Bad Influence. Reden ist Silber, Posten ist Gold (Romantic Suspense auf der "Titanic 2.0") - Stefanie Hasse - E-Book

Bad Influence. Reden ist Silber, Posten ist Gold (Romantic Suspense auf der "Titanic 2.0") E-Book

Stefanie Hasse

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein luxuriöses Schiff auf hoher See. Die bekanntesten Influencer*innen der Welt. Ein gefährliches Spiel um Wahrheit und Lüge. Am liebsten hätte Tara einen großen Bogen um die Jungfernfahrt der SIREN gemacht. Schließlich reisen zahlreiche Influencer*innen mit, die das Kreuzfahrtschiff in Szene setzen sollen. Ihrer Freundin Lola zuliebe beschließt Tara, dennoch mitzufahren und sich darauf zu freuen. Das wäre allerdings leichter ohne Jonah und Lucas, die Tara vor Rätsel stellen und gleichzeitig ihr Herz höherschlagen lassen. Doch das wahre Drama beginnt, als jemand die Geheimnisse der High-Society-Gäste veröffentlicht … Sexy. Glamourös. Gefährlich. Romantic Suspense auf der "Titanic 2.0" "Mit 'Bad Influence' hat Stefanie Hasse das heißeste Buch des Jahres geschrieben. Spannend, witzig und sexy – ein absoluter Lesegenuss." (Stella Tack, Autorin von "Kiss Me Once") "Stefanie Hasse wirft uns in eine aufregende Scheinwelt mit einer prickelnden Lovestory. Wo bekomme ich ein Ticket für die SIREN?" (Nina MacKay, Autorin von "Legend Academy") Mehr von Stefanie Hasse: Matching Night, Band 1: Küsst du den Feind? Matching Night, Band 2: Liebst du den Verräter? Secret Game. Brichst du die Regeln, brech ich dein Herz. Pretty Dead. Wenn zwei sich lieben, stirbt die Dritte. December Dreams. Ein Adventskalender.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 483

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als Ravensburger E-Book erschienen 2022

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2022 Ravensburger Verlag

Copyright © 2022 by Stefanie Hasse

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Lektorat: Franziska Jaekel

Umschlaggestaltung: verwendete Bilder von © muratart, © nata777_7, © Stylish_Pics, © pandaclub23, © schankz, © Tatyana Sidyukova und © psdgraphicscom, alle von Adobe Stock

© gostua und © ArtMari von Shutterstock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51106-8

www.ravensburger.de

Für alle, die laut werden, die den Mund aufmachen und sich nicht zum Schweigen bringen lassen.

PROLOG

»Ich weiß, wo du heute in sechs Monaten sein wirst, Tara!«

Ich bekomme den Schreck meines Lebens, als Lola mir beim Betreten unseres gemeinsamen Wohnheim-Apartments die Tür aus der Hand reißt und mich hineinzerrt. Ich bin gerade von meiner Schicht im Herbert Wellness Center auf dem Campus zurück und total verschwitzt. Schon der Tag davor war prall gefüllt mit Trainings- und Theoriekursen. Ich fühle mich so fertig, als hätte ich den ganzen Tag das Training der Sportstudenten absolviert – dem Großteil meiner Kunden im Center –, dabei studiere ich Sportwissenschaften.

Zu perplex, um direkt zu antworten, blinzele ich Lola nur völlig überfordert an. Sie schiebt mich durch den schmalen weißen Flur, vorbei an den gigantischen Pop-Art-Originalen und der Büste irgendeines Typen, den wir gleich nach unserem Einzug hier »Stony« getauft haben. Selbst ein Semester später wissen wir immer noch nicht, wen er darstellen soll oder warum Lolas Innenarchitektin es für eine gute Idee hielt, ihn in unserem Flur aufzustellen. Er gehört eher in ein Museum – nicht in das neu gebaute Studentenwohnheim der University of Miami.

Erst als wir im Wohnzimmer landen, haben sich mein Puls und meine Atmung wieder normalisiert und ich bin in der Lage zu sprechen. »In sechs Monaten? Bei meinen Eltern in Minnesota?«, erwidere ich, was mehr nach einer Frage als nach einer Antwort klingt und dafür sorgt, dass Lola laut schnaubt. Ihre hellbraunen Augen funkeln vergnügt unter dem dunkelbraunen Pony hervor.

»Falsch! Ich habe viel bessere Pläne für uns. Und es wird so episch werden!« Sie drückt mich auf unsere viel zu große Couch und lässt sich mir gegenüber fallen. In ihrem Rücken jenseits der Fensterfront hinter der gigantischen dunkelgrauen Sofalandschaft spiegelt sich die untergehende Sonne im campuseigenen Lake Osceola und sorgt für Lichtblitze in meinen Augen.

»Ähm … und wie sehen diese Pläne aus?«, bringe ich irgendwann hervor, noch immer total überrumpelt.

Lola streift sich langsam die Haare über die Schulter und richtet sich auf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Angst davor haben soll, was sie gleich sagen wird. »Wir gehen auf die einwöchige Jungfernfahrt auf dem neuesten Luxus-Kreuzfahrtschiff meiner Familie.«

Unwillkürlich sehe ich zu unserer Kinoleinwand hinüber, auf die ein Beamer, der in der Decke eingelassen ist, mindestens einmal im Monat die dramatischste Jungfernfahrt der Welt wirft. Titanic ist Lolas Lieblingsfilm, was an Leonardo DiCaprio liegt, wie sie mir immer wieder versichert, und nicht an ihrem offenbar mit der Muttermilch aufgesogenen Faible für gigantische Schiffe. Ihre Familie ist mit Luxusschiffen der Extraklasse reich geworden, und soweit ich weiß, veranstaltet Price Corp. die einzigen Kreuzfahrten, die sich praktisch kein Normalsterblicher leisten kann, ohne seine Familie für Generationen in Schulden zu stürzen. Also nichts für Menschen wie mich.

»Nein, danke«, lehne ich ab, die Abscheu der reichen Upperclass-Typen des oberen Decks der Titanic vor Augen, mit denen sich Leonardo DiCaprio herumschlagen musste. Darauf kann ich gut verzichten. »Das ist nichts für mich.«

»Oh, doch. Das wird ein richtiges Event werden. Ganz ohne die typischen Gäste.« Dann sieht sie über mich hinweg und brüllt laut: »Jonah! Ich brauche wohl doch deine Hilfe!«

Ich folge ihrem Blick zu unseren Schlafzimmern auf der Galerie. Eine der weißen Türen öffnet sich und ein nicht nur mir allzu bekanntes Gesicht verlässt Lolas Schlafzimmer. Jonah Price stützt sich lässig auf dem gläsernen Geländer der Galerie ab, von der eine offene Treppe nach unten führt, und knipst sein Tausend-Watt-Lächeln an.

»Tara, das ist mein Bruder Jonah«, stellt sie ihn mir unnötigerweise vor. Als wäre ich nicht in der Lage, einen der »begehrtesten Junggesellen der USA« zu erkennen, selbst wenn er unrasiert ist. Er trägt auch keinen teuren Anzug, sondern nur Jeans und ein enges T-Shirt, unter dem seine Muskeln spielen, als er sich durch die dunkelblonden Haare fährt. Ich verfolge ebenso reglos wie »Stony« von seinem Marmorsockel aus, wie Jonah Price die Treppen hinabsteigt und auf uns zukommt.

Er reicht mir die Hand.

»Jonah, das ist meine beste Freundin Tara Dawson.«

Sein Händedruck ist fest und warm, das Lächeln in seinen hellblauen Augen noch wärmer.

Er setzt sich neben Lola, umarmt sie herzlich, packt sie dann aber und wühlt so lange durch ihre Haare, bis sie sich schimpfend befreit und die Flucht in die Küche unter der Galerie antritt. Mit einem amüsierten Funkeln in den Augen und einem zufriedenen Grinsen wendet er sich mir zu.

»Du hast Fragen zur Siren?«, will er mit viel weicherer Stimme wissen, als ich sie aus den Medien kenne. Dort wirkt er oft kühl, arrogant und distanziert.

»Siren?«, frage ich zurück.

Aus der offenen Küche jenseits des Tresens erklärt Lola über das Klappern von Geschirr hinweg: »So heißt das neue Schiff.« Ein paar Sekunden später kommt sie mit Gläsern und einer Colaflasche auf einem Tablett wieder ins Wohnzimmer und rezitiert mit Werbeslogan-Stimme: »Willkommen auf der Siren – dem neuen Level an Luxus.«

Ich sehe zu, wie sie das Tablett auf dem Tisch abstellt und Jonah die Gläser füllt, während ich mich frage, was ich mit alldem zu tun habe und warum ausgerechnet ich dabei sein soll. Oder warum Lolas anderthalb Jahre älterer Bruder plötzlich hier auftaucht, der eigentlich in Europa auf irgendeinem Elite-College studiert, wie es auch für Lola ursprünglich vorgesehen war.

