Bächle, Gässle, Bombenstimmung - Ute Wehrle - E-Book

Bächle, Gässle, Bombenstimmung E-Book

Ute Wehrle

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Humorvoll und authentisch: ein vielschichtiger Kriminalroman. Eine Explosion im Freiburger Colombipark beendet jäh die Dreharbeiten zu einem Bollywood-Film. Wenig später wird ein Kameramann der Crew erschossen. Als dann noch der Regisseur und der Hauptdarsteller ins Visier des Täters geraten, übernimmt Journalistin Katharina Müller die Ermittlungen, die sie vom Schwarzwald bis ins indische Goa führen.

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Seitenzahl: 323

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Ute Wehrle ist gebürtige Freiburgerin und studierte Touristik-Betriebswirtschaft in Heilbronn. Sie arbeitet als freie Journalistin und Autorin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/Jürgen Wiesler Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartel eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-333-2 Der Badische Krimi Originalausgabe

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Seit Lucrezia Borgia bin ich die Frau, die am meisten Menschen umgebracht hat, allerdings mit der Schreibmaschine.

Agatha Christie

Prolog

Die Arme eng um ihre Knie geschlungen, saß sie zusammengekauert auf ihrem ungemachten Bett und starrte auf die Wand. Mit ihrer rechten Hand zerknautschte sie unablässig die goldenen Flügel eines kleinen Teddys, der ein leicht vergilbtes T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin dein Schutzengel« trug. Melanie hatte ihn ihr zum letzten Geburtstag geschenkt. Obwohl sie Plüschtiere nicht ausstehen konnte, hatte der Bär einen Ehrenplatz auf ihrem Nachttisch bekommen, direkt neben einem Stapel Bücher, der sehnsüchtig darauf wartete, endlich gelesen zu werden.

Während die Kälte langsam, aber stetig von ihrem Körper Besitz ergriff, tauchte kaleidoskopartig ein Bild nach dem anderen vor ihrem inneren Auge auf, Bilder, von denen sie überhaupt nicht mehr gewusst hatte, dass sie noch existierten. Melanie, wie sie als Kind ihren magersüchtigen Barbiepuppen neue Frisuren verpasste, während sie selbst am Schreibtisch über ihren Hausaufgaben brütete. Melanie mit Hochsteckfrisur, bildhübsch in ihrem langen hellblauen Kleid, das sie gemeinsam für ihren Abiball gekauft hatten. Melanie, wie sie wutentbrannt ihre Ballettschuhe in den Mülleimer stopfte.

Obwohl die Heizung auf Hochtouren lief, wurde ihr Frösteln immer stärker. Sie hüllte sich so fest sie konnte in ihre Bettdecke.

Mit Melanies Geburt war sie klaglos in die Große-Schwester-Rolle geschlüpft, obwohl sie mit dem Säugling, der mit feuerrotem Gesicht seine Wünsche herausschrie, zunächst so gar nichts anfangen konnte. Trotzdem hatte sie als Teenager widerspruchslos gelernt, wie man Windeln wechselte und einen Säugling badete, ohne ihn dabei zu ertränken. Zwei Jahre später konnte sie die albernen Kinderlieder auswendig, die die Kleine so gern hörte, und als Melanie in die Schule kam, brachte sie ihr und ihrer besten Freundin im Heilbronner Schwimmbad Neckarhalde, wo es dank der nahe gelegenen Knorr-Fabrik immer nach Brühwürfeln roch, das Schwimmen bei und holte die beiden Mädchen vom Ballettunterricht ab, wenn mal wieder keiner sonst dafür Zeit fand. Was häufig genug vorgekommen war.

Nun war es ja nicht so, dass sich die Mutter nicht um ihre Töchter gekümmert hätte. Aber als Filialleiterin einer Bank konnte sie sich einfach keine längeren Auszeiten leisten, ohne von ihren männlichen Kollegen auf der Karriereleiter einige Stufen nach unten gestoßen zu werden. Ein Teil der mütterlichen Pflichten hatte also schon immer auf den Schultern der älteren Tochter geruht und war mit der Zeit selbstverständlich für sie geworden.

Zu Melanie hatte sie trotz oder vielleicht gerade wegen des großen Altersunterschieds ein enges Verhältnis gehabt, obwohl die Schwestern grundverschieden waren. Sie selbst war eher der pragmatische Typ und hatte nie verstanden, mit welcher Hingabe sich Melanie schon als Kind ihren verrückten Tagträumen hingab, mit Feen tanzte und unbedingt ein schneeweißes Plüscheinhorn haben wollte. Das mit den Feen und Einhörnern hatte sich irgendwann gelegt, Melanie begann, für den Sänger von Tokio Hotel zu schwärmen, was so weit ging, dass sie mit vierzehn von zu Hause ausbüxte, um ihrem Idol mit der schrillen Frisur nach Hamburg nachzureisen, wo die Band ein Konzert geben wollte. Weit kam ihre Schwester ohne Fahrkarte im Zug zum Glück nicht. Als die Polizei anrief, holte sie Melanie auf dem Revier ab und bezahlte die Strafe fürs Schwarzfahren. Bis heute hatte sie ihren Eltern nie ein Sterbenswörtchen von der ganzen Aktion erzählt. Wozu auch?

Seit sie denken konnte, hatte sie sich für Melanie verantwortlich gefühlt, selbst dann noch, als diese allmählich erwachsen wurde. Sie tröstete sie beim ersten Liebeskummer, sorgte dafür, dass sie die mittlere Reife nicht völlig vergeigte, und stand ihr anschließend bei, als sie den entsetzten Eltern mitteilte, dass sie lieber Balletttänzerin werden wollte, anstatt eine Lehre in der Bank ihrer Mutter zu machen. Sechs Monate zog Melanie das harte Training an der Staatlichen Ballettakademie Stuttgart durch, quälte sich stundenlang an der Stange ab, aß kaum noch etwas und träumte von der Hauptrolle als sterbender Schwan– bis ihr die Trainerin deutlich klarmachte, dass ihr für eine große Bühnenkarriere schlicht das erforderliche Talent fehlte.

