstvertrauen aufgebracht, sich aus dieser Lage herauszureden, doch der existierte nicht mehr.
Großvater Glühwurm regte sich in den Bäumen und Yun wusste, dass er sterben würde, wenn er nicht schnell etwas sagte. All die Augenblicke, in denen ein anderer sein Schicksal in Händen gehalten hatte, schossen ihm durch den Kopf.
»Bitte zieh mich als deinen Schüler in Betracht!«, rief er schrill.
Konnte ein einzelnes Auge überrascht aussehen? Es war still im Wald, nur das Rauschen des Wassers war zu hören. »Ich … knie vor dir nieder, als demütiger Pilger auf der Suche nach Antworten«, sagte Yun. Er nahm eine Haltung an, die besser zu seinen Worten passte. »Bitte unterweise mich in den Lehren der Geisterwelt. Ich flehe dich an!«
Großvater Glühwurm brach in Gelächter aus. Er besaß keine Augenlider, die er hätte verengen können, aber der Augapfel drehte sich nach oben, als würde er sich amüsieren. »Junge, hältst du das hier für ein Spiel?«
Alles ist ein Spiel, dachte Yun und versuchte, sein Zittern zu unterdrücken. Ich werde dieses hier in die Länge ziehen, so gut ich nur kann. Eine Runde lang überlebe ich noch.
Avatar Yun existierte nicht mehr. Er würde wieder Yun, der Schwindler, sein müssen. »Du kannst es mir wohl kaum verübeln, dass ich einem Geist Fragen stellen möchte, der weiser noch ist als die weisesten Menschen.« Im Zweifelsfall immer schmeicheln. »Die größten Weisen des Erdkönigreichs haben es sechzehn Jahre lang nicht geschafft, den Avatar zu identifizieren. Dir hingegen ist das in wenigen Sekunden gelungen.«
»Hmpf. Wenn man einen Kampf ausgefochten hat wie seinerzeit Kuruk und ich, dann ist es unmöglich, seinen Geist nicht wiederzuerkennen. Schon als Jianzhu seine Reinkarnation auf meine Tunnel zuführte, habe ich gespürt: Es musste eins von euch Kindern sein.«
Bei dem Wort Tunnel wurde Yun hellhörig. »Du hast Wege zur Menschenwelt? Mehr als nur einen?«
Großvater Glühwurm lachte wieder. »Ich weiß, was du vorhast«, höhnte er. »Und es beeindruckt mich gar nicht. Ja, ich kann Übergänge zum Reich der Menschen erschaffen. Nein, du wirst mich weder austricksen noch überreden, dich zurückzuschicken. Du bist nicht die Brücke zwischen den Geistern und den Menschen, Junge. Du bist der Stein, den der Bildhauer wegschlagen musste. Die Verunreinigung im Erz. Ich habe dein Blut gekostet und du bist nichts. Nicht einmal dieses Gespräch bist du wert.«
Das Auge kroch näher. »Ich kann sehen, wie sehr dir die Wahrheit missfällt«, wisperte er in tröstendem, beinahe lieblichem Tonfall. »Mach dir nichts draus. Wer braucht schon die Avatarschaft? Du wirst deinen eigenen Lebenszweck schon finden – und deine eigene Unsterblichkeit. Sobald ich mich an deinem Blut gestärkt habe, wird ein Teil deines Wesens ewiglich in mir fortleben.«
Bei jedem Spiel bestand die Gefahr, dass der Gegner irgendwann die Lust daran verlor. Jäh schoss Großvater Glühwurm durch den Wald auf Yun zu und teilte mit seinen Schleimtentakeln die Bäume wie einen Perlenvorhang.
»Und jetzt sei dankbar«, brüllte der Geist. »Denn nun werden wir beide eins!«
BRUDER PO hatte Kuji einmal erzählt, der Spitzname des Dao sei »Mut aller Männer«: Nahm man das robuste Schwert in die Hand, mit dem sich der Feind hingebungsvoll niedermetzeln ließ, fühlte man sich sogleich tapferer.
Kuji fühlte sich jedoch keineswegs tapferer, als er mit klammen Fingern das Heft seines Dao umklammert hielt und die Tür bewachte. Zudem kam ihm die Klinge auch nicht sonderlich robust vor. Es war ein rostiges, abgestoßenes Exemplar, das so aussah, als würde es zerspringen, wenn er allzu kräftig damit in der Luft herumfuchtelte. Als jüngstes Mitglied der Triade der Goldenen Schwinge musste er am Ende der Schlange warten, wenn die Waffen ausgehändigt wurden. Dieses Schwert stammte vom Boden der Kiste.
»Jetzt bist du ’n richtiger Soldat, was?«, hatte jemand gewitzelt, als man ihm das Schwert in die Hand gedrückt hatte. »Nicht wie wir Mordgesellen.«
Bruder Po stand mit seiner kleinen Axt in der Hand an der Tür. Es war die Lieblingswaffe der meisten gestandenen Kämpfer der Triade. Nach außen hin wirkte er ruhig, doch Kuji konnte sehen, wie sein Kehlkopf beim Schlucken auf und ab hüpfte, wie er es immer tat, wenn er beim Pai-Sho einen riskanten Zug spielen wollte.
Wenn irgendetwas Kuji Sicherheit gab, dann war es das Revier seiner Bande: Loongkau war praktisch eine Festung. Auf den ersten Blick sah der Häuserblock nicht anders aus als die Nachbardistrikte in Ba Sing Ses Unterem Ring. Der sichtbare Teil wuchs planlos wie ein Pilz ein paar Stockwerke in die Höhe. Er trotzte der Schwerkraft und spottete jeder vernünftigen Architektur.
Es war jedoch ein offenes Geheimnis, dass der Komplex sich illegalerweise Ebene um Ebene tief in die Erde hinein fortpflanzte. Immer neue Untergeschosse waren gegraben worden, ohne dass dem Ganzen ein solider Plan oder ein Verständnis für Sicherheit zugrunde gelegen hätte. Alles wurde nur behelfsmäßig durch Holzreste, Lehmziegel und zusammengeklaubte, rostige Metallstücke abgestützt. Dennoch bestand Loongkau nach wie vor und war noch nicht in sich zusammengebrochen, was das Wirken der Geister sein mochte.
Das Innere des Komplexes bestand aus gewundenen Gängen, verschachtelten Räumen, Treppen und leeren Schächten. Armselige Kammern, die den Bewohnern als Behausungen dienten, saßen hier dicht an dicht wie Waben in einem Bienenstock und ließen nur Platz für enge Gassen. Loongkau war voller Fallen, so auch das Zimmer, in dem Kuji und Po warteten. Das war einer der Gründe, warum sich die Gesetzeshüter der Stadt nie an diesen Ort wagten.
Bis jetzt. Der Boss hatte einen Hinweis bekommen, dass die Festung der Goldenen Schwinge genau heute angegriffen werden würde. Jeder Bruder hatte Posten zu beziehen, bis die Bedrohung abgewehrt war. Kuji wusste nicht, was für ein Feind die Ältesten so in Aufregung versetzt haben vermochte. Um Loongkau zu belagern, schätzte er, wären mehr Polizisten nötig, als der Untere Ring zur Verfügung hatte.
Der Plan war dennoch solide. Wenn Eindringlinge in die unteren Etagen gelangen wollten, mussten sie einer nach dem anderen durch einen Engpass, der an diesem Zimmer vorbeiführte. So konnten sich Kuji und Ning jeden von ihnen einzeln vorknöpfen.
