Bad Boss - Vi Keeland - E-Book

Bad Boss E-Book

Vi Keeland

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Beschreibung

Bei einem Jobinterview trifft Evie Vaughn offiziell das erste Mal auf Merrick Crawford. Den Mann, den sie kurz zuvor nur mit Unterwäsche bekleidet angeschrien hat, weil er in ihre Umkleide geplatzt war. Zu ihrer Überraschung bekommt sie die Stelle als Stresstherapeutin bei Crawford Investment trotzdem. Dabei verfügt sie nicht einmal über die nötige Berufserfahrung. Schnell wird klar: Man hatte ihren höchst attraktiven und knallharten neuen Boss quasi genötigt, die Stelle zu besetzen. Und er hat Evie ausgewählt, um sie mangels Qualifikationen rasch wieder loszuwerden. Doch Evie will ihm zeigen, was sie kann – und macht daraus ihr Boss-Projekt. Sich mit dem Bad Boss anzulegen, bedeutet allerdings, mit dem Feuer zu spielen …

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Buch

Bei einem Jobinterview trifft Evie Vaughn offiziell das erste Mal auf Merrick Crawford. Den Mann, den sie kurz zuvor nur mit Unterwäsche bekleidet angeschrien hat, weil er in ihre Umkleide geplatzt war. Zu ihrer Überraschung bekommt sie die Stelle als Stresstherapeutin bei Crawford Investment trotzdem. Dabei verfügt sie nicht einmal über die nötige Berufserfahrung. Schnell wird klar: Man hatte ihren höchst attraktiven und knallharten neuen Boss quasi genötigt, die Stelle zu besetzen. Und er hat Evie ausgewählt, um sie mangels Qualifikationen rasch wieder loszuwerden. Doch Evie will ihm zeigen, was sie kann – und macht daraus ihr Boss-Projekt. Sich mit dem Bad Boss anzulegen, bedeutet allerdings, mit dem Feuer zu spielen …

Weitere Informationen zu Vi Keeland

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Vi Keeland

Bad Boss

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Babette Schröder

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Boss Project« bei C. Scott Publishing Corp., New York City.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2024

Copyright © 2022 by Vi Keeland

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: FinePic®, München

Redaktion: Antje Steinhäuser

TK · Herstellung: ik

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN: 978-3-641-29920-0V002

www.goldmann-verlag.de

1. Kapitel

Evie

»Ich … äh, habe Kirschen gegessen.« Mit einem entschuldigenden Lächeln sah ich auf meine fleckige Bluse hinunter. »Wenn ich nervös bin, nasche ich, und ich bin an einem Obststand mit Kirschen vorbeigekommen. Die sind meine Schwäche. Jetzt ist mir allerdings klar, dass das eine Viertelstunde vor einem Vorstellungsgespräch keine gute Idee war.«

Die Falten auf der Stirn der Frau vertieften sich. Um ehrlich zu sein, wies meine Bluse mehr als nur einen oder zwei Kirschflecken auf. Wenn ich dieses Gespräch irgendwie retten wollte, musste ich mutig sein und versuchen, sie mit der Wahrheit zum Lachen zu bringen.

»Mir ist eine Kirsche heruntergefallen«, fuhr ich fort. »Sie prallte ab und hinterließ an drei verschiedenen Stellen rote Flecken, bevor ich sie auffangen konnte. Auf der Damentoilette habe ich dann versucht, den Fleck herauszuwaschen. Aber es war hoffnungslos, das hier ist Seide. Dann kam ich auf die geniale Idee, es wie ein Muster aussehen zu lassen. Ich hatte noch ein paar Kirschen übrig, also biss ich eine an und versuchte, die Flecken nachzumachen.« Ich schüttelte den Kopf. »Offensichtlich nicht sehr erfolgreich, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich nur noch die Wahl, eine neue Bluse zu kaufen und zu spät zum Vorstellungsgespräch zu kommen, oder zu versuchen, das Aussehen als trendy zu verkaufen. Ich dachte, es würde nicht so auffallen …« Ich seufzte leise. »Da habe ich mich wohl getäuscht.«

Die Frau räusperte sich. »Ja, also … Fangen wir doch mit dem Vorstellungsgespräch an, okay?«

Es sah zwar bereits so aus, als würde ich den Job nicht bekommen, dennoch zwang ich mich zu einem Lächeln und faltete die Hände im Schoß. »Das wäre toll.«

Zwanzig Minuten später stand ich wieder auf der Straße. Wenigstens hatte sie nicht zu viel von meiner Zeit verschwendet. So konnte ich mir noch ein paar leckere Kirschen kaufen und mir vor meinem letzten Vorstellungsgespräch in dieser Woche eine neue Bluse besorgen. Das gab mir neuen Schwung.

Nachdem ich noch mal am Obststand Halt gemacht hatte, stieg ich in die Subway. Ich würde mir irgendwo auf dem Weg zwischen Bahnhof und meinem Termin eine neue Bluse besorgen.

Doch nach zwei Haltestellen kam die Bahn abrupt zum Stehen und rührte sich fast eine Stunde lang nicht von der Stelle. Der Typ, der mir gegenübersaß, starrte ständig in meine Richtung. Irgendwann kramte ich in meiner Handtasche nach etwas, mit dem ich mir Luft zufächern konnte, denn im Zug wurde es langsam ziemlich stickig. Er blickte zwei- oder dreimal auf sein Smartphone und dann wieder zu mir hoch. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, ahnte jedoch, was gleich kommen würde.

Wenige Augenblicke später beugte er sich zu mir vor. »Entschuldigen Sie. Sie sind doch diese Braut, oder?« Er drehte sein Telefon um und zeigte mir ein Video, von dem ich wünschte, es würde nicht existieren. »Die, die ihre Hochzeit gesprengt hat?«

Es war zwar nicht das erste Mal, dass man mich erkannte, doch seit dem letzten Mal waren mindestens ein oder zwei Monate vergangen, und ich hatte gehofft, der Wahnsinn sei endlich vorüber. Offenbar nicht. Die Leute, die links und rechts von uns im Zug saßen, wurden nun ebenfalls aufmerksam. Und so tat ich, was ich tun musste, um nicht mit Fragen bombardiert zu werden: Ich log nach Strich und Faden.

»Nein. Das bin ich nicht. Aber ich habe schon öfter gehört, dass ich ihr Zwilling sein könnte.« Ich zuckte mit den Achseln. »Es heißt, jeder hätte irgendwo einen Doppelgänger. Sie ist wohl meiner.« Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Ich hätte allerdings nichts dagegen, sie zu sein. Sie ist krass, oder?«

Der Typ blickte auf sein Handy und dann wieder nach oben. Er wirkte nicht so, als würde er mir auch nur ein Wort glauben, ließ mich jedoch in Ruhe. »Ah. Ja, klar. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.«

Eine weitere Stunde später setzte sich der Zug endlich wieder in Bewegung, ohne dass es zumindest eine Durchsage mit einer Erklärung für die Verzögerung gegeben hätte. Als ich ausstieg, blieben mir nur noch etwa zwanzig Minuten Zeit bis zu meinem nächsten Vorstellungsgespräch, und ich trug immer noch die Bluse mit den Flecken. Und … während ich in der heißen Bahn gesessen und noch mehr Kirschen in mich hineingestopft hatte, waren weitere Flecken hinzugekommen. Also eilte ich die Subway-Treppe hinauf, in der Hoffnung, auf dem Weg zu meinem Termin noch etwas Anständiges zum Anziehen zu finden.

Kurz vor dem Gebäude, in dem mein Gespräch stattfinden sollte, fand ich schließlich ein Geschäft, in dessen Schaufenster sowohl Herren- als auch Damenkleidung ausgestellt war. Kaum hatte ich die Paloma-Boutique betreten, bot mir eine Verkäuferin mit einem starken italienischen Akzent ihre Hilfe an.

