Avatar – Der Herr der Elemente: Das Vermächtnis von Yangchen (Die Avatar-Chroniken 4) - F. C. Yee - E-Book

Avatar – Der Herr der Elemente: Das Vermächtnis von Yangchen (Die Avatar-Chroniken 4) E-Book

F.C. Yee

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Beschreibung

"Das Vermächtnis von Yangchen" ist der vierte Roman aus der Avatar-Chroniken-Reihe von F. C. Yee und der zweite, der sich auf das Leben von Avatar Yangchen konzentriert. Avatar Yangchen ist es gelungen, Bin-Er ein gewisses Maß an Stabilität zu bringen, aber ihre Erfolge beschränken sich auf eine einzige Stadt. Gerüchte über die "Eintracht" – eine Waffe, die zur totalen Auslöschung fähig ist – haben zu wachsenden Spannungen zwischen den Vier Nationen geführt. Verzweifelt versucht Yangchen, die Feindseligkeiten zwischen den Staatsoberhäuptern zu beschwichtigen. Doch nach einem brutalen Attentat ist Yangchen gezwungen, Kavik – den vertrauten ehemaligen Gefährten, dessen Verrat sie einst erschüttert hat – wieder in ihre Reihen aufzunehmen. Während die Vier Nationen am Rande eines Konflikts stehen und Yangchen beginnt, die wahren Absichten des machthungrigen Zongdu Chaisee zu enträtseln, ist sie gezwungen zu überlegen, wie viel im Namen des Gleichgewichts geopfert werden kann.

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Seitenzahl: 489

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FÜR KAREN,DIE MEINE GESAMTE BISHERIGEKARRIERE MITERLEBT HAT.UND DER ICH AUCH GERN DENREST DAVON ZEIGEN WÜRDE.

Inhalt

TIEFEN

ANBETUNG

UNTER FREUNDEN

DIE GEISTEROASE

WAS ZUVOR GESCHAH

AM SELBEN TISCH

VERWECHSELTE IDENTITÄT

IM ALTEN REVIER

EIN VERRÄTERISCHES ZEICHEN

GRAVITATION

DIE ZWEITE OPTION

DAS DUELL

SCHADENSBEGRENZUNG

SCHLECHTE GESELLSCHAFT

DER EIDBRECHER

EINE FRAGE DER EHRE

GEKÖDERT

AM HAKEN

GELANDET

ANONYMITÄT

SCHRITT HALTEN

VERBUNDENHEIT

INDIZIEN UND BEWEISE

PRIMÄRQUELLEN

DER PREIS

NACHBEBEN

VERLUST

DIE FALLE

DAS VERKAUFSGESPRÄCH

DIE SEITE WÄHLEN

VERLUSTE

WER ZUERST BLINZELT

DIE LUST AUF BITTERES

DAS BEGRÄBNIS

WAHRHEIT

DER WEG NACH VORN

ATEMPAUSE

DANKSAGUNGEN

EIN INTERVIEW MIT F. C. YEE, AUTOR DER AVATAR-CHRONIKEN

TIEFEN

CHAISEE WUSSTE VON FRÜH AN: Wenn man erfolgreich sein wollte, musste man gewillt sein, weiter zu gehen, als andere es für möglich hielten.

Die Dorfbewohner ihrer kleinen namenlosen Insel etwa tauchten nach den geschätzten Gurkenschwämmen, weit unterhalb der funkelnden Wasseroberfläche, wo das Sonnenlicht verblasste und einem die Ohren zu platzen drohten. Niemand im Mo-Ce-Meer hielt ein derartiges Kunststück für machbar oder glaubte, es sei das Risiko wert.

Doch Chaisees Leute scherten sich nicht um die allgemeingültige Weisheit. Ohne sich des Wasserbändigens zu bedienen, trainierten sie den Körper, bis er den Druck aushielt, und den Geist darauf, die Zeichen des nahenden Todes anzunehmen. Tauchgang um Tauchgang drangen sie tiefer vor und schürften sich an den schleimigen Kanten des Riffs die Hände auf, um mit jenen kleinen runden Wesen an die Oberfläche zurückzukehren, die, sorgsam getötet und getrocknet, eine hübsche Stange Geld auf dem offenen Handelsmarkt einbringen würden.

Dieses Unterfangen, das oft tödlich endete, wagten sie und die anderen Dörfler bereitwillig wieder und wieder, auf dass sie für eine weitere Jahreszeit etwas zu essen hatten. Und weit entfernt lebende Adlige wuschen sich mit der getrockneten Außenhülle der Gurkenschwämme das Gesicht, genossen das sanfteste Gefühl auf der Haut, das man in den Vier Nationen kannte. Es war eine Vereinbarung von beidseitigem Nutzen, die einerseits auf dem Willen der einen Partei gründete, sich selbst zu quälen, und andererseits dem gründlichen Widerwillen der anderen Seite, auch nur das geringste Maß an körperlichem Unbehagen zu empfinden.

Als Chaisee älter wurde, begann sie, sich um die Geschäftsbücher des Dorfs zu kümmern. Von ihrem Vater übernahm sie die Verhandlungen mit den Spediteuren, die kamen, um die Schwämme, die Perlen und das getrocknete Schalentierfleisch abzuholen. Das Geheimnis lag darin, andere Anbieter auszuspionieren und unbekannte Inseln als Verstecke zu nutzen, um die Marktpreise zu kontrollieren. Sie hatte keinen Grund zu dem Verdacht, dass irgendetwas künftig dieses Arrangement stören könnte, abgesehen von einem gelegentlichen Monsun.

Das Schiff, das den Kreislauf durchbrach, kam mit durchlatteten Segeln und einem geschwungenen Vordeck daher. Merkwürdigerweise trug es die Flaggen sowohl der Feuernation als auch des Erdkönigreichs. Die Mannschaft, die in Langbooten übersetzte, wurde von Junior-Botschaftern aus beiden Ländern angeführt. Vor Chaisees versammeltem Dorf verlasen sie die Erklärung, dass die Bewohner nicht länger die Erlaubnis hätten, bestimmte Meereswaren zu produzieren. Es war höchst selten, dass eine Vereinbarung wie diese zwischen dem Erdkönig und dem Feuerlord zustande kam. Man hatte irgendeinem Kaufmann die exklusiven Rechte zugebilligt, von dem sie noch nie gehört hatten; er lebte in einer fernen Stadt, die ringsum von Land umgeben war.

»Das kann nicht sein«, sagte Chaisees Vater und gebot seiner Tochter mit erhobener Hand zu schweigen. Plötzlich war er wieder der Verhandlungsführer. »Wir protestieren gegen diese Entscheidung. Ihr müsst uns zumindest die Chance geben, ein Antwortschreiben aufzusetzen.« Um Zeit zu gewinnen, griff er auf die Gastfreundschaftssitten der Insel zurück. »Wir wollen Euch heute Abend als Ehrengäste empfangen. Übers Geschäft können wir am Morgen sprechen.«

Die Funktionäre stimmten zu. Sie mussten ohnehin ihre Vorräte aufstocken und frisches Wasser an Bord bringen. Während der Quartiermeister den Kauf und die Verladung der Güter verhandelte, wurde in aller Eile ein Festmahl für die wichtigen Besucher und ihre Mannschaft vorbereitet.

Die allgemeine Nervosität unter den Dorfleuten ließ nach, während sie um das Feuer auf dem Marktplatz saßen und gutes Essen und Getränke mit den Seeleuten teilten. Das Mahl würde die Fremden daran erinnern, dass auf dieser Insel Familien wie ihre eigenen lebten und dass ein Maß an Menschlichkeit über Anweisungen aus der Ferne siegen sollte.

Chaisee war nicht mit ganzem Herzen bei der Sache. Sie hielt sich abseits und beobachtete, wie es ihre Gewohnheit war. Daher hatte sie auch einen guten Blick auf das Geschehen, als einer der Seemänner eine Fackel hob und sie in die größte Hütte schleuderte, so wie man einem Wachtier einen Knochen hinwerfen würde. Sie war zu langsam, um ihn aufzuhalten oder die Stimme zu erheben.

Dies war das Gebäude, in dem die Gurkenschwämme zum Trocknen gelagert wurden, und in ihrem Rohzustand übertrafen die staubigen, porösen Körper der Meereswesen den besten Zunder. Brausend ging das Dach in Flammen auf und im Nu sprangen Hitze, Funken und Glut auf die angrenzenden Hütten über. Das Feuer breitete sich so schnell aus, dass das halbe Dorf lichterloh brannte, noch ehe die ersten Schreie laut wurden.

Die Reaktion der Botschafter, die offenkundig den Befehl gegeben hatten, brannte sich in Chaisees Erinnerung ein; ihre Gesichter erhellt von den aufblühenden, tanzenden Flammen. Sie rollten mit den Augen, schnaubten verächtlich und reisten so still wieder ab, wie sie gekommen waren, bestenfalls verärgert über die ganze Angelegenheit. Chaisees Vater war zu aufgelöst und zu sehr damit beschäftigt, das Feuer zu löschen, um die Fremden aufzuhalten. Ungehindert erreichten sie ihre Langboote und verließen die Küste.

Chaisee blickte der Delegation nach und begriff, dass eine Konfrontation zu nichts geführt hätte. Die Dokumente, die sie mit sich führten, verliehen ihnen die Macht und die Stimme ihrer Herrscher. Es hatte hier kein Verbrechen gegeben; dass die Lebensgrundlage des Dorfs zu Asche verbrannte, war lediglich die Ausübung des Gesetzes. Ebenso gut hätte Chaisee versuchen können, von den Oberhäuptern der Vier Nationen selbst Gerechtigkeit einzufordern. Welcher Narr würde darin seine Hoffnung setzen?

