Bächle, Gässle, Katzenjammer - Ute Wehrle - E-Book

Bächle, Gässle, Katzenjammer E-Book

Ute Wehrle

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Beschreibung

Ein halluzinierender Konditoreichef und eine erschossene Psychotherapeutin! Für die Freiburger Journalistin Katharina Müller, Hauptkommissar Jürgen Weber und Kater Romeo gestalten sich die Tage bis zur Halloween-Nacht aufregender als gedacht. Eine erste Spur führt zu den Patienten der Toten, die offenbar von ihr erpresst wurden. Doch dann taucht ein ermordeter Vampir auf, der dem eigenwilligen Ermittlerteam weitere Rätsel aufgibt.

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Ute Wehrle

Bächle, Gässle, Katzenjammer

Kriminalroman

Zum Buch

Trügerische Idylle Bei den Jubiläumsfeierlichkeiten einer alteingesessenen Freiburger Konditorei, in der die »Kalten Herzen«, eine berühmte Schwarzwälder Spezialität, hergestellt werden, spielt sich Ungewöhnliches ab: Journalistin Katharina Müller wird Zeugin, wie Firmenchef Eberhard Waldvogel mitten in seiner Festansprache zu halluzinieren beginnt. Er will den bösen Holländer-Michel aus Hauffs Märchen gesehen haben. Einen Tag später wird seine Nichte, die Psychotherapeutin Carina Hagemann, ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Hauptkommissar Jürgen Weber und sein Team stoßen rasch auf eine vielversprechende Spur: Einige von Carina Hagemanns Patienten wurden wegen ihrer psychischen Probleme erpresst, allem Anschein nach von der Psychotherapeutin selbst. Doch wie passt der Tod eines Vampirs, der als professioneller »Erschrecker« im Europa-Park Rust während der Halloween-Woche sein Unwesen treibt, ins Bild? Darauf kann sich nicht einmal der pfiffige Kater Romeo, der auf eigene Faust ermittelt, einen Reim machen.

Ute Wehrle ist gebürtige Freiburgerin und studierte Touristik-Betriebswirtschaft in Heilbronn. Die langjährige Redakteurin einer Tageszeitung arbeitet zwischenzeitlich als freie Autorin und Journalistin. Von ihr sind bereits zahlreiche Krimis erschienen, die in Freiburg, im Schwarzwald und am Bodensee spielen. Daneben hat sie Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © lasa9425 / pixabay

und christiane65 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7046-2

Kapitel 1

»Schlechten Tag gehabt?« Arno drehte den Kopf herum, als Katharina grußlos in die Küche stürmte, sich stöhnend auf den nächstbesten Stuhl fallen ließ und die Schuhe abstreifte. Er stand am Herd und schwenkte hingebungsvoll einen Wok, aus dem der verführerische Duft von Curry und anderen Gewürzen des Orients drang. Aus den Lautsprechern des Radios ertönte die Stimme von Sängerin Namika, die wiederholt gestand, kein Französisch zu sprechen.

»Kann man so sagen.« Katharina streckte die Beine aus und zündete sich eine Zigarette an. »Den halben Morgen habe ich damit verbracht, mich wegen eines Tippfehlers in einer Polizeimeldung hochnehmen zu lassen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sich meine lieben Kollegen gegenseitig mit blöden Witzen überboten haben.«

»Ja, und? Seit wann bist du so empfindlich? So schlimm wird es schon nicht gewesen sein. Fehler passieren jedem.« Arno kostete vorsichtig das vor sich hin köchelnde Abendessen, bevor er zufrieden lächelte. Kochen war schon immer seine große Leidenschaft. Deshalb hatte er auch in Katharinas eher spartanisch eingerichteter Küche Töpfe, Pfannen und diverse Gewürze deponiert, um seinem Hobby nachgehen zu können, wenn er den Abend bei ihr verbrachte. Es war ein Arrangement, von dem alle Beteiligten profitierten, denn als Köchin war Katharina schlicht ein Totalausfall. Wäre es möglich gewesen, hätte sie sogar Wasser anbrennen lassen.

»Das weiß ich selbst. Nur dieses Mal war die Resonanz unserer Leser überwältigend. Vier Anrufe und fünf Mails«, schnaubte Katharina. »Man könnte meinen, die hätten nichts anderes zu tun, als sich jeden Schnitzer herauszupicken.«

»Oh lalalala«, trällerte die Sängerin fröhlich aus dem Lautsprecher.

Arno drehte die Herdplatte herunter, stellte das Radio ab, setzte sich zu Katharina und streichelte ihren Arm. »Sag schon. Was hast du angestellt?«

»Eigentlich nichts Weltbewegendes. Ich habe lediglich einen Buchstaben vergessen. Genauer gesagt, ein klitzekleines ›n‹ in einer Überschrift.«

»Und wie lautete die?«, wollte Arno wissen.

»›Unbekannte knacken Safe in einer Sportgaststätte‹«, klärte ihn Katharina kleinlaut auf. »Dreimal darfst du raten, in welchem Wort das ›n‹ gefehlt hat.«

Nach zwei Sekunden fing Arno schallend an zu lachen. »Das nenne ich in der Tat eine außergewöhnliche Nachricht. Kommt bestimmt nicht alle Tage vor.«

Vor lauter Erheiterung bemerkte er nicht, dass sich die Furche auf Katharinas Stirn gefährlich vertiefte. »Leider kann ich dein Amüsement nicht ganz teilen. Stell dir vor, ein Anrufer hat mir sogar empfohlen, einen Kurs ›Deutsch für Anfänger‹ zu belegen. Und da soll man sich nicht aufregen? Mensch, ich sehe die Überschrift schon im ›Hohlspiegel‹ vor mir.« Verbittert nahm Katharina einen weiteren Zug von ihrem Glimmstängel.

Arno versuchte, den nötigen Ernst an den Tag zu legen, der ganz offensichtlich von ihm erwartet wurde. »Komm schon, vergiss das doofe ›n‹. Morgen interessiert das doch keinen mehr. Also komm wieder runter und genieß deinen Feierabend.« Er stand auf und ging zum Herd zurück. »Und jetzt wird gegessen. Es gibt Hähnchen-Curry, das magst du doch. Hasi habe ich schon mit Karotten versorgt. Der hat bei meinem Anblick übrigens wesentlich mehr Begeisterung an den Tag gelegt als du.«

In der Tat kam Katharinas tierischer Hausgenosse blendend mit dem regelmäßigen Herrenbesuch zurecht, zumal der ihn nach Strich und Faden mit frischem Gemüse verwöhnte. Bei Hasi ging Liebe durch den Magen, daran ließ er keinen Zweifel.

