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Die Sammlung enthält acht Erzählungen, die zum ersten Mal komplett in Deutsch erscheinen. Die Originalerzählungen erschienen 1914 in London zum ersten Mal als Buch, davor erschienen sie in lockerer Folge in Zeitschriften. Es war ihr einziger Ausflug ins Genre des damals so beliebten Schauerromans. Der Geisterseher Aylmer Vance arbeitet in etwa wie Sherlock Holmes, nur ohne einen Freund und Berater. Auch sind seine Geschichten sehr mysteriös. Wober Aylmer Vance Alle Kurzgeschichten wurden bereits als Hörspiele umgesetzt.
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Seitenzahl: 255
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e-book 048
Übersinnliche Detektive 1
Erste Auflage 01.05.2018
© Saphir im Stahl
Verlag Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
www.saphir-im-stahl.de
Übersetzung: Tanja Bröse-Kronz
Lektorat: Esther Haffner
Titelbild: Katrin Schuster
Druck: Sowa Sp. z. o. o. Warszawa, Polen
eISBN: 978-3-96286-006-6
Alice (18.06.1874 - 06.10. 1917) und Claude Askew (27.11.1865 - 06.10.1917) waren ein britisches Ehepaar. Sie schrieben für eine Reihe von Magazinen und Zeitungen. „Aylmer Vance: Ghost-Seer“, erschienen 1914 und enthält acht Erzählungen.
Übersinnliche Detektive 1
Geister-Seher
Alice und Claude Askew
Der Eindringling
The Invader
Der Fremde
The Stranger
Lady Green-Sleeves
Lady Green-Sleeves
Das unauslöschbare Feuer
The Fire Unquenchable
Der Vampir
The Vampire
Der Spitzbube von Blackstock
The Boy of Blackstock
Das unlösbare Band
The Indissoluble Blood
Die Furcht
The Fear
„Was für eine wundervolle Vollmondnacht!“ Die Worte formten sich langsam von Aylmer Vance’s Lippen, dann drehte er sich um und schaute mich seltsam an. Wir waren Stammgäste des gleichen kleinen Gasthofes in Surrey und gerade aus dem heißen, stickigen Salon in den kühlen und duftenden Garten getreten.
„Berührt Sie das Mondlicht auf irgendeine Weise?“, fragte Vance. „Erfüllt Sie die Nacht mit unbestimmten Sehnsüchten? Verlangt es Sie, die Geheimnisse des Universums zu entdecken – mehr zu wissen, als für einen Menschen gut ist – vielleicht in die Zukunft zu schauen?“
Ich nickte.
„Ja“, antwortete ich langsam, dann wandte ich mich meinem Begleiter zu. „Sie haben übersinnliche Phänomene ziemlich intensiv studiert, nicht war, Vance? Ich wünschte, Sie würden mir etwas über die unterschiedlichen Erfahrungen erzählen, die Sie über die Jahre gemacht haben, während Sie für den ‚Ghost Circle‘ ermittelt haben.“
Vance schüttelte seinen Kopf. „Nein, nein“, antwortete er hastig. „Das würde Sie nicht wirklich interessieren, Dexter. Sie sind ein angesehener Staatsanwalt, mein Freund. Sie glauben nicht an Übersinnliches.“
„Da liegen Sie falsch“, erwiderte ich. „Die Themen interessieren mich sehr, und heute Nacht ist die geeignete Nacht für eine Geistergeschichte. Da hängt ein weißer Zaubermond am Himmel – die Kiefern sehen unheimlich aus auf die Entfernung – und lauschen Sie, wie der Wind in ihren Ästen seufzt.“
Aylmer Vance lächelte. Er war ein merkwürdig aussehender Mann, groß und schmal gebaut, mit blassem, aber deutlich interessiert wirkendem Gesicht. Seine Augen waren strahlend blau, sehr scharf und aufmerksam, und er hatte lange dünne Finger. Da war eine bestimmte Härte an ihm – eine frostige Strenge –, aber seine Stimme, in seltsamem Kontrast zu seinem Aussehen, war voll und weich, und ich war unter den Bann seiner fesselnden Persönlichkeit gefallen.
Wir hatten uns zum ersten Mal vor etwa zwei Monaten auf einer Dinnerparty in London getroffen – ein Männerdinner – und ich war zu dieser Zeit sehr interessiert an Aylmer Vance gewesen. Er wurde mir als Geister-Seher vorgestellt. Mir war erzählt worden, dass die Geisterjagd seine Leidenschaft war. Und jetzt? Und jetzt, wie das Glück es so wollte, waren wir uns wieder über den Weg gelaufen, da wir im gleichen kleinen Gasthof in Surrey untergekommen waren. Ich war an diesem Tag zum Fischen hergekommen, aber ich konnte nicht herausfinden, was Aylmer Vance verlasste, eine Woche im Magpie Inn zu verbringen. Aber wie auch immer, er war hier.