Nach diesem Gespräch hängte Melanie die Ballettschuhe ein für alle Mal an den Nagel, kam zurück nach Heilbronn, jobbte als Kellnerin in einer Cocktailbar und schlitterte von einer chaotischen Beziehung in die nächste. Bis sie ihr einen Job als Sekretärin in einer Eventagentur in Freiburg besorgte, weil sie nicht mehr mit ansehen konnte, wie unglücklich ihre Schwester war. Die Arbeit machte Melanie Spaß, und nach und nach hatte sie ihre Enttäuschung über ihre gescheiterte Ballettkarriere überwunden und ihr fröhliches Lachen wiedergefunden.

Ein dumpfes Hämmern aus dem oberen Stockwerk ließ sie zusammenzucken. Es war ihr Nachbar, ein duckmäuserischer Mann kurz vor der Rente, der seinen Mangel an anderweitigen Interessen durch penetrantes Renovieren seiner eigenen vier Wände kompensierte, wenn er nicht gerade den Rasen des Gemeinschaftsgartens mähte oder Holz sägte. Vielleicht versuchte er aber auch nur, mit dem anhaltenden Geräuschpegel, den er verursachte, die schrille Stimme seiner Frau zu übertönen, deren Lebensinhalt darin bestand, sich ständig ihren Mund über andere zu zerreißen. Melanie, die die beiden nicht ausstehen konnte, war überzeugt davon gewesen, dass die Frau ihren Pony nur deshalb so kurz geschnitten trug, damit kein Härchen ihr den bösen Blick trüben konnte. Womit sie vermutlich völlig recht gehabt hatte. Schade nur, dass die Menschenkenntnis ihrer Schwester nicht immer so gut funktioniert hatte.

Herrgott, warum konnte man die Zeit nicht einmal zurückdrehen? Wäre ihr nur an jenem Abend die Arbeit nicht wichtiger gewesen… Der plötzlich einsetzende Schmerz durchschnitt sie wie ein Messer. Mit aller Kraft schmiss sie den Plüschbären gegen die Wand. »Ich bin dein Schutzengel«, wenn das mal kein guter Witz war. Sie lachte bitter auf. Immer hatte sie auf Melanie aufgepasst. Nur ein Mal, ein einziges Mal, hatte sie kläglich versagt.

1

Dicke Tränen rannen wie Sturzbäche über sein faltiges Gesicht, begleitet von heftigem Schluchzen. »Mein über alles geliebter Sohn. Ich bereue zutiefst, was ich getan habe. Es war der größte Fehler meines Lebens, dich zu verstoßen.« Demütig neigte ein älterer Mann, der einen Turban trug, sein Haupt vor einem gut aussehenden jungen Inder in Jeans und schwarzem Hemd, der mit betroffener Miene ein Schwarzwaldmädel an der Hand hielt, das ebenfalls zum Steinerweichen flennte. Dazu hatte sie auch allen Grund: Bei gefühlten dreißig Grad im Schatten waren Bollenhut, Tracht und dicke weiße Kniestrümpfe bestimmt kein reines Vergnügen.

»Ach, Vater. Ich bin so glücklich. Nach all den langen Jahren…« Jetzt fing auch der junge Inder an zu schniefen. »Endlich ist mein Leben wieder voller Hoffnung und Freude.« Lautstark setzte orientalisch klingende Musik ein, gefolgt von einem vielstimmig gesungenen süßlichen »Aaah, aaah«. Wie aus dem Nichts tauchten Tänzerinnen in bunten Saris auf, falteten ihre Hände und ruckelten rhythmisch mit den Köpfen.

»Cut!« Die Musik stoppte, die Köpfe verharrten abrupt, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Alle blickten zu einem untersetzten Mann mit rotblonden Haaren, der die Szene mit Argusaugen beobachtet hatte. Auf seinem hellblauen Hemd wurden erste Schweißflecken sichtbar, die sich unschön vom Stoff abhoben. »Habe ich euch nicht schon tausendmal gesagt, ihr sollt von links kommen? Links. Left! Das ist das andere Rechts, versteht ihr?«, brüllte er los und deutete in die entsprechende Richtung.

Als Reaktion folgte ein betretenes Nicken.

»Also das Ganze noch mal. Und dieses Mal gefälligst von der richtigen Seite, kapiert? So schwer kann das doch nicht sein.« Der Mann wischte sich über die Stirn und holte tief Luft. »Action!«

Ein riesiges Puschelmikrofon, das an einer langen Stange befestigt war, schob sich erneut über die Menschengruppe im Freiburger Colombipark. Gehalten wurde es von einem spindeldürren Mann mit schwarzen Haaren, der aussah, als wäre er nur knapp dem Hungertod entronnen. Sein Körper war kaum breiter als die Stange, die er vorsichtig schwenkte. Der Kameramann, der Khaki-Bermudas trug, schob sich einen Kaugummistreifen in den Mund, rückte seine Schildmütze zurecht und brachte sich ebenfalls in Position. Seine aufgerollten Hemdsärmel erlaubten einen ungehinderten Blick auf einen tätowierten grinsenden Totenschädel, der seinen Unterarm zierte.

»Mein über alles geliebter Sohn. Ich bereue zutiefst, was ich getan habe…«

»Herrje. Was für ein Kokolores«, seufzte es neben Katharina, die mit gerunzelter Stirn von einer Parkbank aus seit geschlagenen neunzig Minuten das Geschehen beobachtete. »Und dafür rückt ein Filmstudio allen Ernstes eine Million Euro heraus. Das soll einer verstehen.«

Die Bemerkung kam von Alexandra Freyer, einer schlanken Frau Anfang vierzig, die sich wie Katharina ihren Lebensunterhalt mit Schreiben verdiente. Katharina hatte sie vor einigen Wochen bei dem Konzert einer AC/DC-Coverband im Jazzhaus kennengelernt. Seither trafen sich die beiden Frauen nicht nur privat, sondern gelegentlich auch beruflich. So wie heute. Gemeinsam mit anderen Kollegen von Print, Radio und Fernsehen, die sich in den unterschiedlichsten Stadien der Langeweile befanden, hatten sie das zweifelhafte Vergnügen, in einem eigens für die Medien reservierten Bereich im Colombipark die Dreharbeiten für ein Bollywood-Spektakel mit dem verheißungsvollen Titel »Deine Tränen werden versiegen« hautnah miterleben zu dürfen, das zuvor in einer Pressekonferenz unter riesigem Bohei vorgestellt worden war– Interviews mit den Stars inklusive.