Was man heute von Katharina nicht behaupten konnte, die Arnos Kochkünste ansonsten sehr zu schätzen wusste. Sie gab ein undefinierbares Grummeln von sich und drückte die Zigarette aus. Ihr Gesicht hellte sich nicht einmal auf, als Arno den Teller vor ihr hinstellte. Geistesabwesend schaufelte sie das Hähnchen-Curry in sich hinein.

Arno beobachtete sie nachdenklich, ohne seine eigene Mahlzeit anzurühren. »Wo bleibt denn dein Humor? Du bist lange genug im Zeitungsgeschäft, da kommen solche Sachen eben vor«, versuchte er sie zu trösten.

»Wenn du mich fragst, schon viel zu lange«, knurrte Katharina und schob den noch halb gefüllten Teller zur Seite. »Am liebsten würde ich den Rest der Woche freimachen, bevor ich mir noch mehr dumme Bemerkungen anhören muss.«

»Meine Güte, jetzt nimm es halt sportlich. Schließlich bist du nicht beim Fälschen der Hitler-Tagebücher erwischt worden. Shit happens, das kennst du doch.« Erst im letzten Moment bemerkte Arno, dass er angesichts von Katharinas Fauxpas die falschen Worte gewählt hatte. Zu spät. Katharina warf ihm einen Blick zu, als würde sie ihn am liebsten mit der Gabel aufspießen.

»Weißt du, was mir an dir immer mehr auffällt?«, sagte Arno irgendwann in die eisige Stille hinein. Er stand abrupt auf und begann, den Tisch abzuräumen.

Alarmiert zog Katharina die Augenbrauen hoch.

»Seit sich in Freiburg keine unnatürlichen Todesfälle mehr ereignen, bist du einfach unausstehlich.«

Kapitel 2

Super. Konnte ein Tag noch besser beginnen? Kurz abgelenkt durch ein paar geschnitzte Kürbisse, die ihr auf dem Weg in die Redaktion aus einem Vorgarten entgegengrinsten, hatte es Katharina geschafft, in die einzige Pfütze weit und breit zu treten. Mit dem Ergebnis, dass ihr rechter Schuh vor Nässe triefte und beim Weitergehen ein schmatzendes Geräusch von sich gab.

Zum Glück war der gestrige Abend mit Arno dank einer Flasche Rioja und eines Action-Knallers mit Bruce Willis noch harmonisch zu Ende gegangen. Nein, an ihrem Partner lag es sicher nicht, dass sie schon seit Wochen so gereizt war. Es war vielmehr der Alltagstrott, der ihr zunehmend zu schaffen machte.

Ihr fehlte einfach die Abwechslung. Oder anders ausgedrückt, ein gewisser Nervenkitzel. Katharina seufzte. Sollte sie auf ihre alten Tage einen Gleitschirmkurs belegen, um sich den nötigen Adrenalinkick zu verschaffen? Langsam vom Kandel aus hinab ins Tal schweben, frei wie ein Adler? Eher nicht, wenn sie an ihre Flugangst dachte. Oder besser im nächsten Urlaub Haitauchen im Käfig ausprobieren? Katharina verwarf die Idee sofort wieder. Rausgeschmissenes Geld. Was brauchte sie Haie, wenn sie in der Redaktion gleich auf Frau Doktor Klagemann stoßen würde. Katharinas langjährige Kollegin, die über Freiburgs Kulturleben berichtete und mit der sie von der ersten Minute an auf Kriegsfuß gestanden hatte, verfügte zwar über keine spitzen Zähne, aber dafür über eine umso spitzere Zunge. Nein, das war alles keine Lösung.

Vor allem, weil sie ein völlig anderes Problem plagte, und zwar ihr unbarmherzig näher rückender 50. Geburtstag, den sie am liebsten aus dem Kalender gestrichen hätte. 50 war die magische Zahl, vor der sie sich immer gefürchtet hatte. Von wegen, Frauen fühlten sich mit zunehmendem Alter glücklicher, zufriedener und ausgeglichener, wie sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. Auf sie traf das leider gar nicht zu. Im Gegenteil. Erst gestern hatte sie eine neue Falte um einen Mundwinkel herum entdeckt und sobald sie Schokolade auch nur ansah, spannte bereits der Hosenbund. Und in der gemütlichen Kneipe, in der sie sich letztens mit einer ehemaligen Praktikantin getroffen hatte, war sie mit Abstand die Älteste gewesen. Sie war sich vorgekommen wie ein Ork unter Elfen.

Katharina verzog das Gesicht. Egal, wie sie es drehte und wendete: Sie musste sich wohl oder übel damit abfinden, dass die wildesten Zeiten in ihrem Leben unwiederbringlich vorbei waren, dagegen halfen weder Gleitschirmflüge noch Haie.

Genau genommen, und das gestand sich Katharina nur ungern ein, hatte Arno gestern mit seiner Bemerkung gar nicht so danebengelegen. So ein klitzekleines Verbrechen, das sie auf andere Gedanken bringen würde, käme ihr momentan gerade recht. Es musste ja nicht gleich wieder ein Mord sein.

»Du brauchst deine Jacke erst gar nicht ausziehen«, begrüßte sie ihr Kollege Dominik, nachdem sie schwungvoll die Tür zu ihrem gemeinsamen Büro aufgerissen und den Schirm in eine Ecke gestellt hatte. »Wir müssen sowieso gleich los.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?« Katharina hatte keine Ahnung, wovon Dominik sprach. Doch dann fiel ihr auf, dass sein schwarzes Jackett, das er bei öffentlichen Anlässen zu tragen pflegte, bereits griffbereit über der Stuhllehne hing.

»Sag nur, du hast es vergessen. Allmählich solltest du dir echt mal angewöhnen, deine Termine im Kalender einzutragen. In letzter Zeit wirst du immer schusseliger«, bemerkte er, während er kontrollierte, ob die Batterie in seiner Kamera noch über ausreichend Saft verfügte. »Aber wenn ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen darf: Wir fahren gleich zur Konditorei Waldvogel. Rein dienstlich, damit wir uns nicht missverstehen.«

Katharina sah ihren Kollegen ratlos an, bis ihr endlich ein Kronleuchter aufging. »Himmel, die Feier zum 100. Firmenjubiläum. Die habe ich völlig verdrängt. Kein Wunder, bei der ständigen Hektik.«

»Das wundert mich. Wo du doch so auf Waldvogels Kalte Herzen abfährst«, meinte Dominik. »Du naschst den überteuerten Süßkram doch für dein Leben gern.«