»Hallo. Hätten Sie eine cremefarbene Seidenbluse? Oder eine weiße? Oder …« Ich schüttelte den Kopf und sah an mir hinunter. »Also irgendetwas, das ich zu diesem Rock anziehen kann?«

Die Frau musterte mein Oberteil, und ich rechnete es ihr hoch an, dass sie mir eine Bemerkung ersparte. Stattdessen nickte sie, und ich folgte ihr zu einem Ständer, von dem sie drei verschiedene Seidenblusen nahm. Jede von ihnen würde zu meinem Rock passen. Erleichtert erkundigte ich mich nach den Umkleidekabinen, und sie führte mich in den hinteren Teil des Ladens. Doch als jemand an der Kasse nach ihr rief, zeigte sie nur auf eine Tür und bellte mir etwas in einer Mischung aus Italienisch und Englisch zu. Ich meinte so etwas verstanden zu haben wie »Ich bin gleich bei Ihnen«, aber egal. Es schien nicht allzu wichtig zu sein. In der Umkleidekabine betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Lippen leuchteten knallrot. Das Pfund Kirschen, das ich im Zug verputzt hatte, hatte seine Spuren hinterlassen. »Mist«, murmelte ich und rieb mir über den Mund. Aber vor dem Vorstellungsgespräch würde ich das wohl nicht mehr wegbekommen. Zum Glück waren meine Zähne verschont geblieben. Diese verdammten Kirschen hatten sich als Desaster erwiesen. Kopfschüttelnd zog ich mein ruiniertes Oberteil aus und nahm eine der Blusen vom Bügel. Bevor ich sie überstreifte, fiel mir ein, dass ich mich vielleicht ein bisschen frisch machen sollte. Nach der heißen Subway fühlte ich mich etwas klebrig. In meiner Handtasche hatte ich ein altes Feuchttuch, das ich vor einiger Zeit in einem Imbiss erhalten hatte, das kramte ich jetzt hervor. Zum Glück war es wirklich noch feucht. Zitronenduft wehte durch die Luft, und als ich den rechten Arm hob, überlegte ich, ob der Geruch wohl auf meine Haut übergehen würde. Interessiert beugte ich den Kopf vor und schnupperte. Und genau in diesem Moment riss jemand die Tür zur Umkleidekabine auf.

»Was zum …?« Der Mann, der davorstand, machte Anstalten, die Tür sofort wieder zu schließen, hielt dann jedoch irritiert inne. »Was machen Sie da?«

Natürlich musste der Typ auch noch umwerfend aussehen, mein Tag konnte wirklich kaum noch schlimmer werden. Seine faszinierend grünen Augen brachten mich kurz aus der Fassung, doch als ich merkte, dass ich immer noch meinen Arm hochhielt und er mich gerade dabei beobachtete, wie ich an meiner Achselhöhle roch, fing ich mich schnell wieder.

Erschrocken verschränkte ich die Arme über meinem Spitzen-BH. »Spielt das eine Rolle? Raus hier!« Ich streckte die Hand aus und riss die Tür zu, wobei ich den Eindringling kurz streifte. »Gehen Sie in die Herrenumkleide!«, rief ich.

Unter der Tür hindurch konnte ich die glänzenden Schuhe des Mannes sehen. Sie bewegten sich nicht.

»Zu Ihrer Information«, brummte er mit rauer Stimme, »das ist die Herrenumkleide. Aber ich lasse Sie in Ruhe Ihre Achseln reinigen.«

Als die glänzenden Schuhe schließlich verschwanden, stieß ich die Luft aus. Dieser Tag musste endlich zu Ende gehen. Aber erst stand mir noch ein weiteres Vorstellungsgespräch bevor, zu dem ich zu spät kommen würde, wenn ich mich nicht beeilte. Ich machte mir nicht die Mühe, unter meinem anderen Arm zu wischen, bevor ich die erste Bluse anprobierte. Zum Glück passte sie. Schnell zog ich wieder meine eigene schöne Bluse an und eilte zur Kasse, während ich sie noch in den Rockbund steckte. Ich erwartete, dem Mann zu begegnen, der in die Umkleidekabine geplatzt war, aber zum Glück war er nirgends zu sehen.

Als ich darauf wartete, dass die Verkäuferin mich abkassierte, blickte ich zu der Umkleidekabine zurück und stellte fest, dass die Tür, auf die die Frau gezeigt hatte, direkt neben einer anderen Tür lag, über der das Schild Damen angebracht war. Über der Umkleide, in der ich gewesen war, stand eindeutig Herren.

Mist. Perfekt.

Die Bluse kostete mich hundertvierzig Dollar – etwa hundertzwanzig Dollar mehr als die, die sie ersetzte und die ich bei Marshalls erstanden hatte. Da das derzeit fast ausreichte, um mein armes Konto zu leeren, musste ich diesen letzten Job bekommen – bis zum Vorstellungsgespräch blieben mir nur noch ein paar Minuten. Rasch eilte ich zu dem Gebäude ein paar Türen weiter, zog mich in einem Affenzahn auf der Damentoilette in der Lobby um, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und trug eine zusätzliche Schicht Lippenstift auf meine ohnehin schon zu roten Lippen auf, um die Kirschflecken zu überdecken.

Die Fahrt mit dem Aufzug in den fünfunddreißigsten Stock ging ungefähr so schnell wie die Zugfahrt in die Innenstadt. Die Kabine hielt auf fast jeder Etage, um Leute aus- und einsteigen zu lassen. Um mich nicht zu stressen, weil ich ein oder zwei Minuten zu spät kam, nahm ich zur Ablenkung mein Handy zur Hand und sah meine E-Mails durch. Leider erwies sich das als ziemlich deprimierend, denn ich hatte zwei neue Absagen erhalten – eine davon für die Stelle, für die ich mich erst heute Morgen vorgestellt hatte. Na toll. Ich war völlig niedergeschlagen, zumal ich mich nun für einen Job vorstellte, von dem ich wusste, dass ich für ihn nicht qualifiziert war, auch wenn Kitty ein gutes Wort für mich eingelegt hatte.

Der Aufzug hielt auf meiner Etage, und ich holte tief Luft, um mich zu sammeln, bevor ich ausstieg. Doch kaum hatte ich einen Fuß über die Schwelle gesetzt, war es um meine Nerven endgültig geschehen. Die mächtigen Glastüren, auf denen in großen goldenen Lettern Crawford Investments stand, schüchterten mich höllisch ein. Der Empfangsbereich mit den himmelhohen Decken, einem Kristalllüster und farbenfrohen Kunstwerken an den schlichten weißen Wänden machte es auch nicht gerade besser. Und die Frau hinter dem Tresen sah eher wie ein Supermodel als wie eine Empfangsdame aus.

Sie verzog die glänzenden Lippen zu einem Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, ich habe um fünf Uhr einen Termin mit Merrick Crawford.«

»Ihr Name, bitte?«

»Evie Vaughn.«

»Ich sage ihm Bescheid, dass Sie hier sind. Bitte nehmen Sie Platz.«

»Danke.«

Auf dem Weg zu den üppigen weißen Sofas rief die Frau hinter mir her. »Ms Vaughn?«

Ich drehte mich um. »Ja?«

»Sie haben da …« Sie deutete über ihre Schulter auf ihren Rücken. »… ein Schildchen an Ihrer Bluse.«

Ich griff nach hinten, tastete, bis ich es fand, und riss das Etikett ab. »Danke. Auf der Bluse, die ich heute Morgen angezogen habe, war ein Fleck. Darum musste ich eine neue kaufen, bevor ich hergekommen bin.«

Sie lächelte. »Zum Glück ist heute Freitag.«

»Auf jeden Fall.«

Ein paar Minuten später führte mich die Empfangsdame ins Allerheiligste. Als wir das sprichwörtliche Eckbüro erreichten, lieferten sich dort zwei Männer eine Art Schreiduell und schienen uns gar nicht zu bemerken. Da das Büro aus Glas bestand, konnte ich jedoch sehen, wie sie sich herausfordernd gegenüberstanden. Der Kleinere hatte eine Glatze und gestikulierte wild. Jedes Mal, wenn er mit den Armen fuchtelte, waren riesige Schweißflecken unter seinen Achseln zu sehen. Der Haltung nach zu urteilen, war der Größere eindeutig der Chef. Er stand breitbeinig vor dem anderen, die Arme vor der starken Brust verschränkt. Ich konnte nicht sein ganzes Gesicht sehen, aber von der Seite wirkte es, als rühre ein Teil des Selbstbewusstseins, das er ausstrahlte, von seinem attraktiven Äußeren.

»Wenn es Ihnen nicht gefällt …«, knurrte der Chef schließlich, »… Reisende soll man nicht aufhalten.«

»Ich habe Socken, die älter sind als dieser Junge! Was für Erfahrungen kann er schon haben?«

»Das Alter interessiert mich nicht im Geringsten. Hier geht es um andere Zahlen – den Gewinn. Seiner liegt im zweistelligen Bereich, und Ihrer ist das dritte Quartal in Folge im Keller. Bis sich die Lage bessert, müssen alle Ihre Geschäfte von Lark genehmigt werden.«

»Lark …« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich schon den Namen höre.«

»Ärgern Sie sich woanders weiter.«

Der kleine Typ murmelte etwas Unverständliches und wandte sich zum Gehen. Er wischte sich den Schweiß aus dem geröteten Gesicht, riss die Tür auf und stapfte an uns vorbei, als wären wir gar nicht da. Drinnen ging der Chef zu seinem Schreibtisch. Anscheinend waren wir unsichtbar.