Wir waren nicht stark genug, um das hier zu verhindern, dachte sie, während ihre Nachbarn verzweifelt versuchten, Wasser zum Feuer zu tragen, in Eimern, Kalebassen und hohlen Händen. Sie weinten, während ihre Zukunft in Rauch aufging. Wir hatten nicht die richtigen Freunde.

Sich selbst bis zur Besinnungslosigkeit zu schinden hatte keinen Zweck, wenn man das Leben, das man sich aufgebaut hatte, nicht verteidigen konnte. Manöver, Geschäfte, Verhandlungen waren bloß Tanzschritte. Bedeutungsloses Gehabe. Der wahre Lenker, der am Ende der Aufführung wartete, war Gewalt.

Das zerstörte Dorf war ein Brennofen, in dem die erteilte Lektion aushärtete. Chaisee behielt das im Gedächtnis, während sie auf Inseln, die näher am Archipel der Feuernation lagen, nach Arbeit suchte. Die Form, die dadurch um sie herum erstarrt war, blieb fest und frei von Rissen, während sie sich im Handelswesen einen Namen machte. Sie meisterte das Geschäftsgebaren aller Länder und sammelte Druckmittel, die sie gegen Partner wie Freunde einsetzen konnte. Als die Platin-Affäre die ganze Welt umspannte, erkannte sie schnell die sich bietenden Gelegenheiten und sah korrekt voraus, wie sich dadurch die Macht noch stärker in wenigen Händen konzentrieren würde.

Als sie sich schließlich als Kandidatin für die Rolle des Zongdu in Jonduri qualifiziert hatte, war der Krieg bereits ausgefochten und gewonnen. In den Köpfen der Shangs war Chaisee die einzige vernünftige Wahl, die Stadt zu leiten. Ihre Nominierung erfolgte einstimmig.

In vielerlei Hinsicht besaß Zongdu Henshe, ihr Amtskollege in Bin-Er, eine sehr ähnliche Einstellung wie sie. Zwar war er ein Narr, der Informationen und Ressourcen ohne jede Rücksicht auf Strategie oder langfristige Konsequenzen verschleuderte, aber er hatte ihre Pläne erfolgreich zum Stillstand gebracht, indem er gedroht hatte, alles, was er wusste, an den Erdkönig weiterzugeben. Er hatte die Früchte ihrer Arbeit gestohlen, ihre Mittel, um sich vor jeglichem Unheil zu schützen, wie ihr kleines Kindheitsdorf es nicht vermocht hatte.

Henshe mit seinem Eigensinn hatte für sie eine größere Bedrohung dargestellt als alle anderen brillanten Männer und Frauen, mit denen sie in der Vergangenheit aneinandergeraten war. Bei den Weisen konnte man sich wenigstens darauf verlassen, dass sie weise handelten; was ein Hanswurst tun mochte, stand in den Sternen. Doch nun war Henshe fort und mit ihm ihre Vermögenswerte. Ihr war kein möglicher Spielzug geblieben. Sie konnte nur dasitzen und warten.

»Herrin.« Chaisees neueste Dienerin kündigte sich selbst an und verharrte auf der verzogenen Bodendiele bei der Tür zum Kinderzimmer. Jede Regung ihrer besockten Füße rief ein unangenehmes Quietschen hervor, als litte ein Vogel Qualen. »Herrin, Ihr habt einen …«

Das Baby wachte auf. Ein schrilles Heulen drang aus der Wiege aus Teakholz, die in der Ecke stand.

Chaisee rieb sich die Stirn, wobei sie Acht gab, dass sie ihr Gesicht nicht komplett bedeckte. »Ich hatte ihn gerade erst zum Einschlafen gebracht!« Um gehört zu werden, musste sie die Stimme erheben, was sie früher nie getan hatte.

»Verzeiht, Herrin, aber Ihr habt einen Brief …«

»Lass ihn hier und verschwinde!« Die Dienerin hastete ins Kinderzimmer, legte den Umschlag auf den Schreibtisch und floh um ihr Leben.

Das Mädchen sah nicht mehr, dass Chaisee die grimmige Miene sofort wieder fallen ließ. Es würde Feuerlord Gonryu berichten, dass die Belastung allmählich Spuren hinterließ und Chaisee mehr Emotionen zeigte, als typisch für sie war. Womöglich war sie frustriert mit ihrem Kind. Abgelenkt und somit eine geringere Bedrohung.

Nichts hätte der Wahrheit ferner sein können. Chaisees Sohn ermahnte sie immerzu, dass sie fokussiert bleiben musste. Und sein Weinen war die perfekte Abschreckung für Lauscher. Mit viel Zeit und einer Ruhe, als hörte sie der Serenade eines plätschernden Bachs zu, öffnete sie den Brief. Sie zog einen Stuhl zur Wiege, brachte sie sanft zum Schaukeln und begann zu lesen.

Der Brief enthielt nur Unsinn, war jedoch in einer Handschrift verfasst, die sie wiedererkannte, und barg versteckte Zeichen, die ihr genau verrieten, wo sie den Absender finden würde.

Ihr Sohn beruhigte sich, doch sie wusste, er würde sofort wieder losheulen, wenn sie ihn nicht weiterwiegte. Vielleicht neigte seine Haut zum Ausschlag. Eine entmutigende Aussicht; sie badete ihn ja bereits mit Gurkenschwämmen, die heutzutage viel teurer waren als in ihrer Kindheit. Sie verbrauchte eine solche Menge, dass ihr jüngeres Selbst erschrocken nach Luft geschnappt hätte, es gab aber nun einmal keine sanfteren Dinge, die sie hätte verwenden können.

Chaisee faltete das Papier mit einer Hand wieder zusammen und blickte sich um. Das Kinderzimmer, das sie in dem Anwesen auf dem Berggipfel eingerichtet hatte, war dunkel und kühl, eine Wohltat nach der brütenden Hitze draußen. Das gesamte Haus würde allerdings auf den nächsten Zongdu von Jonduri übergehen, sobald ihre Amtszeit endete.

Schon bald würde sie diesen Ort verlassen und von vorn anfangen müssen. Dies waren die Regeln, erdacht von Staatsoberhäuptern, die sich niemals darum sorgen mussten, sie könnten gezwungen sein, alles hinter sich zu lassen, was sie sich zu Lebzeiten aufgebaut hatten. Der Avatar, die junge Yangchen, war genauso. Für ihre eigene kleine Ewigkeit würde sie die Brücke zwischen Menschen und Geistern sein, dann würde sie dahinscheiden und ein neuer Avatar würde geboren werden.

Es gab viele Mächtige, die Chaisees Ehrgeiz im Weg standen und ihren alleinigen Anspruch auf Beständigkeit geltend machten. Bis zum Tag ihres Todes würden sie über ihre Domänen herrschen. Sie müssten sich niemals fürchten, dass man ihnen diesen Status entriss, und würden nie wissen, wie es war, nackt und verletzlich zu sein.

Chaisee würde als Letzte unter ihnen noch stehen, wenn sie nur den richtigen Pfad wählte, bereitwillig in ungekannte Tiefen hinabtauchte und den anderen stets einen Schritt voraus war in diesem Spiel, das die Gestalt der Vier Nationen selbst wandeln mochte. Eine ungeheuerliche Torheit, doch eine, für die sie die Mittel besaß. Und den Willen.

Noch einmal betrachtete sie den Brief und lächelte. Mit den richtigen Anreizen war alles möglich.

ANBETUNG

»DU GEWINNST BLOB, weil du größer bist«, sagte Yangchen. Sie blieb reglos stehen und griff nicht nach dem Luftball, der sich in ihrer Reichweite befand.

Jetsun hielt die Weidenkugel näher vor Yangchens Gesicht. »Ach ja? Hübsche Ausrede, um niemals dazuzulernen.«

»Ich kann nicht lernen, wie man größer ist! Und es ist kein faires Spiel, wenn du immer als Erste den Ball hast! Wir tauschen nie die Rollen!«

Der Luftball wuchs vor ihren Augen, wie der Mond, der im Meer zu versinken drohte. »Komm schon«, sagte Jetsun. »Versuch’s.«

Sobald Yangchen das täte, würde sie sich irgendwie verraten, und Jetsun würde schneller reagieren als eine Kolibrifliege, würde ihre Absichten durchschauen und sich gerade weit genug zurückziehen, dass Yangchen glaubte, sie hätte noch eine Chance. »Nein. Diesmal nicht. Neutrales Jing.«

»Wupp.« Jetsun stupste Yangchen mit dem Ball leicht gegen die Nase.

Damit war es entschieden. Yangchen schloss die Augen. Jetsun konnte nicht vorhersagen, wohin sie sich bewegen würde, wenn sie es selbst nicht wusste. Blindlings sprang sie los, ruderte unkontrolliert mit den Arme und erst, als sie die Hände um die Beute geschlossen und sie ihrer Schwester erfolgreich entrissen hatte, öffnete sie ihre Augen wieder. »Ha! Schluck Staub …«

Statt des Luftballs hielt Yangchen ein pulsierendes Licht in den Händen; ihre Finger waren gegen das durchdringende Leuchten kaum zu erkennen. Jetsun stand ein Stück entfernt, vollkommen reglos. Der Blick der älteren Nonne war leer und glanzlos, er schien auf etwas hinter Yangchen geheftet zu sein. Die Lippen waren blau. Yangchen hatte Jetsun die Seele aus dem Leib gerissen. Kein Vorwurf, keine Stimme verriet es ihr, aber sie wusste es ohne den geringsten Zweifel.

Sie versuchte, sie ihr zurückzugeben. Der erste Instinkt eines Kindes, das vergnügt einen Käfer getötet hatte und es nun bereute. Sie schob das Licht auf Jetsun zu. Hier. Du bist dran. Fehlstart. Tut mir leid. Wollte ich nicht.