Damit hatte er nicht ganz unrecht. Allerdings war Katharina nicht die Einzige, die sich gern mal den Tag mit dem Kassenschlager der Konditorei versüßte. Besagte Spezialität, die in dem alteingesessenen Freiburger Familienbetrieb hergestellt wurde, war schlicht Kult und im wahrsten Sinn des Wortes in aller Munde. Anders gesagt: Was für Salzburg die Mozartkugeln, für Nürnberg die Lebkuchen und für Aachen die Printen waren, waren für Freiburg die Kalten Herzen. Ihre Geburtsstunde hatten sie dem längst verstorbenen Konditormeister Wilhelm Waldvogel zu verdanken, der, inspiriert von Hauffs bekanntem Märchen »Das kalte Herz«, an einem verregneten Novembermorgen in seiner kleinen Konditorei in St. Peter erstmals die herzförmigen, aus luftigem Teig und mit Puderzucker überzogenen Leckereien herstellte. Die neue Kreation aus seiner Backstube fand in Windeseile reißenden Absatz, nicht zuletzt deshalb, weil fast jedes Kind die Geschichte vom Köhler Peter Munk und dem Holländer-Michel kannte, in der der Schwarzwald eine zentrale Rolle spielte.

Nachdem Wilhelm Waldvogel realisiert hatte, auf welche Goldgrube er unverhofft gestoßen war, erweiterte er in weiser Voraussicht seine Backstube, um der großen Nachfrage gerecht zu werden. Dem Siegeszug der Kalten Herzen weit über den Schwarzwald hinaus stand nichts mehr im Weg, denn vor allem Urlauber bekamen nicht genug von der kalorienhaltigen Versuchung aus dem schönen Schwarzwald und schleppten sie, verpackt in schmucken Blechdosen, gleich kiloweise als Mitbringsel für die Lieben nach Hause.

Daran änderte sich auch Jahrzehnte später nichts, als Wilhelm Waldvogels Urenkel Ramona Hagemann und Eberhard Waldvogel den Familienbetrieb, der zwischenzeitlich von St. Peter ins Freiburger Industriegebiet Nord umgezogen war, übernahmen. Einträchtig teilten sich die Geschwister die Firmenleitung – bis Ramona Hagemann mit ihrem Ehemann vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Seither hatte Eberhard Waldvogel, genau wie sein Großvater ein Mann von Schrot und Korn, das alleinige Sagen.

»Kommst du endlich oder brauchst du eine Extra-Einladung?« Dominik hatte sich bereits sein Jackett übergestreift und spielte ungeduldig mit dem Autoschlüssel. »Ich finde es schon peinlich genug, dass ich jedes Mal zu spät komme, wenn ich mit Bambi unterwegs bin.«

Es war kein Geheimnis, dass es ihr Kollege aus unerfindlichen Gründen immer schaffte, als Letzter einzutrudeln, egal, um welchen Anlass es sich handelte. Bislang war er nur einmal viel zu früh bei einer morgendlichen Pressekonferenz im Rathaus aufgetaucht, weil er es verpeilt hatte, seinen Wecker rechtzeitig auf Winterzeit umzustellen.

»Mach bloß keinen Stress, wir haben noch genug Zeit«, murrte Katharina. Hektik am Morgen konnte sie überhaupt nicht leiden. Sie schnappte sich einen Stenoblock und einen Kugelschreiber und folgte Dominik zur Tür. Zu ihrer Erleichterung war der schlau genug gewesen, seine in der Nähe vom »Regio-Kurier« wohnende Tante zu überreden, ihm heute ihren BMW zu überlassen, sodass sie nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen waren, um zum Firmensitz der Waldvogels zu gelangen. Wenn Katharina etwas hasste, dann eingezwängt zwischen anderen Menschen in einem Bus durchgeschaukelt zu werden. Dagegen war das altbackene, grünlich lackierte Fahrzeug, das auf einem der Anwohnerparkplätze in der Sautierstraße auf sie wartete, definitiv das kleinere Übel, auch wenn sein Inneres wie immer aufdringlich nach Lavendel roch.

»Könntest du deine liebe Tante nicht endlich dazu bewegen, auf Duftbäumchen zu verzichten?«, beschwerte sich Katharina, als sie einstieg. »Von dem Gestank kriege ich regelmäßig Kopfweh.«

»Du darfst auch gern laufen, wenn dir so viel an frischer Luft liegt«, erwiderte Dominik fröhlich, während er den Wagen startete und den Weg Richtung Messe einschlug.

Kapitel 3

Vor einem hellgelben, in U-Form angelegten Gebäude, in dem die Büroräume und die Backstube der Waldvogels untergebracht waren, machte er halt.

»Moment noch.« Katharina klappte den Innenspiegel auf der Beifahrerseite herunter, holte einen Lippenstift aus der Handtasche und zog sich die Lippen nach. Ein letzter prüfender Blick, dann stieg sie aus und schlug die Autotür zu.

Gemeinsam durchschritten sie die breite Glastür, die mit großen weißen Herzen verziert war. Unzählige weiße Herzen in Form von Luftballons schmückten auch den Weg zum Besucherraum, wo der Festakt mit anschließendem Brunch über die Bühne gehen sollte. Katharina schnitt eine Grimasse. »So ein Kitsch. Man könnte meinen, wir gehen zu einer Hochzeit.«

»Kann es sein, dass du heute mit dem falschen Fuß aufgestanden bist? Du bist nur am Meckern.« Dominik machte die ersten Fotos.

Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern drangen immer lauter in Katharinas Ohren, je näher sie dem Besucherraum kamen. Der typische Geräuschpegel eben, wenn Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu Anlässen wie diesen aufeinandertraf.

Kaum hatten sie den lichtdurchfluteten Saal betreten, eilte auch schon Firmenchef Eberhard Waldvogel auf sie zu und schüttelte ihnen die Hand. In der anderen Hand hielt er ein Glas Champagner. »Freut mich, dass Sie gekommen sind. Ist ja schon eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« Er zwinkerte Katharina zu, die sich mit ihm vor knapp einem Jahr beim Freiburger Wirtschaftsball blendend über Sinn und vor allem Unsinn der rein frutarischen Ernährungsform unterhalten hatte. Dabei hatte sie auch seine beiden Töchter und seinen Sohn kennengelernt, die ebenfalls im Betrieb mitarbeiteten. Obwohl Waldvogel schon auf die 70 zuschritt, war sein Händedruck immer noch kräftig wie der eines jungen Mannes. Überhaupt hatte er sich erstaunlich gut gehalten, fiel Katharina auf. Markante Gesichtszüge, volles graues Haar wie aus einer Shampoo-Werbung, ein strahlender Blick und nicht die Spur eines Bauchansatzes. Beneidenswert.