Jonah reicht mir ein Glas und scheint dabei meine Gedanken zu lesen. »Ich unterbreche mein Studium am St. Joseph’s in Whitefield für ein Semester, weil ich mir für die Siren ein ganz neues Marketingkonzept überlegt habe und bei der Umsetzung und Planung dabei sein will«, erklärt er und erzählt dann mit so viel Begeisterung von seiner Idee, dass ich davon angesteckt werde und sich meine Befürchtung von Upperclass-Passagieren, die mich von oben herab mustern, vollkommen auflöst. Als Lola dann noch vorschlägt, meine Schwester Violet einfach ebenfalls mitzunehmen, sage ich dem »Urlaub unseres Lebens« zu.

Die leise Stimme, die in mir flüstert, dass ich mich besser zurückhalten sollte, klingt seltsamerweise exakt wie Christian – mein ältester Freund und Mitbewohner meiner Schwester Violet.

Lolas Jubel jedoch übertönt die Stimme, ihre Augen strahlen regelrecht vor Freude. Dann umarmt sie mich ganz fest und flüstert: »Es bedeutet mir sehr viel, dass du trotz der Sache mitkommst. Du bist die beste Freundin der Welt.«

Ich bleibe an »der Sache« hängen, aber Lolas stürmische Umarmung zieht mich wie immer aus dem Sog meiner Gedanken. Erst als sich Jonah mehrmals räuspert, lässt Lola mich wieder frei.

»Du hast also das Pech, meine kleine Schwester Tag für Tag ertragen zu müssen?«, witzelt Jonah und hält Lola mit einem ausgestreckten Arm auf Abstand, weil sie ihn in die Seite boxen will. Sie hat keine Chance, also streckt sie ihm die Zunge raus.

Ich glaube, es ist egal, wie alt man ist, Geschwister kitzeln regelmäßig das Kindergarten-Ich hervor. Ich nippe an meiner Cola, beobachte die beiden und denke an Violet und mich. Bevor sie ihr Studium begonnen hat, waren wir auch so. Wie ich das vermisse!

SECHS MONATE SPÄTER, ZWEI TAGE VOR AUSLAUFEN DER SIREN

Die Geburtstagsparty von Lola und ihrem Zwilling Lucas habe ich mir anders vorgestellt. Anstatt an Lolas Seite das erste Mal die Siren zu betreten, hänge ich mit Bauchkrämpfen und Übelkeit auf unserer Couch. Es gibt echt keinen mieseren Zeitpunkt für eine Magen-Darm-Grippe oder – wie Christian neben mir vermutet – eine leichte Lebensmittelvergiftung.

»Du musst mehr trinken!«, fordert er mich auf und reicht mir die Elektrolytlösung.

Meine Blase ist schon wieder kurz vor dem Platzen, aber an ihn gekuschelt ist es gerade zu bequem, um aufzustehen. Auf der Leinwand singt Heath Ledger »Can’t take my eyes off you«, Violets und meine Lieblingsszene in »10 Dinge, die ich an dir hasse«. Christian hat den Film ausgewählt, um mich aufzumuntern, weil er, Violet und ich ihn vermutlich eine Myriade Mal gesehen haben, nachdem Mom meiner Schwester und mir die Liebe für diesen Film vermutlich vererbt hat. Doch nicht mal Heath Ledger kann mich ablenken. Stattdessen checke ich ständig meine Nachrichten, Violets und Lolas Instagram-Storys und die Personen, die sie darin verlinkt haben. Ich wäre so unglaublich gern bei ihnen.

»Die ganze Siren lag im Dunkeln, als wir am Hafen angekommen sind«, sagt Violet in ihrem Video an mich. »Es hätte genauso gut irgendein Gebäude sein können. Man hat uns über eine Gangway geführt und nun gehen wir einen Flur der Crew entlang, der als einziger beleuchtet ist. Das ist irgendwie gruselig.« Sie erschaudert demonstrativ und zeigt mir den Weg hinter sich.

Der Gang ist lang, eher zweckmäßig und kahl. Beim Zurückschwenken erkenne ich Lola an Violets Seite. Sie sieht gerade gedankenverloren nach vorn, bekommt erst verzögert mit, dass Violet etwas gesagt hat, und blickt in die Kamera.

»Das ist ein Video für Tara«, erklärt meine Schwester.

Lola schickt einen Luftkuss, gefolgt von einem Schmollmund und den Worten: »Es ist so schade, dass du nicht dabei bist. Werd schnell wieder gesund, damit du Sonntag auch mitkommen kannst.«

Christian hält mir mein Getränk nun direkt unter die Nase und unterbricht so meinen Blick auf meine große Schwester, die gerade sagt, dass sie auch nicht ohne mich fahren will.

Ich sehe zu meinem besten Freund und nehme seufzend das Glas an mich. »Du willst mich nur quälen, Christian Michaels, oder?«

Der krass künstliche Duft nach Erdbeere steigt mir in die Nase und kurz überlege ich, ob mir davon wieder übel werden könnte. Aber durch mein Studium weiß ich genau, dass ich meinen Salzhaushalt schnell ausgleichen muss, um noch rechtzeitig bis zum Auslaufen der Siren wieder auf voller Höhe zu sein.

Christian nickt zufrieden, als ich ihm das leere Glas zurückgebe, und huscht zur Küche, um es wieder zu füllen.

Violet und Lola sind inzwischen in einem gigantischen Saal angekommen, der mir noch einmal die Dimensionen des Luxusliners vor Augen führt. Ich sehe nicht länger Violet, sondern grelle Blitze, die das Bild überbelichten. Lola wird sofort von irgendwelchen Leuten umarmt und von Violet weggerissen. Ihr scheint es aber offenbar nichts auszumachen, sie hält die Kamera erst weiter auf meine beste Freundin, dann zeigt sie mir das Innere des Partysaals, der jede Filmlocation in den Schatten stellen könnte.

Der Raum ist mehrere Etagen hoch – oder eher Decks? An die Wände werden Videosequenzen projiziert, die sich immer wieder verändern. Eben waren es noch im Stroboskoplicht zuckende Menschen bei einem Rave, mit dem Wechsel der Musik zu einem Rocksong wird ein Outdoor-Festival gezeigt. Ich sehe alles nur durch Violets Kamera und fühle mich trotzdem, als sei ich unter Tausenden Feiernden und Tanzenden – dabei sind laut Lola nur rund zweihundert Gäste eingeladen. Die Aufnahme wechselt noch einmal zu Violets Gesicht, sie schickt mir einen Luftkuss und wünscht mir gute Besserung, bevor das Video endet.

»Wie übertrieben das alles ist«, merkt Christian an, der sich gerade wieder neben mich fallen lässt.

Bei seinem Tonfall lasse ich das Handy sinken, während ich Instagram öffne. »Schon wieder diese Diskussion?«, frage ich absichtlich genervt.

»Du weißt, was ich von diesen oberflächlichen Menschen halte. Sie leben in einer anderen Welt! Du solltest vorsichtig sein. Sie werden dir wehtun, wie …« Er spricht ihren Namen nicht aus, sondern schnaubt stattdessen, während er auf mein Handy deutet. Der oberste Post zeigt ein Video von Jonah, auf dem Lola und ihr Zwillingsbruder Lucas zu sehen sind, die gerade lautstark mit »Happy Birthday« besungen werden, ehe ein Champagner-Anstoß-Marathon startet. Währenddessen huschen Kellnerinnen und Kellner umher und schenken den Feiernden fleißig nach.

»Ich finde es nicht gut, dass Violet allein dort ist«, lässt Christian mal wieder den Beschützer heraushängen, als wären wir noch immer im Kindergarten.

»Sie ist doch nicht allein!« Ich wedele mit meinem Handy, auf dem gerade ein Video des gut gefüllten Partysaals zu sehen ist.

»Du weißt, was ich meine«, grummelt Christian eingeschnappt, bevor er einen Blick auf die Wanduhr wirft. »Ich muss jetzt auch los.« Er zögert, bleibt auf der Couch sitzen und fährt sich durch das dunkle Haar, das im Nacken und rund um die Ohren die ersten Locken zeigt. »Eigentlich lasse ich dich hier genauso ungern allein wie Violet auf der Party.«

Ich verdrehe die Augen. »Uns geht es gut. Du musst uns nicht immer beschützen. Husch, husch, zur Arbeit, sonst müssen deine Gäste noch verhungern.«

Seine blauen Augen blitzen auf, er beugt sich schmunzelnd zu mir und verabschiedet sich mit einem schnellen Kuss auf die Stirn, bevor er geht.

Ich bleibe allein zurück und klicke mich durch etliche Storys, bis mir irgendwann die Augen zufallen.