Es war nun weiß Gott nicht das erste Mal, dass Freiburg als Filmkulisse herhalten musste. Schon in den achtziger Jahren waren Ärzte und Krankenschwestern aus der beliebten Serie »Die Schwarzwaldklinik« durch die Altstadt geschlendert, und vor nicht allzu langer Zeit war die Stadt Schauplatz eines »Tatorts« gewesen, bedauerlicherweise eines derart lausig schlechten, dass es in Freiburg wochenlang kein anderes Thema mehr gegeben hatte. Eigentlich war Katharina der Meinung gewesen, dass »Deine Tränen werden versiegen« auch nicht schlimmer werden konnte als der gähnend langweilige Fernsehkrimi, doch schon seit einer gefühlten Ewigkeit wurde sie zu ihrem Leidwesen eines Besseren belehrt.

Das einzig Bemerkenswerte an der Sache war, dass ein waschechter Freiburger Regie führte, der dafür eigens aus Indien angereist war. Lutz Wolf war schon als Schüler des Rotteck-Gymnasiums Mitglied in der Theater-AG gewesen, bevor er nach dem Abi die Medienakademie in München besucht hatte. Auf verschlungenen Wegen, die er zur Erleichterung der Journalisten nicht näher ausgeführt hatte, war er schließlich in Mumbai, dem Zentrum der indischen Filmindustrie, gelandet, wo er diverse Streifen ähnlicher Machart verbrochen hatte, in denen hauptsächlich getanzt, gesungen und geheult wurde. Trotz– oder vor allem wegen– seines Erfolgs in Indien wollte er sich nun endlich auch in seiner alten Heimat als Regisseur einen Namen machen, wie er den Medienvertretern nur allzu gern verraten hatte. Und was wäre dafür besser geeignet als eine rührende Liebesgeschichte, die mitten im Schwarzwald spielte?

Katharina hegte die starke Vermutung, dass Wolf in Indien schlicht zu viel Gras geraucht haben musste. Anders konnte sie sich nun wirklich nicht erklären, wie jemand auf die Schnapsidee verfallen konnte, in einer derart kruden Story, gegen die selbst Rosamunde Pilchers Schmonzetten über eine gewisse Realitätsnähe verfügten, den nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu sehen. In der Tat war die Handlung mehr als dürftig: Junger Inder verliebt sich während seines Urlaubs im Schwarzwald unsterblich in ein Schwarzwaldmädel, weshalb ihn der traditionsbewusste Vater verstößt, nur um ihn Jahre später nebst dessen Herzdame reuevoll in die Arme zu schließen.

Katharina jedenfalls würde sich den Film ganz sicher nicht anschauen, zumal sie im Kino sowieso mehr auf Action à la Bruce Willis stand. Bedauerlicherweise war das, was sie sich gerade ansehen musste, Lichtjahre davon entfernt. Dafür war der Kitschfaktor extrem hoch, und Katharina hätte es nicht gewundert, wenn sich ein Regenbogen über den Park gespannt hätte, auf dem goldene Einhörner tanzten.

»Aaah, aaah.« Die Musik hatte wieder eingesetzt, die Tänzerinnen erschienen, dieses Mal von der richtigen Seite.

»Mein über alles geliebter Sohn.« Erneut flossen Tränen.

Dass die Filmromanze in den Kinosälen ein Millionenpublikum begeistern würde, wie Oberbürgermeister Winkler in der Pressekonferenz hoffnungsvoll verkündet hatte, wagte Katharina doch sehr zu bezweifeln. Geschweige denn, dass das schwülstige Machwerk die Produktionskosten wieder einspielte. Warum sollte jemand freiwillig Eintritt bezahlen, um sich drei geschlagene Stunden zu langweilen? Dafür gab es schließlich Fernsehen.

»Hört sich an, als sängen zehn Mickymäuse ein Kinderlied«, sagte Alexandra mit ihrer rauchigen Stimme lauter als nötig.

Der Kollege vom Radio, der hinter ihr saß, grinste. »Mich erinnert das eher an die Bee Gees. Klingt mindestens genauso eunuchenmäßig.«

»Wo bleibt eure romantische Ader?«, fragte Dominik, dessen Finger unentwegt den Auslöser seines Fotoapparats betätigte. »So schlecht finde ich das Spektakel gar nicht. Zumindest ist es wesentlich unterhaltsamer als die Haushaltsdebatten im Gemeinderat.« Immerhin er schien mit einer gewissen Begeisterung bei der Sache zu sein. Zum x-ten Mal richtete er den Sucher auf die Tänzerinnen, die zappelten, als ständen sie unter Starkstrom.

Dafür, dass er sich die Nacht zuvor auf der Geburtstagsparty eines Kumpels ausgiebig vergnügt hatte, sah ihr Kollege unverschämt fit aus, befand Katharina ein wenig neidisch. Sie selbst war ebenfalls weit nach Mitternacht von einer Kneipentour mit ihren Freunden nach Hause gekommen. Leider hatte sie die Menge des verträglichen Rotweins leicht überschätzt. Erst nach drei Tassen Kaffee und einer Aspirin war sie wieder halbwegs in die Gänge gekommen, um zumindest bis jetzt ohne einzuschlafen das Medienspektakel zu überstehen. Dennoch hätte sie freiwillig ihre letzte Zigarette gegeben, um sich für ein paar Minuten auf die Parkbank legen und die Augen schließen zu können.

»Aaah.«

Wenn wenigstens das Gedudel aufhören würde. Am liebsten hätte sich Katharina die Ohren zugehalten.

»Ich finde es super.« Helena, die Katharina bei ihrem jüngsten Urlaub in Überlingen kennengelernt hatte und die jetzt die Sommerferien nutzte, um ein dreiwöchiges Praktikum beim »Regio-Kurier« zu machen, mischte sich mit leuchtenden Augen in das Gespräch ein. »Habt ihr gesehen, wie toll die Tänzerinnen geschminkt sind? Und der ganze Schmuck, den sie tragen? Voll krass.«

Tatsächlich waren die Mädchen geschmückt wie Pfingstochsen. An ihren Armen und Hälsen klimperte massenweise falsches Gold, und über den Augen glitzerten selbstklebende Bindis mit winzigen Kunstperlen. Dagegen muteten die Schmetterlingsohrringe, die an Helenas Ohren baumelten, ausgesprochen bescheiden an.