Sein Sohn Tobias, der angeregt mit Grünen-Stadträtin Anneliese Jäger plauderte, hätte hingegen problemlos dem »Bullen von Tölz« Konkurrenz machen können, zumindest, was seinen Leibesumfang betraf. Es hatte ganz den Anschein, als würde er die hauseigenen Produkte nicht verschmähen. Genauso wenig wie Anneliese Jäger, die Katharina und Dominik kurz zunickte, bevor sie sich blitzschnell zwei Kalte Herzen auf einmal schnappte, die den Gästen von jungen Frauen in kurzem schwarzen Kleid und weißer Schürze auf dem Silbertablett angeboten wurden.

Katharina schmunzelte in sich hinein, als sie die sackartige Handtasche sah, die an der Schulter von Anneliese Jäger baumelte. Die Stadträtin war berüchtigt dafür, dass sie bei öffentlichen Anlässen hemmungslos alles an Essbarem einpackte, was ihr in die Finger geriet.

»Papa, allmählich sollten wir anfangen, damit wir unseren Terminplan einhalten können.« Melanie Waldvogel-Krampowski, die älteste Tochter des Firmenchefs, flog förmlich auf sie zu und zeigte demonstrativ auf ihre goldene Armbanduhr. Katharina musterte die elegante Frau von oben bis unten. Mit ihrem silberfarbenen Hosenanzug, den im selben Farbton gehaltenen Pumps und dem dezenten Make-up passte sie perfekt zum Klischee einer erfolgreichen Geschäftsfrau. Sie sah aus, als wäre sie einem Hochglanz-Manager-Magazin entsprungen.

»Ich habe dir deine Ansprache mitgebracht«, sagte die Waldvogel-Tochter und wollte ihrem Vater ein bedrucktes Blatt Papier in die Hand drücken. »Du hast sie auf dem Schreibtisch vergessen.«

Eberhard Waldvogel funkelte sie verärgert an, dann trank er sein Champagnerglas in einem Zug leer. »Vielen Dank, aber das hättest du dir sparen können. Noch bin ich nicht so verkalkt, als dass ich meine Reden ablesen müsste. Pass lieber auf deinen Bruder auf, dass er die Finger vom kalten Büfett lässt, damit noch etwas für die Gäste übrig bleibt.«

»Er ist dein Sohn, nicht meiner«, konterte Melanie Waldvogel-Krampowski prompt. »Ich habe Wichtigeres zu tun.«

Katharina und Dominik betrachteten angestrengt die weißen Herzen, die von der Decke herunterbaumelten, und taten so, als hätten sie von dem kurzen Schlagabtausch zwischen den beiden nichts mitbekommen.

Waldvogel ließ sie mit einem entschuldigenden Lächeln stehen und eilte davon. Im Vorbeigehen schlug er einem Mann im dunklen Anzug auf den Rücken, bevor er sich an den für Ehrengäste reservierten Tisch setzte. Immer mehr Stuhlbeine scharrten über den Boden, denn auch die anderen Besucher nahmen nach und nach Platz.

Nur ein leichtes Zucken im Gesicht von Melanie Waldvogel-Krampowski verriet, dass sie sich über ihren Vater ärgerte, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Wenn Sie mir bitte folgen würden …« Sie begleitete Katharina und Dominik zum Pressetisch, wo bereits die üblichen Verdächtigen saßen: der jung-dynamische Kollege von der Freiburger Zeitung, in dessen Mundwinkel Reste von Puderzucker klebten, die stupsnasige Radioreporterin eines Privatsenders und mehrere Vertreter von diversen Anzeigenblättern.

Kurz darauf hallten die hohen Absätze von Melanie Waldvogel-Krampowskis Pumps schon wieder auf dem Eichenboden, als sie nach vorne zum Rednerpult schritt, die Gäste begrüßte und danach ihren Platz für die Festredner räumte, die ihre Grußworte verlasen. Einer nach dem anderen sprach den Waldvogels seine Glückwünsche zum Jubiläum aus und betonte die wichtige Rolle, die das Unternehmen im Wirtschaftsleben Freiburgs spielte, und wünschte der Familie auch weiterhin viel Erfolg.

Blablabla. Da alle mehr oder weniger dasselbe von sich gaben, gelang es Katharina nur mit Müh und Not, ihr Gähnen zu unterdrücken. Um nicht einzuschlafen, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Neben Waldvogels schon wieder kauendem Sohn Tobias entdeckte sie einen etwa 15-jährigen Jungen in blauem Anzug und Krawatte, der ebenfalls krampfhaft versuchte, seine Langeweile zu überspielen, indem er das vor ihm stehende Saftglas unentwegt hin- und herschob. Auch die Frau, die ihm gegenübersaß, hatte die Augen halb geschlossen und döste vor sich hin. Im Vergleich zu den anderen Gästen war sie sehr unkonventionell gekleidet, fiel Katharina auf. Eine Latzhose und ein blau-weiß geringeltes Oberteil wären nicht ihre erste Wahl für diesen Anlass gewesen. Auch die grünen Strähnen in ihrem Pony wirkten in der illustren Gesellschaft deplatziert. Bei einem Elternabend der Waldorfschule hätte die Dame sicher eine bessere Figur abgegeben, befand Katharina.

Endlich. Eberhard Waldvogel ergriff das Mikrofon. Er war der Letzte auf der Rednerliste, wie Katharina erleichtert feststellte. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will es kurz machen. Unsere Kalten Herzen prägen das Image der Region genauso wie der Bollenhut, die Schwarzwälder Kirschtorte und die, die, ähm Kuckucksuhr«, legte er los und fügte mit hoher Stimme ein neckisches »Kuckuck« hinzu.

Seine Tochter zuckte zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.

»Es ist kein Geheimnis, wem wir unseren Erfolg zu verdanken haben. Zum einen meinem Urgroßvater Wilhelm, einem begnadeten Konditor mit Leib und Seele, zum anderen Wilhelm, also dem Wilhelm Hauff, der dieses romantische Märchen geschrieben hat, nach dem unsere Spezialität benannt wurde. Und auf diese beiden Männer wollen wir nun unsere Gläser erheben.« Er winkte einer Servierkraft, die ihm eilig ein frisches Glas Champagner reichte. »Auf die Wilhelms!«, rief er übermütig.

»Auf die Wilhelms.« Die Gäste taten es ihm nach.

»Jeder weiß, dass unsere Kalten Herzen etwas ganz Besonderes sind. Sie glauben gar nicht, wie viel Geld man mir schon für das Rezept meines Urgroßvaters geboten hat.«

Kichernd setzte Waldvogel das Glas unter dem eisigen Blick seiner Tochter erneut an die Lippen. »Doch das wird von uns genauso sorgsam gehütet wie die Goldvorräte in Fort Knox.«

Höfliches Gelächter.