Die Empfangsdame sah mich mitfühlend an, dann klopfte sie.

»Was?!«

Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und steckte den Kopf hinein. »Ihr Fünf-Uhr-Termin ist da. Sie sagten, ich solle sie herbringen.«

»Großartig.« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Bringen Sie sie rein.«

Offenbar hatte Kittys Enkel nicht ihre freundliche Art geerbt.

Die Empfangsdame lächelte unsicher. »Tut mir leid«, flüsterte sie. »Aber viel Glück.«

Ich trat ein paar Schritte in das palastartige Büro. Als die Glastür hinter mir ins Schloss klickte und der Mann immer noch nicht aufgesehen oder mich gegrüßt hatte, verspürte ich den Impuls, mich umzudrehen und wieder zu gehen. Aber während ich noch darüber nachdachte, genau das zu tun, verlor Mr Griesgram die Geduld.

Er stand mit dem Rücken zu mir und räumte etwas in sein Bücherregal. »Setzen Sie sich, oder muss ich Blechdose und Schnur holen, um Sie zu interviewen?«

Ich kniff die Augen zusammen. Was für ein Idiot. Ich wusste nicht, ob es an dem Tag lag, den ich hinter mir hatte, oder nur an der Art dieses Kerls, aber plötzlich war es mir egal, ob ich den Job bekam. Was auch immer passierte, passierte. Das Schöne ist, wenn man sich einen Dreck darum schert, ob man gewinnt oder verliert, fällt der ganze Druck von einem ab. »Vielleicht habe ich Ihnen einen Moment gegönnt, weil ich gehofft habe, dass sich Ihre Laune dann verbessert«, sagte ich.

Der Mann drehte sich um. Als Erstes bemerkte ich sein Grinsen. Doch als mein Blick nach oben glitt, seinem begegnete und ich das beeindruckende Grün seiner Augen sah, wäre ich fast umgekippt.

Nein.

Im Ernst?

Nein.

Das darf doch nicht wahr sein.

Kittys Enkel ist der Typ aus der Umkleidekabine?

Am liebsten hätte ich mich in einem Loch verkrochen.

Doch während ich insgeheim vor Scham starb, kam der Mann, der mich vor fünfzehn Minuten dabei erwischt hatte, wie ich an meiner Achsel herumgeschnüffelt hatte, auf mich zu.

Merrick deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Zeit ist Geld. Setzen Sie sich.«

Erinnert er sich nicht an mich? Ist das möglich?

Nach dem Gespräch, das er gerade mit seinem Angestellten geführt hatte, schien er kein Typ zu sein, der nicht sagte, was er dachte.

Vielleicht konnte er mein Gesicht nicht richtig sehen … Ich hatte die Tür ziemlich schnell wieder zugerissen. Und ich hatte im BH dagestanden, und jetzt war ich vollständig bekleidet.

Oder vielleicht … Könnte ich mich täuschen, und er war gar nicht der Mann aus dem Laden? Das glaubte ich nicht. Vielleicht konnte er sich nicht an mich erinnern, aber ich würde sein Gesicht ganz sicher nicht vergessen – gemeißelter Kiefer, markante Wangenknochen, makellose, gebräunte Haut, volle Lippen und dichte, dunkle Wimpern, die die leuchtend grünen Augen umrahmten. Aus diesen starrte er mich gerade an, als wäre ich der letzte Mensch, den er in seinem Büro haben wollte.

Er stemmte die Hände auf die Hüften. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Bringen wir es hinter uns.«

Wow! Was für ein reizender Mensch. Er klang genauso begeistert, wie ich es bei der Aussicht war, für ihn zu arbeiten. Nichtsdestotrotz, ich hatte mich ziemlich angestrengt, um herzukommen, also konnte ich auch mitspielen und meine beschissene Woche mit einer weiteren Absage beenden. Ich ging zu seinem Schreibtisch und streckte ihm die Hand hin. »Evie Vaughn.«

»Merrick Crawford.« Während wir uns die Hand schüttelten, blickten wir uns in die Augen. Noch immer schien er mich nicht wiederzuerkennen, und er schien auch nicht zu wissen, dass ich eine Freundin seiner Großmutter war.

Wie auch immer. Kitty hatte mir ein Entrée verschafft, der Rest lag bei mir.

Mein Lebenslauf lag in der Mitte seines riesigen Glasschreibtischs.

Er nahm ihn in die Hand und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Was ist Boxcar Realty?«

»Oh, das ist eine gemeinnützige Gesellschaft, die ich vor ein paar Jahren gegründet habe. Es ist eher ein Projekt, das ich nebenbei betreue. Im letzten halben Jahr habe ich zwischen zwei Therapeutenstellen allerdings überwiegend Vollzeit daran gearbeitet. Ich wollte es nicht auslassen, damit keine Lücke in meinem Lebenslauf entsteht.«

»Sie haben also Ihre letzte Stelle als Therapeutin vor einem halben Jahr aufgegeben und seitdem keine andere Beschäftigung mehr gehabt?«

Ich nickte. »Das ist richtig.«

»Und Boxcar hat irgendetwas mit Immobilien zu tun?«

»Mit Vermietungen. Ich besitze ein paar unübliche Objekte, die ich über Airbnb vermiete.«

Merrick zog die Brauen zusammen. »Unüblich?«

»Das ist eine lange Geschichte. Ich habe unten im Süden ein Grundstück geerbt. Dort kann man wunderbar wandern und der Stadt entfliehen. Es war nicht erschlossen, und ich wollte das Land nicht durch Häuser verschandeln. Also habe ich einen Glampingplatz eröffnet und zwei Baumhäuser gebaut, die ich vermiete.«

»Einen Glampingplatz?«

»Ja, Camping auf etwas luxuriösere Art. Es bedeutet …«

Merrick unterbrach mich. »Den Begriff Glamping habe ich schon gehört, Ms Vaughn. Ich versuche nur herauszufinden, was das mit der Arbeit einer Therapeutin zu tun hat.«

Verflixt. Das war kein guter Start. Ich richtete mich etwas gerader auf. »Na ja, direkt nichts – abgesehen davon, dass die meisten Leute, an die ich vermiete, eine Möglichkeit suchen, ihrem stressigen Job zu entfliehen. Es ist ein Liebhaberprojekt von mir. Die gesamten Einnahmen gehen an wohltätige Zwecke. Nachdem ich meine letzte Stelle aufgegeben hatte, habe ich mir eine dringend benötigte Auszeit genommen, um das Projekt etwas auszubauen.« Ich beugte mich vor und zeigte auf meinen Lebenslauf. »Bei der Stelle davor sehen Sie meine Erfahrung als Therapeutin.«

Merrick musterte mich einen Moment lang, bevor er wieder auf meinen Lebenslauf blickte. »Sie waren bei Halpern Pharmaceuticals beschäftigt. Erzählen Sie mir, was Sie dort gemacht haben.«

»Ich habe Patienten behandelt, die an klinischen Studien teilgenommen und Antidepressiva und Medikamente gegen Angstzustände eingenommen haben.«

»Es wurden also alle Patienten mit Medikamenten behandelt?«

»Nein. Bei klinischen Studien erhalten manche Patienten Placebos.«

»Waren das Menschen, die in einem besonders stressigen Umfeld gearbeitet haben?«

»Einige. Es waren Menschen aus allen sozialen Schichten. Aber alle litten unter Depressionen und Angstzuständen.«

Merrick rieb sich mit dem Daumen über die Lippe. »Ich nehme an, dass diese Leute Medikamente nehmen wollten, weil eine herkömmliche Therapie ihnen nicht geholfen hat.«

Ich nickte. »Das ist richtig. Um sich für die Studie zu qualifizieren, mussten die Teilnehmer zuvor mindestens ein Jahr lang an einer Therapie teilgenommen haben. Die Studien von Halpern konzentrierten sich darauf, ob die Medikamente bei Patienten anschlugen, bei denen eine Therapie ohne Erfolg geblieben war.«

»Und haben die Medikamente gewirkt?«

»Die aus der Studie, an der ich mitgearbeitet habe, ja.«

Merrick lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie haben also bislang nur mit Patienten gearbeitet, die nicht auf Therapien angesprochen haben und Medikamente brauchten, damit es ihnen besser ging. Verstehe ich das richtig?«

Ich runzelte die Stirn. Gott, was für ein Idiot. »Leider schlägt Therapie nicht bei allen Patienten an. Bei vielen der von mir behandelten Personen traten Verbesserungen ein. Da es sich bei Medikamentenstudien jedoch um Doppelblindstudien handelt, kann ich Ihnen nicht sagen, wie viele der Patienten Placebos erhalten haben. Wie vielen es also allein durch meine Therapie besser ging. Ich bin sicher, bei einigen war es so.«