Wie viel das Glitzerzeug wohl wog, das an den Mädchen hing?, überlegte Katharina kurz, doch dann riss sie sich zusammen und versuchte sich auf das Geschehen zu konzentrieren. Redaktionsleiter Anton Gutmann hatte ihr einhundertzwanzig Zeilen auf der ersten Seite frei gehalten, die sie bis zum Redaktionsschluss um zwanzig Uhr schreiben musste. Im Geiste formulierte Katharina bereits die Überschrift. »Falsches Gold und falsche Tränen« gefiel ihr ausnehmend gut, auch wenn sie damit die Empörung sämtlicher Bollywood-Fans provozieren würde. Aber Ärger mit empörten Lesern war sie hinlänglich gewohnt, den brachte ihr Job naturgemäß mit sich.

»Kann mir freundlicherweise mal jemand verraten, was für eine tragende Rolle die seltsame Puppe hat?« Unauffällig deutete Dominik auf eine Skulptur mit vier Armen, die Lotosblüten in den Händen hielt und mitten auf dem Rasen geheimnisvoll vor sich hin lächelte. Sie war mindestens zehn Meter hoch und wies große Ähnlichkeit mit den Pappmaché-Figuren auf, die jedes Jahr bei den Fallas in Valencia ihren großen Auftritt hatten, bevor sie verbrannt wurden.

»Ein Wunder, dass die dir überhaupt aufgefallen ist«, bemerkte Katharina spitz. »Wo du doch nur Augen für die Tänzerinnen hast.«

»Das musst gerade du sagen. Wer himmelt denn schon die ganze Zeit den knackigen Inder an?«, konterte Dominik ungerührt.

Ertappt hielt Katharina den Mund. Ganz unrecht hatte er nicht. Himesh Khan, der den Sohn spielte, fiel voll in ihr Beuteschema, sah man mal von der Kleinigkeit ab, dass sie vom Alter her seine Mutter sein könnte. Was sich Katharina nur sehr widerwillig eingestand.

»Die seltsame Puppe, wie du sie so despektierlich nennst, stellt Lakshmi dar. Ihr zu Ehren werden in Indien beim Diwalifest Tausende Lichter aufgestellt und Feuerwerke entzündet. Sie ist nämlich die Göttin des Glücks, der Liebe und der Fruchtbarkeit«, unterbrach Alexandra das Geplänkel. »Wenn ihr also Glück in der Liebe haben wollt, solltet ihr euch gut mit ihr stellen.«

Beunruhigt bemerkte Katharina, wie Helena nach Alexandras Ausführung gebannt auf Dominik starrte. Die Kleine, süße fünfzehn Jahre alt und damit mehr als bereit für emotionale Katastrophen jeglicher Art, war offensichtlich bis über beide Ohren verknallt. Aber in Helenas Fall würde auch Lakshmi nichts ausrichten können– ihr junger Kollege stand zum Glück nun so gar nicht auf pubertierende Teenager.

»Danke für den Tipp, aber das wird nicht nötig sein.« Dominik strich sich durchs Haar und lächelte einem hübschen Mädchen in einem gelben Sari zu, das an ihm vorbeihuschte, um sich von der Stylistin, die auf der Treppe zum Colombischlössle bereits mit einem dicken Pinsel in der Hand auf sie wartete, das Gesicht pudern zu lassen. »Bisher hat das auch noch ganz gut ohne göttlichen Beistand geklappt. Willst du wissen, wer mich gestern Nacht alles angebaggert hat?«

»Pst«, machte Katharina schnell, bevor Dominik mit seinen jüngsten Eroberungen prahlen konnte, zu denen nach Katharinas Kenntnisstand nicht nur eine Trainerin für Poledance gehörte, sondern auch eine chinesische Studentin. »Sonst kriegen wir noch einen Platzverweis. Bianca schaut schon die ganze Zeit zu uns rüber.«

Bianca, das war Bianca Ebner, Wolfs Regieassistentin, deren leuchtend rotes Haar das von Pumuckl glatt verblassen ließ. Mahnend deutete sie mit einem Zeigefinger auf ihre Lippen. Dominik hielt den Mund.

Sah man von den Dreharbeiten einmal ab, war es im Gegensatz zu sonst außergewöhnlich ruhig im Colombipark. Keine Spaziergänger, keine Studenten, die sich auf der Grünfläche von ihren anstrengenden Vorlesungen erholten. Selbst der Springbrunnen war abgedreht worden, um die Tonaufnahmen nicht zu stören. Nur ein paar Schaulustige, die sich trotz guten Zuredens von Bianca einfach nicht hatten vertreiben lassen, lungerten herum. Wann kam es schon mal vor, dass ein Hauch von Exotik mitten durch die Schwarzwaldmetropole wehte?

Zu gucken gab es jedenfalls mehr als genug. Fünf Inder mit freiem Oberkörper und schwarzen Hosen warteten auf ihren Einsatz in der Schlussszene und verdrückten im Stehen ein Wurstbrötchen, während ihre kürbisförmigen Zupfinstrumente unbeachtet im Gras lagen, und eine Kostümassistentin kniete vor einem Mädchen mit Glöckchen an den Füßen, um den heruntergerissenen Saum des Saris zu nähen.

»Ach, Vater.«

Katharina wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Set zu. Himesh Khan war aber auch ein echter Blickfang, was nicht nur an seinen mandelförmigen Augen und seinem dichten schwarzen Haar lag, sondern auch an seinem fitnessgestählten Körper, den seine knapp sitzenden Jeans mehr betonten als verbargen. Bis vor Kurzem war der Schauspieler noch als Frauenheld in einer indischen Soap zu sehen gewesen, doch dann hatte ihn Wolf überzeugt, mit ihm im Schwarzwald zu drehen. Großer Überredungskunst hatte es dazu nicht bedurft, da Himesh Khan seine halbe Jugend in Konstanz verbracht hatte, wo sein Vater als Koch in einem Hotel beschäftigt gewesen war, wie Katharina bereits in Erfahrung gebracht hatte. Was auch erklärte, warum er fließend Deutsch sprach.

Im Übrigen hatte der Schauspieler ihr gegenüber keinerlei Hehl daraus gemacht, dass er »Deine Tränen werden versiegen« für ausgemachten Blödsinn hielt. Dennoch hoffte er genauso inständig wie Wolf, mit dem Film auch außerhalb Indiens prominent zu werden, zumal er zu gern einmal den Jago in Shakespeares »Othello« spielen wollte. Oder einen Fernsehkommissar oder Chefarzt in einer Krankenhausserie, Hauptsache, er musste nicht mehr tanzen.