Unvermittelt begann Waldvogel zu schwanken wie eine Birke im Wind. Sein Blick irrlichterte durch den Saal, dann klammerte er sich mit beiden Händen am Rednerpult fest. »Der Holländer-Michel«, stammelte er los. »Seht ihr ihn nicht, den bösen Geist? Er will mein Herz stehlen.« Er starrte auf seinen Sohn, der schon wieder an einem Kalten Herzen knabberte.

»Papa? Was redest du denn da?« Tobias Waldvogel verschluckte sich und fing an zu husten.

Unruhe machte sich im Saal breit.

»Sieht so aus, als hätte der Firmenchef die Wirkung des Champagners überschätzt«, bemerkte die stupsnasige Radioreporterin einen Tick zu laut. »Der ist ja voll wie ein Eimer.«

»Er will mein Herz. Aber das bekommt er nicht. Niemals!«, kreischte Waldvogel los. Er schien wie von Sinnen, als er beide Hände vor der Brust kreuzte.

Während Tobias Waldvogel immer noch mit seinem Hustenanfall kämpfte, stürzte seine Schwester geistesgegenwärtig nach vorne, packte ihren Vater am Arm und führte ihn heraus. Waldvogel ließ es widerspruchslos mit sich geschehen. Keine Sekunde später stürzte die Frau in der Latzhose den beiden hinterher.

»Was war das denn?« Dominik sah Katharina ratlos an. Auch die anderen Gäste wussten nicht so recht, wie sie reagieren sollten. Bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, kehrte Melanie Waldvogel-Krampowski zurück. Sie griff nach dem Mikrofon und lächelte, als wäre nichts geschehen.

»Bitte entschuldigen Sie den kleinen Zwischenfall. Meinem Vater ist plötzlich unwohl geworden. Die Aufregung, Sie verstehen. Schließlich ist er ja nicht mehr der Jüngste.«

Dann holte sie tief Luft. »Aber lassen Sie uns doch bitte fortfahren.«

Katharina staunte. Die Frau musste Nerven wie Drahtseile haben, so schnell, wie sie die Situation in den Griff bekam. Kurz und prägnant ließ sie die einzelnen Stationen der hundertjährigen Firmengeschichte Revue passieren, nicht ohne die eine oder andere Anekdote einzustreuen.

»Und nun bleibt mir nur noch übrig, Ihnen einen guten Appetit zu wünschen«, beendete sie ihre mit viel Applaus bedachte Ansprache und deutete auf ein üppiges Büfett, auf dem sich mundgerechte Häppchen türmten, und die Servicekräfte, die dem Ansturm mit stoischer Miene entgegensahen. »Lassen Sie es sich schmecken.«

Melanie Waldvogel-Krampowski hatte kaum ausgesprochen, als sich Anneliese Jäger bereits als Erste den Teller so vollpacken ließ, als gälte es, die halbe Stadt mit Lachs-Canapés und Schinkenröllchen zu versorgen.

»Wenn ihr mich fragt, kann es Waldvogels Tochter kaum erwarten, die Firma zu übernehmen«, gab die stupsnasige Radioreporterin hinter vorgehaltener Hand zum Besten. »Na ja, allmählich wird es auch Zeit, dass der Alte ihr das Zepter überlässt. Nach dem krassen Auftritt.« Beifall heischend sah sie sich in der Runde um, doch nur der jung-dynamische Kollege der Freiburger Zeitung nickte zustimmend.

»Willst du dir noch den Bauch vollschlagen oder können wir gehen?«, wandte sich Dominik an Katharina. »Fotos habe ich genug.«

»Mich würde vielmehr brennend interessieren, was mit Waldvogel los ist«, antwortete sie nachdenklich. »Das war doch mehr als seltsam, wie der ausgetickt ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es den von zwei Gläsern Champagner so umhaut.«

»Vielleicht hat er ja vorgeglüht«, meinte Dominik. »Wer weiß, was der schon alles intus hat.«

»Ich sag’s ja immer: Spätestens ab 50 geht’s steil bergab«, bemerkte der jung-dynamische Kollege der Freiburger Zeitung und packte seinen Stenoblock ein. »Man sollte einfach wissen, wann Schluss ist.«

Dummschwätzer. Als Katharina bemerkte, dass Dominik Anstalten machte, ihn auf den Puderzucker in seinen Mundwinkeln aufmerksam zu machen, gab sie ihm unauffällig ein Zeichen, worauf er abrupt verstummte und ihr verschwörerisch zulächelte. Der jung-dynamische Kollege verließ federnden Schrittes und mit verschmiertem Mund den Saal.

Katharina sah ihm stirnrunzelnd hinterher, als erneut der Junge in ihr Blickfeld geriet, der ihr vorhin schon aufgefallen war. Unsicher lehnte er an der Wand, als wüsste er nicht, was er hier zu suchen hatte. Dabei trat er nervös von einem Fuß auf den anderen.

»Warte noch kurz, bin gleich wieder da.« Katharina überließ Dominik der stupsnasigen Radioreporterin, die ihn in ein Gespräch über die technischen Finessen ihres neuen Smartphones verwickelt hatte, und ging auf den Teenager zu.

»Du siehst ganz so aus, als hättest du dich schon besser amüsiert«, sprach sie ihn an.

Er zuckte mit den Achseln, ohne eine Miene zu verziehen.

»So ein Festakt kann furchtbar langweilig sein«, machte Katharina weiter. »In deinem Alter hätte ich mir auch was Spannenderes vorstellen können.« Genau genommen auch in ihrem, doch das behielt sie für sich. »Aber den offiziellen Teil hast du ja überstanden.«

Der Junge musterte angestrengt ein Werbeplakat an der gegenüberliegenden Wand, auf dem sich ein dralles Bollenhut-Mädchen ein Kaltes Herz in den Mund schob. Der Slogan lautete »Süßes aus dem Schwarzwald«. Es wirkte in etwa so modern wie eine Szene aus der Operettenverfilmung vom »Schwarzwaldmädel«. »Opa hat nicht zu viel getrunken«, platzte es aus ihm heraus. »Auch wenn das bestimmt alle denken.«

Katharina wusste nicht so recht, was sie darauf erwidern sollte. Völlig abwegig war der Gedanke schließlich nicht.