Er warf meinen Lebenslauf auf den Schreibtisch. »Ich leite eine Finanzmaklerfirma. Ich könnte nicht einfach aufhören, meine Kunden über die Rendite zu informieren, die meine Firma erzielt. Es muss schön sein, wenn man sich keine Sorgen darum zu machen braucht, ob jemand den Erfolg der eigenen Arbeit misst.«

Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. »Wollen Sie damit andeuten, dass ich meine Arbeit nicht getan habe, weil niemand beurteilen konnte, ob es den Menschen durch meine Beratung oder durch die Medikamente besser ging?«

Seine Augen funkelten. »Das war nicht meine Aussage.«

»Nicht mit so vielen Worten, aber Sie haben es angedeutet. Ich berate alle Patienten nach bestem Wissen und Gewissen, egal ob jemand zuschaut oder nicht. Sagen Sie, Mr Crawford, wenn Ihre Kunden ihre Rendite nicht überprüfen würden, würden Sie Ihre Arbeit dann anders machen? Vielleicht nachlassen?«

Ein Hauch von einem Lächeln umspielte seine Lippen, als würde er es genießen, ein Arsch zu sein. Nachdem er mich ein paar Herzschläge lang angestarrt hatte, räusperte er sich.

»Wir suchen jemanden, der Erfahrung darin hat, Menschen in stressigen Arbeitssituationen zu behandeln, bevor sie auf Medikamente zurückgreifen.«

Mir wurde klar, dass es ganz egal war, was ich gesagt hatte, seit ich zur Tür hereingekommen war. Und ich hatte keine Lust, mich noch weiter lächerlich zu machen, zumal aus seiner Haltung deutlich hervorging, dass ich den Job nicht bekommen würde.

Also stand ich auf und streckte ihm die Hand hin. »Danke für Ihre Zeit, Mr Crawford. Viel Glück bei Ihrer Suche.«

Merrick hob eine Braue. »Ist das Gespräch zu Ende?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich sehe keinen Grund, es fortzusetzen. Sie haben deutlich gemacht, dass meine Erfahrung nicht das ist, was Sie suchen. Und Sie haben gesagt, Zeit ist Geld, also bin ich mir sicher, dass ich schon ein oder zwei Tausender verschwendet habe?«

Wieder verzog er die Lippen zu einem Grinsen. Sein Blick glitt über mein Gesicht, bevor er aufstand und meine Hand ergriff. »Mindestens zwanzigtausend. Ich bin sehr gut in meinem Job.«

Ich versuchte, meine Hand zurückzuziehen, aber Merrick drückte fester zu und zog mich überraschend über seinen Schreibtisch. Dann beugte er sich ebenfalls vor. Eine Sekunde lang dachte ich, der Kerl würde versuchen, mich zu küssen. Doch bevor mein Herz wieder zu schlagen begann, bewegte er sein Gesicht zu meinem Hals und atmete tief ein. Danach ließ er meine Hand einfach los, als wäre nichts geschehen.

Ich blinzelte ein paarmal und richtete mich wieder auf. »Was … was war das?«

Merrick zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, da Sie nicht meine Angestellte werden, wäre es keine sexuelle Belästigung, wenn ich kurz an Ihnen rieche.«

»Kurz riechen?«

Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Ich bin schon seit der Umkleidekabine neugierig.«

Meine Augen weiteten sich. »O mein Gott! Ich wusste, dass Sie das waren! Warum haben Sie nicht früher etwas gesagt?«

»Es schien mir unterhaltsamer, es nicht zu tun. Ich wollte sehen, wie Sie sich verhalten. Im ersten Moment schien es, als wollten Sie die Flucht ergreifen. Aber Sie haben sich ziemlich schnell gefangen.«

Ich blinzelte. »Kein Wunder, dass Ihre Angestellten unter Stresssymptomen leiden. Spielen Sie oft mit Menschen zu Ihrer eigenen Unterhaltung?«

»Verstecken Sie sich oft in Umkleidekabinen und riechen an Ihren Achselhöhlen?«

Ich runzelte die Stirn und blinzelte noch stärker.

Merrick schien amüsiert.

»Ich habe mich frisch gemacht, weil ich im Zug …« Ich schüttelte den Kopf und brummte: »Ach, vergessen Sie’s.« Ich atmete tief durch und erinnerte mich daran, dass ich ein Profi war. Der Klügere gibt nach. Ich zog meinen Rock glatt und straffte mich. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr Crawford. Ich hoffe, unsere Wege werden sich nicht mehr kreuzen.«

2. Kapitel

Evie

»Die Vorstellungsgespräche heute sind wohl nicht so gut gelaufen?«

Ich schenkte mir die letzten Tropfen aus der nun leeren Weinflasche ein und hielt sie meiner Schwester hin. »Wie kommst du denn auf die Idee?«

Greer holte eine weitere Flasche aus dem Weinregal und setzte sich mit dem Korkenzieher mir gegenüber an den Küchentisch. »Warum konnten wir nicht reich geboren werden, anstatt nur klug und schön?«

Ich lachte. »Weil wir keine Idioten sind. Ich schwöre, jede Person, der ich begegnet bin und die das ganze Paket hatte – reich, intelligent und schön –, war auch ein Idiot.« Ich nippte an meinem Wein. »Wie der Typ, bei dem ich heute Nachmittag ein Vorstellungsgespräch hatte – umwerfend gut aussehend. Seine Augen waren leuchtend grün und seine Wimpern so dicht und dunkel, dass ich mich zusammenreißen musste, um ihn nicht anzustarren. Ihm gehört einer der erfolgreichsten Hedgefonds an der Wall Street – aber er ist ein total arroganter Idiot.«

Greer zog den Korken mit einem lauten Plopp aus der Flasche, und Buddy, ihr Hund, kam angerannt. Das war das einzige Geräusch, für das er aufstand. Wenn jemand an der Tür klingelte oder klopfte, erhob er sich nicht von seinem Lager. Aber wenn man eine Weinflasche öffnete, reagierte er plötzlich wie ein pawlowscher Hund. Sie hielt ihm den Korken hin, damit er daran lecken konnte, und er war begeistert.

Kopfschüttelnd beobachtete ich ihn. »Dein Hund ist echt seltsam.«

Sie kraulte ihm den Kopf, während er den Korken abschleckte. »Er mag nur Rotwein. Ist dir schon mal aufgefallen, wie böse er mich ansieht, wenn er angerannt kommt und feststellt, dass es Weißwein ist und er umsonst aufgestanden ist?«

Ich lachte und schenkte Greer ein volles Glas Merlot ein.

»Kommen wir zurück zu dem heißen, reichen, arroganten Typen, den du heute getroffen hast«, sagte sie. »Er klingt furchtbar. Irgendeine Chance, dass er deiner Schwester eine Spende machen will?«

Greer und ihr Mann waren auf der Suche nach einem Samenspender, nachdem sie fünf Jahre lang versucht hatten, schwanger zu werden. Mit neununddreißig war sie fast zehn Jahre älter als ich und spürte allmählich den Druck von Mutter Natur. Sie hatten vier künstliche Befruchtungen mit Bens Sperma durchgeführt, weil seine kleinen Jungs nicht flink genug waren, aber immer noch kein Glück gehabt. Vor Kurzem hatten sie aufgegeben und beschlossen, einen Spender zu suchen.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du eine bessere Chance hast, sein Sperma zu bekommen, als ich den Job.«

»Was war los? Wieder nicht die richtige Erfahrung?«

Ich seufzte und nickte. »Ehrlich gesagt, bin ich selbst schuld. Ich hätte den Job im Pharmaunternehmen von Christians Familie nie annehmen sollen. Das ist eine sehr spezielle Branche, und bei Medikamentenstudien sind die Leute heutzutage ziemlich skeptisch. Dass ich daran mitgearbeitet habe, wirft kein gutes Licht auf mich. Außerdem war es dumm, mein ganzes Leben mit einem Mann zu verflechten.«

Meine Schwester tätschelte meine Hand. »Kopf hoch. Nächste Woche hast du doch das Vorstellungsgespräch in der Firma von Kittys Enkel, oder? Vielleicht klappt es ja dort.«

»Äh, der arrogante Idiot, von dem ich dir gerade erzählt habe, ist Kittys Enkel.«

Unsere Großmutter und Kitty Harrington waren fast dreißig Jahre lang beste Freundinnen gewesen. Bis meine Nanna vor vier Jahren gestorben war, waren sie in Georgia Nachbarinnen gewesen. Als ich an der Emory in Atlanta promoviert hatte, war ich zu Nanna gezogen und hatte Kitty ziemlich gut kennengelernt. Dann starb Nanna in meinem letzten Studienjahr nach einem kurzen Kampf an Krebs, und Kitty und ich hatten uns gegenseitig gestützt. Seitdem standen wir uns sehr nahe. Es spielte keine Rolle, dass fast fünfzig Jahre zwischen uns lagen. Ich betrachtete sie als gute Freundin. Auch nachdem ich für mein Praktikum zurück nach New York gezogen war, verloren wir nicht den Kontakt. Ich besuchte sie mindestens einmal im Jahr, und wir telefonierten fast jeden Sonntag miteinander.