Doch Verletzungen ließen sich nicht ungeschehen machen. Keine Heilung drehte die Zeit zurück. Während Yangchen mit dem Licht vortrat, wich Jetsun zurück, schwebte knapp außer Reichweite und bewegte sich gerade genug, um Yangchens Vergehen deutlich zu machen.

Nimm es wieder. Bitte, nimm es wieder. Yangchen flehte nicht mehr Jetsun an, sondern die Geister, die Vier Nationen, das Universum. Bitte. Ich tue alles.

Yangchens Füße platschten durchs Nichts, während sie ihrer Schwester nachlief, und Dunstranken hüllten Jetsun ein, als wäre sie von einer Spinnenfliege eingewoben worden. Ein Leichentuch aus Nebel. Gerade als auch Jetsuns Mund im Begriff war, verschlossen zu werden, teilten sich ihre Lippen, und sie sagte …

»Aagh!«

Yangchen schrak aus dem Schlaf hoch. Ihr Kopf hob sich mit einem Ruck vom Schreibtisch. Sie riss ein Blatt Papier mit sich: Speichel hatte ihr das Dokument an die Wange geklebt. Sie wischte sich übers Gesicht und dachte kurz, sie würde angegriffen, bis sie die Orientierung zurückgewann.

Die Kälte war der erste Hinweis, die beengende, zugige Holzvertäfelung der zweite. Sie befand sich in dem winzigen Zimmer im obersten Stockwerk der Versammlungshalle in Bin-Er, das sie als Büro requiriert hatte. Sie rieb sich die Augen. Dieses Zimmer würde noch ihr Grab werden.

Jetsun. Bei ihr und doch nicht hier. So viele Leben hätten Yangchen im Schlaf heimsuchen können, und doch musste es ihr eigenes sein. Jetsuns Gegenwart war wohl ein Traum gewesen, keine Erinnerung, denn sie hatten etwa das gleiche Alter gehabt. Ich hab sie beinahe eingeholt, dachte Yangchen.

Der Traum entsprach mehr oder weniger der Realität. Auf gewisse Art war sie für Jetsuns Tod durch Abtrennung der Seele verantwortlich. Die jüngere Version ihrer selbst oder die gegenwärtige, es spielte keine Rolle. Sie war schuld, dass Jetsun tot war.

Jemand klopfte an. »Ihr wart vorher bereits zu spät«, rief Boma durch die Tür. »Jetzt seid Ihr viel zu spät.«

»Vorher? Wie meinst du das?« Normalerweise half ihr Begleiter ihr, damit sie den Morgen ruhig angehen konnte.

Sie hörte Boma knurren. Das Geräusch eines verkniffenen Seufzers. »Ihr habt mich um noch ein paar Minuten gebeten. Ich bin gegangen und jetzt bin ich wieder da. Die Shangs warten.« Er senkte die Stimme. »Und der Prüfer ebenfalls.«

Yangchen erinnerte sich nicht an das Gespräch. Sie musste im Schlaf geredet haben. Sie hatte die ganze Nacht gearbeitet, in dem Zimmer oberhalb des Raums, in dem die Sitzung abgehalten werden sollte, hatte auf ihren Dokumenten ein Nickerchen gemacht und war dennoch nicht rechtzeitig bereit. »Wo ist mein Stab?«

»Ihr habt ihn unten neben Eurem Stuhl gelassen.«

Ein wichtiges Erbstück lag vergessen da, sodass alle es sehen konnten. Sie rügte sich innerlich. Du bist ja völlig durcheinander. Reiß dich zusammen.

Sie machte sich fertig, so schnell sie nur konnte, raffte ihr Haar zusammen und vergewisserte sich mithilfe eines Spiegels, dass ihr keine Tinte ins Gesicht gelaufen war. Widerwillig warf sie die Decke von den Schultern. Man durfte sie nicht dabei sehen, wie sie sich an Annehmlichkeiten klammerte.

Stärke, sagte sie zu sich selbst. Kontrolle. Mach dir keine Sorgen darüber, dass du dich von deiner Schwester entfernst.

Yangchen trat aus dem Büro zu Boma und er folgte ihr die Wendeltreppe bis ins Erdgeschoss hinunter. Der Hauptraum war durch eine zweiflügelige Tür versperrt und sie stieß sie mit Luftdruck auf. Die Geste geriet dramatischer als beabsichtigt, sodass eine Windbö ihr Kommen ankündigte. Lose Papiere flatterten zwischen den Sitzbänken umher. Erschrockene Laute machten die Runde.

Und ehe Boma etwas herausbringen konnte, erhoben sich alle, die in der großen Halle auf sie warteten. »Der Avatar«, verkündete er eilig.

Die Shangs von Bin-Er. Die erlesene Gruppe von Kaufleuten, die den Handelsstrom internationaler Waren in die Stadt und wieder hinaus kontrollierten. »Ich entschuldige mich für meine Verspätung«, sagte Yangchen zu der Versammlung.

»Das ist nicht nötig, Herrin Avatar«, erwiderte Shang Teiin, einer der älteren Repräsentanten. »Eure Gegenwart ist ein Segen, ungeachtet der Umstände.«

Neben ihm saß eine Frau mit Ohrringen aus Perlen so groß wie Weintrauben, die nach vorn schwangen, als sie das Haupt neigte. »Wir sind bereit … begeistert, die nächste Phase Eures Vorhabens zu besprechen.« Einst hatte Noehi sich über Yangchen lustig gemacht, als sie gedacht hatte, sie käme damit durch.

Ein halbes Jahr war vergangen, seit diese einflussreichen Männer und Frauen ihre Anstrengungen bekämpft hatten, den Armen in Bin-Er zu helfen. Seither hatte sich ihre Einstellung merklich geändert.

Aus Furcht, für das Desaster, bei dem schließlich drei unvorstellbar mächtige Feuerbändiger die Stadt ins Chaos gestürzt hatten, mitangeklagt zu werden, hatten sie erkannt, wie viel Weisheit darin lag, mit Yangchen zusammenzuarbeiten. Wenn die Kaufleute jetzt nicht zum selben Takt tanzten, würden sie wegen Hochverrats am Erdkönig hingerichtet werden. Und Yangchen würde zur größten Enttäuschung der Avatarsgeschichte werden – eine Geschichte, an die sie sich bis ins letzte grausige Detail erinnerte.

»Sollen wir beginnen?«, fragte Noehi. Ihr Blick schoss zu dem leeren Sitzplatz oben auf dem Mittelpodium und dann zu einem Mann, der dahinter, etwas seitwärts, am Protokollantenschreibtisch saß. Er war ein in dicke Kleidung gehüllter Beamter aus Ba Sing Se, dessen Pinsel sich schneller bewegte als die Finger eines Meistermusikers. Als er den Kopf von seinen Papieren hob und Noehis Blick begegnete, zuckten ihre Lippen ängstlich.

Bei allen Geistern, sieh ihn nicht so an, dachte Yangchen. Du verhältst dich bereits verdächtig.

Prüfer Gu schaute schweigend zu, wie Yangchen auf ihrem thronartigen Stuhl Platz nahm. Sie konnte seine Präsenz neben sich spüren, seine Gier nach Informationen, die er dem Erdkönig überbringen konnte. »Ja, bitte«, sagte sie. Sie bemerkte ihren Gleiterstab, der sich genau dort befand, wo Boma gesagt hatte. Er ruhte an ihrer Armlehne wie ein einsamer Getreidehalm. »Ich könnte auch etwas Tee vertragen.«

Eine der Dienerinnen der Shangs huschte davon, um Erfrischungen zu holen. Nun begann die Sitzung. Yangchen und die Händler mussten nicht nur dem König das Geheimnis der Feuerbändiger vorenthalten, die das Gleichgewicht erschüttert hatten, sie hatten auch dafür Sorge zu tragen, dass alle Geschäfte weiterhin wie gewöhnlich in der Stadt stattfinden konnten.

Bis jetzt war ihnen dies gelungen. Nun, da der Avatar vor Ort die schlimmsten Praktiken der Shangs eingedämmt hatte, hatte der Ruf von Bin-Er eine Kehrtwende gemacht, sodass der Ort plötzlich als einer des fairen Handels galt. Die Einwohnerzahl wuchs schneller, als irgendjemand vorhergesehen hatte.

Yangchen rasselte die Zahlen herunter, deren Vorbereitung sie die ganze Nacht wachgehalten hatte. »Nach meinen jüngsten Zählungen braucht die Stadt mindestens vier neue Brunnen, sonst drohen zunehmend Krankheiten, eine Gefahr«, sie dachte an Gu hinter sich, »für den Wohlstand. Eine Seuche, beschleunigt durch einen Mangel an frischem Wasser, würde gewiss die Ertragsströme beeinträchtigen.«

Sie verabscheute es, alles in Begriffen von verlorenem oder gewonnenem Wohlstand ausdrücken zu müssen, um Anklang bei ihrem Publikum zu finden. Sie hatte jedoch Effizienz versprochen, die es mit der von Szeto aufnehmen konnte, und musste nun auch liefern.

Shang Teiin stand auf, um zu antworten. Er rückte sich die schwere Mütze zurecht, ein Zugeständnis an sein Alter und die Kälte. Ganz oben flammte eine goldene Stickerei und ließ ihn wie eine Kerze aussehen. Yangchen verdrängte den Anflug von Neid, den sie beim Anblick des schweren Fellumhangs um seine Schultern verspürte. Das Loch, das sie in die Gebäudeseite geschlagen hatte, war wieder zugemauert worden, doch es schlich sich noch immer ein kalter Zug durch die Ritzen.