»Ach, und selbst wenn. Das ist schon ganz anderen passiert«, sagte sie dann leichthin. »Dein Opa hatte jede Menge Grund zum Feiern, da darf man schon mal ein bisschen über die Stränge schlagen. Du wirst sehen, wenn er sich ausgeruht hat, ist er wieder ganz der Alte.«

»Meinen Sie?« Wirklich überzeugt wirkte der Junge nicht, vielmehr schien er sich ernsthaft Sorgen um seinen Großvater zu machen. »So habe ich ihn ja noch nie erlebt. Das war richtig unheimlich, wie er auf einmal den Holländer-Michel gesehen hat. Und das soll vom Champagner kommen? Nie im Leben.«

Bevor Katharina antworten konnte, steuerte ein drahtiger Mann um die 20 auf sie zu. Er war von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, sein Kopf war kahlrasiert. Im Schlepptau hatte er vier ebenfalls in Bäckertracht gekleidete Männer, die ungefähr im selben Alter wie er sein mussten und einen ähnlich überheblichen Gesichtsausdruck an den Tag legten. Auf Katharina wirkten sie wie Türsteher eines Nachtclubs, die sich ihrer Macht bewusst waren, jeden, der ihnen nicht passte, ans Ende der Reihe zurückschicken zu können.

»Denk dran, dass du nachher noch die Backstube fegst. Und die Bleche werden auch nicht von allein sauber. Wenn du hier mal Chef werden willst, musst du das draufhaben.« Der Kahlrasierte gab dem Jungen eine unsanfte Kopfnuss, dann reihte er sich in die Schlange am Büfett ein. Seine Begleiter folgten ihm feixend.

»Wer war das denn?«, fragte Katharina empört.

Der Junge verzog das Gesicht, als ob er versehentlich auf eine tote Kröte getreten wäre. »Marius Lindner. Er ist zwar nur Geselle, spielt sich aber ständig auf, als würde der Laden ihm gehören. Dabei hätte der nie im Leben einen Job gefunden, wenn ihn Opa nicht eingestellt hätte. Bei den miesen Zeugnissen.«

»Gehört der etwa auch zu eurer Familie?«, fragte Katharina neugierig.

Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Zum Glück nicht. Aber Opa ist ein alter Schulkamerad von seinem Großvater, und der hat ihn bequatscht, Marius zu nehmen. Mama ist auch nicht happy darüber, dass der Vollpfosten bei uns arbeitet, die kann ihn auch nicht leiden. Aber wenn sich Opa etwas in den Kopf gesetzt hat, kommt nicht mal sie gegen ihn an, und das will was heißen.«

Mama? Da Melanie Waldvogel-Krampowski ihres Wissens nach keine Kinder hatte und ihr Bruder Tobias Junggeselle war, musste der Junge der Sohn von Waldvogels jüngster Tochter Susanne sein, schlussfolgerte Katharina. Komisch, die hatte sie heute noch gar nicht gesehen. Konnte es sein, dass sie die Feierlichkeiten geschwänzt hatte?

»Mama war mit Papa bis gestern auf einer Süßwarenmesse in Barcelona, die beiden wollten heute eigentlich zurück sein. Blöderweise hängen sie immer noch in Spanien fest, weil die Fluglotsen streiken. Kein Mensch weiß, wie lange, und wann der nächste Flug geht.«

Der Junge hatte Katharinas fragenden Gesichtsausdruck richtig gedeutet.

»Das tut deinen Eltern sicher sehr leid, dass sie den Festakt verpasst haben.«

»Nicht so leid wie Opa, der war stinksauer, weil sie nicht kommen konnten. Übrigens soll ich nach dem Abi auch in die Konditorei einsteigen«, fügte er hinzu. »Ich bin echt froh, dass das noch ein bisschen dauert. Aber in den Ferien muss ich trotzdem mithelfen. Opa will, dass ich den Betrieb kennenlerne.«

Besonders erfreut klang er nicht.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Katharina.

»Niklas«, antwortete er. »Und Sie?«

»Katharina Müller vom Regio-Kurier«, stellte sie sich vor.

»Kenne ich, Opa hat die Zeitung abonniert«, erwiderte Niklas. »Ich lese immer den Sportteil.«

Sein Blick fiel auf Katharinas Stenoblock, den sie immer noch in der Hand hielt. »Schreiben Sie das eigentlich, dass er vorhin, also …« Er beendete den Satz nicht.

Katharina musste keine Sekunde lang überlegen. »Natürlich nicht. Warum auch? Es gibt nicht den geringsten Grund, deinen Opa in die Pfanne zu hauen.«

Auf das Gesicht des Jungen stahl sich zum ersten Mal ein Lächeln.

»Bist du so weit?« Dominik, der die Radioreporterin offensichtlich erfolgreich abgeschüttelt hatte, tippte ihr auf die Schultern.

»Geh schon mal vor, ich komm gleich nach«, erklärte sie ihm, dann wandte sie sich noch einmal an Niklas.

»Und zerbrich dir nicht mehr den Kopf wegen deines Opas, der wird schon wieder. Iss lieber ein paar Kalte Herzen, das mache ich auch immer, wenn ich Stress habe.«

»Ehrlich gesagt stehe ich mehr auf Chips«, gab Niklas mit ernstem Gesicht zurück. »Von Süßigkeiten wird mir regelmäßig schlecht.«

Wenn das mal nicht eine ausgezeichnete Voraussetzung für eine steile Karriere in der Konditorei Waldvogel war. Katharina verkniff sich ein Lachen, als sie sich von Niklas verabschiedete. Beim Rausgehen drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Er stand immer noch da wie ein kleiner Junge, den man im Bällebad eines Möbelhauses vergessen hatte.

Dominik wartete auf dem Parkplatz auf sie. »Na, endlich. Ich habe schon befürchtet, du hast dir doch noch ein Glas Champagner aufschwatzen lassen.«

Katharina schüttelte sich mit gespieltem Entsetzen. »Wo denkst du hin? Am Ende erscheint mir der Holländer-Michel auch noch.«

»Nun, bei deinem Rioja-Konsum wundert es mich, dass das nicht schon längst passiert ist«, bemerkte Dominik trocken und startete den Motor.

Katharina sparte sich jeglichen Kommentar und versuchte stattdessen, möglichst flach zu atmen, um den Lavendelduft auszublenden.

Kapitel 4

Rechts. Links. Rechts. Schon seit einer Stunde lag ich in meinem Katzenkorb und schaute aus halb geschlossenen Augen zu, wie sich meine Schwanzspitze rhythmisch hin- und herbewegte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben – mir war stinklangweilig.