Es war zudem unwahrscheinlich, dass sie in einen Kampf geraten würden – zumindest redete Kuji sich das ein. Ein Stockwerk über ihnen schlich Halsabschneider Gong umher, der beste Attentäter, den der Boss hatte. Gong konnte einen Mungodrachen in seinem Versteck im Dschungel aufspüren und töten. Mit all den Köpfen, die er schon abgeschlagen hatte, hätte er eine ganze Scheune füllen können …
Im Stockwerk über ihm knallte etwas. Eine Stimme war nicht zu hören. Das kleine Zimmer fühlte sich plötzlich weniger wie ihr Revier und mehr wie ein Verschlag an, in dem sie wie eingepferchte Tiere festsaßen. Po gestikulierte mit seinem Beil. »Wir werden hören, wenn sie die Treppe runterkommen«, flüsterte er. »Dann schlagen wir zu.«
Kuji neigte seinen Kopf in die Richtung und lauschte angestrengt. Er wollte unbedingt mitbekommen, wenn sich jemand näherte, also lehnte er sich vor – und verlor prompt das Gleichgewicht, sodass er stolperte. Po verdrehte die Augen. »Du bist zu laut«, zischte er.
Wie um ihm Recht zu geben, flog plötzlich die Tür aus den Angeln, und jemand kam hereingeschossen und prallte mit Kuji zusammen. Der kreischte und fuchtelte mit seinem Dao, traf den Angreifer jedoch nur mit dem Knauf am Kopf. Po schnappte sich den Kerl und holte mit dem Beil aus, doch im letzten Moment hielt er inne.
Es war Halsabschneider Gong. Er war bewusstlos und blutete. Seine Handgelenke waren in die falsche Richtung verbogen und seine Knöchel waren mit seinem eigenen Würgedraht zusammengeschnürt. »Bruder Gong!«, rief Po und vergaß dabei selbst, leise zu sein. »Was ist passiert?«
Ein Krachen ertönte – nicht vom Flur her, den sie bewachen sollten, sondern von der gegenüberliegenden Wand. Zwei Arme mit Panzerhandschuhen an den Händen waren dort durch die Backsteine gebrochen und hatten sich in einem Würgegriff um Pos Hals gelegt. Kuji sah, wie seine Augen weiß vor Angst wurden, dann wurde Po mitten durch die Wand aus dem Zimmer gezerrt.
Kuji starrte ungläubig und wie betäubt das Loch an. Po war ein großer Mann, doch innerhalb eines Wimpernschlags war er fort gewesen, als wäre er einem Rabenadler zum Opfer gefallen. Hinter dem Loch, durch das er verschwunden war, war nichts als Finsternis.
Draußen knarrten die Dielen, als jemand darüber hinwegschritt, als wäre völlige Stille ein Mantel, den der Feind nach Belieben anlegen und abwerfen konnte. Tritte schwerer Stiefel kamen näher und näher.
Etwas schob sich durch den Türrahmen, sodass vom schwachen Licht des Flurs fast nichts mehr zu sehen war: Eine große, unglaublich große Gestalt trat herein. Eine schmale Spur aus Blut zog sich quer über ihre Kehle, als wäre ihr der Kopf abgeschlagen und wieder festgeklebt worden. Unter der Wunde bauschte sich ein Gewand aus grüner Seide. Das Gesicht war eine weiße Maske, die Augen nichts weiter als rote Striche – wie die eines Ungeheuers.
Zitternd hob Kuji sein Schwert. Er bewegte sich so langsam, als würde er durch Schlamm schwimmen. Das Wesen sah zu, wie er sein Schwert schwang, den Blick auf die Klinge geheftet, und irgendwie wusste Kuji, dass es ihn ohne Schwierigkeiten würde abwehren können. Wenn es denn wollte.
Die Klinge des Dao grub sich in die Schulter seines Gegners. Ein metallenes Knacken erklang, dann fuhr ein jäher Schmerz in Kujis Wange. Das Schwert war zerbrochen und die Spitze war zurückgeprallt und hatte ihn im Gesicht getroffen.
Das war ein Geist, musste einer sein. Einer, der durch Wände gehen und über Böden schweben konnte, eine Bestie, der man mit Klingen nichts anhaben konnte. Kuji ließ den Griff seines nutzlosen Schwertes fallen. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, man könne sich gegen das Böse schützen, indem man den Avatar anrief. Schon als Kind hatte er gewusst, dass sie sich das nur ausgedacht hatte. Aber das hieß ja nicht, dass er sich nicht in diesem Augenblick entscheiden könnte, daran zu glauben.
»Der Avatar behüte mich«, flüsterte er, solange er noch sprechen konnte. Er fiel auf den Hintern und krabbelte rückwärts in die Zimmerecke. Der Schatten des Geistes bedeckte ihn vollständig. »Yangchen, behüte mich!«
Die Geisterfrau folgte ihm und senkte ihr rot-weißes Gesicht zu seinem herab. Ein Mensch hätte sich sicher abfällig über Kuji geäußert, so wie er mit eingezogenem Kopf dort kauerte. Die kalte Missachtung in ihren Augen war jedoch schlimmer, als Mitleid oder sadistisches Belustigung es je hätten sein können.
»Yangchen ist gerade nicht hier«, sagte sie mit voller, gebieterischer Stimme. Ihr Klang hätte schön sein können, wäre die Gleichgültigkeit darüber, ob er lebte oder starb, nicht so deutlich darin zu hören gewesen. »Dafür bin ich hier.«
Kuji schluchzte auf, als sie sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger ihrer großen, kräftigen Hand packte. Ihr Griff war behutsam, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ihm ohne Mühe den Unterkiefer herausreißen könnte, wenn ihr danach verlangte. Die Frau hob sein Gesicht. »Und jetzt sag mir, wo ich deinen Boss finde.«
Kyoshis Hals juckte furchtbar. Die Garrotte war mit gemahlenem Glas überzogen gewesen, und obwohl sie keine tiefen Schnitte abbekommen hatte, reizten die winzigen scharfen Splitter noch immer ihre Haut. Recht geschah es ihr – wie nachlässig sie gewesen war! Der Drahtmann der Bande war zwar leise gewesen, aber keinesfalls so lautlos wie die Gesellschaft, in der sie sich während ihrer Daofei-Tage bewegt hatte.
Außerdem war sie ein Risiko eingegangen, den Jungen nicht ebenso auszuschalten, wie sie es mit seinen Älteren getan hatte. Aber er hatte sie an Lek erinnert: Wie er versucht hatte, mit seinem dummen Milchgesicht hart auszusehen, während man ihm ansehen konnte, wie sehr er nach der Anerkennung seiner eingeschworenen älteren Brüder lechzte. Sein purer, idiotischer Wagemut. Er war zu jung, um Mitglied einer Bande in den Slums von Ba Sing Se zu sein.
Heute keine Ausnahmen mehr, dachte sie, als sie über den rostenden Müll und die Trümmer hinwegstieg. Sie hatte noch immer die Gewohnheit, alle Gleichaltrigen als Jungen und Mädchen anzusehen. Diese Wortwahl machte sie weich, und das war gefährlich. Ihr würde bestimmt niemand Gnade erweisen, nur weil sie noch keine achtzehn war. Der Avatar konnte sich den Luxus, einfach ein Kind zu sein, nun mal nicht leisten.
Sie bahnte sich ihren Weg durch den Flur, der kaum breiter war als sie. Durch Risse in den Wänden fiel nur wenig Licht. Leuchtkristalle waren teuer und Kerzen ein Brandrisiko, daher war Licht in Loongkau Luxus. Die Rohre, die sich wie ein verschlungenes Netzwerk aus Wurzeln über ihr entlangzogen, waren an vielen Stellen undicht. Tropfen landeten auf ihrem vergoldeten Haarschmuck, den sie trotz der Enge trug. Sie hatte sich daran gewöhnt, die zusätzliche Höhe auszugleichen, und schließlich musste sie sich seit ihrer Kindheit ohnehin ständig bücken.