Greers Augen weiteten sich. »Oh, wow. Ich dachte, das Gespräch wäre nächste Woche. Kaum zu glauben, dass Kittys Enkel sich dir gegenüber wie ein Arsch verhalten hat. Er muss doch wissen, wie nahe ihr euch steht.«

Ich nippte an meinem Wein und schüttelte den Kopf. »Wir haben gar nicht über Kitty gesprochen. Er war nicht der Typ, der Zeit mit Small Talk verschwendet. Aber erst, nachdem ich das Büro verlassen hatte, ist mir klargeworden, dass er vielleicht nicht wusste, wer ich bin. Man sollte meinen, dass er es sonst zumindest erwähnt hätte, oder?«

»Warum hast du es nicht erwähnt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es war ein verrückter Tag. Ich bin ihm doch tatsächlich vor dem Vorstellungsgespräch nebenan in einem Laden begegnet, und da gab es einen kleinen Zwischenfall. Die ganze Sache hat mich aus der Bahn geworfen, und dann hat er mir ziemlich auf den Zahn gefühlt und meine Qualifikation infrage gestellt. Ich verstehe, dass ich vielleicht nicht die beste Kandidatin bin, aber warum hat er mich überhaupt zum Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn er nicht glaubt, dass ich die grundlegenden Qualifikationen mitbringe?«

»Das überrascht mich wirklich. Kitty ist so eine reizende Frau.«

»Das ist sie. Aber sie hat auch eine schelmische Seite. Ich weiß nie, ob sie einen Scherz macht, das liegt irgendwie an ihrem Grinsen.« Ich schüttelte den Kopf. »Mir ist aufgefallen, dass ihr Enkel und sie das gemeinsam haben – dieses schwer zu deutende Grinsen.«

»Wirst du ihr sagen, wie er sich dir gegenüber verhalten hat?«

Ich zog die Nase kraus. »Ich will nicht, dass sie sich schlecht fühlt. Außerdem blüht sie immer auf, wenn sie über ihn spricht.«

»Na ja …« Meine Schwester drückte meine Hand. »Nichts geschieht ohne Grund. Ich wette, es wartet etwas Besseres auf dich. Und selbst wenn es eine Weile dauert, bis du es findest, musst du nicht umziehen. Du kannst so lange bei uns bleiben, wie du willst.«

Ich wusste, dass sie es ernst meinte, und ich wohnte gern bei meiner Schwester und ihrem Mann, aber ich freute mich auch darauf, wieder meine eigene Wohnung zu haben.

»Danke.«

Später, als ich im Bett lag und nicht einschlafen konnte, wälzte ich mich hin und her, wie meist, seit mein Leben aus den Fugen geraten war. An einem Tag hatte ich meinen Verlobten, meine beste Freundin, meinen Job und meine Wohnung verloren. Und zu allem Überfluss war meine Hochzeitsrede, in der ich Christians und Mias Affäre hatte auffliegen lassen – viral gegangen. Ebenso das Video, das zeigte, wie sie in der Nacht vor der Hochzeit in der Flitterwochensuite Sex gehabt hatten. Die letzte Zählung ergab, dass das »verrückte Pornovideo von der besten Freundin der Braut und dem Bräutigam« mehr als eine Milliarde Aufrufe hatte – nicht Millionen, sondern Milliarden. Sogar die Hauptnachrichten hatten die Geschichte aufgegriffen, und es dauerte über einen Monat, bis das Interesse im Internet langsam abebbte. Als ich gerade glaubte, wieder aufatmen zu können, reichten Christian und seine Familie Klage wegen Betrugs und Verleumdung gegen mich ein. Sie behaupteten, ich hätte sie aus Rache für eine aufwendige Hochzeit bezahlen lassen, obwohl ich schon die ganze Zeit über Bescheid gewusst hätte. Das an sich war schon verrückt genug, aber als die Nachrichten davon Wind bekamen, wurde es noch verrückter. Ein paar Tage lang lauerten sogar Paparazzi vor dem Haus meiner Schwester. Was ist nur aus der Welt geworden? Darf man nicht einmal mehr seine eigene Hochzeit sprengen, ohne dass sich Milliarden von Menschen einmischen?

Da ich nicht schlafen konnte, schnappte ich mir mein Handy vom Nachttisch und begann zu scrollen. Da ich nichts Interessantes fand, beging ich den Fehler, meine E-Mails zu öffnen. Seit ich heute Nachmittag nachgesehen hatte, waren zwei weitere Absagen eingegangen. Seufzend wollte ich mich wieder abmelden, doch dann bemerkte ich eine E-Mail, die ich übersehen hatte. Sie war vor zwei Stunden gekommen, und der Domänenname weckte meine Aufmerksamkeit: [email protected]

Wahrscheinlich eine weitere Absage, aber ich öffnete sie trotzdem.

Liebe Ms Vaughn,

vielen Dank, dass Sie sich für die Stelle als Stresstherapeutin bei uns vorgestellt haben. Mr Crawford hat die Bewerber ausgesucht, die in die engere Wahl kommen, und wir würden Sie gern zu einem zweiten Gespräch einladen.

Bitte teilen Sie mir mit, wann Sie nächste Woche Zeit hätten.

Mit freundlichen Grüßen,

Joan Davis

Leiterin der Personalabteilung

Ich blinzelte ein paarmal, ich musste mich verlesen haben. Aber nein, als ich die E-Mail ein zweites Mal las, bestätigte sich, dass ich tatsächlich wieder eingeladen worden war. Das musste an dem tollen ersten Eindruck liegen, den ich gemacht hatte, als ich an meinen Achseln herumgeschnüffelt hatte.

3. Kapitel

Merrick

»Mr Crawford?« Während ich mit Will zu Mittag aß, steckte meine Assistentin Andrea den Kopf durch die Tür. »Entschuldigen Sie die Störung, aber die Personalabteilung lässt fragen, ob Sie vielleicht Zeit hätten, mit einem der Kandidaten für die Inhouse-Therapeutenstelle zu sprechen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss nicht mit den Bewerbern sprechen. Ich habe Joan bereits meine Meinung gesagt. Die Personalabteilung führt die zweite Runde der Vorstellungsgespräche durch und teilt mir anschließend ihre Einschätzung mit.«

»Offenbar hat eine Bewerberin gefragt, ob sie nach ihrem Termin mit der Personalabteilung eine Minute mit Ihnen sprechen könnte. Aber ihr Vorstellungsgespräch beginnt jetzt, und ich weiß, dass Sie während der Börsenzeiten nichts in Ihrem Terminkalender stehen haben wollen.«

»Welche Kandidatin?«

»Evie Vaughn.«

Grinsend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. »Klar. Warum nicht?«

Sie nickte. »Ich sage ihr Bescheid.«

Nachdem Andrea die Tür geschlossen hatte, hob Will das Kinn. »Was hatte dieses kleine Grinsen zu bedeuten?«

»Eine der Bewerberinnen für die Stelle als Stresstherapeut ist vorsichtig ausgedrückt interessant.«

»Inwiefern?«

»Ihr Termin für das erste Vorstellungsgespräch letzte Woche war erst um fünf Uhr. Nachdem der Markt geschlossen hatte, bin ich darum zu Paloma runtergelaufen, um einen Anzug abzuholen, den ich gekauft und hatte ändern lassen. Ich war schon wieder draußen, als ich dachte, ich hätte mein Handy in der Umkleidekabine vergessen. Also ging ich zurück, um nachzusehen. Als ich die Tür öffnete, stand dort eine Frau.«

»Ich hasse diese Läden, die nur eine Umkleidekabine für Männer und Frauen haben.«

»Eigentlich gibt es in dem Laden getrennte Umkleiden. Die Frau war nur in der für Herren. Aber das Beste kommt noch. Als ich reinplatzte, war sie halb ausgezogen … und roch an ihrer Achselhöhle.«