»Diese Maßnahmen sind in der Tat weise«, sagte Teiin. »Es ist jedoch eine ungeplante Ausgabe. Expertenbändiger, die den Grundwasserspiegel erreichen können, ohne die Stadt ins Wanken zu bringen, werden nicht billig zu haben sein.«

Diese Stadt ist aus Geld gemacht, du Stein auf der Straße! Das Überleben der Shangs hing davon ab, dass die Zusammenarbeit mit dem Avatar geschmeidig lief, dennoch fühlten sie sich geneigt, jede Entscheidung zu verschleppen. »Wenn Ihr es ablehnt, dann sagt es ruhig rundheraus.«

Noehi übernahm das Wort. »Es ist nicht so, dass wir es ablehnen. Wir sind nur ein wenig … überlastet.«

Die Verlegenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben, was Yangchen vermittelte, dass sie nicht log. »Ein großer Teil unserer Geldmittel war durch Übereinkünfte gebunden, die wir mit Zongdu Henshe getroffen hatten. Er ist noch immer nicht wieder aufgetaucht.«

Das lag daran, dass Zongdu Henshe momentan in einer behelfsmäßigen Zelle im nördlichen Lufttempel saß, abgeschottet von der Welt auf Befehl von Yangchen selbst. Hätte Henshe frei herumstreifen können, er hätte das Geheimnis der Feuerbändiger bei erstbester Gelegenheit an den Höchstbietenden verkauft.

»Henshe stand im Zentrum eines Netzes aus Versprechungen«, fuhr Noehi fort. »In seiner Abwesenheit sind sämtliche Stränge gerissen. Es stehen beträchtliche Abgaben in Taku, Port Tuugaq und Jonduri an. Wir haben ehrlich nicht das nötige Bargeld zur Verfügung, um uns ein weiteres Projekt zu leisten.«

Yangchen hielt sich die Nase zu, damit sie nicht losprustete. Die Shangs aus Bin-Er schuldeten ihren Standesgenossen Geld wie ein armer Bauer, der bei seinem Lehnsherr in der Kreide stand. Warum nicht? Sie hatten sich mit ihren Geschäften übernommen, im Glauben, das sei sicher. Und jetzt würden die Menschen vielleicht nicht genug Wasser haben.

Die Dienerin kehrte mit dem Tee zurück. Er wurde im Yunoi-Stil serviert, in derselben großen Keramikschale, in der das Pulver verquirlt worden war. Yangchen starrte hinein und ließ die grüne Flüssigkeit kreisen.

Je länger sie schwieg, desto unbehaglicher wurde Teiin offenbar zumute. »Avatar, könnten wir den Bau der Brunnen noch ein wenig verschieben? Die Angelegenheit klärt sich ja womöglich von selbst oder vielleicht gibt es einen …«

»Gebt mir Euren Hut.«

»Wie bitte?«

Yangchen blickte von ihrer Schale auf. »Ich habe gesagt: Gebt mir Euren Hut.«

Der Pinsel von Prüfer Gu hielt in der Bewegung inne, ein bemerkenswertes Ereignis. Teiin blickte über die eigene Schulter, als würde er nach einer anderen Version seiner selbst hinter sich Ausschau halten, die sie stattdessen gemeint haben könnte. »Ist Euch kalt, Avatar? Wir könnten eine Feuerschale entzünden.«

Die Shangs hinter ihm wagten keinen Mucks. Aus Verwirrung und Furcht hielten sie wohlweislich den Mund.

»Meister Teiin.« Yangchen sprach so laut und deutlich, dass man sie in der ganzen Halle hörte. »Kommt hier herauf, nehmt Euren Hut ab und gebt ihn mir.«

Tut es oder ich werde uns alle ins Verderben stürzen. Neuerdings war dies die stille Erklärung am Ende eines jeden Satzes, den sie in Gegenwart dieser Leute aussprach. War der junge Avatar verrückt genug, das heikle Schauspiel zu stören, das sie ersonnen hatten? Wegen eines derart belanglosen Punktes, bloß um etwas zu beweisen?

Dieses Risiko konnte man nicht eingehen. Teiin zog seinen Hut herunter und schlurfte vorwärts, langsam, als stecke er in einer Schlange von Leuten fest, die darauf warteten, den Avatar begrüßen zu dürfen. »Ich wollte nicht respektlos sein, indem ich in Eurer Gegenwart meinen Kopf bedecke …«

»Pst.« Yangchen nahm ihm den Hut ab und legte ihn sich in den Schoß, ehe er ihn noch mit seinen knochigen Händen knautschte und die Form ruinierte. Als Nächstes wandte sie sich Noehi zu. »Herrin. Nehmt Eure Ohrringe ab. Gebt sie mir. Sofort.«

Noehi hob eilig die Hände an die Ohren, blieb in ihrer Hast an den Ringen hängen und zuckte zusammen. Sobald die Schmuckstücke entfernt waren, brachte sie sie zum Podium. Aus einem Impuls heraus leerte Yangchen ihren Tee in einem Schluck und streckte die Schale aus, in der noch der feuchte Bodensatz klebte. Zögerlich ließ Noehi ihre Perlen in das Gefäß fallen. Mit einem hohlen Geräusch wie von den Würfeln eines Glücksspielers klapperten sie gegen die glasierte Oberfläche.

Yangchen ließ die Perlen herumkullern, sodass sie einander jagten wie die Kois in der Geisteroase des Nördlichen Wasserstamms. In mancherlei Hinsicht bot sie in diesem Moment ein Motiv für ein Porträt. Prüfer Gu sah zu, durch ihn der Erdkönig und durch den wiederum die Vier Nationen.

Ihre Botschaft war unmissverständlich. »Ihr … wollt, dass wir unsere Besitztümer verkaufen, um die Kosten für die Brunnen aufzubringen«, sagte Teiin. Ihr erpresst uns noch weiter.

Das tue ich. Yangchen hätte es dabei belassen können, ihre Macht ohne ein weiteres Wort ausüben. Hinter zugezogenen Vorhängen und in leeren Zimmern redete sie sich selbst ein, dass sie es hasste, zu solchen Mitteln zu greifen. Aber wie sehr konnte sie behaupten, die Regeln dieses Spiel zu verabscheuen, wenn sie sich immer wieder zu einer Partie niederließ?

Erneut ließ sie die Perlen kreisen, als handele es sich um den Inhalt einer Bettelschale, wie man sie benutzte, um Almosen für sein Überleben zu sammeln. Ein hilfreicher poetischer Kunstgriff.

»Wohlstand«, begann sie. »Vermögenswerte. Ballast, Bürden, Ansichten, Erwartungen. Wir klammern uns an solche Lasten, aus Furcht davor, frei zu sein.« Yangchen schüttelte die Teeschale, wie ihre Brüder und Schwestern es in den Straßen einer Stadt tun würden, die sie noch nie zuvor besucht hatten, wo sie keinen ortsansässigen Freund hatten, auf den sie sich stützen konnten, und wo sich kein freiwilliger Gastgeber fand. Ein paar Shangs lachten verhalten.

»Es ist stets eine große Versuchung, tatenlos zuzusehen, in der Annahme, dass alles sich von selbst regeln wird. Ich will Euch jedoch sagen: Es gibt niemanden mehr, auf den wir warten könnten. Wir sind es, die handeln müssen.«

Eine spontane Anwandlung von Selbstlosigkeit vonseiten der Shangs in dem Umfang, wie es nötig wäre, um für die Brunnen zu bezahlen, könnte Gu als Warnung dienen, dass sich hier etwas Verdächtiges abspielte. Yangchen musste eine Erzählung spinnen, die ihre Spuren verwischte und dem Bild einer Anführerin entsprach, die ausschließlich an das Gute in den Menschen appellierte.

Sie griff zur Seite und hob ihren Stab auf, der geduldig neben dem Stuhl gewartet hatte. Luftbändiger fertigten entweder ihre eigenen Gleiter oder bekamen sie von geschätzten Freunden geschenkt. Diesen hatte Jetsun für sie gemacht. Zunächst hatte Yangchen sich beklagt, er sei zu groß und unhandlich, aber sie war perfekt hineingewachsen, als hätte ihre Schwester einen Blick in die Zukunft geworfen.

Sie warf den Stab vor ihre Füße, absichtlich so, dass er über den Boden klapperte, ein jähes, ungehobeltes Geräusch. »Ich werde meinen Stab verkaufen, um meinen Beitrag zu leisten. Sicher hat er einen gewissen Wert als Relikt.«

Wieder waren überall im Saal erschrockene Laute zu hören. Besitztümer des Avatars gehörten in die Tempel und Schreine der Vier Nationen oder zumindest in die Schatzkammern von Staatspalästen. Es war ganz und gar nicht vorgesehen, dass Yangchen ihre Insignien verpfändete.

Über die Sitzreihen hinweg sah sie das Entsetzen in Bomas Blick. »Meister Teiin, Herrin Noehi. Ihr dürft Eure Besitztümer wieder an Euch nehmen. Ich kann Euch nicht zwingen, Euch mir anzuschließen.«

Und ob ich euch zwinge, euch mir anzuschließen! Nicht nur bestand die Bedrohung durch die Feuerbändiger weiterhin, zudem waren wie beim Pai Sho die Startpositionen von entscheidender Bedeutung. Wollten sie sich dem Avatar verwehren, so würden sie jetzt zur Tat schreiten und die Schätze wieder an sich reißen müssen. Was für ein Scheusal müsste man sein, um in die Bettelschale eines flehenden Luftnomaden zu greifen?

Seit Yangchens rüden Forderungen waren Augenblicke vergangen – uralte, längst vergessene Geschichte. Teiin begriff rasch, wie der Hase lief. »Es gibt ein Problem, Avatar.« Er ließ die Stirn lange genug gerunzelt, dass Gu die Verwandlung in ein mildes, runzliges Lächeln zur Kenntnis nehmen konnte. »Ihr werdet mehr brauchen als meinen Hut.«

Der alte Mann war ein guter Schauspieler, wenn es sein musste. Er ließ seine Felle von den Schultern gleiten und legte sie gebündelt neben Yangchens Stab. Noehi folgte seinem Beispiel und griff sich an den Nacken, um den Verschluss einer teuren Kette zu lösen, doch ihr Ellenbogen bekam einen Stoß, als ein weiterer Shang vorstürmte – der Geldbeutel in seiner Hand wirkte so schwer, dass man damit ein Straußenpferd bewusstlos hätte schlagen können.