Wir hatten uns gegenseitig wiedererkannt und beim Abendessen in stillschweigender Übereinstimmung am selben kleinen runden Tisch Platz genommen, und nun, als wir unsere Zigaretten rauchend im Garten standen, hoffte ich, dass unsere Bekanntschaft schließlich in eine Freundschaft übergehen würde – eine wirkliche Freundschaft. Aber ich hatte gehört, dass Vance nur sehr, sehr selten Freundschaften begann, dass er sehr abgeschieden und zurückgezogen lebte. Er war recht gut situiert und besaß eine alte gregorianische Villa irgendwo in Essex, aber er war nicht oft in England. Er war immer auf Reisen – der geborene Wanderer – und, unnötig zu erwähnen, Junggeselle.
„Wenn Sie wirklich interessiert sind, erzähle ich Ihnen gerne über die drei oder vier seltsamen Erfahrungen in den Jahren, die ich der Nachforschung über übersinnliche Phänomene gewidmet habe.“ Aylmer Vance warf seine Zigarette weg, während er sprach. Ein seltsamer Ausdruck kam in sein Gesicht.
„Ich hatte bestimmt ein paar erstaunliche Abenteuer“, fuhr er fort. „Ich bin allen möglichen Sorten von Menschen begegnet. Ich hatte die Möglichkeit, diverse Betrugsfälle seitens des sogenannten ‚Mediums‘ aufdecken zu können – auch nachzuweisen, dass oft natürliche Gründe für den ‚Spuk‘ verantwortlich sind, der in verschiedenen Häusern vor sich geht. Aber ich muss zugeben, dass ich ein oder zwei Mal absolut verblüfft war – unfähig zu beurteilen, was ich mit meinen eigenen Augen, mit meinen eigenen Ohren gesehen und gehört hatte.“ Vance machte eine Pause und legte eine lange, dünne Hand auf meinen Arm.
„Lassen Sie uns zu dem Sommerhaus am Ende des Gartens gehen und uns setzen, und ich werde Ihnen erzählen, was vor sechs Jahren zwei Freunden von mir passiert ist – Annie Sinclair und ihrem Mann – da ich noch niemals so mitgenommen war wie von der Sinclair-Tragödie. Tatsächlich war es die Sinclair-Affäre, die mich zum ersten Mal veranlasst hatte, mich für parapsychische Recherchen zu interessieren. Die ganze Episode war so in Mysterium eingehüllt, dass ich es mir noch nicht mal jetzt selbst erklären kann. Es liegt für mich immer noch im Dunkeln, was wirklich passiert ist.“
Eine merkwürdige, sehr eindringliche Note stahl sich in Aylmer Vance’s Stimme, als er die letzten Worte sagte. Seine Augen blickten in die Ferne.
„Ja, ich werde Ihnen erzählen, was den Sinclairs passiert ist“, wiederholte er. „Meine Geschichte wird Ihnen beweisen, wenn sie schon nichts anderes beweist, wie gefährlich es ist, sich mit den Kräften anzulegen, über die wir so wenig wissen.“
Immer noch die Hand auf meiner Schulter führte er mich in die Richtung des Sommerhauses, das am untersten Ende des Gartens stand, und ich erinnere mich, wie durchdringend der Duft der Kiefern war – wie überwältigend penetrant – und der Wind raschelte und schluchzte merkwürdig in den Kiefernzweigen – ein leises, monotones Klagen.
Wir setzten uns in das Sommerhaus und ich zündete eine Zigarette an. Das Mondlicht war an diesem Abend besonders hell, erinnere ich mich. Es erleuchtete den ganzen Garten. Aber der Kiefernwald wirkte seltsam verschwommen und schwarz in der Ferne, und es schauerte mich. Dennoch wünschte ich, mein Begleiter würde mit seiner Geschichte beginnen. Ich war sicher, sie war es wert zu hören.