Wills Brauen schossen in die Höhe. »Was?«

»Du hast richtig gehört. Dann kommt ein paar Minuten später mein Fünf-Uhr-Termin, und das ist sie. Die Frau aus der Umkleidekabine.«

»Die Achselschnüfflerin? Hör auf. Was hast du gemacht?«

»Nichts. Ich habe so getan, als würde ich sie nicht wiedererkennen, obwohl sie mich eindeutig erkannt hatte. Ich konnte sehen, wie peinlich ihr das war.«

»So ein Mist passiert nur dir, mein Freund. Wie ging es dann weiter? Wie ist das Vorstellungsgespräch gelaufen?«

»Sie war die am wenigsten qualifizierte Kandidatin. Ich weiß nicht einmal, wie ihr Lebenslauf in der Gruppe gelandet ist, die zum Gespräch eingeladen wurde.«

»Aber heute ist sie zu einem zweiten Gespräch hier?«

»Ja, tatsächlich.«

Will schüttelte den Kopf. »Mir muss irgendetwas entgangen sein.«

»Als ich an dem Abend nach Hause kam, dachte ich darüber nach, dass der Vorstand mir diese Stelle aufgezwungen hat. Sie verlangen, dass ich jemanden einstelle, nicht, dass die Person kompetent ist.«

Will lächelte. »Genial.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe angeboten, jedem Mitarbeiter, der das möchte, eine Beratung zu bezahlen. Aber sie drängen mich dazu, eine Vollzeitkraft einzustellen, und erwarten von jedem Mitarbeiter, mindestens einmal im Monat während der Arbeitszeit von dem Angebot Gebrauch zu machen. Ich will, dass meine Leute hier im Büro konzentriert und rücksichtslos sind – und nicht, dass sie sich mit ihren Gefühlen auseinandersetzen.«

Als wir mit dem Mittagessen fertig waren, klopfte Andrea erneut an. Evie Vaughn stand direkt hinter ihr. Ihr gewelltes blondes Haar war heute hochgesteckt, und sie trug einen schlichten schwarzen Rock und Blazer mit einer roten Bluse darunter. Es verlieh ihr den sexy Look einer Bibliothekarin, von dem jeder Mann mindestens einmal im Leben träumt. Ich versuchte, die Erregung zu ignorieren, die ihr Anblick in mir auslöste, und zwang meinen Blick nach unten.

Andrea steckte den Kopf zur Tür herein. »Brauchen Sie mehr Zeit?«

Ich sah Will an. »Müssen wir noch etwas besprechen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Ich werde den Kaufauftrag für Endicott erteilen, sobald der Kurs bei vierzig pro Aktie liegt.«

»Gut.« Ich wandte meine Aufmerksamkeit Andrea zu. »Bitte bringen Sie Ms Vaughn herein.«

Als Will an Evie vorbeiging, drehte er sich grinsend zu mir um.

Nachdem die Tür geschlossen war, kam sie ein paar Schritte in den Raum und zögerte dann. »Danke, dass Sie mich empfangen.«

Ich nickte und wies auf die Gästestühle vor meinem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz.«

»Ihre Assistentin erwähnte, dass Sie normalerweise keine Termine annehmen, solange der Markt geöffnet ist.«

»Nein.« Ich lehnte mich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Was kann ich für Sie tun, Ms Vaughn?«

»Evie, bitte. Und … nun ja, ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas erklären.«

»Was?«

»Warum ich hier bin. Zu einem zweiten Vorstellungsgespräch, meine ich. Sie haben im ersten Gespräch unmissverständlich deutlich gemacht, dass ich in Ihren Augen nicht die nötige Erfahrung für die Stelle mitbringe, und in der Umkleidekabine habe ich auch nicht gerade einen überzeugenden ersten Eindruck gemacht. Also … warum bin ich wieder hier?«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und überlegte, wie ich antworten sollte. Die politisch korrekte und professionelle Antwort wäre, ich hätte es mir aufgrund ihres Auftretens während des Gesprächs noch einmal anders überlegt. Aber man hatte mir noch nie vorgeworfen, politisch korrekt oder professionell zu sein.

»Sind Sie sicher, dass Sie die Antwort hören wollen? Manchmal ist es besser, man nimmt das Ergebnis einfach hin und hinterfragt es nicht weiter.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ahmte meine Haltung nach. »Vielleicht, aber ich würde es trotzdem gern wissen.«

Ihr Mumm gefiel mir. Es war eine Herausforderung, nicht zu lächeln. »Sie wurden wieder eingeladen, weil Sie von allen Bewerbern und Bewerberinnen, die sich vorgestellt haben, am wenigsten qualifiziert sind.«

Ihre Gesichtszüge entgleisten, und ich hatte den Anflug eines schlechten Gewissens, obwohl sie gesagt hatte, dass sie die Wahrheit hören wollte.

»Warum sollten Sie das tun?«

»Weil es nicht meine Idee war, einen Stresstherapeuten einzustellen. Der Vorstand zwingt mich dazu.«

»Ist es ein Problem, dass es nicht Ihre Idee war?«

»Ich beschäftige hundertfünfundzwanzig Mitarbeiter, deren Aufgabe es ist, mir Ideen zu liefern.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe kein Autoritätsproblem, Ms Vaughn.«

Sie schürzte die Lippen. »Doktor – es heißt Doktor Vaughn. Ich ziehe es vor, Evie genannt zu werden, aber wenn Sie auf der förmlichen Anrede bestehen, können Sie auch meinen richtigen Titel verwenden. Ich habe einen Doktortitel in klinischer Psychologie.«

Diesmal konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich nickte. »Gut. Nein, ich habe kein Autoritätsproblem, Doktor Vaughn.«

»Sie sind also generell gegen die Position, und Sie wollen die schlechteste Person einstellen, um zu beweisen, dass Sie recht haben?«

Ich nickte. »So kann man es ausdrücken.«

»Haben Sie etwas gegen Therapie?«

»Ich glaube, dass manche Menschen von einer Therapie profitieren können.«

»Manche Menschen? Aber nicht Ihre Mitarbeiter? Glauben Sie, dass Ihre Mitarbeiter keinen Stress bei der Arbeit haben?«

»Das ist die Wall Street, Ms … Doktor Vaughn. Wenn es kein stressiger Job wäre, würde mein durchschnittlicher Finanzmakler keine siebenstellige Summe verdienen. Mir ist es einfach lieber, dass meine Trader konzentriert sind, solange sie hier im Büro sind.«

»Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen, dass Ihre Sichtweise womöglich etwas rückständig ist? Sich eine Stunde Zeit zu nehmen, um mit jemandem zu sprechen, stört nicht die Konzentration einer gestressten Person. Aufgrund ihres Stresslevels ist sie bereits unkonzentriert. Eine Therapie könnte helfen, jemanden zu zentrieren, damit er sich wieder besser konzentrieren kann.«

»Es gibt bekanntermaßen mehr als eine Sichtweise.« Ich musterte sie einen Moment lang. »Wollten Sie sonst noch etwas? Oder sind wir an dem Punkt, an dem Sie mir sagen, Sie hoffen, dass wir uns nie wiedersehen?«

Sie lächelte schüchtern. »Das tut mir leid. Das war unangemessen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Schon in Ordnung. Ob Sie es glauben oder nicht, mir ist selbst bereits das eine oder andere Mal unangemessenes Verhalten vorgeworfen worden.«

Sie lachte und stand auf. »Mensch, das hätte ich von dem Mann, der während meines Vorstellungsgesprächs an mir herumgeschnüffelt hat, nie gedacht.« Evie streckte mir die Hand hin. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Und Ihre Ehrlichkeit.«

Ich nickte und ergriff sie.