Der Gestank von Schweiß und trocknender Farbe waberte durch die Korridore, zeugte von den eingepferchten Verhältnissen, in denen die Leute hier hausten. Was ihr wohl erst auf den tieferen Ebenen für Gerüche in die Nase steigen würden? In diesem Block drängten sich mehr Menschen zusammen als in jedem anderen des Unteren Rings und nicht alle Einwohner waren Verbrecher.
Loongkau war ein Auffangbecken für die Ärmsten der Armen. Menschen, die sonst nirgendwo hingehen konnten, hockten hier zusammen und wendeten all ihren Fleiß auf, um sich als Müllsammler, Schwarzhändler (»Das ist vom Wagen gefallen!«), Ärzte ohne Zulassung oder schmierige Futterbudenbetreiber durchzuschlagen. Sie waren gewöhnliche Bürger des Erdkönigreichs, die versuchten, am Rande des Gesetzes über die Runden zu kommen. Im Großen und Ganzen also Kyoshis Leute.
Im Zwielicht dieses Baus fanden auch gewaltsamere Naturen ein Zuhause: Die Banden aus dem Unteren Ring wurden immer größer, je mehr Daofei zuströmten. Banditen, die ihr Territorium auf dem Land nicht mehr behaupten konnten, suchten Schutz in Ba Sing Se und anderen großen Städten. Sie mischten sich unters Volk und verbargen sich unter den einstmaligen Schutzsuchenden, die sie in vergangenen Jahren drangsaliert hatten.
Die gehörten nicht zu Kyoshis Leuten. Tatsächlich waren viele von ihnen vor ihr auf der Flucht. Da jedoch jedes Apartment ebenso gut verängstigte Anwohner beherbergen konnte, die nichts mit den Schurken, die sie jagte, zu tun hatten, hielt sie sich zurück. Wenn sie mit herkömmlichem Erdbändigen große Brocken aus ihrer Umgebung riss, könnte es zu gefährlichen Einstürzen kommen und Unschuldige könnten verletzt werden.
Sie verließ den Flur und gelangte in einen kleinen Marktbereich. Sie kam an einer Kammer voller Fässer vorbei, aus denen helle Farbe auf den Boden tropfte – eine Heimfärberei –, und an einem verlassenen Schlachterstand, in dem Schwärme von Ameisenfliegen surrten. In Jianzhus Arbeitszimmer hatte es Aufzeichnungen über die politische und wirtschaftliche Situation in Ba Sing Se gegeben und Kyoshi hatte auch eine kleine Anmerkung über die äußerst geschäftstüchtigen Bewohner dieses Wohnblocks gefunden. Kurioserweise besaß das Land, auf dem er erbaut war, wegen seiner günstigen Lage im Unteren Ring anscheinend sogar einigen Wert. Händler des Mittleren Rings hatten in der Vergangenheit versucht, den Komplex zu kaufen und die Anwohner zu vertreiben, doch wegen der Bedrohung, die von den Banden ausging, waren solche Projekte immer gescheitert.
Kyoshi hielt an einem Bottich voller verdorbenem Mangotrester an. Das war die Stelle. Sie bändigte sich einen kleinen Kreis aus Steinen und Schutt und stellte sich darauf. Dann verschränkte sie die Arme über der Brust und machte sich so schmal wie möglich.
Sie wollte gerade ihren Plan in die Tat umsetzen, da bemerkte sie ein winziges Objekt in der Ecke. Es war ein Spielzeug, eine Puppe, die aus den Resten des Kleides einer feinen Dame gefertigt war. Jemand hatte großen Aufwand betrieben, um seinem Kind eine Puppe aus Stoff zu nähen, der aus dem Oberen Ring stammte.
Kyoshi starrte sie an, bis sie blinzeln musste, dann rief sie sich in Erinnerung, weswegen sie hier war. Sie stampfte mit dem Fuß auf.
Ihre kleine Erdplattform, die nur durch ihr Bändigen zusammengehalten wurde, wurde so hart wie die Spitze eines Bohrers. Sie brach durch die Tonplatten und verrotteten Holzstreben und sank so rasch in die Tiefe, dass ihr Magen einen Satz machte. Sie gelangte ins nächste Stockwerk, dann ins nächste darunter, immer weiter hinab.
In Jianzhus taktischen Anleitungen hieß es, bei Kämpfen in beengten Verhältnissen gebe es die meisten Opfer an bestimmten Stellen wie Türen und Treppen. Kyoshi hatte beschlossen, diese Teile des Gebäudes auszulassen und sich ihren eigenen Weg zu bahnen. Sie zählte vierzehn Stockwerke – mehr, als sie geschätzt hatte –, dann krachte sie durch eine letzte Zimmerdecke und kam auf festem Erdboden auf. Der tiefste Punkt von Loongkau.
Kyoshi trat von ihrer Plattform, Staub und Reste vom Mauerwerk rieselte von ihren Armen. Sie blickte sich um. Hier gab es keine Wände, nur Stützpfeiler, die das große Gewicht der Stockwerke darüber hielten. Hier gibt’s ja sogar einen Ballsaal, dachte sie ironisch. Der leere Saal ähnelte den Empfangshallen reicher Adliger wie Lu Beifong. Im Avatarsanwesen in Yokoya gab es einen ähnlichen Raum.
Sie konnte bis zum Ende blicken, da leuchtende Kristalle in die Wände eingelassen waren. Es war, als hätte jemand sämtliches Licht des Gebäudes in diesem Raum gehortet. Es gab einen Schreibtisch, der wie eine hölzerne Insel in der Leere stand. Und hinter dem Schreibtisch saß ein Mann, den Kyoshi kannte und der seine Ambitionen offenbar noch immer nicht aufgegeben hatte.
»Hallo, Onkel Mok«, sagte Kyoshi. »Lange nicht gesehen, was?«
Mok, dem früheren zweiten Mann der Gelbnacken, traten vor Überraschung beinahe die Augen aus dem Kopf. Kyoshi war wie ein Fluch, den er nicht loswurde. »Du!«, fauchte er und sank ein wenig hinter seinem Schreibtisch zusammen, als ob ihn das imposante Möbelstück irgendwie beschützen könnte. »Was willst du hier?!«
»Ich hab Gerüchte gehört, dass sich ein neuer Boss in Loongkau eingenistet hat und die Beschreibung kam mir bekannt vor. Da wollte ich selbst mal nachsehen. Ich hab gehört, diese Gruppe bezeichnet sich jetzt selbst als Dreieck oder so? Hab ich das richtig verstanden? Irgendwas mit drei Seiten.« Kyoshi fand es schwer, den Überblick zu behalten. Die ganzen Daofei, die in die Städte strömten, trugen ihre hochtrabenden Gebräuche in die Welt der städtischen Kleinkriminellen hinein: ihre Geheimniskrämerei, ihre Traditionen.
»Die Triade der Goldenen Schwinge!«, schrie er, wutentbrannt über ihr Desinteresse am Zeremoniell seiner Bande. Aber Kyoshi scherte sich schon lange nicht mehr um die Gefühle von Männern wie Mok. Sollte er sich ruhig ordentlich aufregen.
Das Trommeln der Schritte wurde lauter. Die Männer auf den mittleren Etagen, die Kyoshi auf ihrem Weg nach unten umgegangen hatte, kamen nacheinander in den Raum geströmt und umzingelten sie. Sie reckten ihr Äxte, Hackmesser und Dolche entgegen. Als Moks Männer noch durchs Land gezogen waren, hatten sie ausgefallenere Kampfgeräte vorgezogen, doch hier in der Stadt hatten sie ihre Neun-Ringe-Schwerter und Meteorhämmer gegen schlichtere Waffen eingetauscht, die sich in einer Menschenmenge leichter verstecken ließen.