„George Sinclair war mein bester Freund, als wir zusammen in Oxford waren“, begann Vance, „und nachdem wir Magdalen verlassen hatten, hielten wir unsere Freundschaft aufrecht und trafen uns regelmäßig. Dann ging ich für zwei oder drei Jahre ins Ausland. Als ich nach England zurückkam, hatte George großartige Neuigkeiten für mich. Er hatte sich gerade mit einem schottischen Mädchen verlobt. Ihr Name war Annie Riddell. Ich fuhr nach Schottland zur Hochzeit. Tatsächlich war ich George’s Trauzeuge, und ich muss zugeben, dass ich ihn um seine Braut beneidete, denn Annie sah an ihrem Hochzeitstag aus wie eine junge Göttin. Sie war groß und blond – eine ziemlich große Frau, mit einem wunderhübschen, friedvollen Gesicht und sehr süßen, blauen Augen. Sie strahlte eine immense Gelassenheit aus. George war just das Gegenteil – sehr ruhelos und aufgeregt, dunkel, dünn und von geringer Größe. Aber sie waren verrückt vor Liebe zueinander, die beiden – so sehr wie ein Mann und eine Frau sich lieben können, denke ich, und als ich sie sechs Monate später an George’s Heimatort Wiltshire besuchte, war es wirklich erfreulich – in diesen Tagen von vielen schlechten Ehen – zu sehen, wie fürsorglich ein Mann und eine Frau füreinander sein können. Allerdings gab Annie für meinen Geschmack etwas zu viel auf George. Sie schien kaum einen eigenen Willen zu haben – was immer er sagte, war Gesetz für sie. Aber auf der anderen Seite war George selbst Annie völlig ergeben. Er hielt sie für die schönste und perfekteste Schöpfung auf Gottes Erde – er betete sie offen den ganzen Tag lang an, und Annie akzeptierte diese Anbetung mit einer friedlichen Gelassenheit. Wenn sie nicht so hübsch gewesen wäre, hätte ich sie wahrscheinlich für eine glanzlose Frau gehalten, da sie bestimmt keine eigenen Ideen einbrachte, aber sie war so wunderhübsch anzusehen, dass wohl niemand sich lange mit ihr unterhalten wollte. Man konnte Annie stundenlang anstarren, wie man ein schönes Bild anstarrte, und mit demselben Vergnügen.“
Vance hielt für eine Minute inne. Er schien direkt in den Kiefernwald zu starren, dann drehte er sich plötzlich mit einer für ihn typischen schnellen Bewegung zu mir um.
„Ja, sie waren unheimlich glücklich, diese beiden, für die ersten drei oder vier Jahre ihres Ehelebens – außerordentlich glücklich –, aber sie begannen, dann und wann etwas enttäuscht zu sein, da keine Babys kamen – nicht dass das für ihre Liebe zueinander irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Ihr gemeinsames Leid schweißte sie noch mehr zusammen. Aber George, da er keine Kinder hatte, mit denen er sich beschäftigen konnte, setzte es sich in den Kopf, sich mit Okkultismus zu beschäftigen.
Das Thema hatte ihn schon immer fasziniert, bereits als kleiner Junge, und dann, eines Tages, wie das Unglück es wollte, wurde Georges Aufmerksamkeit von einem befreundeten Archäologen, der sich gerade mit den Sinclairs in den Grey Towers aufhielt, auf die Tatsache gelenkt, dass er eine Grabstätte auf seinem Grundstück hatte. Sie wissen, was ich mit Grabstätte meine, nicht wahr? Eine dieser alten britischen Begräbnisstätten, von denen immer noch ein paar in England gefunden werden.
Nun, George, angestachelt von seinem Freund, begann die Grabstätte auszuheben, und seine Anstrengungen wurden belohnt, als er zwei schwere goldene Armbänder dort fand, und Sie können sich nicht vorstellen, wie aufgeregt George darüber war. Er hatte die Theorie, dass diese Armbänder einst einer druidischen Priesterin gehört hatten, und er brachte sie zu einem Medium, das ihm eine Menge Seemannsgarn um die Frau, die sie einst getragen hatte, spann. Sie sei eine britische Prinzessin gewesen, eine sehr hübsche, aber auch sehr eifersüchtige, hartherzige Frau, die eine seltsame Liebesaffäre gehabt hatte und von ihrem Liebhaber umgebracht worden war.
George nahm diese Geschichte eifrig in sich auf, und dann musste diese blöde Närrin von Medium ihm einreden, dass er selbst übersinnliche Kräfte besaß, und dass Annie – die, unnötig zu erwähnen, George immer bei seinen Besuchen zu dem Medium begleitete – die hübsche, ruhige, meditative Annie, ein wunderbares Trance-Objekt sein würde.
Als George dies hörte, beschloss er, seine Kräfte zu schulen, und Annie, die schon immer seit ihrer Hochzeit Wachs in seinen Händen gewesen war, ließ sich in Trance versetzen, wann immer er sie darum bat. Ich denke nicht, dass sie selbst in irgendeiner Weise an okkulten Dingen interessiert war – zumindest zu Anfang nicht, dennoch tat sie so, als hätte sie Interesse, George zuliebe, aber schnell wurde ihr bange. Ihr als sensibler Frau wurde bewusst, dass mit okkulten Studien immer ein gewisses Maß an Gefahr einherging.