»Eine Sache noch. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich hoch pokere und Ihnen einen Vorschlag mache.«

Ich hob eine Augenbraue. »Ich kann es kaum erwarten, ihn zu hören …«

Sie lächelte. »Wenn Sie jemanden einstellen müssen, warum dann nicht den besten Kandidaten, den Sie finden können? Ihre Mitarbeiter verdienen es, und man weiß ja nie, vielleicht wird das Ergebnis Sie überraschen.«

An diesem Abend ging die Leiterin der Personalabteilung, Joan Davis, an meinem Büro vorbei und winkte mir zu. Es sah aus, als würde sie gerade Feierabend machen. Ich öffnete die Tür und rief nach ihr. »Hey, Joan?«

Sie blieb stehen und drehte sich um. »Ja?«

»Darf ich Sie etwas fragen?«

»Klar. Was gibt’s?«

»Warum haben wir Dr. Vaughn zum Vorstellungsgespräch eingeladen?«

Sie legte die Stirn in Falten. »Sie haben mir eine E-Mail geschickt und mich gebeten, sie einzuladen.«

»Nein, ich meine nicht für die zweite Runde. Das erste Mal. Die anderen Kandidaten hatten alle mehr Erfahrung, deshalb war ich neugierig, warum Sie sie für das erste Gespräch ausgewählt haben.«

Die Linie zwischen ihren Brauen vertiefte sich. »Ich meinte auch das erste Gespräch. Sie haben mich angewiesen, sie zu berücksichtigen, als wir mit dem Bewerbungsprozess begonnen haben.«

»Ich habe Sie angewiesen? Ich hatte sie noch nie gesehen, bis sie neulich in meinem Büro war.«

»Aber Sie sagten, Ihre Großmutter könne jemanden für die Stelle empfehlen und dass ich sie in die erste Vorstellungsrunde einbeziehen soll, wenn ihr Lebenslauf eintrifft.«

»Ich habe nicht gedacht, dass der Lebenslauf jemals eingetroffen ist. Die Frau, die meine Großmutter kennt, ist …« Ich schloss die Augen. »Mist. Evie ist die Kurzform von Everly, oder?«

Joan nickte. »Ich bin davon ausgegangen, Sie wüssten das alles. In ihrem Anschreiben schrieb sie, dass Kitty Harrington sie empfohlen habe. Das lag den Unterlagen bei, die ich Ihnen gegeben habe.«

Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, die Anschreiben zu lesen. Sie waren in der Regel Blödsinn, nur eine Möglichkeit, ein paar abgedroschene Phrasen unterzubringen. »Das muss ich übersehen haben.«

»Oh, das tut mir leid. Ich hätte Sie darauf hinweisen sollen, bevor Sie mit den Gesprächen begonnen haben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Schon in Ordnung. Mein Fehler. Schönen Abend, Joan.«

Später am Abend beschloss ich, meine Großmutter anzurufen. Es war zwar schon fast neun, als ich nach Hause kam, aber sie war eine Nachteule. Außerdem war ich überfällig, woran sie mich sicher erinnern würde. Also schenkte ich mir zwei Finger breit Whisky ein und nahm mein Handy in die Hand.

»Sieh an, sieh an, sieh an …«, meldete sie sich. »Ich dachte schon, ich müsste in ein Flugzeug steigen und dir den Hintern versohlen.«

Ich lächelte. Das ging ja schnell. »Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, Grams. Ich hatte ziemlich viel zu tun.«

»Ach, das ist doch Quatsch, und das weißt du.«

Ich lachte. »Wie geht es dir?«

»Wahrscheinlich ungefähr so wie dir, nur besser.«

Ich vermisste diese Frau. »Da bin ich mir sicher. Was gibt’s Neues? Gehst du immer noch mit diesem Typen aus? Charles?«

»Ach, Schatz, wir haben wirklich lange nicht gesprochen. Charles habe ich vor mindestens zwei Monaten den Laufpass gegeben. Jetzt treffe ich mich mit Marvin.«

»Was ist mit Charles passiert?«

»Er aß um vier Uhr zu Abend, trug außerhalb des Hauses Pantoffeln und reiste nicht gern. Ich bin achtundsiebzig. Ich habe keine Zeit für so langweiligen Kram. Habe ich dir erzählt, dass wir mit Ava Gardner verwandt sind?«

»Ava Gardner war eine Schauspielerin, richtig?«

»Eine verdammt gute sogar. Sie hatte diese vollen Lippen. Wahrscheinlich hast du daher deinen Schmollmund.«

Ich zog die Stirn kraus, ich kam nicht ganz mit. »Was hat Ava Gardner mit Charles zu tun?«

»Nichts. Ava ist eine meiner neuen Entdeckungen auf Ancestry.«

»Ah …« Das Hobby meiner Großmutter hatte ich fast vergessen. In den letzten zwei Jahren hatte sie über sechstausend Verbindungen auf Ancestry aufgetan. Jede Woche zoomte sie mit neuen entfernten Verwandten, die bereit waren, mit ihr zu sprechen. Einige traf sie sogar persönlich. Die Frau hatte in ihrem Leben noch keinen Tag still gesessen. Zum Teufel, sie hatte sich erst vor fünf Jahren aus der von ihr gegründeten Einrichtung für Opfer häuslicher Gewalt zurückgezogen und arbeitete dort immer noch einmal in der Woche ehrenamtlich.

»Und wie sind wir mit Ava verwandt?«, fragte ich.

»Der Urgroßvater meines Vaters – also mein Ururgroßvater – war ein Cousin ersten Grades von ihrer Urgroßmutter.«

»Das scheint mir aber eine etwas sehr weit entfernte Verwandte zu sein, als dass meine Lippen von ihr stammen könnten.«

»Wir haben starke Gene. Gott weiß, deine Sturheit reicht mindestens fünf Generationen zurück.«

Ich war mir ziemlich sicher, dass die Frau am Telefon genug davon für fünf weitere Abstammungslinien hatte.

»Was hast du in letzter Zeit getrieben, außer nicht anzurufen, um zu sehen, ob ich tot bin?«, fragte sie. »Treibst du dich immer noch mit Models rum, anstatt nach der Mutter meiner Enkel zu suchen? Ich werde nicht jünger, weißt du. Es wäre schön, wenn du eher früher als später damit anfangen könntest.«

»Ich muss mich um mein Geschäft kümmern, Grams.«

»Blödsinn. Das Leben hat dir ein paar Zitronen gegeben. Hör auf, an ihnen zu saugen, und mach Limonade. Dann such dir ein Mädchen mit Wodka.«

Ich lächelte, aber es war eindeutig Zeit, das Thema zu wechseln. Apropos Zitronen … »Hör mal, ich wollte dich nach Evie Vaughn fragen.«

»Ah, Everly. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, sie Evie zu nennen.«

»Anscheinend nennt sie sich Evie.«

»Ich dachte mir schon, dass sie der eigentliche Grund für deinen Anruf sein könnte. Everly hat mir erzählt, dass ihr euch letzte Woche kennengelernt habt.«

Mist. »Was hat sie gesagt?«

»Das Übliche. Dass du genauso charmant bist, wie ich gesagt habe, und sehr höflich und professionell.«

Höflich, hä? Meine Großmutter nahm kein Blatt vor den Mund. Wenn sie gewusst hätte, wie ich Evie behandelt hatte, hätte sie nachgebohrt. Ich war dankbar, dass Dr. Vaughn die Wahrheit über unser Treffen für sich behalten hatte.

»Sie ist ein Hingucker, nicht wahr?«

»Evie ist eine schöne Frau, ja.«

»Hübscher Vorbau«, sagte sie.

Das wusste ich definitiv aus der Umkleide. Aber ich würde mit meiner Großmutter kein Gespräch über die Brüste irgendeiner Frau führen. »Keine Ahnung. Ich habe mit ihr ein Vorstellungsgespräch geführt und sie nicht angeglotzt.«

»Gut. Ich hab dich lieb. Du bist mein Lieblingsenkel. Aber das Letzte, was meine Everly braucht, ist ein Workaholic mit Bindungsproblemen. Gib ihr einfach einen Job, nicht eine Fahrt mit dem Merrick-Express.«

»Erstens bin ich dein einziger Enkel, also sollte ich besser auch dein Lieblingsenkel sein. Und zweitens habe ich keine Bindungsprobleme.«

»Aha. Also gibst du meinem Mädchen nun den Job, oder was? Sie hat ein hartes Jahr hinter sich, mit der Trennung und diesem blöden Video und allem.«

»Blödem Video?«

»Hörst du mir überhaupt zu? Das hab ich dir doch erzählt. Es ist jetzt wahrscheinlich sechs Monate her. Die Woche nach meiner Gallenblasenoperation, um genau zu sein. Deshalb konnte ich auch nicht zur Hochzeit kommen.«

Jetzt, wo sie es sagte, erinnerte ich mich, dass sie eigentlich zu einer Hochzeit eingeladen gewesen war, aber Probleme mit der Gallenblase gehabt hatte. Stattdessen war ich zu ihrer Operation runtergefahren. »Ich erinnere mich an die Hochzeit … Sie haben also Schluss gemacht? Evie hat sie abgesagt?«

»Nicht ganz. In der Nacht vor dem großen Tag hat Everly herausgefunden, dass ihr Verlobter ihre Trauzeugin vögelte. Anstatt Schluss zu machen, heiratete sie ihn und zeigte bei der anschließenden Feier ein Video, wie die beiden es trieben, dann lief sie davon. Wegen diesem verdammten Internet hat irgendwie die ganze Welt das Video gesehen. Eine Woche später hat sie die Ehe annulliert.«

Heilige Scheiße. Ich erinnerte mich vage, dass meine Großmutter mir diese Geschichte erzählt hatte, und ich erinnerte mich sogar, einen Ausschnitt des Videos in den Nachrichten gesehen zu haben. Aber ich hatte nicht zwei und zwei zusammengezählt. »Irgendwie war mir der Zusammenhang nicht klar. Dass das die Frau ist, mit der ich ein Vorstellungsgespräch geführt habe.«

»Ja. Aber ich hoffe, du wirfst ihr das nicht vor. Was sie getan hat, war ziemlich mutig.«

»Natürlich nicht«, sagte ich.