Eine Lawine aus Wertgegenständen türmte sich vor dem Podium, als ihr Publikum den Geist der Wohltätigkeit in sich fand. Einige der Händler hatten die Bedeutung der List womöglich nicht erfasst und machten einfach mit. Ein paar mochten aufrichtig gerührt sein. Yangchen erspähte die Dienerin, die ihr den Tee gebracht hatte: Sie stand ganz hinten und ihre Augen leuchteten angesichts dieses Kunststücks der Inspiration, das der Avatar hier vollbracht hatte.

Yangchen wandte den Blick ab, ehe ihr noch schlecht wurde.

»Das war ja recht ergreifend«, sagte Prüfer Gu später.

Der dickliche Mann mit dem milden Gesichtsausdruck ging mit ihr den Gang hinunter, wie Zongdu Henshe es einst getan hatte. Diesmal war sie diejenige, die zur Stadt gehörte, eine Expertin, was ihre Gepflogenheiten anging, und Gu war der Besucher. »Ich glaube aber, Ihr werdet nicht lange unter dem Verlust leiden. Wer auch immer am Ende Euren Stab erwirbt, wird ihn Euch sicher als Geschenk zurückgeben. Diese Tat brächte großen spirituellen Verdienst mit sich.«

»Nein. Ich habe gesagt, dass ich ohne ihn auskomme, und das habe ich auch vor.« Bei ihrem ersten Besuch in Bin-Er hatte ihre Botschaft darin bestanden, dass die Mächtigen sich mit weniger begnügen könnten. Wenn sie durch ein Hintertürchen entkam, würden die Shangs ihr bestimmt folgen.

Außerdem hatte die Dienerin mitbekommen, wie sie es versprochen hatte. Sie würde ihren Freunden erzählen, dass der Avatar seine Schwingen zum Wohl des Volkes niedergelegt hatte, und von dort aus würde die Geschichte sich verbreiten. Yangchen würde ihr eigenes Tun entwerten, wenn sie künftig über den Köpfen der Stadtbürger dahinflog, als bedeute ihr Wort gar nichts.

Gu schien es zu überraschen, dass sie nicht den leichten Weg nehmen wollte. »Wird das nicht sehr unbequem?«

»Der Sinn des Lebens ist doch nicht Bequemlichkeit!«

Ihre Stimme hallte durch den Gang, so zornig wie die eines Lehrers, der dieselbe Lektion wieder und wieder erteilen musste. Aber Gu gegenüber hatte sie diese Worte noch nie ausgesprochen. Über eine Lebensweise, die von Eigennutz beherrscht wurde, hatte sie sich zuletzt bei jemandem ausgelassen, den sie für einen Freund gehalten hatte. Einen wahren Gefährten des Avatars.

Yangchen rieb sich die Stirn mit dem Handrücken. Je weniger sie an Kavik dachte und an seinen Beitrag zum Entstehen dieser Lage, desto besser.

»Verzeiht«, sagte sie zu dem Prüfer, als sie den Ausgang erreichten – den am Rand der Versammlungshalle statt des Hauptausgangs. Dieser Tage versuchte sie, so diskret wie möglich zu kommen und zu gehen. »Die Stadt stellt viele Anforderungen.«

Es ließ sich unmöglich sagen, inwieweit Gu und der Erdkönig Yangchens Lügen durchschauten, mit denen sie die Zerstörung in Bin-Er als das Werk wütender Geister verkaufte und somit eine Angelegenheit, die man am besten dem Avatar überließ. Dass die Erinnerung daran noch so frisch war, half ihrer Sache. Sie hätte nie gedacht, dass das Desaster von Tienhaishi eine gute Seite haben könnte.

Gu sagte irgendetwas, als sie die Tür aufstieß, diesmal mit den Händen, doch seine Worte gingen im jäh anschwellenden Lärm unter, als Anspannung sich entlud wie eine losgelassene Bogensehne. Der Prüfer und Yangchen zuckten beide zusammen, so heftig trafen sie die Rufe, die ihnen aus zahlreichen Kehlen entgegenschlugen.

»AVATAR! AVATAR!«

Es musste durchgesickert sein, dass sie sich in der Stadt aufhielt. Denn vor dem Gebäude erwartete sie eine Menge, und zwar die größte, die sie bisher in Bin-Er gesehen hatte. Die Stadtbürger wollten einen Blick auf die Person erhaschen, die die Brücke zwischen Menschen und Geistern bildete. Neuankömmlinge wie Alteingesessene mischten sich hier, Menschen aus allen Nationen. Ein Feld aus unbedeckten Köpfen, das in den Straßen spross, so weit sie blicken konnte.

Yangchen blinzelte angesichts des tosenden Jubels. Wie lange waren die schon hier? Die Pflichten hatten Yangchen den Großteil des Vortags in der Versammlungshalle festgehalten. Hatten die Bürger die Nachtkälte ausgehalten, nur um einen kurzen Blick auf sie zu werfen, wenn sie das Gebäude verließ?

Sie hob die Hand, langsam und schwach. Bitte. Genug. Lasst mich durch.

Die Menge fasste ihre Geste als Segnung auf. Sie brandeten noch näher heran und feierten nun doppelt so laut die Frau, die vor Monaten den Schrecken am Himmel zum Verstummen gebracht hatte. Sie weinten Freudentränen für die Luftnomadin, die in der Stadt geblieben war, um ihnen Nahrung, Heilung und Zuwendung zuteil werden zu lassen. Avatar. Avatar. Avatar.

»Die Stadt verehrt Euch zutiefst«, rief Prüfer Gu.

Es war zu spät, wieder ins Gebäude zu eilen und den anderen Weg zu nehmen. »Dies ist … bloß eine Respektsbekundung.«

Gu wirkte nicht überzeugt, zumal sie einander kaum verstehen konnten. »Ich bin so alt, dass ich mich noch an Avatar Szeto erinnere, und ihm wurde reichlich Respekt entgegengebracht. Das hier ist etwas anderes. Hingabe vielleicht. Der Glaube an Avatar Yangchen, die alle Übel heilen kann.«

»Ungerechtfertigt.«

Gu war der offizielle Informant des Erdkönigs und Beobachtungen waren die Juwelen, die er seinem Herrn überbrachte. Um das beste Ergebnis zu erhalten, stachelte er ihr Unbehagen an. »Vielleicht nicht so sehr, wie Ihr glaubt. Ihr habt die spirituelle Unruhe im Himmel niedergeschlagen, habt das Los der einfachen Leute verbessert und den Handel in der Stadt um ein Drittel wachsen lassen.« Aus seinem Mund klang es, als wären zwei dieser Leistungen nicht bloß hektische Reaktionen auf die Umstände gewesen. »Ich weiß nicht, wie Ihr so viele Errungenschaften aufrechterhalten könnt.«

Der Jubel erreichte seinen Höhepunkt. Yangchen hätte Gu in diesem Augenblick so ziemlich alles mit lauter Stimme beichten können, und er hätte es nicht mitbekommen. Das kann ich nicht, Prüfer, wollte sie sagen. Mein Geheimnis ist, dass ich das nicht kann.

Das Geld, der Frieden und die Feuerbändiger, die sich tief in den Bergen versteckt hielten. Ihre Erfolge gründeten auf Lügen. Bin-Er wuchs zu schnell, als dass sie damit hätte zurechtkommen können, und die Probleme der Stadt waren nur aufgeschoben, nicht gelöst. Früher oder später würde man bemerken, dass sie eine Hochstaplerin war, und das Ganze würde in sich zusammenbrechen.

Gu schrie etwas, das klang, als wolle er doch lieber hierbleiben, und ging wieder hinein. Yangchen versuchte, sich einen Weg durch die ersten Reihen zu bahnen, in der Hoffnung, dass das Heer ein Stück zurückweichen würde. Doch die Menge schien sich nicht teilen zu wollen und wurde nur noch wilder, als sie näher kam. Sie würden sich ihren Moment mit dem Avatar nicht nehmen lassen.

Yangchen tat ihr Möglichstes, setzte ein Lächeln auf und gab vor, nicht gefangen zu sein.

UNTER FREUNDEN

ABENDS NAHMEN DIE hellen Wände und die Säulen mit den Geistergesichtern von Häuptling Oyaluks Banketthalle, die unter freiem Himmel lag, stets ein schattiges Blau an, die Farbe von Eis und Meeresgrotten. Auf der gegenüberliegenden Seite des offenen Platzes, der als Versammlungsort für Festmahle diente, schimmerten Vorhänge aus fallendem Wasser wie seidene Banner und bildeten den Hintergrund für einen großen Brunnen aus Eis, der vom Fließen des Wassers weder schmolz noch die Tropfen an seinen Rändern gefrieren ließ. Die Temperatur war in vollkommenem Gleichgewicht.

Yangchen hatte diesem Ort schon eine Handvoll Besuche abgestattet, aber man war ihr nie kühl begegnet. Während ihrer Ära war Oyaluk der einzige Häuptling des Nördlichen Wasserstamms gewesen und sie erinnerte sich noch daran, wie freundlich er gewesen war, als sie sich als junges Mädchen hinter Äbtissin Dagmolas Robe versteckt hatte. Die Hauptstadt des Nordens war eine der ersten Stationen gewesen auf der Welttournee, bei der der neue Avatar allen vorgestellt worden war.

Doch die Jahre waren vorangeschritten. Yangchen hatte mehr Verpflichtungen übernommen und im selben Maße geschahen ihre Besuche immer weniger rein aus gutem Willen. Es war leicht für die Weltenführer, ein Kind anzulächeln, das einen um nichts bat.