Außerdem wollte sie gar nicht spüren – so erzählte sie mir jedenfalls eines Tages –, dass die Geister toter Menschen durch sie mit George sprachen, da Annie ernsthaft glaubte, dass, wenn sie in einer ihrer seltsamen Trancen war, sie wirklich das Kommunikationsmedium zwischen den Lebenden und den Toten wurde. Sie stellte niemals ihre eigenen Kräfte in Frage, aber sie fürchtete sich vor ihnen.
Mit der Zeit belastete sie die ganze Sache – es schlug ihr auf die Nerven, aber George konnte es nicht sehen – oder wollte es nicht. Abend für Abend bestand er darauf, Annie in Trance zu versetzen – er wurde niemals müde, mit ihr zu experimentieren. Er schien nicht zu begreifen, dass diese Experimente die Gesundheit seiner Frau zerstören würden – dass sie Annies ganzes System zerschlagen könnten. Zu der Zeit glaubte er, durch sie als Instrument würden die Geheimnisse der Anderswelt enthüllt werden – dass zuletzt eine Verbindung zwischen der Geisterwelt und unserer Welt geschaffen würde.“ Vance pausierte. Er warf seine Zigarette weg – nahm einen tiefen Atemzug.
„Hören Sie, ich möchte George nicht zu viel Vorwürfe machen. Er war ein Erforscher auf unbekannten Ebenen, und, wie jeder andere Erforscher, war er bereit, auch sein Liebstes und Nächstes zu opfern, und ich glaube, Annies Trancen waren durchaus echt. Ich denke nicht für einen Moment, dass sie die Dinge, die sie sagte, erfunden hatte. Abgesehen davon, war sie nicht diese Art Frau – und sie war auch nicht hysterisch.“
„Also denken Sie, diese Trancen waren echt?“, merkte ich an.
„Ja, das tue ich“, antwortete Vance. Er lehnte sich nach vorne und runzelte die Stirn. Ich dachte, wie blass sein Gesicht im Mondlicht aussah, wie gespenstisch weiß. Ich bemerkte, wie fest er seine Hände ineinander verschränkte. Es war ein Zeichen, wie tief ihn seine Geschichte emotional berührte.
„Ich muss zugeben, dass ich mit der Zeit äußerst interessiert an Annies seltsamen Trancen wurde, besonders, wenn der Geist dieser britischen Prinzessin, die die in der Grabstätte gefundenen Armbänder getragen haben sollte, Besitz von Annie ergriff und durch ihren Mund sprach – und diese Prinzessin hatte eine ganze Menge zu sagen – seltsame, verquere Sachen.
Sie erzählte uns, dass sie es zutiefst bedauerte, dass sie tot war – dass sie es danach verlangte, wieder zu leben, auf der Erde zu wandeln. Sie gab zu, dass sie einer dieser rastlosen, gequälten Seelen war, die in der Sprache der Parapsychologen als ‚erdgebundene Geister‘ galten – dass all ihr Verlangen materieller Art war, und sie erzählte George später mit dreister Unverschämtheit, dass sie sich ihn verliebt hatte und dass sie in dem Körper seiner Frau bleiben wollte – sozusagen Annies Platz in seinem Leben einnehmen wollte. Ihre Sprache war einfach und ungeschminkt, das kann ich versichern, nahezu primitiv. Es versetzte mir quasi einen Schock, diese Worte von Annies Lippen zu hören, während sie sich dessen nicht bewusst war, armes Mädchen.“ Vance rutschte in seinem Stuhl herum – seine Lippen zusammengepresst. Er sah blasser aus, als ich es bei einem Menschen für möglich gehalten hätte.
„Nach der zweiten oder dritten Séance, so fesselnd und interessant sie auch waren, wurde mir mulmig. Die ganze Sache erschien mir furchtbar widerwärtig, diese tote Frau, die George in höchst leidenschaftlicher Sprache beschwor und die Frechheit besaß, vorzuschlagen, dass sie es versuchen könnte, Annies sanftmütigen Geist aus dem Haus zu halten – weiterhin in Annies Körper zu bleiben. Ich sagte George, dass die Séancen aufhören mussten, aber er hörte nicht auf mich. Er war viel zu interessiert – viel zu eifrig, seine Experimente fortzusetzen.
Eine paar Nächte später sprach Annie selbst mit ihm und weigerte sich, weitere Trancen einzuleiten. Sie erklärte, dass es sehr schwierig gewesen war, den Geist der Prinzessin nach der letzten Séance loszuwerden – dass quasi ein Kampf stattgefunden hatte zwischen ihrer eigenen Seele und der der toten Frau, und dass sie nicht willens war, einen solchen Konflikt nochmal zu riskieren.