Normalerweise genügte mir meine eigene Gesellschaft vollkommen, um mit mir und der Welt im Einklang zu sein, aber irgendwie wollte mir das seit Tagen nicht mehr gelingen. Was nicht zuletzt daran lag, dass es schon wieder in Strömen goss. Von wegen goldener Oktober. Mein müder Blick löste sich von meinem Schwanz und ich beobachtete, wie dicke Tropfen gegen das Fenster prasselten und zerplatzten, um anschließend an der glatten Scheibe hinunterzurinnen. Spannend. Leider hatte ich so gar keine Idee, wie ich den Rest des Abends sinnvoller verbringen konnte. Ein Streifzug durch mein Revier schied aus, denn wenn ich etwas verabscheute, dann waren es nasse Pfoten. Und die würde ich bei dem elenden Mistwetter garantiert schon nach ein paar Metern bekommen.

Genauso wenig Lust verspürte ich auf einen Besuch bei der grauen Maus, die im obersten Stockwerk wohnte. Seit sie ihren Trost im Glauben gefunden hatte, weil ihr Mann nur noch nach Hause kam, wenn er frische Hemden brauchte, lief bei ihr im Fernseher tagein, tagaus einer dieser schrägen Bibelsender. Eine Entwicklung, die ich aufrichtig bedauerte, denn nun würde ich sicher nie mehr erfahren, wie die Klinik-Serie »In aller Freundschaft« weiterging, die ich früher regelmäßig mit ihr zusammen angeschaut hatte. Bedauerlicherweise hatte meine Mitbewohnerin so gar nichts für leidenschaftliche Gefühle zwischen Notoperationen und Blutabnahmen übrig. Sie stand vielmehr auf Dokus aller Art, die wiederum ich sterbenslangweilig fand.

Der einzige Lichtblick in meinem momentan viel zu beschaulichen Alltag waren meine Einblicke in die menschliche Psyche, die mir Carina Hagemann im Stockwerk über uns, wenn auch unbeabsichtigt, gewährte. Da die Psychotherapeutin dazu neigte, ihre Haustür nur anzulehnen, konnte ich die Gespräche in ihrer Praxis mühelos mitverfolgen, wenn ich es mir auf ihrem Fußabstreifer bequem machte. Ihr selbst ging ich hingegen lieber aus dem Weg, seit sie mir allen Ernstes eine narzisstische Persönlichkeit attestiert hatte. Das war mir bislang auch prima gelungen – nur leider hatte sie mich vor einigen Tagen in flagranti auf meinem Horchposten erwischt, weil ich kurz eingenickt war, und sich darüber bitterlich bei meiner Mitbewohnerin beschwert. Was konnte ich dafür, dass ihr Patient unter Katzenphobie litt und bei meinem Anblick fast ausgeflippt war, als er die Praxis verlassen wollte? Jedenfalls würde mich der kleine Zwischenfall nicht davon abhalten, auch weiterhin aufmerksam zuzuhören, wenn Carina Hagemann ihre Therapiegespräche führte.

Links. Rechts. Ich widmete mich wieder meiner Schwanzspitze.

Auch meine Mitbewohnerin, die an ihrem Schreibtisch saß, hatte schon bessere Laune gehabt. Fluchend korrigierte sie die Diktate, mit denen sie ihre Schüler am Morgen beglückt hatte. So oft, wie sie den Rotstift zum Einsatz brachte, hatte sich ihre Klasse diesbezüglich nicht wirklich mit Ruhm und Ehre bekleckert.

»Wie um alles in der Welt schafft man es, in einem Wort gleich drei Fehler zu machen«, schimpfte sie vor sich hin.

Blöde Frage. Wenn man den lieben langen Tag damit verbrachte, schwachsinnige WhatsApp-Nachrichten zu tippen, war das nun wirklich kein Kunststück, das müsste ihr eigentlich bekannt sein.

Links. Rechts. Waren das noch Zeiten gewesen, als ich im Freiburger Theater ein und aus gehen durfte, wie es mir passte. Doch seit die neue Intendantin das Kommando übernommen hatte, nachdem ihr Vorgänger dank meiner tatkräftigen Mithilfe einen mehr als unrühmlichen Abgang hingelegt hatte, war es damit endgültig vorbei. Vermutlich hing mein Hausverbot mit der verkratzten Schnauze ihres Pinschers zusammen. Der hatte nämlich den Fehler begangen, mir viel zu dicht auf die Pelle zu rücken, als wir uns auf der Treppe zur Schneiderei begegnet waren, wo ich meine Freundinnen besuchen wollte.

Tja, so war es, das Leben. Hart und ungerecht. Eben noch ein gefeierter Held auf vier Pfoten, der einen Mordfall nahezu im Alleingang gelöst hatte, und kurz darauf eine Persona non grata, damit musste ich mich wohl abfinden.

Links. Rechts … Plopp. Meine Mitbewohnerin hatte zwischenzeitlich eine Flasche Spätburgunder geöffnet, um sich die Korrekturarbeit erträglicher zu gestalten. So viel zur Vorbildfunktion von Pädagogen.

Spontan beschloss ich, die Klassenarbeiten näher in Augenschein zu nehmen. Auf leisen Pfoten verließ ich meinen Korb und hüpfte mit einem kühnen Sprung auf den mit Heften übersäten Schreibtisch, um mir selbst einen Eindruck vom Bildungsniveau der Klasse 9a zu verschaffen. Auweia. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass die Schüler meiner Mitbewohnerin Kommas wie mit einem Salzstreuer verteilten. Und zwar zielsicher an den falschen Stellen. Ich tapste mit der rechten Pfote auf ein aufgeschlagenes Heft, um meine Mitbewohnerin darauf aufmerksam zu machen, doch bedauerlicherweise fegte ich dabei das Glas Rotwein um.

»Romeo, bist du wahnsinnig?« Der Aufschrei meiner Mitbewohnerin ließ mich zusammenschrecken. Der Spätburgunder hatte sich gleichmäßig über die Klassenarbeiten verteilt. Hektisch stürzte sie in die Küche und holte ein kariertes Geschirrhandtuch, dann versuchte sie mit hochrotem Gesicht, die verräterischen Spuren ihres Alkoholkonsums auf den Heften zu beseitigen. Vergeblich. »Wie soll ich die Schweinerei meinen Schülern erklären?«, fauchte sie mich an.

Himmel, sie führte sich auf, als ob ich den dritten Weltkrieg angezettelt hätte. »Verzieh dich sofort in deinen Korb oder ich bring dich morgen ins Tierheim, versprochen!«, zeterte sie weiter, während sie wischte und wischte, als gälte es, die Erbsünde von der Seele verschwinden zu lassen.

Ich trollte mich beleidigt, als sie schon wieder zur Flasche griff und sich nachgoss. Wenn sie so weitermachte, würde sie morgen mit einem Kater im Klassenzimmer einlaufen. Und damit meinte ich nicht mich.