Allerdings hatte er Katharina augenzwinkernd gebeten, das besser nicht in ihrem Artikel zu erwähnen, um sein Image als Sonnyboy nicht zu gefährden, bevor er keine entsprechenden Rollenangebote hatte.

Katharina, die sich sonst von niemandem sagen ließ, was sie zu schreiben hatte und was nicht, hatte nur schwach genickt und ihm hoch und heilig versprochen, seine freimütigen Äußerungen für sich zu behalten. Gegen den Charme, den Himesh Khan aus jeder Pore verströmte, war sie einfach nicht gefeit. Katharina hatte sich bereitwillig eine CD mit Bollywood-Musik in die Hand drücken lassen, deren Hülle seine Unterschrift trug, und selbst Helena, die sonst nur Augen für Dominik hatte, war selig mit einer seiner Autogrammkarten abgezischt, die der Inder großzügig unters Volk streute.

Ja, Himesh Khan war wirklich eine echte Sahneschnitte. Dagegen war Jeanette Holsten, die das Schwarzwaldmädel Bärbele spielte, ein ganz anderes Kaliber. Höflich ausgedrückt, war sie trotz ihres niedlichen Aussehens ein echtes Miststück, das von Tugenden wie Bescheidenheit oder Freundlichkeit nicht allzu viel hielt. Was ihr an schauspielerischem Talent fehlte, machte sie mit ihren Allüren mehr als wett.

Regieassistentin Bianca Ebner, die im Umgang mit Darstellern durchaus Kummer gewöhnt war, hatte Katharina– ebenfalls unter dem Siegel der Verschwiegenheit– in einer kurzen Zigarettenpause verraten, dass Jeanette der Schrecken der gesamten Filmcrew war. Ständig kam sie zu spät, ständig war sie am Meckern. Für ihr Zimmer im Colombi Hotel hatte die Schauspielerin allen Ernstes einen neuen Toilettensitz verlangt, weil sie es als Zumutung betrachtete, sich auf einen bereits von gewöhnlichen Sterblichen benutzten zu setzen. Die Hotelleitung hatte um des lieben Friedens willen nachgegeben. Wäre es hingegen nach Jeanette Holstens Kollegen gegangen, wäre die Klobrille durch Stacheldraht ersetzt worden, und zwar durch einen besonders spitzen.

Ein Wunsch, den Katharina durchaus teilte, seit sie die Holsten interviewt hatte. Obwohl die Schauspielerin Katharinas Meinung nach selbst zu untalentiert war, um im »Dschungelcamp« Ungeziefer zu futtern, zickte sie herum, als ständen bereits fünf Oscars in ihrem Regal. Und als Katharina von ihr wissen wollte, wie sie als Newcomerin ohne nennenswerte Erfahrungen in der Filmbranche überhaupt an die Rolle des Bärbele gekommen war, hatte die Holsten das Gespräch beleidigt abgebrochen und Katharina einfach stehen lassen.

»Aaah.« Die Tänzerinnen erschienen wieder auf der Bildfläche, und der von Gärtnerhand kurz geschnittene Rasen drohte endgültig in einem Tränenmeer unterzugehen.

Wie schafften es Schauspieler eigentlich, auf Kommando zu heulen? Katharina wunderte sich nicht zum ersten Mal darüber. Andererseits war ihr allmählich auch zum Heulen zumute. Sie hätte im Leben nie vermutet, dass Filmaufnahmen so viel Zeit in Anspruch nahmen. Was sie betraf, verschwendete Zeit.

Animiert von der allgemeinen Rührung brach ein weißer Königspudel, der sich unter den ungebetenen Zaungästen befand, in hysterisches Gekläffe aus.

Schlagartig verstummte das Schluchzen der Schauspieler. Von allen Seiten richteten sich vorwurfsvolle Blicke auf den Vierbeiner. Besonders der Kameramann erweckte den Anschein, als würde er gleich zum Hundemörder werden.

»Was fällt dir ein!« Eine Blondine zog energisch an der Hundeleine. »Das macht sie sonst nie«, erklärte sie wenig überzeugend den Umstehenden.

Der Pudel jaulte weiter.

»Cut! Verdammt noch mal! Kann nicht endlich mal einer dafür sorgen, dass hier Ruhe herrscht? So kann ich wirklich nicht arbeiten. Weg mit dem Köter. Aber schnell.« Lutz Wolf wischte sich mit der Hand über die Stirn.

Bianca reichte ihm eilends ein Handtuch, bevor sie entschlossen auf das Pudel-Frauchen zuging und es gesten- und wortreich zum Gehen aufforderte. Geschlagen räumten Frauchen und Hund den Platz, Letzterer mit eingezogenem Schwanz.

Dankbar für jede Abwechslung hatte Katharina die Szene beobachtet. »Wen wundert’s? Das war ja sonnenklar, dass sich Aphrodite danebenbenimmt. Bei der Erziehung.«

»Meinst du den Hund oder die Blondine?«, wollte Alexandra wissen.

»Den Pudel. Aus unerfindlichen Gründen läuft der mir ständig über den Weg.« Katharina verdrehte die Augen. »Das Biest hat mich sogar schon mal in die Wade gepfetzt.«

»Echt jetzt? Der Hund heißt Aphrodite? Wie die Liebesgöttin?«, staunte Helena, die eine Schwäche für die Bewohner des Olymps hatte.

»Wenn es nach mir ginge, würde das Vieh Zerberus heißen. Passt wesentlich besser zu seinem Charakter«, antwortete Katharina grimmig.

»Wer ist das denn jetzt schon wieder?«, erkundigte sich Alexandra. Mit indischen Göttern schien sie sich um einiges besser auszukennen als mit griechischer Mythologie.

»Action!«, bellte der Regisseur, und der Höllenhund war vergessen.

»Mein über alles geliebter Sohn. Ich bereue zutiefst, was ich getan habe.« Der Inder mit dem Turban neigte sein Haupt. Sein starker Akzent war unüberhörbar.

»Es war der größte Fehler meines Lebens, dich zu verstoßen«, gab Dominik mit gespieltem Ernst zum Besten. Er wischte sich über die Augen.

»Es war der größte Fehler meines Lebens, dich zu verstoßen«, sagte der indische Vater unter Tränen.

»Es war der größte Fehler meines Lebens, dass ich Bambi nicht überredet habe, über die Dreharbeiten zu schreiben«, grummelte Katharina.