George lachte sie aus. Er dachte, Annie sprach närrisch, aber gleichzeitig war er ernsthaft verärgert, weil sie mit den Séancen aufhören wollte – er bestand darauf, dass sie fortfahren mussten – er war absolut entschlossen, mit seinen Nachforschungen weiterzumachen.
Nun, Annie widerstand für eine lange Zeit, aber im Ende gab sie nach. Sie war die gutherzigste Frau der Welt, denke ich, und obwohl sie kein Geheimnis daraus machte, dass sie es verabscheute, in Trance versetzt zu werden, lachte George sie nur aus und brachte sie schließlich dazu, es wieder zu tun, aber Annie betonte, es wäre nur noch für dieses eine Mal. Ich weiß nicht, ob George glaubte, sie würde ihre Worte wahrmachen, aber er bat mich zu Grey Towers zu kommen und dieser letzten Séance beizuwohnen, aber ich konnte nicht, so waren die beiden sich selbst und Georges teuflischen Tricks überlassen.“ Vance stand abrupt auf. Er sah sehr dünn und hager aus. Die Sinclair-Tragödie schien zu seiner eigenen Tragödie geworden zu sein.
„Sogar jetzt, nach all den Jahren, Dexter, werde ich krank, wenn ich daran denke, was da in Grey Towers passiert ist. Wissen Sie, ich habe im Nachhinein alles erfahren – von George.“ Vance ging zur Tür des Sommerhauses. Sein dünnes Gesicht arbeitete schmerzerfüllt. Er verschränkte immer wieder die Hände.
„George erzählte mir, sie saßen in einer Samstagnacht zusammen. Er hatte Annie wieder in Trance versetzt – Annie war sehr nervös und unwillig – und nach einer Weile kam die britische Frau und nahm wie üblich von ihr Besitz. Um die Verbindung so stark wie möglich zu machen, hatte George darauf bestanden, dass Annie die goldenen Armreifen aus der Grabstätte trug, und so, mit dem schweren Geschmeide an ihrem Arm, diesem Relikt aus barbarischen Zeiten, saß Annie für die Studien ihres Ehemannes, ein passiver Vermittler für das, was geschah. Aber bevor die Séance begann, wiederholte sie, was sie schon zuvor gesagt hatte. Sie sagte George, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie ihm erlaubte, sie in Trance zu versetzen – dass die Rückkehr in ihren eigenen Körper so schwierig war. Sie sagte, kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, dass sie es wirklich nicht noch einmal machen würde – dass er sie nicht darum bitten dürfte, und dass ihre Sprache ausfallend war, denn ich wette, die britische Frau wusste, dass Annie meinte, was sie sagte, und so wusste sie, dass sie niemals mehr die Chance haben würde, mit Annies Lippen zu sprechen – ihre nackte Seele mit Annies Körper zu kleiden, und so entschloss sie sich, ihre ganze Stärke gegen Annie einzusetzen – um für das zu kämpfen, was sie wollte.“
„Aber was ist passiert?“, unterbrach ich ungeduldig. „War es für Mrs. Sinclair sehr schwierig, aus der Trance zu kommen? Hat ihr Herz ausgesetzt – starb sie in dieser Nacht?“
„Ich wünschte, sie wäre es – ich wünschte es bei Gott“, antwortete Vance bitter. „Aber etwas Schlimmeres – viel Schlimmeres – stieß Annie zu. Die britische Teufelin übernahm vollständig den Besitz von Annies Körper, weigerte sich, wieder zu gehen, denn als George Annie aus der Trance aufwecken wollte, starrte ihm eine andere Frau – eine leidenschaftliche, primitive Frau – aus den Augen seiner Ehefrau entgegen, und er wusste, was Annie so befürchtet hatte, war geschehen. Ein neuer Pächter hatte ihren Körper bezogen – ein Pächter, der nicht gehen würde. Können Sie sich eine fürchterlichere Situation vorstellen, Dexter? Können Sie das?“ Vance drehte sich zu mir und legte eine Hand auf meinen Arm. Ich konnte seine Finger zittern fühlen.