Mit der Verstärkung von mehr als zwei Dutzend Männern fühlte Mok sich sichtlich wohler und fragte in ruhigerem Tonfall: »Also, Mädchen, was willst du nun? Abgesehen davon, mal bei deinen Ältesten vorbeizuschauen?«
»Ich will, dass ihr alle eure Waffen niederlegt, das Grundstück räumt, freiwillig zum Gerichtshaus eines Magistrats marschiert und euch verurteilen lasst. Das nächste ist nur sieben Blöcke entfernt.«
Ein paar Schergen brachen in Gelächter aus. Einer von Moks Mundwinkeln hob sich. Kyoshi mochte der Avatar sein, aber sie war weit in der Unterzahl und in einem geschlossenen Raum gefangen. »Wir weigern uns«, sagte er und machte eine ausladende Handbewegung.
»Na schön. Wenn das so ist, hätte ich nur noch eine Frage.« Kyoshi blickte von einem zum anderen. »Gibt’s wirklich nicht mehr von euch?«
Die Triadenmitglieder warfen sich gegenseitig verwirrte Seitenblicke zu. Mok machte dicke Backen vor Wut und wurde rot wie eine Beere in der Sonne.
Sie wollte nicht unverschämt sein, es war reiner Pragmatismus. Ihr Sinn für Ordnung und Effizienz drang an die Oberfläche. »Sonst kann ich auch warten, bis alle da sind«, sagte sie. »Ich will nicht noch mal zurückgehen und jedes Stockwerk absuchen müssen.«
»Reißt sie in Stücke!«, kreischte Mok.
Die Mordgesellen drangen von allen Seiten auf sie ein. Sie zog einen ihrer Fächer. Beide wären etwas übertrieben gewesen.
Kyoshi trat über den Haufen stöhnender Triadenmitglieder hinweg. Immer wenn einer sich nicht regte, stupste sie ihn mit dem Schuh an, bis sie sah, dass er noch atmete.
Moks Robe, die über der Stuhllehne gehangen hatte, war während der Schlägerei heruntergefallen. Er hatte seinen Stuhl ein paar Handbreit nach hinten gerückt, um die Flucht zu ergreifen, da legte ihm Kyoshi die Hand auf die Schulter und drückte ihn wieder auf die Sitzfläche zurück.
»Bleib ruhig sitzen, Onkel«, sagte sie. Bei aller Feindschaft war er schließlich immer noch älter als sie.
Zorn und Furcht rangen in Mok um Vorherrschaft, das konnte Kyoshi bis in die Fingerspitzen spüren. »Jetzt willst du mich also kaltblütig ermorden, wie du’s mit Xu gemacht hast. Blitze und zahllose Messer sollen dich zerfetzen, weil du deine eingeschworenen Brüder erschlagen hast!«
Dass Mok sie eine Mörderin nannte, störte sie mehr, als sie erwartet hätte. Xu Ping An hatte sich auf ein Duell eingelassen und er hatte sofort versucht, sie umzubringen. Sobald sie die Oberhand gewonnen hatte, hatte sie ihm Gelegenheit zur Kapitulation gegeben. Aber der frühere Anführer der Gelbnacken hatte ihr deutlich gezeigt, dass es für ihn keine Rettung geben konnte.
Trotz alledem dachte sie in schlaflosen Nächten immer wieder an Xu. Ständig stahl sich der niederträchtige Mann in ihren Geist, wenn sie eigentlich von denen, die sie liebte, hätte träumen können. Ja, sie dachte viel über Xu nach: Wie schwer er sich in ihrem Griff angefühlt hatte und wie sie am Ende des Kampfes einen Entschluss gefasst hatte.
Kyoshi schüttelte den Kopf. »Beim Lei Tai ist alles erlaubt«, sagte sie. Ihr Handeln laut zu rechtfertigen war eine bittere, unwirksame Medizin, die sie sich dennoch zu schlucken zwang. »Ich werde dich nicht umbringen. Du und deine Männer habt hier hinter den Mauern überraschend schnell Fuß gefasst, wenn man bedenkt, dass ihr den größten Teil eurer Zeit damit verbracht habt, als Banditenbande auf dem Land die Bauern zu drangsalieren. Du hast einen Kontaktmann in Ba Sing Se – und ich will wissen, wer das ist.«
Mok straffte sich und presste die Lippen aufeinander. Wahre Daofei gaben der Obrigkeit gegenüber niemals Informationen preis, selbst dann nicht, wenn es ihnen Vorteile bringen würde. »Mädchen, der Tag, an dem du mich zum Singen bringst, ist der Tag, an dem ich … auaaa!«
Kyoshi packte mit den Fingern zu und erinnerte ihn auf diese Weise daran, dass sich die Dinge geändert hatten, seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie drückte auf die Nerven in seinem Arm, bis ihm klar wurde, wie ihre neue Beziehung zueinander aussah.
»Es war jemand aus dem Mittleren Ring!«, gestand Mok, sobald er aufgehört hatte, vor Schmerz zu quieken. »Wir haben nur über Mittelsmänner kommuniziert. Ich kenne seinen Namen nicht!«
Kyoshi ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Sie hatte erwartet, er würde ihr einen Verbrecher aus dem Unteren Ring nennen, jemanden von hier, der ihm vielleicht früher die Bruderschaft geschworen hatte. Der Mittlere Ring war die Domäne der Händler und Akademiker. Irgendetwas passte hier nicht zusammen.
Mok umklammerte seine Schulter und zog sich hastig vom Schreibtisch zurück. »Wai!« rief er in Richtung der Tür hinter sich. »Jetzt!«
Kyoshi hatte sich ablenken lassen und den dritten großen Bruder der Gelbnacken vergessen. Die Tür flog auf und Kyoshi blieb keine Zeit zu reagieren.
Bruder Wai kam mit erhobenem Messer und gefletschten Zähnen auf sie zugesprungen. Den Lederriemen, den er sonst über dem Loch getragen hatte, wo einmal seine Nase gewesen war, hatte er abgelegt, was sein ausgemergeltes Gesicht umso mehr wie einen Totenschädel aussehen ließ. Schon damals bei den Gelbnacken war Wai ein schneller, bösartiger Mann gewesen, und daran hatte sich nichts geändert.
Als er allerdings erkannte, dass es sich bei dem Eindringling um Kyoshi handelte, mit Make-up und in voller Montur, da keuchte er und erstarrte mitten im Ansturm. Wai war einer der wenigen Augenzeugen gewesen, die sie im Avatarzustand gesehen hatten, und diese Erfahrung hatte den spirituellen Mann tief beeindruckt. Er trat zurück, um ihr mehr Raum zu geben, stieß dabei fast seinen Bruder um und fiel auf die Knie. Das Messer, das er gerade noch auf Kyoshi gerichtet hatte, legte er wie eine Opfergabe vor ihr nieder.
»Das ist doch nicht dein Ernst!«, schrie Mok, doch Wai senkte sein Haupt und warf sich dem Avatar zu Füßen.
Kyoshi trat aus dem Inneren des Wohnblocks auf die Straße hinaus. Der Tag war heller und heißer geworden. Eine Polizeieinheit, uniformierte Wachen aus Ba Sing Se, wartete bereits auf sie. Links und rechts vom Ausgang hatten sie sich aufgereiht. Junge Beamte, die den Avatar noch nie gesehen hatten, starrten Kyoshi an, als sie aus der Dunkelheit hervorkam. Einer ließ seinen Schlagstock fallen und hob ihn hastig wieder auf. Kyoshi ging an den einfachen Wachleuten vorbei, beachtete das Geflüster nicht, nahm ihre Verbeugungen kaum zur Kenntnis, und trat zu Captain Li an der Tür. Er war ein blässlicher Mann, der diesen Job offensichtlich schon zu lange machte, wegen seiner Spielschulden aber noch nicht in den Ruhestand gehen konnte. »Die Absperrung ist eingerichtet«, keuchte er mit seiner Pfeifenraucherstimme. »Hier draußen gibt’s so weit keine Schwierigkeiten.«
Die meisten Bewohner des Unteren Rings gingen ihren Geschäften nach und kümmerten sich nicht um die anwesenden Gesetzeshüter, doch Kyoshi bemerkte ein paar, die mit gespieltem Desinteresse zusahen, wahrscheinlich Kundschafter anderer fragwürdiger Organisationen. Mit Captain Li zusammenzuarbeiten hieß, dass Kyoshi ihren Daofei-Eid stark strapazierte. Niemals würde sie ein Lakai des Gesetzes werden, das hatte sie ihrer älteren Daofei-Schwester Kirima geschworen, während ihr älterer Daofei-Bruder Wong eine Klinge über ihren Kopf gehalten hatte.