SONNTAG

NEWS 6

»Herzlich willkommen zu dem Ereignis des Jahres, ach was sage ich, des Jahrtausends! Wir stehen hier im Hafen von Miami, in dem täglich rund fünfzehntausend Gäste an Bord der zahlreichen Kreuzfahrtschiffe gehen, die sich an normalen Tagen wie auf einer Perlenkette aneinanderreihen. Heute werden es weniger als hundert Passagiere sein – inklusive der Begleiter und persönlichen Angestellten der geladenen Gäste – und doch ist hier mehr los als an jedem anderen Tag. Hinter mir sehen Sie die Siren, das wohl luxuriöseste und modernste Kreuzfahrtschiff der Welt. Sie überragt das noch amtierende größte Linienkreuzfahrtschiff um sage und schreibe fünfzehn Meter und ist einhundert Meter länger. Dazu wurde uns bestätigt, dass die Siren dank ausgeklügelter Systeme auch aus umwelttechnischer Sicht neue Maßstäbe setzt. Wie wir bereits vor Wochen berichtet haben, machte die Siren schon vor dem Stapellauf ihrem Namen alle Ehre und lockte die High Society aus allen Teilen der Welt an. Doch Lionell Price, aus dessen Reederei das Flaggschiff der zukünftigen Luxusflotte stammt, verkündete vor sechs Monaten, dass es für die Jungfernfahrt eine Bewerbungsphase geben wird. Abgesehen von einem einzigen Ticket, das für einen guten Zweck versteigert wurde, konnte kein Platz gebucht werden. Die Pressesprecherin von Price Corp. hat zudem erklärt, dass diese erste Fahrt vor allem als Werbeveranstaltung gedacht ist und deshalb natürlich auch die Reichweite in den sozialen Medien einen großen Einfluss auf die Auswahl der Teilnehmenden hatte.

Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr meine Kolleginnen und Kollegen jeder neuen Pressemitteilung entgegengefiebert haben! Bislang gibt es kein einziges offizielles Foto aus dem Inneren der Siren. Über die Livestreams der Gäste der Geburtstagsfeier des Price-Nachwuchses am vergangenen Freitag konnten wir nur einen Einblick in einen der luxuriösen Partyräume bekommen. Wer auch immer hinter dieser Werbekampagne steckt, hat sich seine Bonuszahlung am Ende des Jahres auf jeden Fall verdient. Die Price-Aktien sind in den vergangenen Monaten bereits um bis zu einhundertfünfzig Prozent gestiegen.

Ich bekomme eben das Signal, dass der offizielle Countdown begonnen hat. Wenn die Kamera kurz schwenken würde … Was dort drüben wie ein dahingeworfener Campingplatz in Weiß aussieht, sind die Zelte der einzelnen Passagiere. Nicht einmal wir wissen, wer sich darin aufhält. Aber schon in wenigen Minuten werden wir erfahren, wer für die Jungfernfahrt der Siren ausgewählt wurde.

Bleiben Sie dran, nur News 6 wird alle Aufnahmen vom Schiff exklusiv ausstrahlen. Denn ein pikantes Detail habe ich noch nicht erwähnt: Die Passagiere haben nach dem Auslaufen der Siren keinen Zugang zum Telefonnetz oder zum Internet und damit auch nicht zu den eigenen Social-Media-Kanälen.

Bei uns erfahren Sie alles zuerst.

Helena Johnson für News 6.«

1

Wo bleibst du?

Ich warte gar nicht erst auf eine Antwort von Violet, sondern tippe direkt weiter.

Es geht gleich los!

Geht es dir etwa wieder schlechter?

Mein schlechtes Gewissen, dass ich Violet vielleicht doch angesteckt haben könnte, weil ihr laut Christian gestern total übel war, gewinnt wieder die Oberhand und ich tippe:

Soll ich zurückkommen?

Während ich auf eine Antwort warte, sehe ich mich in dem klimatisierten, mit indirektem Licht perfekt inszenierten weißen Traum eines Zeltes um, das zu einer ganzen Zeltstadt gehört, die eigens für diesen Abend in Port Miami aufgebaut wurde. Ein Chauffeur hat mich direkt vor dem Zelt mit der Nummer 19 abgesetzt. Ein kleines Gerät stößt nach Lavendel duftende Dampfschwaden aus. An der Seite stehen auf einem schmalen Glastisch gekühlte Getränke und garantiert viel zu teure Snacks, mit denen ich mir die Zeit vertreiben könnte, bis die »große Show« losgeht. An einer Zeltstange ist ein Flachbildschirm angebracht, von dem mir die immer lächelnde und ewig junge Helena Johnson entgegenstrahlt und die Zuschauer von News 6 motiviert, keine Sekunde des Abends zu verpassen. Was offenbar auch für die geladenen Gäste gilt, denn zwei Massagesessel vor dem Bildschirm warten regelrecht darauf, dass ich mit meiner Schwester Violet entspannt auf unseren Moment warte: den Start in den »Urlaub unseres Lebens«. So hat es Lola jedenfalls vor einem halben Jahr genannt, als sie und Jonah mich zur Teilnahme an der Jungfernfahrt überredet haben.

Doch von Entspannung bin ich weit entfernt. Direkt neben dem Ausgang zum roten Teppich steht ein gigantischer goldumrahmter Spiegel. Ich muss mich immer wieder davon überzeugen, dass mein knielanges roséfarbenes Kleid mit den Flatterärmeln richtig sitzt – oder meine Haare, die Lolas Friseurin hochgesteckt hat, damit die Küstenbrise nicht »die ersten Fotos von mir« versaut. Inzwischen habe ich vor Nervosität jedoch schon die ersten Strähnen herausgezupft. Vermutlich eine Strähne für jeden verpassten Anruf bei Violet.

Und trotzdem ist sie immer noch nicht da.

Ich verlasse den Chat und sehe auf die Uhr. In fünfzehn Minuten werden die ersten Gäste planmäßig über den roten Teppich und die mit etlichen kleinen Lichtern verzierte Gangway an Bord der Siren gehen.

Was, wenn Violet beim Arzt war und er ihr geraten hat, auf die Jungfernfahrt zu verzichten? Unwillkürlich macht sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Ich hatte meine Schwester nicht mehr gesehen, seit ich mit dieser fiesen Magenverstimmung im Bett lag, anstatt den Geburtstag meiner besten Freundin Lola zu feiern – die in diesem Moment zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Lucas und ihrem großen Bruder Jonah auf dem Bildschirm erscheint. Es ist nur ein Foto der Price-Geschwister, deren Ankunft jeden Moment erwartet wird.

Na, bist du schon nervös?

Die Nachricht erscheint auf meinem inzwischen dunklen Display und meine Mundwinkel heben sich unwillkürlich.

Sollte ich nervös sein?

Ich sende den Text ab und verfolge, wie »schreibt« unter Jonahs Name erscheint. Obwohl er seit rund einem halben Jahr zurück in den USA ist, hat er es nur dreimal geschafft, seine Schwester zu sehen. Einmal davon am letzten Freitag auf ihrer Geburtstagsparty.

Natürlich! Jeder sollte nervös sein, wenn er auf mich trifft. ;-)

Zum Glück bin ich kein er. :-P

Als Antwort erhalte ich ein Augenverdreh-Emoji, dicht gefolgt von:

Ich freue mich, dich wiederzusehen, Tara.

Ich genieße das warme Gefühl, das mich sofort befällt. In diesem Moment wird das Geschwisterbild durch eine Großaufnahme von Jonah ersetzt. Dasselbe Bild, das erst vor zwei Wochen in einem Klatschmagazin unter dem Titel »Heiße Männer in Anzügen« zu finden war, was er in unserem Chat mit dem würgenden Emoji kommentiert hat. Es ist dasselbe Emoji, das Lola immer verwendet, wenn ich ihr schreibe, dass ich gerade mit Jonah chatte. »Wenn ich gewusst hätte, dass es so endet und du mit meinem Bruder flirtest, hätte ich euch nie vorgestellt!«, jammert sie immer wieder.

Dass ich irgendwann mehrmals täglich mit Jonah Price Nachrichten austauschen würde, hätte ich auch nie gedacht. Aber seit ich an der University of Miami studiere und eine milliardenschwere Mitbewohnerin habe, hat sich mein Leben mehr verändert, als ursprünglich geplant. Im vergangenen halben Jahr haben Lola und Jonah mir so richtig den Spiegel vorgehalten und mit einigen Vorurteilen aufgeräumt, die ich offenbar gegen »Rich Kids« hatte. Abgesehen von seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein ist auch ein Jonah Price nur ein stinknormaler Sterblicher, der seiner kleinen Schwester die Haare zerzaust, sie ständig ärgert und gern »sein viel zu großes Ego« heraushängen lässt, das laut Lola im männlichen Zweig der Familie liegt. Mir macht es einen Riesenspaß, den beiden zuzusehen. Sie erinnern mich an Violet und mich, wie wir früher waren – vor meiner Studienplatzzusage an der UM.

Jonah tippt noch etwas.

Es geht los. Bis gleich.

Im nächsten Moment jagt jenseits der Zeltwand eine Kaskade Feuerwerkskörper in die Luft. Das Ergebnis wird direkt auf den Bildschirm geworfen. Die typischen begeisterten Jubelrufe erschallen. Ich würde das Feuerwerk gern live sehen, dafür müsste ich nur das schwere Segeltuch vorsichtig zur Seite schieben, damit ich durch einen schmalen Spalt linsen kann. Doch dort draußen lauern unzählige Reporter. Meine Brust schnürt sich zusammen und ich taumele rückwärts, weg von der Zeltwand, bis ich gegen einen der Massagesessel stoße.