„Ich erwarte nicht, dass Sie meine Geschichte glauben – sie klingt ziemlich unglaublich – ich denke noch nicht mal, dass ich sie selbst glaube. Aber George hat mir geschworen, dass Annies sanftmütige Seele nicht in ihren Körper zurückkehren konnte, den die britische Frau übernommen hatte. Er berichtete, dass Annies Gesicht sich vor seinen Augen veränderte – dass ein teuflischer Ausdruck auf es kam, und um den krankhaften Schrecken der Lage noch zu vergrößern, begann die Frau, die sich sein Weib nannte, ihn gewaltsam zu lieben – wütende, unbeherrschte Liebe, und er musste ihre heißen, brennenden Küsse erdulden. Er konnte sich nicht aus ihrer Umklammerung befreien, und anschließend verlangte die Frau nach Speis und Trank und aß ausgehungert, und dann begann sie betörend zu singen, und George schwor, er hat andere draußen singen hören, wie um ihr zu antworten – das leise Murmeln unzähliger Stimmen. Es war wie ein Alptraum – ein furchtbarer Alptraum.
Es dauerte Stunden, bis die Frau einschlief, und sie ergriff Georges Hand im Schlaf – sie hielt ihn fest, als würde sie ihn niemals mehr gehen lassen, und als sie im Morgengrauen aufwachte, begann sie wieder für sich selbst zu singen, eine seltsame, fremdländische Weise, und sie sang, während sie sich die Haare bürstete, das wundervolle blassgoldene Haar, dass immer einer von Annies größten Reizen gewesen war, und George lag da, zitternd und bebend, beobachtete eine hübsche Frau, die ihr hübsches Haar kämmte, aber fürchtete sich vor ihr – fürchtete sich wirklich.“ Vance zögerte, dann gab er ein seltsames heiseres Lachen von sich.
„Ich weiß, was Sie denken. Sie sagen sich selbst, dass Annie Sinclair auf der letzten der Séancen wahrscheinlich den Verstand verloren hatte und in einem bedenklichen mentalen Zustand war, und dass dies für ihren veränderten Ausdruck und ihr verändertes Verhalten verantwortlich war – wie sie sich benahm – und ohne Zweifel fühlte sich George selbst ein wenig verrückt – nervös wie eine Katze – voller Furcht vor seiner verrückten Frau, der Ehefrau, die offensichtlich den Verstand verloren hatte. Das ist die rationale Sicht der Dinge, nicht wahr, die am ehesten zu erklärende Ansicht?“
„Ich stimme Ihnen absolut nicht zu“, erwiderte ich. „Wir wissen, dass es verschiedene bestätigte Fälle von Dämonenbesessenheit gab.“ Ich zögerte, dann fügte ich, ohne Vance anzuschauen, hinzu, „haben Sie Mrs. Sinclair nach der – der Séance nochmal gesehen?“
„Ja. Ich fuhr geradewegs zu Grey Towers, als ich ein dringliches Telegramm von Georg erhielt, und als ich Annie traf, hatte ich das Gefühl, eine Fremde zu treffen – und eine seltsame Frau, die ständig wachsam war, aber ich traute mich nicht, das George gegenüber zuzugeben. Ich gab vor, es wäre alles wie immer. Himmel hilf, was hätte ich sonst tun können? Aber ich war mir die ganze Zeit des bösen Geistes bewusst, der in Annies Körper steckte – ein niederträchtiger, giftiger Geist – und das Anzügliche in Annies Augen machte mich krank – ich konnte es kaum ertragen, sie anzuschauen, und solch ein grausames Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie beobachte George wie eine Katze eine Maus beobachtete, und ihre Hände hielten niemals still – diese schrecklich rastlosen Hände. Sie hatte einen strammen Schritt – Annie war niemals so gegangen – und ihre Kleidung schien unschön an ihr – Annies Kleidung.“ Vance setzte sich wieder neben mich. Er atmete schwer. Ich konnte kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn erkennen und er zitterte, obwohl es so ein warmer Abend war.