Allerdings war Li ihr Werkzeug, ihr Informant gewesen – nicht andersherum. Von ihm hatte sie alles erfahren, was sie gebraucht hatte, um ihre Rechnung mit Mok zu begleichen, und er hatte auch die nötigen Leute für die anschließende Razzia bereitgestellt. »Ist das Gebäude sicher?«, fragte Li. Er schob seinen Hut zurück und tupfte sich die Stirn mit dem Ärmelaufschlag ab.
»Die Triadenmitglieder sind alle besiegt und können weggeschafft werden«, sagte Kyoshi. »Ihr solltet einen Arzt kommen lassen.«
»Ich kümmere mich natürlich sofort darum«, antwortete Li. Am gelangweilten Tonfall konnte Kyoshi klar erkennen, wie wenig ernst er ihren Vorschlag nahm. Er hob die Finger an die Lippen und stieß einen Pfiff aus. »In Ordnung, Jungs! Holt das Gesindel da raus!«
Die Wachleute stürmten in den Wohnblock hinein. Sie hatten freie Bahn, nun, da Kyoshi jeden Winkel auf Gefahren überprüft hatte. Sie wartete geduldig auf das Ergebnis ihrer Arbeit. Die Triade der Goldenen Schwinge musste bei Tageslicht gezählt und katalogisiert werden. Alles Geheimnisvolle würde sich verflüchtigen, wenn man sie erst mal wie Reissäcke wegschleppte. Das hoffte sie zumindest.
Aus dem Dunkel Loongkaus drangen laute Stimmen und Kampfeslärm hervor. Zwei Polizisten zerrten einen Mann ins Freie, der nicht unter Kyoshis Angreifern gewesen war. Er war ärmlich gekleidet, allerdings fiel ihm eine Brille von der Nase. Er musste ein Juwelier oder Schneider gewesen sein, dass er sich so etwas Teures hatte leisten können.
Bevor sie etwas sagen konnte, wurde die Brille von einem Stiefel zermalmt. Mit wachsendem Schrecken sah Kyoshi zu, wie weitere Polizisten herauskamen. Sie führten eine Frau vor sich her, die Hand in ihrem Genick. Sie hatte ein weinendes Kind auf dem Arm. Der Mann mit den schlechten Augen hörte das Kind und fing an, sich im Griff der Wachleute zu winden.
Das waren keine Mitglieder der Triade. Es war eine der armen Familien, die in diesem Block lebten. »Was machen Eure Leute da?«, schrie Kyoshi in Lis Richtung.
Er blickte sie verwirrt an. »Wir entfernen das kriminelle Element. Gewisse Leute warten schon lange darauf, diesen Schandfleck abzureißen.« Er zögerte wie ein Feilscher, der nicht zu viel Geld ausgeben wollte. »Wollt Ihr auch einen Anteil? Da müsst Ihr meinen Ansprechpartner im Mittleren Ring fragen.«
Der Mittlere Ring. Auf einen Schlag begriff sie.
Jemand mit großen, lukrativen Plänen für Loongkau hatte die Einwohner aus dem Block entfernen wollen, hatte dafür aber einen Vorwand gebraucht. Diese Person hatte zugelassen, dass die Triade sich dort niederließ, damit das Gesetz und der Avatar sich einmischen würden. Und dann hatte er Captain Li bestochen, damit er Unschuldige und Verbrecher gleichermaßen herausschaffte.
»Hört auf!«, befahl Kyoshi. »Hört sofort damit auf!«
»Ach je«, jammerte Li ohne einen Funken Ehrlichkeit. »Das tut mir leid, Avatar, aber ich erfülle nur meine Pflicht. Ich habe die Befugnis, im eigenen Ermessen diese Räumlichkeiten von Verbrechern zu befreien.«
»Mama!«, schluchzte das kleine Mädchen – das war mehr, als Kyoshi ertragen konnte. »Papa!«
Kyoshi zog ihre Fächer und ließ sie aufschnappen. Dann hob sie aus der Schicht direkt unter dem Staub der Straße, wo der Lehm noch feucht und formbar war, Erdbrocken herauf. Faustgroße Klumpen schossen davon und klatschten Li und seinen Männern auf Mund und Nase, wo sie wie Maulkörbe haften blieben.
Die Wachen ließen die Familie los und griffen sich panisch ins Gesicht, doch gegen Kyoshis Erdbändigen konnten sie mit bloßen Fingern nichts ausrichten. Li sank auf die Knie, seine Augen traten hervor.
Allzu bald würden sie nicht ersticken. Kyoshi steckte ihre Fächer weg. Dann schritt sie langsam die Reihe der Wachen ab, riss jedem das Stirnband herunter und überprüfte die quadratischen Metallsiegel des Erdkönigs, die am Stoff befestigt waren.
In die Abzeichen aller Beamten von Ba Sing Se waren Identifikationsnummern eingraviert, ein Beleg für die ungeheure Bürokratie der Stadt. Obwohl diese Männer gerade immer weniger Luft bekamen, verstanden sie doch, was es bedeutete, dass sie ihnen ihre Stirnbänder abnahm und unter ihrer Robe verstaute. Sie musste nur zu einer Verwaltungsbehörde gehen und sich nach ihrer Identität erkundigen, dann würde sie sie später problemlos wiederfinden können. Die meisten Einwohner von Ba Sing Se hatten die Gerüchte gehört, was Avatar Kyoshi ausmachte und wie sie mit Menschen umging.
Li hob sie sich bis zum Schluss auf. Als sie die Runde gemacht hatte und endlich bei ihm ankam, war er bereits puterrot angelaufen. Sie riss ihm das Stirnband unter der Mütze hervor, dann ließ sie den Lehm von seinem Mund herabfallen und befreite auch seine Männer von ihren Knebeln. Lis Einheit stürzte geschlossen zu Boden, alle rangen nach Atem. Der Captain landete auf der Seite, sein Atem rasselte wie Würfel in einem Becher. Sie beugte sich über ihn, doch bevor sie etwas sagen konnte, schleuderte er ihr einen Namen entgegen, in der Hoffnung, dass sie ihn dann verschonen würde. Er hatte wirklich kein Rückgrat. »Wo – so lautet sein Name! Der Mann, der mich bezahlt, ist Minister Wo!«
Kyoshi musste die Augen schließen, um ihre Frustration zu verbergen. In Ba Sing Se musste es mindestens ein Dutzend Minister mit dem Namen Wo geben. Der Name allein brachte ihr gar nichts. Die Stadt war zu groß. Das Erdkönigreich war zu groß. Sie konnte mit der Korruption nicht Schritt halten, die aus allen Löchern drang.
Sie holte tief Luft. »Jetzt hört mir mal genau zu, Captain«, sagte sie, so ruhig sie konnte. »Ihr werdet die Triadenleute wegschaffen und sonst niemanden. Dann treibt Ihr Papier und Pinsel auf und schreibt mir ein umfassendes Geständnis, in dem Ihr von diesem Wo erzählt und jede Bestechung auflistet, die Ihr jemals von ihm gekriegt habt. Und jeder Pinselstrich nichts als die Wahrheit. Haben wir uns verstanden, Captain Li? Ich werde es mir hinterher ansehen. Und ich will, dass Ihr Euer ganzes Herzblut in dieses Geständnis legt.«
Er nickte. Kyoshi richtete sich auf und bemerkte, dass die Frau und ihre Tochter sie mit großen angsterfüllten Augen anstarrten. Sie machte einen Schritt auf sie zu, wollte sie fragen, ob sie verletzt waren.