Sie saß mit Häuptling Oyaluk am Tisch, nur ein Stück von ihm entfernt. Von ihrem Ehrenplatz aus spürte sie die Anspannung in seinen breiten Schultern. Sie hatte bereits seinen Versuch abgeschmettert, während des Festessens mit ihr zu reden. »Erst wenn die Tische abgeräumt und wir allein sind«, hatte ihre Bedingung gelautet.

Bis dahin starrten sie stur geradeaus, ließen sich nichts anmerken und schauten sich die Solovorführung des Großmeisters von Agna Qel’a an. Sifu Akoak war jung für diesen Titel und frech genug, um Wasserströme zwischen den Älteren hindurchzubewegen, die rundherum am Rand saßen. Sie mussten stillhalten, wenn sie nicht nass gespritzt werden wollten. Als einer der schimmernden Arme klarer Flüssigkeit Yangchen erreichte, hob besorgtes Gemurmel an, aber sie ließ das Wasser ihre Schultern umspielen und fügte ihm noch einen funkelnden Wirbel aus Bläschen hinzu, ehe sie es weiterschickte. Ein kleiner Spaß eines Luftnomaden.

Sifu Akoak verbeugte sich. Oyaluk stand auf und bedankte sich in einer Rede bei den Geistern für ihre vielen Segnungen. Seine Ratsmitglieder, denen der Anblick des Avatars nicht ungewohnt war, durften zu Bett gehen. Der Häuptling sah seinen Ehrengast an, neigte den Kopf und zuckte mit dem von einem grauen Bart bedeckten Kinn, als wolle er sagen: Jetzt?

Yangchen deutete auf die Überreste des Festmahls. Tische. Abgeräumt.

Oyaluk seufzte. Sie warteten, bis die Ältesten des Nordens der Reihe nach den offenen Platz verlassen und die Diener die letzten Teller und Tassen abgeräumt hatten. Zuletzt zogen sich die Schmalklauen zurück, die persönlichen Gefolgsleute des Häuptlings, die in den Ecken postiert gewesen waren, in ihre elfenbeinfarbenen Rüstungen gehüllt. Ihr Stolz gebot es, Oyaluks Befehl, ihn mit dem Avatar allein zu lassen, Folge zu leisten. Sie taten es langsam und widerwillig.

Schließlich blieben nur noch zwei Personen in dem ausufernden Essbereich zurück. Die Felle auf den Stühlen waren fort, die Trommeln eingepackt und die harte Eisfläche erinnerte an einen Turnierplatz. Die Zeit und der Ort nach Yangchens Wahl. »Jetzt?«, fragte Oyaluk noch einmal, seine Stimme klang gereizt.

Fast. Sie bedeutete dem Häuptling, ihr in die Mitte des Platzes zu folgen, wo sie anfing, im Kreis zu laufen, die Grundübung des Luftbändigens, eine Handfläche weiter ausgestreckt als die andere. Oyaluk blickte sich um, während er mit ihr Schritt hielt. Eine Brise folgte ihren Bewegungen, fegte über den Boden, nahm denselben Pfad über die Tische wie Akoaks Wasser. Während sie ging, beschleunigte der Wind, bis er sie überholte und zu einem kontrollierten Zyklon wurde. Hätte es noch irgendwelche Überbleibsel des Festmahls gegeben, sie wären als gefährliche Geschosse über das Eis gepeitscht worden.

Yangchen kam zum Stehen, der Wirbel ließ sich nun mit minimalem Aufwand aufrechterhalten. In seinem Auge war es ruhig, doch der Wind rauschte mit einer solchen Geschwindigkeit an ihnen vorbei, dass er eine Geräuschbarriere bildete. Auf diese Weise konnte man sie und den Häuptling unmöglich bei ihrem Gespräch belauschen.

Pak und Pik, die sich während des Abendessens gut benommen hatten, glitten mit ausgebreiteten Flügeln auf den Luftströmen dahin und jagten einander endlos im Kreis. »Ihr wisst, dass ich auch sichere Zimmer habe«, sagte Oyaluk.

Zimmer hatten Wände. Dahinter verbargen sich Menschen, manchmal sogar darin. »Dieser Tage bin ich vorsichtiger.«

Der Häuptling schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch, wie Ihr meinen Nichten und Neffen durch den Palast nachgerannt seid wie die beiden da.« Er wies auf die Lemuren, die über ihnen herumtollten. »Und jetzt seid Ihr ein ebenso scharfsinniger Avatar wie alle anderen.« Er musterte seine Hände, drehte sie hin und her, als suche er nach Anzeichen dafür, wie viel Zeit vergangen war. »Ich hatte gehofft, wenn Ihr an die Macht kommt, würdet Ihr Eure Aufmerksamkeit gerechter verteilen – statt ein weiterer Szeto zu werden.«

Diesen Vorwurf hatte sie erwartet, aber er traf sie dennoch. »Ich bin nicht voreingenommen. Ich begünstige keine Nation.«

»Ich weiß von Euren Erfolgen in Bin-Er und wie viel Zeit Ihr dort verbringt. Erdkönig Feishan ist launisch, unbeständig und machthungrig. Nicht die Art von Mensch, die auf einem Thron sitzen sollte. Und doch scheint Ihr darauf aus zu sein, seine Position zu stärken. Ihr bringt ihm Geld.«

Schuldig. Doch sie war nicht die Einzige. »Ich fange Messer auf, die von Euch und Feuerlord Gonryu fallen gelassen wurden.« Oder vielmehr geschleudert worden sind. »Habt Ihr vergessen, dass Ihr beide die Platin-Affäre überhaupt erst verursacht habt?«

Seine Mundwinkel sanken herab. »Eine Tat, die ich jeden Tag bereue.«

Soweit es Yangchen betraf, schuldete Häuptling Oyaluk ihr mehr als eine gequälte Miene. Er und der Feuerlord hatten sich in Angelegenheiten außerhalb ihrer Grenzen eingemischt, indem sie General Nongs versuchte Rebellion gegen Erdkönig Feishan unterstützt hatten. Das hatten sie in ihrer Ära getan, innerhalb der empfindlichen Phase, als sie noch zu jung gewesen war, um Weltangelegenheiten zu beeinflussen. Womöglich hatte Oyaluk die Entscheidung getroffen, während er zugesehen hatte, wie die kleine Luftnomadin bei ihrem Besuch im Palast mit seinen Angehörigen spielte.

Yangchen wusste, dass Oyaluk ein vernünftiger Mann war, ein kompetenter Anführer, im Herzen anständig. Vermutlich hatte Nong ebenfalls einige dieser Eigenschaften besessen und hätte einen guten Erdkönig abgegeben, als Begründer einer neuen dynastischen Linie des Friedens. Doch wer wusste das schon mit Gewissheit? Nongs Leiche lag zertrampelt im Staub des Lamapaka-Übergangs, in der Schlacht besiegt von Erdkönig Feishan, dem Launischen und Unbeständigen.

Sobald Indizien ans Licht gekommen waren, dass Nong offizielle Unterstützung für seine gescheiterte Revolte erfahren hatte, war das Verhältnis zwischen dem Erdkönigreich, der Feuernation und dem Wasserstamm so frostig geworden wie das Innere eines Eisbergs. Es würde sich niemals erholen, nicht ohne eine Anstrengung von kontinentalem Ausmaß.

»Feishan gegen Nong einzutauschen erschien zu jener Zeit wie eine brillante Idee.« Zumindest zeigte sich der Häuptling zerknirscht über seinen Patzer. »Ich wage sogar zu behaupten, das Ganze war ein Schachzug im Geiste Eures Vorgängers: Avatar Szeto hat ganz selbstverständlich Manipulation angewandt, um den Absturz korrupter Beamter und die Beförderung besserer Ersatzleute zu bewirken.«

Bei Salais Schuhen. Der Erdkönig war kein provinzieller Steuereintreiber und keiner von ihnen war Avatar Szeto. »Wisst Ihr, es ist durchaus möglich, sich selbst auszutricksen. Ich habe das bereits in vielen Leben getan.« Oyaluk war nicht bis ins letzte Detail über ihre »Gabe« im Bilde, wusste jedoch, dass sie die Schriftzeugnisse vergangener Avatare studiert hatte. Yangchen und der Häuptling waren beide versiert in der Geschichte der Fehler und persönlichen Schwächen, die mit ihren Ämtern verbunden war.

»Und es war ohnehin nicht einmal meine Idee«, gestand er. Sie spürte, dass er diesen Augenblick der Offenheit benötigte, mit jemandem, der verstand, was für eine Bürde er trug, von Anführer zu Anführer. Beide hätten sie solche Eingeständnisse oder Entschuldigungen niemals in der Öffentlichkeit vorgebracht. »Bei einer Partie Pai Sho haben meine höchsten Berater mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass Feuerlord Gonryu geneigt sei, Nong mit all seinem Einfluss zu unterstützen, und mich überzeugt, das Gleiche zu tun. Sie glaubten, wenn wir einvernehmlich agieren würden, böte das die beste Erfolgsgarantie für den Plan. Meine und Gonryus Repräsentanten haben hinter den Kulissen die Angelegenheit ausgehandelt.«

»Bei einer … Bei einer Partie …« Yangchen rang mit ihrem hochkochenden Zorn, bis davon nur ein einziger Knurrlaut übrig blieb, der in die Geschichte eingehen würde. »Hmm.«

Oyaluks Geschichte ähnelte auf bemerkenswerte Weise der, die Feuerlord Gonryu ihr erzählt hatte, ebenfalls unter vier Augen. Was bedeutete, dass keines der Staatsoberhäupter sich den Plan hatte einfallen lassen, den Erdkönig zu stürzen. Diese Torheit war von namenlosen Männern und Frauen erdacht worden, deren Kontakte die Grenzen der Vier Nationen überspannten. Gestalten im Hintergrund, die geglaubt hatten, groß angelegte Strategien ließen sich auf die Positionen von Spielsteinen und auf Zahlen reduzieren, und die womöglich für diesen Fehler niemals Rechenschaft würden ablegen müssen.