„War das nicht schrecklich, Dexter?“, flüsterte er leise. „War das nicht schrecklich? Verstehen Sie, George und ich waren vollständig überzeugt, dass Annies Körper von einer Teufelin besessen war, und wir wussten, dass Annies Seele – ihre nette, sanftmütige, liebevolle Seele – ihr Möglichstes versuchte, in ihre irdische Hülle zurückzukehren, nur, dass der Eindringling nicht weichen würde, und wir wussten beide, dass sie versuchte, zu uns zurückzukehren und dass sie es einfach nicht konnte. Und wir waren uns bewusst – tragischerweise bewusst –, dass, wie so oft in dieser Welt, das Übel über das Gute gewinnen würde. Aber die furchtbarste Erkenntnis, aus Georges Sicht, war, dass er sie vorsätzlich in die Hände des Bösen gespielt hatte – dass er selbst die fürchterlichen Dinge ausgelöst hatte – dass es seine Arbeit war – seine eigene.“
„Großer Gott – wie schrecklich für den armen Kerl!“, murmelte ich, die Worte leise unter meinem Atem. Wenn man Vance zuhörte, war es unmöglich, die Geschichte, die er mir erzählte, nicht zu glauben – er sprach mit solch außerordentlicher Überzeugung. Dann lehnte ich mich bestimmt vor. „Erzählen Sie weiter, Vance, wie ging es aus?“
„Das Ende.“ Vance nahm einen tiefen Atemzug. „Nun, es war nicht wirklich das Ende, Dexter.“ Er stand wieder auf. Er sah richtig wütend aus im Mondlicht. „Ich blieb für etwa eine Woche in Grey Towers – ich hätte einfach keinen einzigen weiteren Tag ertragen mit dieser Kreatur. Das Ding, das in Annies Körper wohnte, begann, seine wahre Natur zu zeigen. Es war eine barbarische Frau, die George nun zur Ehefrau hatte, eine Frau, die Grausamkeit um der Grausamkeit willen liebte. So brachte sie eines Tages Georges Hund halb um, nur weil er nicht zu ihr kam, als sie ihn rief – ich mag gar nicht dran denken, aber ich glaube wirklich, dass George sie schlug – so wie sie den Hund geschlagen hatte, denn als sie runterkam, sah sie eingeschüchtert aus. Aber sie brachte am nächsten Tag den Vogel um und verdrehte ihm absichtlich den Hals, und nur weil sein Gezwitscher sie nervte. Wundert es Sie, dass ich an diesem Nachmittag von Grey Tower floh? Und doch hätte ich vielleicht bleiben sollen, zu Georges Heil – Annies Heil.“ Vance verschränkte die Arme. Er nahm einen weiteren tiefen, halb schluchzenden Atemzug.
„Ich hörte erst einige Tage später von George. Er erzählte mir, dass es immer schlimmer wurde – dass die Frau, denn nur so nannte er sie, Annies Lieblingsstute fast totgeritten hatte und dass sich die Diener von Grey Towers beschwert hatten, dass sie die seltsame Veränderung ihrer Herrin nicht verstehen konnten – ihre abschreckende Art.
Dann fuhr George in seinem Brief fort, dass er vorhatte, die Frau in der kommenden Nacht in Trance zu versetzen und den bösen Geist aus Annies Körper zu vertreiben, aber noch während ich Georges Brief las, sagte mir etwas, dass er die Frau niemals dazu bringen würde, sich in Trance zu versetzen. Sie war zu clever dafür – zu gerissen. Und ich hatte Recht, denn zwei Tage später bekam ich einen weiteren Brief von George, in dem er sagte, dass die Frau die Séance verweigert hätte.
Sie wurde wilder und barbarischer denn zuvor. Eine seltsame Atmosphäre schien über Grey Towers zu hängen – eine Atmosphäre des Bösen – und er konnte seltsame Geräusche des Nachts hören. Das ganze Haus schien voller Murmeln und Rascheln. Am Vortag hatte es ein furchtbares Gewitter gegeben, und es schien direkt über Grey Tower hereingebrochen zu sein, und die Frau hätte am Fenster gestanden und zu dem Sturm hinausgelacht. Er hatte sich gezwungen gesehen, seine beiden Hunde wegzuschicken, da sie nicht aufhörten zu heulen. Und es war kaum ein Diener im Haus geblieben. Die Nachbarn schienen zu erkennen, dass etwas Seltsames vor sich ging, und meldeten sich nicht mehr. Er fühlte sich von Gott und Menschen verflucht.“ Vance machte eine Pause.
„Ich hätte auf Grund dieses Briefes sofort nach Grey Towers zurückkehren sollen, Dexter – meinem armen Freund zur Seite eilen – aber ich tat es nicht – ich tat es einfach nicht. Stattdessen schrieb ich George einen langen Brief, und ich schlug ihm vor, dass es nicht schlecht wäre, wenn er sich an einen bestimmten berühmten übersinnlichen Ermittler wenden würde, der in der Lage sein könnte, den bösen Geist aus Annies Körper zu exorzieren. Aber George wollte das nicht. Vielleicht schämte er sich, seine Geschichte publik zu machen. Vielleicht hoffte er, selbst damit klar zu kommen.
Was er tat: Er und die Frau zogen weg von Grey Towers. Er mietete ein kleines Cottage in Dartmoor und er und seine Frau lebten dort alleine, und dann nehme ich an, begann der Kampf – der lange Kampf zwischen George und der Frau – denn Sie können sicher sein, dass Tag für Tag, Nacht für Nacht, tat er sein Bestes, um sie in Trance zu versetzen. Aber die Frau widerstand, sich selbst fallen zu lassen, überwunden zu werden, und Sie können sich vorstellen, dass Annies Geist irgendwo im Hintergrund lauernd ein stiller Zeuge von dem war, was vor sich ging. Ein gequälter Zeuge.