»Fasst sie nicht an!« Der Mann, der seine Brille verloren hatte, warf sich zwischen Kyoshi und seine Familie. Nahezu blind, hatte er wohl nicht erkannt, dass sie nur helfen wollte. Oder er hatte es erkannt, glaubte aber dennoch, dass sie eine Bedrohung darstellte.
Weiter entfernt, um die Absperrung herum, hatte sich eine Schar von Schaulustigen versammelt. Sie tuschelten und frische Gerüchte nahmen ihren Anfang: Der Avatar hatte nicht nur die Bewohner Loongkaus auseinandergenommen, Kyoshi hatte auch ihren unersättlichen Zorn gegen die Polizisten des Erdkönigs gerichtet.
Die Blicke der gewöhnlichen Bürger und der verängstigten Familie ließen ihre Haut kribbeln, verursacht durch ein Gefühl, das korrupte Männer wie Li oder Mok nie bei ihr hätten auslösen können. Es war Scham. Sie schämte sich dessen, was sie getan hatte, was sie war.
Ihr Make-up verbarg die Röte ihrer Wangen und die Furchen in ihrer Stirn. Ein letztes Mal legte sie Li vielsagend die Hand auf die Schulter, dann ging sie so gemächlich, wie sie gekommen war. Sie ließ Loongkau zurück wie eine teilnahmslose Statue auf dem Rückweg zu dem Altar, der sie zum Leben erweckt hatte. Die Farbe in ihrem Gesicht verbarg jedoch die Wahrheit, die sich auf ihren Zügen abzeichnete: Sie floh vom Schauplatz ihres Verbrechens, während ihr Herzschlag drohte, ihren Brustkorb zu zertrümmern.
WER SICH DARÜBER BEKLAGTE, wie lange man brauchte, um Ba Sing Se zu durchqueren, rechnete gewöhnlich die verstopften Straßen mit ein. Für Kyoshi stellten sie kein Problem dar: Menschenmengen teilten sich vor ihr wie das Gras vor dem Wind.
Außerdem stand ihr eine Abkürzung zur Verfügung: Sie konnte Wasser bändigen und mit einem provisorischen Floß die Regenwasserkanäle nutzen, die aus dem Oberen Ring bis ganz nach unten in die Ackerbauzone führten, wo mit dem Wasser die Pflanzen bewässert wurden. Das ging extrem schnell, sofern man den abgestandenen Geruch aushalten konnte.
Gegen Abend erreichte sie den Mittleren Ring. Trotz der Tatsache, dass die Häuser hier alle Hausnummern hatten und die Straßen nach einem ordentlich geplanten Schema verliefen, fand sie sich zwischen den einförmigen, weiß gestrichenen Gebäuden mit ihren grünen Dachziegeln nur schwer zurecht. Ihr Weg führte sie über hübsche Brücken, die sich über sanft dahinströmende Kanäle spannten, an Teehäusern vorbei, aus denen der Duft von Jasminblüten strömte, und unter Bäumen hindurch, die ihre blassrosafarbenen Blüten auf die Wege streuten. Während ihrer Kindheit in der Gosse von Yokoya hatte Kyoshi sich das Paradies ziemlich genau wie den Mittleren Ring vorgestellt: sauber, ruhig, und wohin man blickte, gab es etwas zu essen.
Ladenbesitzer, die gerade ihre Böden fegten, blickten überrascht zu ihr auf, wandten sich aber bald wieder ihrer Arbeit zu. Sie kam an einer Schar schnatternder Schüler in dunklen Roben vorbei, die in ihre Richtung glotzten und sich mit den Ellenbogen anstießen, ihrem Blick aber nicht auswichen. Menschen, die sich in ihrer Stellung im Leben wohlfühlten, neigten weniger zur Furcht. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Gefahr in irgendeiner Gestalt auf ihrer Türschwelle erscheinen könnte.
Kyoshi schlüpfte ungesehen in eine dämmrige Nebenstraße. Mit einem Schlüssel, den sie in ihrer Schärpe aufbewahrte, öffnete sie eine schlichte Tür ohne Namensschild oder ein sonstiges Kennzeichen. Sie gelangte in einen Hausflur, ebenso verwinkelt und voller Treppen wie Loongkau, dabei jedoch wesentlich sauberer. Am Ende fand sich ein Durchgang zu einer kleinen Wohnung im ersten Stock, in dem lediglich ein Bett und ein Schreibtisch standen. Dieses Zimmer gehörte zu den diversen Immobilien, die Jianzhu ihr hinterlassen hatte, und es diente ihr als Unterschlupf, in dem sie die Nacht verbringen konnte, wann immer sie sich nicht offiziell bei der Dienerschaft des Erdkönigs anmelden wollte. Sie schnallte ihre Armschienen ab und warf sie im Vorbeigehen aufs Bett.
Dann ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und warf die entwendeten Stirnbänder auf den Tisch. Die Abzeichen klirrten wie beim Glücksspiel gewonnenes Geld. Mit mehr Vorsicht legte sie ihren Kopfschmuck ab. Eine Brise fuhr ihr durchs Haar. Sie kam durch das Fenster hereingeweht, von dem aus sie den Unteren Ring in seiner ganzen Weite und Armut überblicken konnte: Gerade versank die Sonne hinter den braunen Verschlägen und Hütten, die sich auf dem Land ausbreiteten wie Leder, das in der Sonne trocknet.
Ihre Wohnung besaß eine ungewöhnliche Lage. Viele Häuser des Mittleren Rings boten keinen Ausblick auf den Unteren Ring. Die Händler und Bankiers, die in diesem Distrikt lebten, gaben viel Geld aus, um sich den unerfreulichen Anblick zu ersparen.
Kyoshis Finger entwickelten ein Eigenleben und bildeten ordentliche Stapel aus den Abzeichen. Eine dumpfe Erschöpfung machte sich schmerzhaft pochend in ihrem Kopf breit. Heute war eine weitere Bürde auf ihrem Stapel von Aufgaben und Verantwortungen gelandet: Sie würde Loongkau noch einen Besuch abstatten müssen, um zu schauen, ob alle Einwohner sicher waren und nicht von irgendwem aus ihren Behausungen vertrieben worden waren. Außerdem würde sie Lis Hinweis nachgehen müssen, sonst würden der Captain und seine Unterstützer davon ausgehen, dass sie bloß warten mussten, bis der Avatar wie eine Wolke über ihren Köpfen weitergezogen war, ehe sie ihre korrupte Aktivität wieder aufnehmen konnten.
Sie wusste, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Sich einen einzelnen korrupten Gesetzeshüter in Ba Sing Se herauszugreifen, war im Großen und Ganzen nicht effektiver, als würde man einen Regentropfen aus dem Ozean schöpfen. Es sei denn …
Es sei denn, sie statuierte ein Exempel an Li und demjenigen, der ihn bestochen hatte. Sie könnte ihnen so sehr zusetzen, dass sich herumsprach, was geschah, wenn der Avatar jemanden erwischte, der wehrlose Menschen zu seinem eigenen Vorteil ausbeutete.
Es wäre schnell. Effizient. Brutal.
Jianzhu hätte so etwas sicher gutgeheißen.
Kyoshi schlug mit beiden Händen auf den Tisch. Die aufeinandergestapelten Abzeichen fielen klappernd auf die Tischplatte. Wieder einmal war sie in die Denkweise ihres verstorbenen »Gönners« verfallen. Ihre eigene Stimme hatte ihr seine Worte zugeflüstert, so inniglich, wie die Avatare angeblich mit ihren früheren Inkarnationen sprechen konnten.