»Ich denke, diese Reise könnte dir guttun«, meinte Violet, nachdem ich ihr von Lolas Angebot erzählt hatte, auch wenn die Besorgnis in ihren Augen nicht zu übersehen war. »Sie könnte dir helfen, gegen deine Unsicherheit anzukämpfen. Einen neuen Lebensabschnitt markieren.« Ihre Worte hallen in meinem Kopf nach. Ich hole tief Luft und versuche, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich bereit bin – genau wie mich Violet letztendlich überzeugt hat.

Mein Puls wird langsamer und meine Atmung mit jedem Zug ruhiger. Ich habe nichts falsch gemacht. Und trotzdem sehe ich die Fotos praktisch vor mir – Fotos und abfällige Kommentare. Ich schlucke den bitteren Geschmack auf meiner Zunge herunter, verbiete mir jeden weiteren Gedanken an dieses eine Bild, das ich so tief in mir vergraben geglaubt habe. Doch offenbar frisst es sich noch immer wie Gift durch meine Adern.

Zum gefühlt hundertsten Mal wähle ich Violets Nummer und erreiche wieder nur die Mailbox. Verdammt, Vi! Erst fragt sie mich ständig, ob ich wirklich damit klarkommen würde, und dann beschließt sie, Lolas Angebot doch anzunehmen und mit auf die Jungfernfahrt der Siren zu gehen. Was ist plötzlich passiert? Und wieso meldet sie sich nicht? Geht es ihr inzwischen noch schlechter? Christian hat mir heute Morgen noch geschrieben, dass ihre Koffer gepackt im Flur stehen.

»Wo zur Hölle bist du, Vi?«, presse ich hervor, nachdem mich die Frauenstimme zum Hinterlassen einer Nachricht aufgefordert hat. »Ich brauche dich.« Meine Stimme zittert ebenso wie meine Beine. Ich lasse mich in den Sessel fallen und atme tief durch. Der Lavendelduft umhüllt mich, und ich will einfach nur daran glauben, dass er seinen Zweck erfüllt und tatsächlich die beruhigende Wirkung hat, die man ihm nachsagt. Ich öffne meinen Instagram-Account, wähle eins der tausend Fotos aus dem Album und tippe in die Caption:

Es ist Zeit, die Vergangenheit loszulassen. Reich ihr nicht länger die Hand und zieh sie mit dir, sondern lass sie hinter dir.

Wie all die Posts der vergangenen anderthalb Jahre speichere ich den Entwurf nur ab. So viele Worte und Gedanken, die ich nicht laut gesagt habe, nicht öffentlich gemacht habe. Nicht seit …

Der Jubel jenseits der weißen Wände wird ohrenbetäubend und ich starre zum Flatscreen hinauf. Der Bildschirm zeigt Jonah, der mit seinem charmanten Lächeln in die Kamera blickt, dann erscheint ein Countdown in weißer Blockschrift auf schwarzem Untergrund. Auftritt in zwei Minuten.

Ich bin wie erstarrt, sehe auf mein Handy, hoffe auf eine Nachricht von Violet – doch natürlich hat sich in den vergangenen Sekunden nichts geändert.

Der Countdown läuft in der unteren Ecke des Bildschirms weiter, während Lola an der Seite ihres Zwillingsbruders in die Kamera lächelt. Lucas ist perfekt gestylt, als wäre er einem der zahlreichen Werbeplakate entsprungen, die überall in Miami verteilt sind. Er trägt sogar die dunkle Sonnenbrille der Gucci-Kampagne, der er sein Gesicht geliehen hat. Zumindest wird er dadurch nicht von den Blitzlichtern geblendet, die Lola etwas angespannt wirken lassen, weil sie gegen den Drang zu blinzeln ankämpfen muss. Aber vermutlich fällt das nur jemandem auf, der sie ohne den ganzen Medienrummel kennt. Nach außen hin wirkt sie so perfekt, so …

Ihre hellbraunen Augen scheinen mich nun direkt anzusehen, ihre Lippen bewegen sich, auch wenn bei all dem Lärm dort draußen niemand hören kann, was sie sagt. »Vielleicht brauche ich ja dich«, hat sie erst vor ein paar Tagen meine neu aufgekommenen Zweifel im Keim erstickt. Ich stelle mir vor, wie sie die Worte auch jetzt wiederholt, bevor sie sich bei Lucas einhakt und mit ihm der Menge zuwinkt.

Ich stemme mich vom Sessel auf, stecke das Handy in meine kleine Handtasche und hole noch einmal tief Luft. Der Countdown läuft weiter und ich rufe all die Bilder dieses einmaligen Urlaubs auf, die Lola mir in den vergangenen Monaten in den Kopf gezeichnet hat. Eine Kreuzfahrt in die Karibik, vorbei an Jamaika, Haiti und den Bahamas, auf dem modernsten und luxuriösesten Kreuzfahrtschiff der Welt, eine entspannte Zeit mit meiner besten Freundin Lola und … Jonah, den ich endlich besser kennenlernen kann. Vielleicht bietet sich sogar eine Gelegenheit, Lolas »schlechtere Hälfte« kennenzulernen, wie sie ihren Zwillingsbruder immer nennt. Denn bis jetzt ist mir Lucas Price nur auf den gigantischen Werbewänden teurer Markenfirmen begegnet, für die er als Model arbeitet.

Der Countdown läuft ab. Es ist Zeit, sich der Meute dort draußen zu stellen. Ich atme noch ein letztes Mal den Lavendelduft ein, zupfe die Ärmel meines Kleids zurecht und will gerade das Zelttuch beiseiteschieben, als es auch schon von außen geöffnet wird. Unzählige Blitzlichter blenden mich, sodass ich Mühe habe, das von Lola eingetrichterte Lächeln aufrechtzuerhalten. Mein Blick wird immer vernebelter, weil ich mich nicht traue, zu blinzeln. Schritt für Schritt gehe ich über den roten Teppich auf meine beste Freundin zu, die mir bereits die Hand entgegenstreckt, einen so sehnsüchtigen Blick in den Augen, als würde sie tatsächlich mich brauchen und nicht umgekehrt.

In einem wahren Blitzlichtgewitter fällt sie mir in die Arme. Kurz schließe ich die Augen – eine Wohltat –, dann stellen wir uns Hand in Hand den Reportern, Lolas Finger fest mit meinen verschränkt. Mein Herz pocht vor Aufregung, der warme Wind zerrt an den gelösten Haarsträhnen und bringt den Geruch nach Salzwasser, Algen und Motoröl mit sich, während uns gesichtslose Stimmen Fragen zubrüllen. Am häufigsten wird Lola gefragt, wer denn die Person an ihrer Seite sei.

Lola antwortet auf keine der Fragen, sondern lächelt nur angestrengt, bis sich die Reporter endlich auf den nächsten Passagier stürzen und ihn mit Fragen bombardieren. Ich kenne den jungen Mann nicht, aber wie er in seinem weißen Anzug und dem schwarzen Hemd über den roten Teppich flaniert und mit den Kameras flirtet, scheint er den Presserummel gewohnt zu sein.

»War Violet nicht bei dir im Zelt?«, fragt Lola, als wir uns endlich unterhalten können, und sieht sich nach meiner Schwester um.

»Sie hätte dort sein sollen«, erkläre ich schnell. »Aber sie ist bis jetzt nicht aufgetaucht und ich konnte sie auch nicht erreichen.« Ich bemühe mich, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das verunsichert. Hat sie sich lediglich von mir gezwungen gefühlt, an der Fahrt teilzunehmen, und sich nun doch dagegen entschieden? Aber wäre eine Absage dann zu viel verlangt? Oder eine kurze Erklärung, dass sie sich doch noch nicht wohl genug fühlt? Ich schlucke den Frust hinunter und schüttele den Kopf. »Sie wird uns sicher finden, falls sie noch kommt«, grummele ich.

Lola zuckt mit den Schultern, sodass ihr Ausschnitt in dem trägerlosen Kleid gefährlich nach unten rutscht. »Ansonsten müssen wir wohl ohne sie Spaß haben. Lass uns an Bord gehen, solange sich die Reporter mit Scott beschäftigen«, sagt sie und zieht mich bereits mit sich. Als sie noch einmal kurz zu diesem Scott hinübersieht, verdüstert sich ihre Miene für einen Wimpernschlag. Aber vielleicht liegt das auch nur an dem stetigen Spiel zwischen Licht und Schatten und dem bunten Feuerwerk über uns.

Lola hakt sich bei mir unter und wir gehen auf die Siren zu, die durch farbige Spots perfekt in Szene gesetzt ist und bestimmt dreimal so hoch über uns aufragt wie unser Studentenwohnheim. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, um den Lichtern bis ganz nach oben folgen zu können, während wir auf die gläserne Gangway zuhalten. Mit ihren Tausenden kleinen Dioden über der endlosen Dunkelheit des Wassers komme ich mir vor wie in einem Tunnel aus Sternenlicht. Der Anblick lenkt mich von den wie Geier in meinem Kopf kreisenden Gedanken an Violet ab. Ich weiß, dass ich es auch ohne Vi schaffen kann. Schließlich habe ich Lola an meiner Seite.

2

Das Feuerwerk malt den schwarzen Himmel noch immer bunt. Lola und ich treten vom gut beleuchteten Flur des Schiffes wieder ins Freie, und endlich kann ich die Farbexplosionen am Himmel live verfolgen und nicht nur als kleineres Abbild auf einem Bildschirm sehen.