Keins ihrer vorigen Leben half ihr, der schieren Frustration Ausdruck zu verleihen, die sich in ihrem Magen herumwälzte. Die Ursprünge der Platin-Affäre waren übersät mit den schmierigen Fingerabdrücken des Weißen Lotus. Genau darum traute sie der Organisation nicht über den Weg. Puppenspieler, denen die Fäden entglitten, verdienten keinen Applaus für eine würdige Vorführung.

Geschehen ist geschehen. Sie musste jetzt weitermachen und den Grund ansprechen, aus dem sie den Nördlichen Wasserstamm aufgesucht hatte, auch wenn sie gerade lieber einen Haufen Pai-Sho-Bretter über dem Knie zerbrochen hätte. »Es gibt eine Möglichkeit, wie Ihr Wiedergutmachung leisten könnt. Bei der kommenden Versammlung in Taku.«

Die Zongdus aller Handelsstädte kamen jedes Jahr zusammen, um über das Geschäft zu sprechen; so stand es in den Klauseln ihrer Satzungen. Yangchen würde Bin-Er vertreten wegen der … augenfälligen Abwesenheit von Zongdu Henshe. Wichtiger war jedoch, dass am Ende der einwöchigen Konferenz der Erdkönig, der Häuptling des Wasserstamms und der Feuerlord erscheinen würden, um ihre Amtsstempel unter die Verlängerungsbedingungen zu setzen. Seit Yangchen volljährig war, waren solche Zusammenkünfte die einzigen diplomatischen Gelegenheiten, bei denen sich die Oberhäupter der Vier Nationen von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen.

»Solche Konferenzen sind reine Formalität«, sagte Oyaluk. »Während der letzten hat Feishan es kaum ertragen, im selben Raum wie ich zu sein. Sobald er mit seinen Abschnitten der Verträge fertig war, hat er den Tintentopf umgestoßen, damit meine Stiefel Flecken bekamen.«

»Das war damals. Ihr habt ja selbst gesagt, dass er neuerdings von meiner guten Arbeit profitiert. Er ist reicher. Glücklicher. Jetzt ist der perfekte Moment für ein Angebot. Sucht in Taku seine Gesellschaft und gebt ihm ein Zeichen des guten Willens.«

»Um der Platin-Affäre ein Ende zu setzen, meint Ihr«, erwiderte Oyaluk leise, als erinnere er sich an einen verlorenen Traum. »Auf dass die Welt wieder normal werde.«

Yangchen nickte. Wenn die offene Kommunikation zwischen dem Erdkönigreich, dem Wasserstamm und der Feuernation wiederhergestellt würde, bräuchte man keine Shangs und Zongdus mehr – und damit würden auch die vielen Ungerechtigkeiten verschwinden, die sie mit sich brachten.

Ihr war klar geworden, dass das Shang-System lediglich ein Symptom für die zugrunde liegende Krankheit war, Schorf auf einer Wunde, die die Länder auseinanderklaffen ließ. Yangchen würde mit bloßen Händen das triefende Fleisch wieder zusammennähen, wenn es sein musste. »Wir müssen unsere Fehler nicht unkorrigiert lassen und die Übel dieser Welt nicht akzeptieren, bloß weil sie schon so lange überdauert haben. Gebt mir Eure Unterstützung und wir werden gemeinsam dafür sorgen, dass die Vier Nationen einander nicht mehr hassen und fürchten müssen.«

Die Aufgabe war groß, monumental, doch wenn Yangchen Erfolg hatte, dann würde die Ursache eines tiefen und beständigen Leidens aus der Welt verblassen. Ich könnte es in die Geschichtsbücher schaffen, als hinlänglicher Avatar, dachte sie. Ich könnte meinen Reinkarnationen ohne Schande entgegentreten.

Es folgte eine lange Pause und das Tröpfeln von Wasser wurde immer lauter. Oyaluk machte eine kleine Wischbewegung mit den Fingern, eine Bitte an Yangchen, die Winde zu erneuern, die ihr Gespräch geheim hielten. Als sie ihr nachgekommen war, straffte er sich. Die Haltung einer gefällten Entscheidung.

»Es wird nicht funktionieren. Ihr werdet Feishan niemals dazu bringen, seinen Stolz herunterzuschlucken. Und er ist keinesfalls glücklicher. Sollte er das bei Euren Treffen behaupten, so lügt er. Der Erdkönig will Vergeltung, keinen Frieden.«

Yangchen fragte sich, um wessen Stolz es in Wirklichkeit ging. »Ihr sprecht ohne jede Grundlage.«

Einen Augenblick lang verhandelte Oyaluk mit sich selbst, als erwöge er, wie viel er ihr gegenüber preisgeben konnte. »Meine Ratgeber berichten mir, Feishan sei in den letzten Wochen extrem aufgebracht gewesen wegen bestimmter neuer Informationen, die er erlangt habe. Gegen jede Vernunft glaubt er nun wohl, der Feuerlord und ich wären für die Zerstörung in Bin-Er verantwortlich. Als hätten wir irgendeine geheime Waffe gegen ihn eingesetzt.«

Später würde Yangchen vielleicht zurückblicken und denken, sie habe in diesem Moment die beste schauspielerische Leistung ihrer Karriere zustande gebracht. Ihr blieb nur eine Sekunde, um ihr Herzklopfen zu bekämpfen und einen passenden Gesichtsausdruck zusammenzuschustern. Die Lippen kaum merklich geschürzt, die Augen nicht zu fest zusammengekniffen, die richtige Stimmlage, ein angemessenes Innehalten. Bei ihrer Antwort kam es ebenso auf das Tempo an wie auf die Kraft.

»Ha!« Niemand würde je erfahren, wie viel Mühe sie dieser höhnische Laut gekostet hatte. »Wie solltet Ihr es denn bitte vollbracht haben, die Geister über der Stadt von der anderen Seite des Ozeans aus zu verärgern?«

Zu ihren größten Schwierigkeiten gehörte, sich ihre eigenen Lügen zu merken. Fabrizierte Geschehnisse waren wie eine Vision, die sie herbeizwingen musste, anders als jene, die im Schlaf so spielend leicht von ihr Besitz ergriffen. »Die Versäumnisse des Erdkönigs in Bezug auf Bin-Er haben die Himmelsfeuer erblühen lassen. Sie blieben aus, nachdem ich dort die Zügel übernommen hatte.« Je öfter sie diese Lügengeschichte wiederholte, desto tiefer würde sie sich verwurzeln. Zumindest hoffte sie das.

»Es spielt keine Rolle, ob Feishan sich hinsichtlich der Ursache irrt oder nicht. Durchaus eine Rolle spielt jedoch, dass er gerade Streitkräfte bewegt und Berichten zufolge durch die Flure seines Palasts streicht und dabei irgendwas von Rache murmelt. Ersteres haben meine Schmalklauen bereits bestätigt. Vor einer siebzehnjährigen Luftnomadin, die an das Gute im Menschen glaubt, mag man seine Absichten geheim halten, doch Tausende von Männern, die die Straße entlangmarschieren, lassen sich nicht verbergen.«

Yangchen wollte schreien, so laut, dass der Wirbelwind sich zerstreute. Die einfachste Erklärung für den sprunghaften Anstieg von Feishans Aggression war, dass ihm gegenüber jemand die Wahrheit über Eintracht hatte durchsickern lassen.

Der Weiße Lotus wusste von der Existenz der Feuerbändiger. Gut möglich, dass einer seiner eigenen Anhänger den Geheimbund verraten hatte. Er sollte eigentlich nationslos sein, bestand allerdings aus Menschen, von denen jeder eine Vergangenheit, Loyalitätsgefühle und alte Verbindungen mitbrachte. Vielleicht war das Geheimnis für Geld verkauft worden. Soweit Yangchen wusste, bezahlte die Organisation ihren Anhängern nichts.

Das Schlimmste war jedoch, dass sie dem Weißen Lotus dieses vollständige Bild von Eintracht geliefert hatte. Sie war froh, dass sie zumindest das Schicksal der Feuerbändiger vor ihnen geheim gehalten hatte. Ich hätte Mama Ayunerak niemals um Hilfe bitten sollen, damals in Port Tuugaq. Ich hätte nie irgendwen um Hilfe bitten sollen.

»Ich muss darauf reagieren«, sagte Oyaluk. »Meine eigene Armee mobilisieren. Sollte es zu Kriegshandlungen kommen, wäre die Seite im Vorteil, die zuerst zuschlägt, und der Wasserstamm muss bereit sein.«

»Bereit wozu? Von seinem Häuptling in einen sinnlosen Konflikt gestürzt zu werden?«

»Wir sind keine Luftnomaden, Avatar!«, fuhr Oyaluk sie an. »Ihr solltet nicht vergessen, dass wir nicht alle beim ersten Anzeichen von Ärger davonfliegen können, mit unversehrtem Edelmut! Der Rest von uns muss überleben, hier unten auf dem Erdboden!«

Er bewegte seinen Unterkiefer von einer Seite zur anderen und senkte die Stimme wieder. »Ich muss meinen Generälen so viel Zeit wie möglich verschaffen und mit einem Lächeln im Gesicht der Versammlung beiwohnen, damit ich Feishan nicht vorwarne. Es ist nie angenehm, sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen mit einem Feind zusammenzusetzen.«

Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Ihre Worte drangen ihr über die Lippen, als müssten sie sich durch Schlamm kämpfen. »Ihr rast auf einen Krieg zu, den Ihr nicht wollt … basierend auf Informationen, von denen ihr wisst, dass sie falsch sind … während Ihr zugleich so tut, als ginge nichts Außergewöhnliches vor sich.« Ihre Langsamkeit entsprang nicht ihrer Fassungslosigkeit. Sie hatte lediglich schon unzählige Male mit ansehen müssen, wie sich genau diese Ereignisse abspielten.