Meine Großmutter und ich unterhielten uns noch weitere zehn Minuten. Nachdem wir aufgelegt hatten, schnappte ich mir meinen Laptop und googelte »Everly Vaughn Hochzeitskatastrophe«.

Ich hatte dem Video keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, als es Anfang des Jahres überall kursierte, aber das erste Video, das erschien, als ich die Eingabetaste drückte, zeigte eindeutig Evie. Und das verdammte Ding hatte einen Haufen Links. Das Standbild zeigte ihr Gesicht, wie sie in einem Hochzeitskleid in ein Mikrofon sprach. Ich drückte auf »Play« und sah mir das Ganze mit vor Staunen offenem Mund an. Ich konnte nicht glauben, dass das dieselbe Frau war, mit der ich halbherzig ein Vorstellungsgespräch geführt hatte, die Frau aus der Umkleidekabine. Als das Video zu Ende war, spielte ich es ein zweites Mal ab. Aber als die Braut auf dem Bildschirm erschien, tippte ich auf Pause und schaute sie mir genau an.

Evie – Dr. Everly Vaughn – sah hinreißend aus in ihrem figurbetonenden, trägerlosen Kleid aus weißer Spitze. Ihr Haar war auf 1940er-Jahre gestylt, weiche blonde Wellen umrahmten ihr hübsches Gesicht. Die sexy Bibliothekarinnenbrille, die sie bei unseren beiden Treffen getragen hatte, war verschwunden, sodass ihre großen blauen Augen noch größer erschienen. Verdammt … Sie war wirklich eine Wucht.

Ich ließ die Eiswürfel in meinem fast leeren Glas klirren, während mein Blick an dem Bildschirm klebte. Beim ersten Anschauen des Videos hatte ich mich damals auf den Bräutigam konzentriert, um zu sehen, ob er eine Ahnung hatte, was passieren würde. Das hatte er definitiv nicht, wodurch es noch mehr Spaß machte, mitzuerleben, wie der Mistkerl bekam, was er verdiente. Aber diesmal konzentrierte ich mich auf die Braut. Und so schön sie auch aussah, ich konnte jetzt den Schmerz in ihren Augen sehen. Das erinnerte mich an heute Nachmittag, als ich ihr ehrlich gesagt hatte, warum sie zu einem zweiten Vorstellungsgespräch eingeladen worden war – nur dass der Schmerz hier noch tausendmal größer war.

Ich drückte auf »Play« und sah zu, wie Evie das Mikrofon nahm und um die Aufmerksamkeit aller bat. Beim Heranzoomen bemerkte ich, dass ihre Hände zitterten. Vor ein paar Monaten, als das Video in den Nachrichten aufgetaucht war, hatte ich es unter »verrückter Braut« abgebucht. Jetzt sah ich die Dinge anders. Während ich den letzten Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in meinem Glas leerte, zollte ich ihr Anerkennung dafür, dass sie für sich eingetreten war. Meine Großmutter hatte recht. Es war mutig von ihr gewesen, ihre Gefühle vor einem Raum voller Menschen zu zeigen und zwei Menschen, die sie liebte, bloßzustellen. Als das Video zu der Stelle kam, an der ihr Verlobter und ihre beste Freundin aufeinander losgingen, klappte ich meinen Laptop zu und blickte aus dem Fenster auf Manhattan.

Evie Vaughn. Die Frau zog es durch, einen Mann zu heiraten, nur um die Hochzeit beim anschließenden Essen platzen zu lassen. Es schien, als ließe ihr eigenes Stressmanagement ebenfalls zu wünschen übrig. Abgesehen davon, dass sie ganz schön tough zu sein schien – mutig, klug, eine Frau, die Leute herausforderte, wenn sie es für richtig hielt – sei es auf ihrer eigenen Hochzeit oder in einem Vorstellungsgespräch mit einem potenziellen Arbeitgeber. Sie war verdammt sexy, vor allem, wenn sie keine Angst zeigte. Ja, Dr. Vaughn war genau die Art von Mitarbeiterin, die ich nicht brauchte, nicht einmal auf einer Position, die ich nicht wollte. In meiner Firma gab es schon genug willensstarke Menschen.

Und doch schien sie mir in den letzten Tagen nicht aus dem Kopf zu gehen.

Das war dumm.

Einfach nur dumm.

Ich wusste, was ich tun musste, um die Sache im Keim zu ersticken. Also rief ich die E-Mail auf, die ich nach den Gesprächen mit den letzten Bewerbern von der Personalabteilung erhalten hatte, und las sie noch einmal durch.

Mr Crawford,

ich habe mich mit beiden Kandidatinnen getroffen, die Sie für ein zweites Gespräch ausgewählt haben. Beide machten einen guten Eindruck, konnten verschiedene Techniken zur Stressbewältigung nennen, mit denen sie arbeiten, und hatten eindeutig ihre Hausaufgaben gemacht und sich über die Branche informiert. Dr. Wexler hat jedoch mehr Erfahrung in der persönlichen Beratung bei Angst und Stress als Dr. Vaughn. Daher lautet meine Empfehlung, dass wir Dr. Wexler ein Angebot unterbreiten.

Bitte lassen Sie mich wissen, ob es noch Gesprächsbedarf gibt oder ob es Ihnen lieber ist, wenn wir noch nach anderen potenziellen Kandidaten suchen.

Mit freundlichen Grüßen

Joan Davis

Weitere zwanzig Minuten starrte ich mit leerem Blick auf den Bildschirm. Die Liste der Gründe, die gegen eine Einstellung von Evie Vaughn sprachen, war endlos. Selbst die Personalabteilung empfahl eine andere Kandidatin. Und doch …

Ich hörte normalerweise eher auf mein Gefühl als auf meinen Verstand. Damit war ich meist gut gefahren. Und aus irgendeinem Grund wurde ich das Gefühl nicht los, dass es ein Fehler wäre, Evie Vaughn abzulehnen – und das nicht nur, weil meine Großmutter nicht glücklich darüber wäre. Wobei ich nicht ehrlich sagen konnte, dass meine Neigung zu der weniger qualifizierten Kandidatin rein professioneller Natur war. Irgendetwas an dieser Frau war mir unter die Haut gegangen. Was genau der Grund war, warum ich den Rat meiner Personalleiterin beherzigen sollte. Doch anstatt der Personalabteilung zu schreiben, wechselte ich erneut zu YouTube und drückte auf »Play«. Zweimal.

Schließlich schüttelte ich den Kopf. Das ist doch lächerlich. Warum zum Teufel verschwendete ich meine Zeit damit, darüber zu grübeln, mit wem ich eine Stelle besetzen sollte, die ich in meiner Firma gar nicht haben wollte?

Ich ging auf Antwort und begann zu tippen.

Joan,

bitte erstellen Sie ein Angebot für Dr. …

4. Kapitel

Evie

»Das gibt’s doch nicht.« Ich lachte und nippte an meinem Kaffee. »Im Ernst?«

»Was?«

Ich blickte von meinem Laptop auf und sah Greer an. »Ich habe gerade eine E-Mail von dieser Investmentfirma bekommen, bei der ich mich vor ein paar Tagen vorgestellt habe. Die Kittys Enkel gehört. Du weißt schon, der Typ, der mir im Grunde gesagt hat, ich sei inkompetent.«

»Der heiße Typ, dessen Sperma ich will?«

Ich nickte. »Genau der.«

»Was steht in der E-Mail? Soll ich ein steriles Behältnis vorbeibringen?«

»Nein, es ist noch verrückter. Sie haben mir den Job angeboten.«

»Oh, wow! Das ist toll!«

Ich nagte an meinem Fingernagel. »Ist es das? Möchte ich wirklich irgendwo arbeiten, wo der große Boss meint, dass man die Position eigentlich gar nicht bräuchte und ich sie nicht anständig ausfüllen könnte?«

»Das kommt darauf an. Was zahlen sie? Und kannst du zusätzlichen Urlaub und eine Spermabestellung heraushandeln?«

Ich richtete den Blick wieder auf meinen Laptop. Ich hatte nur die ersten Zeilen gelesen, in denen stand, dass ich für die Stelle ausgewählt worden war.