Bianca sandte erneut einen mahnenden Blick in ihre Richtung.

Genervt schaute Alexandra auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor ein Uhr. »Oh Mann. Hoffentlich kommen die bald zu Potte. Langsam, aber sicher krieg ich Hunger. Sollen wir nachher noch eine Kleinigkeit essen gehen, bevor ihr in die Redaktion zurückmüsst?«

»Gern. Solange du nicht gerade Lust auf Indisch verspürst«, meinte Katharina, deren Magen ebenfalls knurrte. »Der Appetit auf Currys ist mir nämlich gründlich vergangen.«

»Cut.« Wolf stand kurz davor zu explodieren, weil Jeanette Holsten vor laufender Kamera so lange an ihrem Bollenhut herumgenestelt hatte, bis er schief auf ihrem Kopf saß. »Was soll der Unsinn?«

»Du hast gut reden. Das verdammte Ding wiegt mindestens zwei Kilo. Der Hut bringt mich noch um den Verstand«, zickte sie zurück. Die Stimmung am Set neigte sich dem Tiefpunkt entgegen.

Wolf musterte Jeanette verächtlich von oben bis unten, dann donnerte er los: »Mir reicht es. Bis auf Himesh verschwinden jetzt alle aus meinem Dunstkreis! Und zwar pronto, bevor ich mich endgültig vergesse. Wir ziehen den Dreh der Schlussszene vor. In der nächsten Stunde möchte ich niemanden mehr sehen, der damit nichts zu tun hat.« Mit einer Hand fächelte er sich aufgebracht Luft zu.

Jeanette Holsten ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie zerrte sich den Bollenhut vom Kopf, warf ihn auf den Rasen und zischte ab wie ein geölter Blitz, dicht gefolgt von ihrem Film-Schwiegervater. Die Tänzerinnen flitzten hinterher, genauso wie Bianca, nachdem sie den Hut aufgehoben hatte. Nur Wolf, Himesh Khan, der Kameramann und der dünne Mann mit dem Puschelmikrofon blieben auf ihren Posten. Und natürlich Lakshmi, die indische Liebesgöttin, die zwar jede Menge Arme, aber keine Beine zum Davonlaufen besaß.

Als ob sie nur darauf gewartet hätte, sprang Alexandra hektisch von der Bank auf. »Dem Bollenhut sei Dank. Endlich können wir eine rauchen. Nichts wie weg von hier. Bis Wolf mit seinen langatmigen Instruktionen fertig ist, sind wir längst wieder zurück.«

Auch die anderen Medienvertreter traten den mehr oder weniger gepflegten Rückzug an.

»Und wenn wir etwas Wichtiges verpassen?«, wandte Katharina ein. Niemand schien sie zu hören.

»Ach, Vater. Ich bin so glücklich«, säuselte Dominik, während er Alexandra nacheilte.

Helena wieselte ihm hinterher wie ein Welpe seinem Herrchen.

Katharina trennte sich nur ungern von Himesh Khan, der jetzt, zwei Räucherstäbchen in der Hand, auf Kommando von Wolf vor Lakshmi niederkniete, doch ihre Nikotinsucht überwog. Sie packte Stenoblock und Kugelschreiber in die Handtasche und folgte ihren Kollegen, vorbei an dem kleinen Brunnen, auf dessen Rand ein Knabe auf einer Weinbergschnecke ritt.

Auf dem Weg zwischen den Weinstöcken, die im hinteren Teil des Parks wuchsen und gediehen, stieß Alexandra bereits blaue Rauchwölkchen aus, während sie auf ihr Smartphone starrte. Helena studierte andächtig ein Schild, das über die angepflanzten Rebsorten informierte.

Katharina wollte gerade in der Handtasche nach ihren Zigaretten suchen, als sie sich ans Ohr fasste. »Mist, ich habe meinen Ohrring verloren. Der liegt bestimmt unter der Bank. Bin gleich zurück.«

»Um Himmels willen, jetzt bleib schon da. Ich helfe dir nachher auch beim Suchen.« Energisch griff Alexandra nach ihrem Arm, doch Katharina war schon losgespurtet.

Vor der Parkbank, auf der sie noch vor wenigen Minuten gesessen hatte, ging sie in die Knie und suchte mit Argusaugen den Boden ab. Ein plötzlich einsetzendes Plätschern ließ sie den Kopf heben. Katharina war nicht die Einzige, die von dem Geräusch irritiert war.

»Verdammt noch mal, ich krieg noch die Krise. Welcher Idiot hat den Springbrunnen angestellt?« Wolfs Kopf nahm die Farbe einer überreifen Tomate an. »BIANCA!«, brüllte er los. Doch die Regieassistentin war nirgends zu sehen.

Wolf schien endgültig genug zu haben. Wortlos kehrte er der hinduistischen Liebesgöttin und den drei Männern den Rücken zu und stapfte davon. Der Springbrunnen plätscherte weiter fröhlich vor sich hin.

»Ich interpretiere das jetzt einfach mal so, dass wir auch Mittagspause haben«, hörte Katharina Himesh Khan sagen. »Lasst uns schleunigst abhauen, bevor er es sich noch anders überlegt.« Einsam und verlassen blieb Lakshmi zurück.

Super. Dank des Springbrunnens bekam sie schneller etwas in den Magen als gedacht, freute sich Katharina. Aber erst wollte sie ihren Ohrring zurück. Irgendwo musste das verdammte Ding doch sein.

»Das mag ich, wenn hübsche Frauen vor mir auf die Knie gehen.«

Katharina wandte sich um und schaute erst auf ein paar braun gebrannte Beine, die aus Khaki-Bermudas ragten, und dann in das Gesicht des Kameramanns, der seinen Kaugummi zu einer Blase formte und dann platzen ließ.

»Träum weiter«, antwortete Katharina schnippisch. Für kaugummikauende Männer mit Totenkopf-Tattoos auf dem Unterarm hatte sie noch nie viel übriggehabt.

»Werde ich. Ganz sicher.« Ein neuerliches Plopp ertönte, als sich der Mann entfernte.

Katharina schüttelte sich unwillkürlich. Dieser aufgeblasene Typ käme für sie nicht einmal dann in Frage, wenn er der letzte Mann auf Erden wäre. Dann richtete sie ihren Blick wieder nach unten.