»Es ist die einzig vernünftige Vorgehensweise. Ich kann mir zusammenreimen, dass Feuerlord Gonryu Euren Antrag ebenfalls abgelehnt hat. Nicht dank irgendwelcher geheimen Botschaften, sondern weil ich weiß, dass er genauso denkt wie ich.«

»Ängstlich.«

»Realistisch. Ich wünschte, die Umstände wären anders, Avatar. Doch sie sind es nicht.«

Aus Hochachtung wartete er, bis sie das Gespräch beendete. Ohne ihre fortdauernden Bemühungen war der Wind abgeklungen und sie wurden beide wieder Teil der Welt ringsum. Yangchen hatte sich an Oyaluks Tisch gesetzt, ohne ihm mehr bieten zu können als den Pfad zu einer besseren Zukunft. Welch dürftiges Geschenk sie ihrem Gastgeber da mitgebracht hatte.

Sie fühlte sich erschöpft und ausgehöhlt wie selten seit ihrem Kampf gegen General Eisengrau. Es kostete so viel Mühe, den Stützbalken auch nur ein kleines Stück anzuheben. Und die kleinste Brise konnte alles zum Einsturz bringen.

»Für den Rest meines Aufenthalts würde ich gern ungestört bleiben«, sagte sie mit rauer Stimme. »Danke, dass Ihr mich empfangen und … angehört habt.«

»Natürlich, Avatar.« Er klang, als täte es ihm aufrichtig leid. Mehr hatte sie ihm nicht abringen können. »Ihr werdet in meiner Halle stets willkommen sein.«

Das Plätschern des Wassers umfing sie, als sie sich zum Gehen wandte. Die rauschenden Wasserfälle klangen plötzlich laut und durchdringend. Als sie die offene Banketthalle zur Hälfte durchquert hatte, räusperte sich der Häuptling. Sie wandte sich um.

Aus dieser Entfernung war sein Gesicht nicht gut zu erkennen. Seine Silhouette verdeckte die Sterne am Nachthimmel. Er wirkte einsam. Schrecklich allein. Sie wusste, dass sie ihm exakt den gleichen Anblick bot.

»Mein Cousin Akuudan«, sagte der Häuptling. »Ist er wohlauf?«

»Das ist er.« Akuudan hatte als einer der Quartiermeister die Geldmittel bewacht, die der Wasserstammeshäuptling und der Feuerlord General Nong hatten zukommen lassen. Und nachdem die Armee des Erdkönigs ihn gefangen genommen hatte, war Yangchen diejenige gewesen, die ihn befreit hatte, nicht Oyaluk.

»Er weiß, dass ich mich nicht mit hineinziehen lassen konnte«, sagte Oyaluk. »Hätte man die Verbindung zwischen uns entdeckt, wäre er eine zu wertvolle Geisel geworden. Ein Druckmittel. Das ist ihm doch bewusst, oder?«

In seinen Worten schwang die Frage mit, ob Akuudan ihm vergeben hatte, dass er die Wahl eines Herrschers getroffen hatte statt der eines Bruders. Yangchen konnte nicht für ihren Freund sprechen.

»Ihr habt das Vernünftige getan«, sagte sie. Dann wandte sie sich abermals um und ging davon.

DIE GEISTEROASE

DAS GESCHÄFTLICHE ÜBER DIE FAMILIE zu stellen, war ein Drahtseilakt, den Yangchen gut kannte. Sie hatte ihren Besuch des Nordpols so geplant, dass sie sich um beides kümmern konnte. Vielleicht hätte sie die Reihenfolge umkehren sollen. Staatsfragen den Vorrang einzuräumen, hatte ihr bei Oyaluk nicht geholfen.

Die Suche nach ihrer Schwester hatte sie zur Geisteroase zurückgeführt, einer Trickschachtel mit vielen Ebenen. Wasser inmitten von Land inmitten von Wasser inmitten von Eis, verborgen hinter einer unscheinbaren Holztür. Die Oase, tief in Agna Qel’a, war nicht von Menschenhand erschaffen worden, sondern möglicherweise von Tui und La, den Geistern des Mondes und des Ozeans. Yangchen hatte mehr Grund als andere, die Geschichte zu glauben.

Als sie eine der geschwungenen Brücken überquerte, die auf die kleine grüne Insel im Zentrum der Oase führte, wurde sie sogleich in Wärme gebadet. Das Wasser unter ihren Füßen war reglos und warf kein Spiegelbild zurück. Ihre Schritte auf den Planken, lauter, als es ihr recht war, kündigten ihre Gegenwart an.

Sie roch die immerzu reifen Satsumas, den stets blühenden Osmanthus, die üppige Vegetation, von den Energien der Oase genährt, sodass sie auf dem Gipfel der Lebenskraft verharrte, ungeachtet der Jahreszeit und der Außentemperatur. Nur gut, dass sie Pik und Pak nicht mitgebracht hatte. Sie hätten sich mit den Früchten den Bauch vollgeschlagen und die heilige Stätte kahl gefressen.

Der Teich im Herzen des Nordens war kein perfekter Kreis. Ein Rand bog sich einwärts, als hätten Tui und La gewusst, dass die Menschen mit ihren Bedürfnissen, Begehrlichkeiten und Schwächen zum Wasser kommen würden, auf der Suche nach Rat. Die Geister hatten den Menschen einen hübschen Ort gewährt, an dem sie sitzen konnten. Yangchen ließ sich ins Gras sinken und verschränkte die Beine zur Lotusposition.

Vor ihr schwammen die ewigen Koi endlos im Kreis herum und das Wasser, das sie verdrängten, schwappte gegen den Rand des Teichs, der ihr gesamtes Universum darstellte. Yangchen hatte – wie es der Brauch war – den Tee getrunken, der aus den Blättern der Büsche der Oase selbst gebraut wurde, und geborgte Kraft strömte durch ihre Adern.

Sie musste ganz im Hier und Jetzt sein, wachsam. Die Geisteroase war ein Ort höchsten Friedens. Rasch konnte er sich jedoch zu einem Ort unaussprechlicher Gefahr wandeln.

Ihre Fingerknöchel berührten sich in ihrem Schoß, Pfeilspitze an Pfeilspitze. Eine Faust öffnet oder schließt sich. Sie kann nicht beides zugleich tun.

Sie hatte schon zuvor meditiert, um in der Geisterwelt nach Jetsun zu suchen, viele Male, und war stets mit Leichtigkeit durch den Schleier geschlüpft. Sie entspannte sich dann immer, schloss die Augen, öffnete sie wieder für das Licht, das keiner Quelle entsprang, und fand sich selbst in einem grünen Feld stehend wieder oder in einem einladenden Wald. Geister, stille und geschwätzige, begrüßten sie, große stumme Bäume neigten feierlich den Stamm, bis ihre Krone den Boden streifte, und Giftpilze sangen Fünftonharmonien. Ab und an fand sich ein Bestiarium zusammen, Geister mit Tiergestalten, die sich aus Neugierde um Yangchen scharten, Wesen mit Hufen oder Flügeln, die abwechselnd an ihrer ausgestreckten Hand schnüffelten.

Vor den Geistern, die reden konnten und es auch tun würden, musste man sich am meisten hüten. Yangchen hatte darüber nachgedacht, warum sie manchmal so verstörend sein konnten und warum in ihren Augen so viel Anklage lag, wenn sie denn welche hatten. Jetsun hatte ihr die Antwort gegeben, vor langer Zeit. Geister stellten selten Fragen oder rangen mit Missmut. Sie existierten einfach.

Was bedeutet, dass bei jeder Begegnung man selbst der Störenfried war. Die Schuldfrage war bereits geklärt. Menschen waren von Natur aus Eindringlinge.

Dies würde die erste Meditation in der Geisteroase sein, bei der sie den Hinweis verwendete, den die Phönixaale von Ma’inka ihr gegenüber fallen gelassen hatten, in jener Vision, mit der sie sie gequält hatten. Der Nebel. Ich muss den Nebel finden. Manchmal konnte ein Reisender an einen bekannten Ort in der Geisterwelt überwechseln, wenn er genug Konzentration und Willenskraft aufbringen konnte. Stell dir den Nebel vor.

Die Haut auf ihren Handrücken spannte sich und zog die eintätowierten Pfeile in die Länge. Sie konnte die Enttäuschungen des Tages nicht abschütteln. Geschäftliches zuerst war die falsche Entscheidung gewesen.

Oyaluks Zurückweisung des Friedens stand in uralter Tradition. Die Vier Nationen gaben sich stets die größte Mühe, um von einer Klippe zu marschieren. Und Yangchen, der aktuelle Avatar, versuchte nun, sie von der Kante zurückzuziehen. Keinem ihrer vergangenen Leben war es gelungen, die selbstzerstörerische Natur der Menschheit einzudämmen.

Wenn ein Kind nicht aufhört zu schreien, so sehr man es auch tröstet, soll man es im Feld zurücklassen.

Yangchen runzelte die Stirn. Während sie mit geschlossenen Augen dasaß, schoss ihr dieses merkwürdige, lieblose Koan im Kopf herum wie ein flatternder Vogel auf der Suche nach der Käfigtür. Sie fragte sich, woher es stammte.

Dann fiel es ihr wieder ein. Es war eine Lektion aus dem dünnen Band von Guru Shoken, jenem Philosophen aus alter Zeit, auf dessen Werke ausgerechnet Zongdu Chaisee sie aufmerksam gemacht hatte.

Sie schnaubte leise und störte damit die Ruhe der Oase. Vielleicht hatte Shoken recht. Vielleicht musste die Welt, die so unbekümmert am Abgrund tanzte, erfahren, wie es war, wenn man in die Tiefe stürzte.