Sie zog eine Schublade auf und holte ein Handtuch hervor, das in einer kleinen Schale mit einer speziellen Lösung gelegen hatte. Sie zog das feuchte Tuch mit Nachdruck über ihr Gesicht und versuchte, zusammen mit dem Make-up auch den tiefer liegenden Schmutz wegzuwischen, den sie in ihrem Inneren spürte.
Angewidert schauderte sie. Sie hatte Li mit genau der gleichen Technik den Atem geraubt, die Jianzhu gegen sie angewandt hatte. Eigentlich hätte sie einen heftigen Widerwillen empfinden müssen, schließlich wusste sie, wie sich das anfühlte: langsam zu sterben, während die eigene Lunge kollabierte. Beim Umgang mit Li war sie so leicht in Jianzhus Haut geschlüpft wie in ihre Kleider.
Die ebenso ein Geschenk von ihm gewesen waren.
Wieder schlug sie mit der Faust auf den Tisch und hörte, wie das Holz protestierend knirschte. Es kam ihr so vor, als führte jeder Schritt, den sie als Avatar tat, in die falsche Richtung. Kelsang hätte niemals Gewalt als Taktik in Erwägung gezogen. Er hätte versucht, die Lage der Bewohner von Loongkau und des Unteren Rings zu verbessern, bis sie der Herrschaft der Triade und der Unterdrückung seitens des Mittleren Rings etwas hätten entgegensetzen können. Er hätte als ihre Stimme fungiert.
Das war es, was Kyoshi tun musste: im Wesentlichen das Gleiche, was Kelsang für sie getan hatte, das verlassene Kind, das er in Yokoya gefunden hatte. Es war die richtige Vorgehensweise und auf lange Sicht am effektivsten.
Nur würde es dauern. Eine sehr … sehr lange Zeit.
Jemand klopfte an die Tür. »Herein«, sagte sie.
Ein junger Mann öffnete die Tür. Er trug das wallende orangefarbene Gewand der Luftnomaden. »Geht es Euch gut, Avatar Kyoshi?«, fragte Mönch Jinpa. »Ich habe Lärm gehört und … aah!«
Der Papierstapel, den er im Arm hatte, flog in die Luft, als er erschrocken zusammenzuckte. Kyoshi fing an, Kreisbewegungen mit der Hand zu vollführen, bändigte die Luft und fing die Papiere in einem Miniaturtornado ein, bevor sie sich im ganzen Raum verteilen konnten. Jinpa überwand seine Überraschung, fuhr mit den Händen von unten aufwärts durch den Luftwirbel und legte so den Stapel wieder zusammen – allerdings ragten nun überall die Ecken heraus.
»Verzeiht, Avatar«, sagte er, nachdem er ihre Post zusammengeklaubt hatte. »Ich war überrascht wegen Eures, äh …« Er deutete auf sein eigenes Gesicht, um nicht unhöflich auf ihres zeigen zu müssen.
Sie hatte den Rest der Schminke noch nicht fertig abgewischt. Wahrscheinlich sah sie wie einer jener Schädel aus, die Ärzte zur Veranschaulichung verwendeten, die Hälfte der Haut heruntergezogen. Kyoshi griff nach dem Tuch, um die Arbeit zu beenden. »Mach dir nichts draus«, sagte sie und fuhr vorsichtig mit dem Tuch an ihrem Augenwinkel entlang, damit sie nichts von dem Präparat, das die Farbe auflöste, ins Auge bekam.
Jinpa widersetzte sich ihrem Befehl und blickte weiterhin besorgt drein. »Außerdem blutet Ihr am Hals.«
Ach ja. Genau. Mit ihrer freien Hand öffnete sie einen Fächer und zielte mit dem Blatt auf die Garrottenwunde an ihrer Kehle. Durch Erdbändigen wurden die Glassplitter aus ihrer Haut gezogen und ballten sich vor ihr zu einem Klumpen zusammen. Einen Moment lang schwebte er in der Luft, dann fiel er zu Boden, als sie ihre Aufmerksamkeit einem Krug in ihrer Nähe zuwandte.
Ein dünner Wasserstrahl schlängelte sich aus dem Gefäß hervor und legte sich um Kyoshis Hals. Das Wasser war kühl und linderte den Juckreiz. Sie konnte spüren, wie sich ihre Haut wieder zusammenfügte. Jinpa sah ihr mit großen, sorgenvollen Augen bei ihrer kruden Selbstverarztung zu.
»Müsste Heilwasser nicht leuchten?«, fragte er.
»Hab ich noch nie hingekriegt.« Die Büchereien des Anwesens in Yokoya waren voller dicker Schwarten, die die medizinische Nutzung des Wasserbändigens behandelten, aber Kyoshi hatte bisher weder Zeit noch einen ordentlichen Lehrer gehabt, um sich dieses Wissen anzueignen. Trotzdem hatte sie so viele der Texte gelesen, wie sie konnte, und die Wunden, die sie sich als Avatar einhandelte, gaben ihr reichlich Anlass, an sich selbst zu üben.
Eines hatte sie sich jedenfalls geschworen: Wie begrenzt ihr Wissen auch sein mochte oder wie unzureichend ihre Technik – nie wieder würde sie tatenlos zusehen, wie jemand, der ihr etwas bedeutete, vor ihren Augen einfach starb.
Sie schleuderte das Wasser in den Krug zurück und fuhr mit dem Finger über die Narbe, die an ihrem Hals zurückgeblieben war. Wenn das so weitergeht, seh ich bald wie Tante Muis Flickendecke aus. Die Narbe würde sie mit mehr Make-up oder einem höheren Kragen verstecken können. Die fleckigen, geheilten Brandwunden an ihren Händen, die sie Xu Ping An zu verdanken hatte, erinnerten sie jedoch daran, dass ihr bald die Körperteile ausgehen würden, an denen sie sich verletzen und die sie dann verstecken könnte. »Was gibt es für Neuigkeiten?«
Jinpa nahm Platz und zog einen der vielen an den Avatar gerichteten Briefe heraus, deren Siegel er bereits gebrochen hatte. Dieses Privileg hatte sie ihm eingeräumt. Während sie sich zum ersten Mal als Avatar im Südlichen Lufttempel aufgehalten hatte, hatte er ihr fortwährend mit der Planung und Kommunikation geholfen. Irgendwann hatten die Älteren seines Ordens nur noch mit den Schultern gezuckt und ihn offiziell als Kyoshis Sekretär eingesetzt. Ohne seine Hilfe wäre sie völlig überfordert gewesen und irgendwann einfach zusammengebrochen.
»Statthalter Te berichtet untertänigst: Das Dorf Zigan hat seine vormals höchste Einwohnerzahl überschritten und kann sich nun einer neuen Schule und einer Kräuterklinik rühmen, die den ärmsten Bürgern beide unentgeltlich zur Verfügung stehen«, las Jinpa laut vor. »Na, so was. Die Familie Te ist nicht gerade für ihre Großzügigkeit bekannt. Ich frag mich, was plötzlich in den jungen Sihung gefahren ist.«
Ja, was nur? Te Sihung hatte als erster Amtsinhaber des Erdkönigreichs erfahren, dass Kyoshi der Avatar war – kurz nachdem sie beschlossen hatte, ihn beim Überfall der Daofei auf sein Haus nicht zu ermorden. Gleich nach ihrer öffentlichen Enthüllung hatte sie Te klargemacht, dass er nach wie vor in ihrer Schuld stand und sie ihn weiterhin beobachten würde. Das Wissen, dass seine Macht ihn nicht immun gegen Konsequenzen machte, hatte anscheinend sein Mitgefühl und sein Können als Statthalter beflügelt.