Laut Concierge, der uns am Ende der Gangway in Empfang genommen und bis hierher eskortiert hat, befinden wir uns am Heck der Siren, wo sich das gigantische Freilufttheater, das offenbar dem Kolosseum nachempfunden ist, über mehrere Decks erstreckt. In unserem Rücken streben hinter einer Glaswand breite Treppen zwischen etlichen Rängen mit gepolsterten Sesseln einer großen Bühne entgegen. Sofort bietet uns ein Kellner Champagner an, doch Lola und ich lehnen ab.

Hier oben zerrt der Wind stärker an den Haaren und zupft unentwegt an den Flügelärmeln meines Kleids. Ich sehe uns auf den großen Bildschirmen seitlich der Zeltstadt wie in einem überdimensionalen Spiegel. Einige Gesichter, die gerade von der Kamera gestreift werden, kenne ich tatsächlich. Andere hingegen sind mir völlig unbekannt. Unten wird eine Menschenmenge von Securityleuten in Schach gehalten. Nachdem das streng gehütete Geheimnis der Passagierliste endlich gelüftet wurde, scheint es kein Halten mehr zu geben. Nicht einmal Lola hatte mir sagen können, wer dabei sein würde. Abgesehen natürlich von ihren Brüdern und den Gästen, die sie persönlich eingeladen hatte – ihre älteste Freundin Candice, Violet und mich.

Das Kreischen der überwiegend weiblichen Fans schwillt zu einem neuen Höhepunkt an, als jemand etwa zwei Meter entfernt von Lola nach vorn tritt und sich über die von Metall eingefasste gläserne Reling beugt. Lucas Price, Lolas Zwillingsbruder. Er trägt auch jetzt noch die Designersonnenbrille, die vorhin etliche Blitzlichter reflektierte. Das Lächeln auf seinen Lippen sieht aus der Nähe so gezwungen aus, dass ich mich frage, wie es auf den Werbeplakaten so echt wirken kann. Seine Fans flippen aus, als er winkt und sein Handy auf sie richtet. Wahrscheinlich denkt jede einzelne Person dort unten, er sehe nur sie. Lola macht Anstalten, mich ihrem Zwillingsbruder vorzustellen, doch in diesem Moment fordert jemand anderes Lucas’ Aufmerksamkeit.

»Ich hoffe für dich und all die Mädels dort unten, dass du immer genug blaue Pillen bei dir hast.«

Sofort wendet sich Lucas zu der etwas kratzigen Stimme um und schlägt in die erhobene Hand ein.

»Hunter«, sagt Lucas mit einem ehrlichen Lachen. »War ja klar, dass hinter so einem Kommentar nur berechtigter Neid stecken kann.«

Die beiden umarmen sich kurz und klopfen sich auf den Rücken, bevor sie aus dem Blickwinkel der Kameras treten, die auf gigantischen Metallgerüsten angebracht sind, an denen News-6-Banner von der Brise hin und her gerissen werden. Die Fans rufen Lucas’ Namen, wollen mehr von ihm, als wäre er ein Rockstar und sie hätten ein Recht auf eine Zugabe.

»Wer war das?«, frage ich Lola und sehe rasch zu Lucas und Hunter, die gerade gemeinsam die offene Lounge neben dem Theater betreten. Dieser Hunter könnte sich in seinem Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln, der hellblauen Anzughose, den halblangen schwarzen Haaren und dem Fünftagebart gar nicht stärker von Lucas unterscheiden, der vermutlich selbst morgens nach dem Aufstehen so perfekt aussieht wie auf den zahlreichen Werbeplakaten.

»Hunter Berkley«, erwidert Lola mit einem kurzen Blick in Richtung der Jungs. »Er war mit uns auf der St. Mitchell, zwei Jahrgänge über uns wie Jonah und gehört zu Jonahs besten Freunden. Der muss ihn eingeladen haben.« Sie zuckt mit den Schultern und redet weiter, aber ihre Worte gehen in dem fulminanten Finale des Feuerwerks unter.

Ich sehe auf den Großleinwänden gegenüber, wie die Buchstaben S I R E N über uns am Nachthimmel schweben, bevor sie wie Tausende Sternschnuppen hinter dem Schiff ins schwarze Meer fallen. Drei Herzschläge lang ist es totenstill, dann brandet erneuter Jubel auf. Ich selbst bin so euphorisch, dass ich meine Handtasche zwischen die Füße stelle und einfach mitklatsche.

Bevor der Applaus verebbt, mischen sich sanfte Töne in den Begeisterungssturm. So leise, dass man sie nur erahnen kann. Die Menge verstummt nach und nach, die Melodie schwillt weiter an, neue Instrumente greifen das Thema auf und trotz der noch immer schwülen Luft stellen sich die Härchen auf meinen Armen auf.

»Das ist die Hymne der Siren«, raunt mir Lola zu. »Jonah hat mir die ersten Takte schon vorgespielt, ich durfte aber leider nichts verraten. Irgendwann sterbe ich noch wegen all der Geheimniskrämerei in unserer Familie.« Sie schüttelt lachend den Kopf, rückt dann etwas näher zu mir und drückt mich fest an sich. »Ich bin so froh, dass du mitgekommen bist. Es wird die beste Zeit unseres Lebens.«

Ich genieße die Wärme ihrer Umarmung, dennoch versetzt mir ihre Aussage einen Stich. Violet sollte hier neben uns stehen. Wo ist sie?

»Gleich geht’s los.« Jonah schiebt sich zwischen uns und strahlt mit seinem Sunnyboy-Lächeln auf die Menge hinab. Natürlich schwenken die Kameras sofort auf ihn, zeigen in Großaufnahme, wie er lässig die Arme auf Lolas und meine Schultern legt.

Als ich meinem eigenen erschrockenen Blick begegne, bin ich für einen Moment vollkommen erstarrt. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, das Lola zu spiegeln scheint, obwohl wir uns nur via Kamera ansehen können. Dabei komme ich mir vor wie in einem Film. Das unsichtbare Orchester untermalt die Dramatik des Moments, verstärkt die kribbelnde Aufregung, die mich überkommt, als die Kameras Männer in Anzügen einfangen, die in diesem Augenblick die armdicken Seile von den Pollern am Kai lösen. Paukenschläge klingen wie ein Echo meines donnernden Herzschlags, eine einsame Violine kitzelt die Gänsehaut aus mir heraus. Ich spüre ein sanftes Vibrieren an meinen Füßen und will mich nach meinem Handy in meiner Tasche bücken. Da arbeitet sich die Vibration von meinen Beinen aus durch meinen Körper, bis ich das Erwachen der Siren auch unter den Handflächen spüre, die noch immer um das Geländer der Reling geschlungen sind. Es geht los. Die Siren sticht in See.

»Das ist übrigens alles nur Show«, ruft Jonah über die Musik hinweg und deutet mit dem Kinn auf die Bildschirme, auf denen zu sehen ist, wie die letzten Taue gelöst werden. Seine Arme liegen noch immer um unsere Schultern und schirmen den nun stärker werdenden Wind ab. »Die Siren hat etliche Lenk- und Stabilisierungsmotoren, die sie über GPS an Ort und Stelle halten. Sie können Wellen und selbst starke Strömungen ausgleichen.« Er klingt, als würde er den Text aus einem Werbeprospekt vorlesen. »Sollte es während der Fahrt unter deinen Füßen also irgendwann vibrieren, arbeiten die Stabilisatoren. Die Siren lässt sich damit zentimetergenau navigieren und manövrieren. Einmal programmiert, kann sie theoretisch von nur einer Person gesteuert werden, die lediglich die Systeme überwachen muss.«

Vom Start der Motoren angelockt, füllen sich die Plätze an der Reling wieder. Violet ist offensichtlich nicht unter den Gästen. Aber vielleicht sind ein paar Tage ohne meine überbesorgte Schwester gar nicht mal so schlecht. Instinktiv schmiege ich mich etwas mehr an Jonah, und als er seinen Arm fester um mich legt, durchströmt mich ein Gefühl von Geborgenheit. Das Lächeln, das wenig später auf der Leinwand gespiegelt wird, ist echt.

Ja, wahrscheinlich ist es ganz gut, wenn meine große Schwester nicht ständig an mir klebt, während ich Lolas großen Bruder näher kennenlerne, um herauszufinden, ob da vielleicht mehr ist. Die Augen der übergroßen Tara auf der Leinwand funkeln, als hätte sie einen Plan.

Die Jubelrufe werden immer stärker vom Wind verzerrt, und als irgendjemand brüllt, dass dort unten mehr los sei als beim Auslaufen der Titanic, hoffe ich ganz fest, dass das kein schlechtes Omen ist.

Die Musik bleibt konstant laut, selbst als die großen Leinwände am Kai immer kleiner werden. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir von den großen Boxen am News-6-Turm vom Hafen aus beschallt wurden. Unwillkürlich suche ich nach den versteckten Lautsprechern. Sie sind wirklich gut getarnt, verschmelzen praktisch mit den metallenen Haltestreben zwischen den Glaselementen der Reling. Meine Finger gleiten fasziniert über das mit winzigen Löchern versehene Metall. Jonahs Blick folgt meinem und er nimmt seine Arme von unseren Schultern. Der nun plötzlich spürbare Wind lässt mich erschauern.