In dem Cottage konnten sie sich keine Diener halten. Eine Frau aus dem Dorf kam morgens, um zu putzen und zu kochen. Und so vergingen die Tage – die langen schwülen Mittsommertage – und George hörte auf, mir zu schreiben. Er lies mich im Dunkeln darüber, was geschah.“ Vance sank wieder auf seinen Stuhl. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen – seinen langen, dünnen, sehnigen Händen.
„Ich hielt Georges Stille nicht aus, nicht zu wissen, was passierte, und schließlich entschloss ich mich, nach Dartmoor zu fahren. Ich schrieb George, um mein Kommen anzukündigen, und fragte, ob er mich im Cottage unterbringen könnte oder ob ich mir ein Zimmer im Dorf nehmen sollte. Aber George telegrafierte mir, dass ich nicht kommen sollte:
„DU KANNST NICHT HELFEN. NIEMAND KANN UNS HELFEN. LASS UNS BITTE IN FRIEDEN.“
Also ließ ich sie allein. Ich … Ich ließ sie allein.“ Es trat Stille ein, eine Stille, die ich nicht wagte, zu unterbrechen. Ich konnte den Wind durch die Kiefernäste pfeifen hören, immer noch das dumpfe Klagen. Und ich konnte den scharfen durchdringenden Duft der Kiefern riechen. Der Mond verschwand plötzlich hinter einer Wolke, und Aylmer Vance und ich waren allein in der Dunkelheit, und ich war froh, dass der Mond sein Gesicht verdunkelte. Ich wollte in diesem Moment Vance nicht anschauen und ich fühlte, dass er auch mich nicht anblicken wollte.
„Möchten Sie das Ende der Geschichte hören, Dexter?“
„Ja, das möchte ich.“
„Nun, zwei Tage, nachdem ich das Telegramm von George bekommen hatte, saß ich im Raucherraum meines Clubs, als ich plötzlich ein paar Zeitungsjungen die Straße entlang rennen hörte, und sie riefen mit ihren schrillen Stimmen: ‚Furchtbarer Mord in Dartmoor – furchtbarer Mord in Dartmoor‘, und ich wusste sofort, was passiert war.
Ich ging hinaus, kaufte eine Zeitung und las, dass ein Gentleman – ein Mr. George Sinclair, der erst vor Kurzem ein kleines Cottage in Dartmoor gemietet hatte, in der vorigen Nacht seine Frau umgebracht hatte. Er hatte ein Messer in ihr Herz gestoßen, als sie allein in der Stube ihres kleinen Cottages saßen, und sich selbst wenige Stunden später das Hirn ausgeblasen – sich, als die Dämmerung kam, selbst erschossen.
Der romantische Part aus Sicht der Journalisten bestand darin, dass der Mörder, nachdem er sein Opfer umgebracht hatte, den Körper der toten Frau ins Schlafzimmer getragen und in weiße Seide gehüllt hatte, ihre langen blonden Haare gekämmt und unzählige Kerzen um das Bett herum drapiert hatte. Und dann war er hinaus in den Garten gegangen und hatte nahezu jegliche Blume gepflückt und über den toten Körper gestreut und zu ihren Füßen zu einem duftenden Stapel aufgetürmt. Und es gab kein Motiv für die Tat – so informierten die Zeitungen ihre Leser. Oh, sie schlugen genug Gewinn aus diesem Sinclair-Mysterium, diese Zeitungsfritzen, das versichere ich Ihnen. Sie hingen sich für Tage dran auf. Und sie wussten nicht – noch nicht mal der cleverste unter ihnen –, dass ich ihnen hätte die wahre Geschichte des Verbrechens erzählen können. Aber ich tat es nicht.
Wie auch immer, ich fuhr sofort nach Dartmoor und verabschiedete mich von George und auch von Annie. Liebenswürdig und nett waren sie in ihrem Leben gewesen, bis diese Teufelsfrau zwischen sie kam, und im Tode waren sie nicht getrennt.
Sie wurden noch am selben Tag beerdigt. Das Gericht sprach natürlich das Urteil von „vorübergehendem Wahnsinn“ in Georges Fall. Ich wünschte, die beiden hätten im selben Grab liegen können, aber die Gesetze verbaten das. Mörder und Opfer durften nicht zusammenliegen. Und die Öffentlichkeit wusste ja nicht, dass es nicht seine Ehefrau war, der George Sinclair in einer warmen Mittsommernacht durch die Brust gestochen hatte – dass es eine Fremde war, ein Fremde, die in die Steinzeit gehörte.“ Vance machte eine Pause, dann kam wieder sein eigenartiges, freudloses Lachen. Er ließ seine Hände vom Gesicht sinken.