Gute Neuigkeiten waren derzeit selten. »Was noch?«, fragte sie Jinpa in der Hoffnung auf mehr.
Er zog den Mund schief. »Der Rest der Briefe sind Ersuche um Audienzen von Adligen, die Ihr bereits abgewiesen oder gar nicht erst beachtet habt.«
»Alle?« Sie beäugte den hohen Papierstapel und runzelte die Stirn.
Jinpa zuckte mit den Schultern. »Ihr habt bereits eine Menge Adlige abgewiesen oder ignoriert. Die Leute des Erdkönigreichs sind eben besonders hartnäckig.«
Kyoshi widerstand dem Drang, den ganzen Stapel in Brand zu setzen. Sie musste nicht alle Briefe lesen, um zu wissen, dass jeder einzelne irgendeine Forderung stellte, dass der Avatar in einer geschäftlichen, politischen oder finanziellen Angelegenheit zugunsten des Schreibers entscheiden möge.
Das hatte sie schon nach den ersten paar Stichproben verstanden. Wann immer Kyoshi eine unverfängliche Einladung zu einem Bankett akzeptierte, eine spirituelle Zeremonie leitete oder einen neuen Kanal oder eine Brücke segnete, kam irgendwann der Gastgeber, der Statthalter oder der mit dem größten Landbesitz – oftmals handelte es sich dabei um ein- und dieselbe Person – und wollte mit ihr unter vier Augen über materielle Dinge sprechen, mit denen sie Kuruk oder die große Yangchen niemals behelligt hätten. Aber Kyoshi war ja nicht wie die anderen, richtig? Sie verstand, wie im Erdkönigreich Geschäfte gemacht wurden.
Sie verstand es tatsächlich. Das bedeutete allerdings nicht, dass es ihr auch gefiel. Dieselben Weisen, die Jianzhus letztem Willen und Testament zum Trotz vehement ihre Avatarschaft abgestritten hatten, dieselben Adligen, die sie des Betrugs bezichtigt hatten, obwohl sie mit angesehen hatten, wie Kyoshi Wasser und Erde über ihrem Kopf herumwirbeln ließ, sie alle wurden schlagartig zu wahrhaftigen Gläubigen, wenn sie annahmen, dass es ihnen helfen würde, sich innerhalb der endlosen Hierarchien des Erdkönigreichs mehr Wohlstand und Macht einzuverleiben. Der Avatar konnte ein Urteil darüber fällen, wo die Grenze zwischen zwei Provinzen zu liegen hatte und welcher Statthalter auf reichem Getreideland die Steuern eintreiben können würde. Der Avatar konnte einer Handelsflotte helfen, ihre Route schneller und sicherer zu bewältigen und so das Leben der Seeleute schützen, doch am Ende sicherte sie so vor allem den Auftraggebern gewaltige Profite.
Kyoshi hatte schon bald gelernt, solche Gesuche zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was sie mit ihren eigenen Händen erreichen konnte. »Diese Nachrichten können warten«, sagte sie. Insgeheim hoffte sie, die ganze Korrespondenz würde einfach verpuffen, wenn sie nur hinreichend kalt und herrisch klang.
Jinpa bedachte sie mit einem sanften, aber tadelnden Blick. »Avatar … Ihr mögt mir verzeihen, aber ein wenig müsst Ihr Euch schon mit den gehobenen Kreisen abgeben. Ihr könnt Euch der Frage nach der Führung des Erdkönigreichs nicht auf ewig entziehen.«
Das Erdkönigreich hat keine Führung, dachte Kyoshi. Ich hab geholfen, denjenigen umzubringen, der einem Anführer am nächsten gekommen wäre.
»Die Pflichten, die Ihr in Eurer Position habt, gehen über die eines mächtigen Bändigers hinaus«, fuhr er fort. »Ihr habt das Land von den größten Banditengruppen befreit, und wie Ihr diesen Mok aufgespürt und davon abgehalten habt, weiterhin Unschuldige zu verletzen, war höchst beeindruckend. Aber jetzt verausgabt Ihr Euch nur noch und mischt immer wieder dieselben Halunken auf. Den Boden des Verbrechensfasses zu schrubben, ist das denn wahrhaftig schon das Beste, was Ihr für die Vier Nationen tun könnt? Ganz zu schweigen von den Risiken für Eure persönliche Sicherheit.«
»Davon verstehe ich eben was.« Und nur so kann ich sicher sein, dass das, was ich tue, richtig ist.
Dieses Gespräch hatten sie bereits geführt, und zwar viele Male, doch Jinpa wurde es nicht müde, immer wieder davon anzufangen. Anders als die anderen Luftnomaden, die sie kennengelernt hatte und die ihre Loslösung von der Welt sehr schätzten, trieb er sie immer wieder an, sich eingehender mit ebenjenen zu befassen, die sie ausnutzen wollten. Er war nicht viel älter als Kyoshi, etwas über zwanzig, daher war es seltsam, wenn er mit ihr sprach wie ein Politiklehrer mit einem widerspenstigen Schüler.
»Irgendwann müsst Ihr auf einer größeren Bühne stehen«, sagte Jinpa. »Der Avatar schlägt Wellen in der Welt, ob er will oder nicht.«
»Ist das so eine Redensart bei deinen mysteriösen Freunden, von denen du mir nichts erzählst?«
Angesichts ihres ungeschickten Versuchs, das Thema zu wechseln, zuckte er nur mit den Schultern. Auch das frustrierte sie an Jinpa: Anders als Kirima oder Wong ließ er sich nicht auf irgendwelche Wortgefechte mit ihr ein. Er hatte zu viel Respekt vor ihr – ein Problem, das ihre alten Gefährten nicht gekannt hatten, selbst dann nicht, als sie erfahren hatten, dass sie der Avatar war.
Sie fragte sich, was geschehen würde, wenn der Mönch jemals die übrig gebliebenen Mitglieder der Fliegenden Operngesellschaft kennenlernte. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er ihnen seine Hilfe anbieten würde, um ihrem Daofei-Leben zu entkommen. Und im Gegenzug würden sie wahrscheinlich versuchen, ihm seinen Bison zu klauen.
Nur eines würde sie dazu bewegen können, mit den Weisen zu sprechen. »Es steht aber in keinem Brief irgendwas über …«
»Meister Yun? Leider nicht. Er bleibt weiterhin verschollen.«
Kyoshi ließ ihren Atem langsam durch die Zähne entweichen. Während der Zeit, als die Welt noch geglaubt hatte, Yun wäre der Avatar, hatte er einen großen Aufwand betrieben, mit der Elite des Erdkönigreichs zu verhandeln. Was bedeutete, dass nur sie sein Gesicht kannten. Einen Mann irgendwo im Erdkönigreich aufzuspüren, wenn niemand wusste, wie er aussah, und ihnen einen Hinweis geben konnte, war so, als versuchten sie, in einer Kiesgrube einen bestimmten Kiesel zu finden. »Dann sollten wir die ausgesetzte Belohnung noch einmal erhöhen.«
»Ich weiß nicht, ob das was bringt«, entgegnete Jinpa. »Die prominenten Persönlichkeiten des Erdkönigreichs haben einen großen Gesichtsverlust hinnehmen müssen, weil sie Meister Yun fälschlicherweise als Avatar eingestuft haben. An ihrer Stelle würde ich gar nicht wollen, dass er wieder auftaucht. Ich würde so tun, als wäre das alles nie passiert. Ich hab gehört, Lu Beifong würde niemandem in seinem Haushalt, nicht einmal Gästen, erlauben, von Jianzhu oder seinem Schüler zu sprechen.«
Für einen Luftnomaden bekam Jinpa erstaunlich viel politischen Klatsch zu hören, aber gewöhnlich stimmten seine Beobachtungen. Lu – wie ein verfluchter Dorn im Auge