Endlich. Etwas Goldenes blinkte ihr entgegen. Sie wollte gerade ihren Ohrring aufheben, als ein infernaler Krach die Luft zerriss. Entsetzt drehte sie sich um. Erde und Gras wirbelten wild durcheinander. Die lächelnde Lakshmi, die sich wie von Geisterhand getragen brennend in die Luft erhoben hatte, zerbarst in tausend Stücke. Bevor Katharina realisieren konnte, was passiert war, traf sie ein Gegenstand an der Schläfe. Um sie herum wurde es dunkel. Die immer lauter werdenden Schreie hörte sie schon nicht mehr.

2

Warum roch es eigentlich so penetrant nach Desinfektionsmittel? Katharina rümpfte die Nase. Vorsichtig öffnete sie die Augen, um sie sofort wieder zu schließen. Ihr Kopf fühlte sich an, als ob sie eine Flasche Ouzo gekippt hätte. Mindestens. Außerdem war ihr speiübel.

»Katharina? Wie geht es dir?«, vernahm sie von Weitem eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Wenn sie nicht gerade halluzinierte, gehörte sie ihrem besten Freund, Hauptkommissar Jürgen Weber.

Wo kam der denn auf einmal her? Und wo war sie überhaupt? Sie riss ein zweites Mal die Augen auf und versuchte sich aufzurichten. Dabei bemerkte sie den triangelähnlichen Haltegriff, der über ihr baumelte. Katharina stutzte. So ein Ding hatte sie das letzte Mal gesehen, als sie ihre Freundin Pia im Krankenhaus besucht hatte. Unwillkürlich stöhnte sie auf. Es schien bereits später Abend zu sein, denn die Deckenbeleuchtung war angeschaltet. Ihr Blick fiel auf einen Miró, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Wie von Zauberhand berührt, schoben sich die knallbunten abstrakten Formen ineinander, um sich kurz darauf wieder neu anzuordnen. Merkwürdig. Seit wann bewegten sich Gemälde? Als sie spürte, wie ihr schwindelig wurde, machte sie die Augen schleunigst wieder zu.

»Katharina, hörst du mich? Alles in Ordnung mit dir?« Webers Tonfall klang jetzt ausgesprochen besorgt.

»Natürlich höre ich dich, ich bin ja nicht taub. Aber kannst du mir bitte erklären, was ich hier mache? Das ist doch ein Krankenhaus, oder?« Übrigens so ziemlich der letzte Ort, den sich Katharina ausgesucht hätte, um sich ins Bett zu legen. Krankenhäuser flößten ihr schon seit ihrer Kindheit tiefstes Unbehagen ein.

Im Gegensatz zu sonst fiel ihr das Sprechen außerordentlich schwer. So trocken hatte sich ihre Kehle das letzte Mal angefühlt, als sie selbst gebackenen veganen Vollkornkuchen von ihrer Nachbarin Magdalena Schulze-Kerkeling kosten musste. Für Katharina war es ein kulinarisches Experiment gewesen, das sie nie mehr wiederholt hatte. Ein Hustenanfall überkam sie.

Schleunigst reichte Weber ihr ein Glas Wasser, das auf einem Nachttisch neben dem Bett stand.

»Wie bin ich denn hierhergekommen?«, fragte Katharina, nachdem sie das Glas in einem Zug leer getrunken hatte.

Weber schenkte ihr nach. »In einem pinkfarbenen Cadillac. Am Steuer saß Clint Eastwood.«

»Echt?« Im ersten Moment fiel Katharina überhaupt nicht auf, dass der Hauptkommissar sie auf den Arm nahm. Wie auch? Ihr Denkapparat lief auf kleinster Sparflamme.

»Herrje, dir scheint es wirklich nicht gut zu gehen. So begriffsstutzig kenne ich dich gar nicht«, meinte Weber kopfschüttelnd, bevor er sich endlich zu einer Erklärung bequemte. »Du hast einen Pappmaché-Arm der indischen Liebesgöttin an den Kopf gekriegt, bist ohnmächtig geworden und wurdest von einem Rettungswagen in die Uniklinik gebracht. Übrigens hast du mehr Glück als Verstand gehabt, dass dir nicht mehr passiert ist. Endlich erweist sich dein Dickschädel mal als Vorteil, das hätte auch ganz anders ausgehen können.«

»Von was redest du? Was für eine Liebesgöttin? Und welcher Arm?« Katharina war mehr als verwirrt. Sie konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, was Weber da erzählte. Offensichtlich hatte sie einen kompletten Filmriss.

»Du warst bei den Dreharbeiten zu diesem Bollywood-Streifen im Colombipark, erinnerst du dich?«, versuchte Weber vorsichtig, ihr auf die Sprünge zu helfen.

»Das ist mir durchaus bekannt. Aber warum schmeißt eine Göttin mit ihren Körperteilen um sich?«

»Weil sie befunden hat, dass sie mit drei Armen blendend zurechtkommt und den vierten nicht mehr braucht«, alberte Weber, ohne zu lächeln.

Was faselte ihr Kumpel da eigentlich, während sie in einem Krankenhaus eingesperrt war? Katharina wollte ihm schon eine patzige Antwort geben, doch dann stutzte sie. Da stimmte doch etwas nicht. Und zwar ganz und gar nicht. Katharina kannte ihren Freund lange genug, um zu wissen, dass er immer dann besonders idiotische Sprüche drosch, wenn ihm etwas zusetzte. »Jetzt hör endlich auf, hier den Clown zu spielen, und sag mir einfach, was passiert ist«, schnauzte sie ihn deshalb an.

Weber begann sich wie ein Aal zu winden. »Katharina, du hast eine schwere Gehirnerschütterung und brauchst wirklich deine Ruhe. Darüber können wir auch noch morgen reden, wenn es dir besser geht.«

Katharina schnappte nach dem Triangel und versuchte erneut, sich aufzurichten. »Morgen? Spinnst du? Ich will auf der Stelle wissen, was los ist. Ich sehe dir doch an, dass du mir etwas verschweigst.«

»Also gut, aber versprich mir, dass du dich nicht aufregst.« Er holte tief Luft. »Irgendjemand hat die Figur in die Luft gesprengt, und du hast blöderweise einen Arm an den Kopf bekommen. Deswegen liegst du hier im Bett.«

»Ist das wieder einer deiner schlechten Scherze?« Mit großen Augen starrte Katharina Weber an, während sie versuchte, das Chaos in ihren grauen Zellen zu sortieren. Aber natürlich. Allmählich dämmerte es ihr. Der ohrenbetäubende Krach, als sie nach ihrem Ohrring gesucht hatte. Die brennende Lakshmi.