Eine Stunde später verließ sie leicht schwankend den Schreibtisch und begab sich ins Bett. Ein leichtes Schnarchen verriet mir, dass sie im Handumdrehen tief und fest eingeschlafen war.

Irgendwann klappten auch meine Augendeckel zu.

Bis mich ein Knall, gefolgt von einem Poltern, aus meinen Träumen riss.

War meine Mitbewohnerin vor Schreck aus dem Bett gefallen, weil das Moped von unserem Nachbarssohn schon wieder mit einer Fehlzündung aufgemuckt hatte? Verdient hätte sie es, so wie sie mich wegen meines kleinen Fauxpas angefaucht hatte.

Schlaftrunken setzte ich mich in meinem Korb auf und spitzte die Ohren, doch das Einzige, was ich noch hörte, waren regelmäßige Grunzlaute aus dem Schlafzimmer.

Kapitel 5

»Meine Oma hat mal nach drei Gläschen Eierlikör behauptet, auf einem Kamel durch die Wüste geritten zu sein. Übrigens in Begleitung von zwei gut aussehenden Beduinen«, gab Dominik am nächsten Morgen zum Besten, als sich Katharina mit einer Tasse Kaffee zu ihm ins Büro gesellt hatte. »Meinst du, das ist normal, dass man im Alter halluziniert, wenn man zu viel Alkohol gedudelt hat?«

Auch einen Tag später schien ihn Waldvogels merkwürdiges Verhalten immer noch zu beschäftigen.

»Woher soll ich das wissen?«, fauchte ihn Katharina an. »Frag gefälligst deine Oma, wenn dich das so brennend interessiert. Überhaupt, wenn jemand nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, ist das unsere geschätzte Frau Doktor Klagemann. Die spinnt komplett, selbst wenn sie nüchtern ist.«

»Was lässt du dich auch immer wieder auf so sinnlose Diskussionen mit ihr ein. Du weißt doch selbst, dass das nichts bringt. Da kannst du genauso gut versuchen, deinen Hasen vom Intervallfasten zu überzeugen«, erwiderte Dominik.

Katharina hatte kurz zuvor im Gang einen lautstarken Disput mit der Kollegin geführt, ob der von einem Freiburger Künstler geschaffene, mit Konfetti gefüllte Jutesack als innovatives Mahnmal gegen die Vergänglichkeit des Seins auf der Kulturseite des »Regio-Kuriers« gewürdigt werden sollte oder ob besagtes Kunstwerk nicht eher auf den Müll gehörte. Wenig überraschend hatte Katharina letztere Ansicht vertreten.

»Die kostet mich noch den letzten Nerv!« Mit einem heftigen Tritt knallte sie die unterste Schublade ihres Schreibtischs zu, auf die sie zuvor ihre Füße abgestellt hatte.

»Mach’s doch so wie ich«, riet ihr Dominik. »Lass sie reden und stell deine Ohren auf Durchzug.«

»Dazu müsste ich schon stocktaub sein«, schnaubte Katharina.

»Komm schon, reg dich ab. Erklär mir lieber, wer genau eigentlich dieser Holländer-Michel ist, den Waldvogel gestern gesehen haben will«, versuchte Dominik, sie abzulenken.

»Sag nur, du kennst ›Das kalte Herz‹ nicht. Das lief doch erst vor ein paar Jahren im Kino.« Redaktionsleiter Anton Gutmann hatte das Büro betreten und schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Im Gegensatz zu anderen hier weiß ich dafür, was Instagram und Netflix sind«, murmelte Dominik.

»Dann wollen wir deine Bildungslücke doch mal schließen.« Gutmann setzte sich auf den Besucherstuhl und lehnte sich zurück. »Im Schwarzwald lebte einst Peter Munk, ein junger Köhler, der es leid war, arm zu sein. Deshalb machte er sich auf zum Glasmännlein, das ihm als echtes Sonntagskind drei Wünsche gewährte.«

»Nur leider ist dem Kerl nichts Besseres eingefallen, als sich Reichtum zu wünschen«, steuerte Katharina bei, die ihren Ärger über ihre Kollegin vergessen hatte. »Und wenn ich mich richtig erinnere, wollte er auch noch der beste Tänzer weit und breit sein.«

»Hätte ich drei Wünsche frei, wäre das auch mein erster Gedanke.« Gutmann, bekennender Nichttänzer, zwinkerte Katharina zu, bevor er weitererzählte. »Jedenfalls wurde Peter Munk dank des Glasmännleins zu einem wohlhabenden Mann. Nur leider packte ihn der Übermut und er verspielte sehr schnell sein gesamtes Vermögen. Deshalb machte er sich wieder zum Glasmännlein auf, doch das weigerte sich, ihm ein weiteres Mal zu helfen, worauf er mit dem finsteren Holländer-Michel einen teuflischen Pakt schloss. Peter sollte sein Leben lang Geld haben und ein angesehener Mann sein, doch dafür musste er dem bösen Waldgeist sein Herz überlassen und bekam stattdessen einen Stein in die Brust eingepflanzt.«

»Und deswegen vermarktet Waldvogel seine Produkte als Kalte Herzen«, stellte Dominik seine Kombinationsgabe unter Beweis. Gutmann nickte. »Du hast es erfasst. Obwohl das kalte Herz bei Peter Munk fatale Auswirkungen hatte, denn mit einem Schlag war er wie verwandelt, verstieß seine Mutter und erschlug seine Frau, weil sie einem Bettler etwas zu essen gegeben hatte.«

»Märchenstunde? Da komme ich ja genau richtig.« Bambi, der in seiner rechten Hand eine Papiertüte hielt, machte es sich auf Dominiks Schreibtisch bequem und fischte ein belegtes Brötchen heraus. »Mach ruhig weiter«, forderte er den Redaktionsleiter auf.

Gutmann räusperte sich. »Trotz seines steinernen Herzens wurde Peter Munk irgendwann dann doch noch von Reue übermannt und er suchte erneut das Glasmännlein auf. Mit dessen Hilfe konnte er schließlich den Holländer-Michel überlisten, bekam sein richtiges Herz wieder und schaffte es dank seiner frisch erwachten Gefühle sogar, seine Frau wieder zum Leben zu erwecken. Fortan lebte er glücklich und zufrieden bis zu seinem Tod.«

»Und weil die Geschichte so ein schönes Happy End hat, sind die Kalten Herzen bis heute ein Verkaufsschlager«, fügte Katharina hinzu.

»Apropos: Wie war eigentlich die Jubiläumsfeier?«, erkundigte sich Gutmann, der am Tag zuvor freigehabt hatte und noch nicht auf dem Laufenden war.