»Das Soundsystem auf der Siren ist das mit Abstand beste der Welt«, sagt er mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen, das eine Horde Endorphine durch meine Adern jagt. Auch wenn es nicht mir gilt, ist es schön zu sehen, wie sehr sich sein bis eben noch aufgesetzter Ausdruck verändert, wie die Anspannung von ihm weicht und er wieder zu dem Jungen wird, den ich zu Hause in unserem Wohnheim zum ersten Mal begegnet bin.

»Musst du immer wie ein Werbesprecher klingen?« Lola schüttelt den Kopf und verdreht dabei die Augen.

Ich schmunzele, während sich die Geschwister ein Blickduell liefern. Hinter Lola werden die Lichter von Port Miami und der Stadt immer kleiner. Wir gleiten voran, ohne dass ich noch etwas davon spüre. Als würde dieses gigantische Schiff gar nicht mehr von Motoren angetrieben, sondern widerstandslos über die Wellen fliegen.

»Warum vibriert es nicht mehr?«, frage ich.

Lola und Jonah sehen mich an. Offenbar habe ich etwas Dummes gesagt. Instinktiv ziehe ich die Schultern nach oben und schaue angestrengt zurück zu den Lichtern. Das nur allzu bekannte Unwohlsein legt sich auf meine Haut.

Jonah mustert mich noch immer, während sich Lolas Augen kurz weiten. »Du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen«, beruhigt sie mich. »Die Vibration stammt von den Steuerungsmotoren, die uns aus dem Hafen manövriert haben und vom Starten der Generatoren des Bubble-Systems. Es produziert unter uns einen Teppich aus Mikrobläschen, was unseren Kraftstoffverbrauch reduziert.« Lola ist ganz in ihrem Element. Begleitet von ausladenden Gesten, referiert sie über die umweltfreundlichen Zukunftstechnologien von Price Corp., die vor allem ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken sind. Sie hat sich komplett dem Schutz der Meere verschrieben und sich gegen den Wunsch ihrer Familie an der University of Miami in der Rosenstiel School of Marine eingeschrieben, um für die lange vernachlässigte Nachhaltigkeit im Familienbetrieb zu sorgen. Ich erfahre, dass selbst die Abgase der Siren mit eingesprühtem Meerwasser gefiltert werden, das anschließend gereinigt und für die Bewässerung der Pflanzen an Bord genutzt wird. Was oben aus den Schiffsschornsteinen kommt, ist absolut saubere Luft. Vermutlich sauberer als das, was wir in Großstädten so einatmen.

Jonah wurde inzwischen von Hunter in Beschlag genommen, der sich zu uns gesellt hat und Jonah von der Lounge vorschwärmt, auf die sie nun lachend zustreben. Vielleicht wartet dort Lolas Zwillingsbruder auf die beiden, denn er ist noch nicht wieder aufgetaucht. Als Lola endlich mit ihrem Vortrag fertig ist, sind die Lichter von Miami nur noch ein funkelndes Glitzerband im Samtschwarz der Nacht.

Ein schrilles Kreischen zerstört den Moment, während ein kupferroter Wirbelwind an mir vorbeirauscht und sich um Lola schlingt, die dem Ansturm nicht standhalten kann und alles andere als sanft auf dem Deck landet – mit einem Wasserfall langer roter Haare über ihr.

»Candice!«, stöhnt Lola und versucht zu atmen, ohne an den Haaren zu ersticken. Nun weiß ich auch, wen ich vor mir beziehungsweise vor meinen Füßen habe. Candice Vale, Lolas älteste Freundin aus New York, die sich gerade aufrappelt, Lola aber keinesfalls freigibt.

Die Begrüßung entspricht ziemlich genau meinem Bild von Candice, das Lola mir durch ihre Geschichten aus ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend in den Kopf gemalt hat. Endlich schafft es Lola, sich aus der unbequemen Umarmung zu schälen, und setzt sich auf. Ihre Augen spiegeln das Lachen und die wahre Freude über das Wiedersehen mit ihrer ältesten Freundin. Sie drückt Candice ebenfalls fest an sich, bevor sie ein Stück abrückt und in ihren High Heels etwas umständlich aufsteht. Dann reicht sie Candice die Hand und das zierliche Mädchen lässt sich vom Boden hochziehen.

»Es ist so toll, dass du es geschafft hast«, sagt Lola.

»Jetzt hör mal«, antwortet Candice empört. »Für wen außer dir sollte ich sonst all die langweiligen Partys sausen lassen, die in dieser Woche anstehen?« Sie hebt ihre linke Braue, ihr herausfordernder Blick sorgt für ein Kopfschütteln bei Lola.

»Candice, das ist die allerbeste Mitbewohnerin, die man sich vorstellen kann.« Sie deutet auf mich und Hitze steigt in meine Wangen. »Tara, das ist Candice, die wohl durchgeknallteste Person auf dem Planeten.«

Candice’ Lachen ist so offen und ehrlich, dass ich gar nicht anders kann, als es zu erwidern. Ich glaube, mir ist noch nie ein Mensch begegnet, der seine Gefühle als Leuchtschrift auf der Stirn trägt wie Candice. Schon nach wenigen Herzschlägen weiß ich, dass wir uns wahnsinnig gut verstehen werden und sämtliche Befürchtungen, mit einer Fremden die Kabine teilen zu müssen, zerplatzen wie Seifenblasen.

Sonderlich lange hält Candice es nicht aus, nur zu lächeln und meine Hand zur Begrüßung zu drücken, daher zieht sie mich einfach spontan zu sich heran. Ich stolpere gegen ihre Brust, werde aber von ihrer warmen Umarmung aufgefangen. Beim Einatmen streift mich ein intensiver Geruch nach … Popcorn und Zuckerwatte? Weil ich glaube, es mir nur einzubilden, schnuppere ich offenbar zu offensichtlich an ihr und sie rückt von mir ab.

O nein, was habe ich getan? Meine Schultern verkrampfen sich. Ich bohre die Fingernägel fest in die Handflächen, doch Candice schnappt sich nur eine dicke Strähne ihrer Haare und schnuppert selbst daran.

»Ah! Mein neues Lieblingsshampoo von einem Kooperationspartner. Es heißt Zirkus oder so.« Sie atmet noch einmal den Duft ein, schließt genießerisch die Augen und seufzt. »Du kannst es gern ausprobieren, in unserer Suite müssten mehrere Flaschen stehen. Erinnere mich nachher daran, dann kannst du eine haben.«

Meine Anspannung wird von Candice wie von einem Schwall Wasser weggespült. Nichts außer völlige Verblüffung über ihre Offenheit und Freundlichkeit bleibt übrig.

»Darf ich auch an dir schnuppern, Candice?«

Wir drehen uns sofort der rauchigen Stimme zu. Hunter zuckt übertrieben mit den Augenbrauen, während Jonah neben ihm nur die Augen verdreht.

»Hi, Candice«, begrüßt er sie schon fast förmlich. Etwas, das Candice offenbar gar nicht leiden kann. Sie reißt auch Jonah in eine stürmische Umarmung, drückt anschließend sogar Hunter an sich, der übertrieben auffällig an ihr riecht und die Nase rümpft, sobald sie ihm wieder ins Gesicht sehen kann. Sie pikt ihm in die Brust und er stöhnt theatralisch auf. Lola übernimmt spontan Hunters Vorstellung und ich reiche ihm vorsichtig die Hand. Mir entgeht jedoch nicht, dass er mich von oben bis unten mustert, genau wie Candice und Lola zuvor.

Jonah kommt zu mir und streift flüchtig meine Hand, was jedoch einen Moment zu lange dauert, um eine beiläufige Berührung zu sein. Mein Puls beschleunigt sich und meine Mundwinkel heben sich wie von selbst. »Wir sollten uns einen Platz im Amphitheater suchen, die Einführung geht gleich los«, sagt er dann, sieht dabei aber nur mich an, bevor er den Blick auf sein Handydisplay senkt.

»Ich dachte, wir sind hier vom Empfang abgeschnitten?«, spreche ich den Gedanken laut aus, während ich mich kurz nach meiner Handtasche bücke. Schließlich hat man mir das erzählt.

»Alles, wofür du kein Netz brauchst, funktioniert nach wie vor.« Er scrollt durch seine Apps, öffnet mit schnellen Daumenbewegungen eine davon und tippt auf dem Display herum. Die Sinfonie um uns wird leiser. »Wie zum Beispiel die App für die Musik und das Licht an Bord.« Er grinst dabei wie ein kleines Kind an Weihnachten, was Hunter veranlasst, stöhnend den Kopf in den Nacken zu legen und irgendetwas von »Spielzeug« zu murmeln, während Lola ein demonstrativ lautes »Angeber« als falsches Husten tarnt und damit Candice und mich zum Lachen bringt.

Kurz darauf begleitet uns Hunter zu der runden Glaswand, die das Amphitheater von der Außenpromenade trennt.