Entsetzt schoss sie in die Höhe. »Grundgütiger. Das war ein Sprengstoffanschlag? Was ist mit Dominik und Helena? Und Alexandra? Geht es ihnen gut?« Den Schmerz, der ihr bei der abrupten Bewegung durch den Kopf schoss, ignorierte sie.

Beruhigend tätschelte ihr Weber den Arm. »Keine Angst. Mit denen ist alles in Ordnung. Sie hätten gern selbst nach dir geschaut, aber du kannst dir ja vorstellen, dass sie momentan anderweitig beschäftigt sind. Ich soll dich aber herzlich von ihnen grüßen. Besonders von Helena.«

»Verdammt, die Kleine hat bestimmt den Schreck ihres Lebens gekriegt«, sorgte sich Katharina.

»Das würde ich so nicht sagen«, beruhigte sie Weber. »Ich glaube eher, dass die immer noch völlig aus dem Häuschen ist, weil sie Augenzeugin eines Verbrechens geworden ist. So was erlebt man als Praktikantin nicht alle Tage. Ihr geht es prima, ehrlich.«

Trotz seiner Beteuerungen wirkte Weber alles andere als fröhlich, fiel Katharina auf. »War das alles?«, fragte sie misstrauisch.

Er blickte an ihr vorbei. »Nicht so ganz. Bei dem Anschlag gab es eine Schwerverletzte.«

Hatte sie es doch gewusst. »Wer? Wen hat es erwischt?«

»Eine der Tänzerinnen. Sie war außer dir die Einzige, die sich in der Nähe befand, als der Sprengsatz detonierte.«

Katharina schluckte. Sie wollte sich die Szene gar nicht erst vorstellen. Tiefes Mitleid mit dem Opfer überkam sie. »Wird sie es überleben?«, fragte sie.

Weber zuckte mit den Schultern. Es war ihm deutlich anzusehen, dass ihm die Sache ziemlich an die Nieren ging.

»Und die anderen?«

»Die meisten waren zum Glück schon weit weg, als es losging. Lediglich Himesh Khan wurde von einem herumfliegenden Stein leicht am Bein verletzt, und einer der Musiker ist vor Schreck über ein Saiteninstrument gestolpert und hat sich dabei einen Finger gebrochen. Ach, und Jeanette Holsten musste ebenfalls behandelt werden. Die Ärmste hat einen Nervenzusammenbruch erlitten.«

Letzteres vernahm Katharina mit einer gewissen Skepsis. So wie sich die Holsten sonst aufführte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Schauspielerin so leicht zu erschüttern war. Da bedurfte es bestimmt mehr als einer Explosion. »Die Ärmste. Mir kommen gleich die Tränen.« Dann schwieg sie.

Ein Sprengstoffattentat mitten in Freiburg. Katharina spürte, wie ihr trotz der Wärme im Zimmer kalt wurde. »Wo war der Sprengsatz deponiert?« Sie versuchte, einen sachlichen Ton anzuschlagen, um ihr aufsteigendes Unbehagen zu überspielen.

»Direkt bei der Pappmaché-Figur. Jemand hat ihn dort im Rasen vergraben und dann per Fernzünder aktiviert«, antwortete Weber.

»Und wer soll deiner Meinung nach ein Interesse daran gehabt haben, Lakshmi in die Luft zu sprengen?«, fragte Katharina irritiert. War das wieder einer von Webers schlechten Scherzen?

»Ich denke nicht, dass der Anschlag der indischen Liebesgöttin gegolten hat«, versicherte ihr Weber trocken.

»Ähm, nein, natürlich nicht.« Ihr Gehirn war immer noch angeschlagen, stellte Katharina fest. Sie griff erneut nach dem Wasserglas und versuchte sich zu konzentrieren. Also war die Detonation genau dort erfolgt, wo wenige Minuten zuvor die Dreharbeiten stattgefunden hatten. »Wer macht so etwas Furchtbares?«, überlegte sie laut. »Wer vergräbt einen Sprengsatz im Rasen, um unschuldige Menschen in die Luft zu jagen?« Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. »Sag jetzt bitte nicht, dass es Terroristen waren.«

Irgendwie hatte sie immer gehofft, dass Fanatiker, egal, aus welcher Ecke, kein Interesse daran hätten, ihr Unwesen in einer Provinzstadt wie Freiburg zu treiben. Aber hatten nicht schon vor Jahren algerische Islamisten eine Bombe auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt zünden wollen, um möglichst viele Menschen in den Tod zu reißen? Die hatten sich doch sogar noch eigens einen pakistanischen Dampfkochtopf aus Aluminium besorgt, weil der bei einer Explosion weit mehr Schaden angerichtet hätte als ein gängiger europäischer Stahltopf, erinnerte sie sich. Verdammt. Was ging nur in solchen Köpfen vor? Schutzsuchend schlang sie die Bettdecke enger um sich.

»Momentan ist ein terroristischer Hintergrund nicht auszuschließen«, bestätigte Webers Antwort ihre schlimmsten Befürchtungen. »Das BKA und die Bundesstaatsanwaltschaft kümmern sich bereits darum. Du weißt doch, dass die automatisch auf der Matte stehen, wenn Sprengstoff im Spiel ist. Oder glaubst du allen Ernstes, ich würde sonst seelenruhig am Krankenbett mit dir Händchen halten?« Der Hauptkommissar hörte sich nicht sonderlich begeistert an.

»Und was glaubst du, wer dahintersteckt?«, fragte Katharina ruhig.

Nachdenklich lehnte Weber sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Sagen wir es mal so: Ein Attentat ist bedauerlicherweise das Naheliegendste. Aber wenn du mich fragst, was außer dir und Dominik übrigens noch keiner gemacht hat, bin ich davon nicht restlos überzeugt. Profis hätten mit Sicherheit eine größere Menge an Sprengstoff verwendet, da wäre kein Stein auf dem anderen geblieben. Und du hättest weit mehr als nur den Arm der Göttin abgekriegt. Aber die Ladung war erstaunlich gering dosiert, so viel ist schon bekannt.«

»Na ja, auch unter Terroristen gibt es Dilettanten«, wandte Katharina ein. »Vielleicht waren das welche, die so etwas noch nie gemacht und sich einfach nur blöd angestellt haben?«