3

Ich verfolge unsere immer größer werdenden Spiegelbilder in der glänzenden, kratzer- und fingerabdrucklosen Glasfläche. Hätte uns nicht ein Concierge mit einem Fingertippen die Tür geöffnet, hätte ich sie vermutlich nicht einmal gefunden. Nahezu lautlos gleitet die Glasscheibe einfach zur Seite und verschwindet in der mit Naturstein verkleideten Wand, die das Theater von der offenen Lounge auf diesem Deck trennt, die Jonah und Hunter zuletzt aufgesucht haben.

Jenseits der Glaswand ist es windstill und ich versuche, meine vermutlich total zerstörte Frisur wieder einigermaßen zurechtzuzupfen. Candice hilft mir ohne Aufforderung dabei und signalisiert mir mit einem Daumen hoch, dass jetzt alles perfekt ist. Diese Frau ist wie ein Tornado.

Wir folgen den indirekt beleuchteten Stufen zwischen den Sitzen nach unten. Das Licht ist gedimmt, daher achte ich sorgsam darauf, wo ich hintrete. Jonah spürt offenbar meine Unsicherheit und bietet mir seinen Arm an. Dankbar nehme ich an und er begleitet mich ganz gentlemanlike zu den unteren Rängen.

»Wir sehen uns später, oder?«, raunt er mir zu, was ich mit einem hoffentlich nicht zu enthusiastischen Nicken erwidere, ohne auf die Idee zu kommen, ihn zu fragen, warum er sich nicht zu uns setzt.

Lola nimmt zwischen Candice und mir in der ersten Reihe Platz. Ich sehe, dass sich bereits etliche Grüppchen gebildet und auf den Sitzen verteilt haben. Ich blicke mich um und versuche, den Anwesenden Namen zuzuordnen, was mir nicht bei vielen gelingt. Einige Gäste sitzen mit dem Rücken zu mir auf den gepolsterten Sesseln, was es mir unmöglich macht, sie zu identifizieren. Die in die Decke eingelassenen Lampen über den Rängen gehen aus und das Gemurmel, das bis eben noch über den Reihen geschwebt ist, verstummt. Mit einem Rascheln wenden sich alle der Bühne zu, auf der ein einzelner Spot angeht und Jonah anstrahlt, der sein professionell charmantes Lächeln aufgesetzt hat. Zahlreiche Lichter im Publikum gehen an. Alle halten ihre Handys hoch und filmen Jonahs Auftritt.

»Ich freue mich, euch alle an Bord der Siren willkommen zu heißen«, spricht er das Publikum an, sieht dabei aber nur mir in die Augen, bis ich unter dem Gewicht seiner Aufmerksamkeit tiefer in den Sitz rutsche. Über den spärlichen Applaus mangels freier Hände geht er lässig hinweg. »Ihr alle habt einiges dafür getan, heute hier sitzen zu können«, widmet er sich nun auch den anderen. »Ich spreche nicht nur für mich, sondern für meine Familie und das gesamte Marketingteam von Price Corp., wenn ich euch sage, dass wir von euren kreativen Bewerbungen mehr als begeistert waren.«

Ich kann sehen, wie sich die verschwommenen Schemen um uns herum aufrichten, an dem schmeichelnden Lob wachsen. Fast hätte ich aufgestöhnt. Das wäre etwas für Christian gewesen. Ich lache in mich hinein. Nur zu gern hätte ich seinen Kommentar zu dem Verhalten der »oberflächlichsten Fake-Menschen auf dem Planeten« gehört, wie er Influencer immer nennt.

Nachdem sich die Zuschauer genug in ihrem Erfolg gesonnt haben, fährt Jonah fort. »Um den Aufenthalt für euch alle noch spannender zu gestalten, haben wir uns etwas ganz Besonderes überlegt. Hierfür möchte ich euch Terrence Green vorstellen. Den Showrunner der Siren.«

Aus den unsichtbaren Lautsprechern dröhnt tosender Applaus. Ein Mann in einem glitzernden silbernen Anzug, mit grauen Schläfen, länglicher Nase und einem Schnurrbart über den schmalen Lippen springt wie ein Flummi auf die Bühne und versetzt damit nicht nur mich in Schockstarre. Leise Fragen schweben über die Sitze, denn offenbar bin nicht nur ich mir unsicher, was ich von Terrence Green halten soll.

»Ein Zirkusdirektor?«

»Ist das sein Ernst?«

»Wo zur Hölle kauft man so ein Outfit?«

»Extrovertiert im Quadrat?«

Zahlreiche vorschnelle Urteile irren durch die Loge, während sich Jonah aus dem Lichtkegel zurückzieht und mit der Dunkelheit verschmilzt.

»Habe ich Sie etwa überrascht?« Terrence’ Stimme gleicht einem Schnurren. »Dann wäre das wohl mein Moment gewesen!«, ruft er und holt zu einer weitläufigen Armbewegung aus. Hunderte Pailletten an seinem Jackett blitzen auf und ich fürchte fast, sein Tablet könnte mir jeden Moment an den Kopf fliegen, weil er es nicht ausreichend festhält. Ich drücke mich noch tiefer in das weiche Polster. »Denn, mein verehrtes Publikum, Aufmerksamkeit ist in den folgenden Tagen das Einzige, was für alle Anwesenden zählt.« Den Spot auf sich gerichtet, tigert er über die Bühne, während sich hinter ihm eine Leinwand vor den wunderschönen Nachthimmel und die Millionen glitzernden Sterne schiebt. Mit einem Tippen auf sein Tablet wird die Außenansicht der Siren darauf projiziert.

»Sie alle sind Influencer. Und das ist Ihr neuestes Produkt, das Sie auf Ihren Social-Media-Kanälen präsentieren sollen.« Verschiedene Animationen der Siren, begleitet von jeder Menge vorbeischwirrender Daten, wechseln sich ab. »Anders als sonst können Sie jedoch keine kurze Story hochladen oder Ihr Produkt mit einem hübschen Lächeln in die Kamera halten«, fährt Terrence fort. »Sie dürfen aber ganz viele Videos drehen, Fotos knipsen und an unseren Partner News 6 übermitteln. Weil Sie bekanntlich vorübergehend vom Netz abgeschnitten sind, gibt es auf jedem Deck extra dafür eingerichtete Terminals.« Der Grundriss der Siren ist auf mehreren Bildern zu sehen, rote Punkte kennzeichnen blinkend die entsprechenden Standorte dieser Terminals. »Die Redaktion von News 6 sucht täglich die für sie relevantesten, interessantesten und überraschendsten Videos und Fotos aus, um sie in den Liveshows zu zeigen, die übrigens auch hier an Bord übertragen werden.« Er deutet hinter sich auf die Leinwand, die wie von Geisterhand wieder verschwindet und das Sternenmeer jenseits der Glaswand freigibt.

»Soweit kannten Sie den Deal bereits.« Terrence schnippt mit dem Finger. »Was Sie jedoch nicht wussten«, fährt er in verschwörerischem Ton fort, »ist die Tatsache, dass die- oder derjenige mit der meisten Screentime auf News 6 – also die Person, der bei den Liveshows die meiste Sendezeit geschenkt wird – neben Publicity auch etwas wahrhaft Unbezahlbares bekommt.«

Er macht eine dramatische Pause und ich hätte schwören können, dass alle im Theater den Atem anhalten. Sogar ich, obwohl ich als Lolas Gast von dem ganzen Rummel ausgenommen bin. Unabhängig davon würde ich mich dieser Aufgabe sowieso nicht stellen, weil meine Erfahrungen mit medialer Aufmerksamkeit nicht gerade die besten sind. Lola errät meine Gedanken und ich spüre ihre warme Hand sanft auf meinen Fingern, die sich auf dem Oberschenkel um den Saum meines Kleids zusammengekrallt haben. Sie streicht leicht darüber, mein immer schnellerer Puls beruhigt sich. Ich quäle nicht länger den Stoff meines Kleides und wende mich wieder der Bühne zu.

»Wer am kommenden Samstag die meiste Screentime während der Liveshows hatte, dessen Name wird das Schwesternschiff der Siren zieren, das sich derzeit noch in der Werft befindet.«

Ein Aufkeuchen und Raunen geht durch die Zuschauerränge, die Handydisplays zittern vor Aufregung und Candice beugt sich mit einem leise quiekenden Geräusch zu Lola. »Also ich finde ja, dass ›Candice‹ der optimale Name für so einen Luxusliner wäre.«

Lola schüttelt nur lachend den Kopf.

Terrence hebt theatralisch die Augenbrauen. »Doch das ist noch nicht alles«, sagt er beinahe im Flüsterton. Angesichts der Stille, die nun herrscht, hätte er das Mikrofon an seinem Revers gar nicht gebraucht. »Zur Namenspatenschaft gehört auch eine eigene Royal-Suite, die exklusiv zur Verfügung steht, wann immer das Schiff ablegt.«

Die Überraschung ist so groß, dass die meisten Handys verschwinden und ein echter Applaus durch das Amphitheater schallt. Der Beifall entlockt Terrence ein verschlagenes Grinsen und ein Zucken seines Schnurrbarts, bevor er uns mitteilt, dass am Empfang auf Deck 5 unsere persönlichen Butler auf uns warten. Kurz darauf gehen die Lichter wieder an, die ersten Gäste erheben sich und streben dem Ausgang zu. Die meisten Grüppchen sind offenbar schon mit dem Planen ihrer Beiträge beschäftigt – wie auch Candice, die Lola mit ihren Ideen zutextet, obwohl sie genau wie ich nicht zur Influencerauswahl gehört.

Plötzlich höre ich ein lautes Lachen, das mein Blut in den Adern zu Eis erstarren lässt. Meine Beine hören nicht mehr auf meine Befehle. Ich stehe da wie festgefroren. Mein Verdacht bestätigt sich und mit einem Rauschen in den Ohren sehe ich der jungen Frau hinterher, die auffallend ihre bis zum Po reichende blonde Mähne über die Schulter wirft. Sie unterhält sich so angeregt, dass sie mich nicht bemerkt hat. Rasch wende ich mich ab und starre auf die unebenen Natursteine neben einem Durchgang. Die indirekte Beleuchtung sorgt für ein Lichtspiel, das mir das Zählen der Steine beinahe unmöglich macht. Trotzdem konzentriere ich mich voll und ganz darauf, nutze sämtliche Gehirnkapazitäten dafür, nur um mich nicht der Realität stellen zu müssen. Amber West, die ich sie so tief in meiner Erinnerungskiste vergraben habe, dass sie nie wieder ans Licht hätte kommen sollen, ist auf der Siren. Meine Lunge schreit nach Sauerstoff, mein Herz nach Violet. Ich versuche zu atmen, doch meine Brust lässt sich nicht weiten, meine Bauchmuskulatur kontrahiert in immer kürzeren Abständen.

Lola dreht sich zu mir um. »Tara, wo bleibst –« Sie bricht mitten im Satz ab und ist mit zwei großen Schritten bei mir. Ein paar Passagiere umrunden uns, nicht ohne ihren Unmut kundzutun, doch das ist jetzt nebensächlich. Meine Beine zittern, meine Knie drohen, unter mir nachzugeben. Ich atme gepresst, die Enge in meiner Brust lässt nicht genug Sauerstoff in meine Lunge.

Lola legt ihren Arm um mich und stützt mich, als ich taumele. Ich hätte schwören können, dass ich zum ersten Mal die Wellenbewegung tief unter uns spüre. Lolas Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. Sie reibt mir über den Rücken.

»Was ist los, Tara?« Ihre Stimme klingt sehr besorgt. Auch Candice kommt langsam zu uns zurück und fragt, was passiert ist. Lola sieht zu ihr.

»O nein!«, höre ich Lola dann sagen. Sie reißt mich zu sich herum, hebt mein Kinn an und sieht mir tief in die Augen, als würde sie die nächsten Worte direkt in meinen Kopf pressen wollen. »Ich wusste nicht, dass sie hier sein wird. Das musst du mir glauben.« Dann drückt sie mich an sich.

»Ich …« Soll ich behaupten, dass ich alles verarbeitet habe? Dass es mir egal ist, was damals passiert ist? Ich kann es nicht aussprechen. All die gespeicherten und nicht veröffentlichten Entwürfe auf meinem Instagram-Account beweisen das Gegenteil. Es wäre eine glatte Lüge, die Lola sofort durchschauen würde. Ich hole tief Luft und versuche es erneut. »Ich habe gehofft, dass sie mir inzwischen egal wäre.«

Lola drückt mich noch einmal fest an sich. Umhüllt von ihrem vertrauten Duft, der mich immer an Vanilleeiscreme denken lässt, beruhigt sich mein Herzschlag etwas. Ich kann wieder freier atmen, die Panik in mir ebbt ab.

»Was soll der Auflauf hier?« Erschrocken weiche ich von Lola zurück. »Ihr werdet am Empfang erwartet.«

Keine Ahnung, wo er so plötzlich herkommt, aber hinter Lola steht Lucas, der es sogar geschafft hat, seine Sonnenbrille abzusetzen. Seine Augen sind von dunklen Schatten untermalt. Er sieht mich an wie ein widerliches Insekt. Als wäre ich das Monster und nicht die junge Frau, die eben durch die Tür verschwunden ist. Schnell sehe ich wieder zu meiner Freundin. Lola denkt offenbar darüber nach, was sie sagen könnte, ohne mich oder meine Vergangenheit in ein schlechtes Licht zu rücken, da kommt Jonah von einem Durchgang neben der Bühne auf uns zu. Lucas ist binnen eines Schlages meines rasenden Herzens verschwunden.

Luft. Ich brauche dringend frische Luft! Ich beuge mich vor und stütze mich auf meinen noch immer zitternden Oberschenkeln ab. Lola streicht meine Haare nach hinten und fährt dabei immer wieder in sanften Bewegungen über meinen Rücken, bis ich es tatsächlich schaffe, wieder durchzuatmen.

Candice’ Zuckerwattegeruch dringt in meine Nase und ich schaue zu ihr auf. Besorgt sieht sie mich aus ihren großen, mit künstlichen Wimpern umrahmten blassblauen Augen an. Sie macht sich ehrlich Sorgen um mich, ein Mädchen, das sie kaum kennt. Die Enge in meiner Brust lässt noch weiter nach.

»Kannst du schon vorgehen?«, bittet Lola ihre Freundin.

Candice nickt verständnisvoll. Sie hakt sich ungefragt bei Jonah ein und zieht ihn mit sich, bevor er etwas sagen kann, was alles nur noch schlimmer machen würden. Sein mitleidiger Blick ist mir schon zu viel.

»Wenn ihr noch etwas braucht, meldet euch«, ruft Candice uns über die Schulter hinweg zu, bleibt dann aber so abrupt stehen, dass sie Jonah beinahe den Arm ausreißt. »Verdammt. Wir können uns ja gar nicht anrufen. Schickt mir einfach eine Brieftaube oder so.«

Ich kann nicht anders und muss lächeln. »Ist sie immer so?«, frage ich, froh über jede Ablenkung, während ich mich wieder aufrichte.

Auch Lola lächelt ihrer Freundin hinterher. »O ja, das ist sie.« Sie mustert mich kurz. »Geht es wieder?«

Ich nicke, lasse den Blick durch das Amphitheater gleiten und schäme mich für den dummen Zusammenbruch. »Ich war einfach … völlig überrumpelt. Als hätte ich einen Geist aus meiner Vergangenheit gesehen.« Und Violet war dieses Mal nicht hier, um ihn zu vertreiben.

»Einen sehr bösen Geist«, bekräftigt Lola. Dann hebt sie mahnend den Zeigefinger und wedelt damit vor meiner Nase herum. »Und ich weiß, was in dir vorgeht. Ich kenne dich. Wenn du auch nur einmal zu denken wagst, dass das eben peinlich war, kriegst du es mit meiner bösen Seite zu tun.« Sie zwingt sich ein kurzes Lächeln auf die Lippen, dann senkt sie bekümmert den Blick. »Ich bin die mieseste Freundin der Welt. Nicht eine Sekunde habe ich daran gedacht …« Sie sieht so aufrichtig zerknirscht aus, dass ich nun sie in den Arm nehme.

»Du bist die allerbeste Freundin, die ich mir wünschen kann«, sage ich ehrlich. »Wer etwas anderes behauptet, lügt. Und auch eine Lola Price kann nicht an alles denken«, packe ich sie bei ihrer Ehre und zwinge sie zum Kontern.

»Eine Price schafft alles«, flüstert sie und wiederholt damit, was man ihr von klein auf mitgegeben hat. Ihr Blick gleitet in die Ferne, ehe sie wieder zu mir zurückkehrt. »Vor allem kann sie ihrer besten Freundin den Urlaub ihres Lebens verschaffen!«, sagt sie und richtet sich dabei immer weiter auf. »Weshalb wir beide jetzt keinen Gedanken mehr an Amber West vergeuden, sondern die düsteren Schatten der Vergangenheit ruhen lassen.«

Ich lache über die pathetische Ansprache. Lola geht vor mir in die Hocke, sammelt mein Handy und einen Lipgloss vom Boden auf und steckt beides in meine Handtasche, die ich während der Erstarrung offenbar fallen gelassen habe. Mit endlich wieder festen Schritten verlassen wir das Amphitheater und treten, vom Concierge angewiesen, in einen gläsernen Lift, der sich ohne unser Zutun in Bewegung setzt, nachdem der junge Mann auf das transparente Display gedrückt hat. Während wir die Etage verlassen, öffnet sich in unserem Rücken die Dunkelheit des Schachts, und angelockt von einem strahlenden Leuchten drehen wir uns um. Ich kann nicht glauben, was ich dort sehe. Mitten auf diesem gigantischen Schiff blicke ich auf unzählige Baumwipfel in einer Art Lichthof. Hunderte Lichterketten schmücken die Baumkronen wie Feen mit glitzernden Flügeln, die über uns am Nachthimmel schweben. Auch die Balkone, die von den Seiten aus auf die grüne Ader der Siren blicken, sind stimmungsvoll beleuchtet. Wir gleiten weiter nach unten. Ich habe keine Ahnung von Botanik, bin mir aber sicher, dass diese Pflanzen aus verschiedenen Regionen der Welt stammen.