BAD VIBES. Deine Geheimnisse sterben nie - Bianca Iosivoni - E-Book

BAD VIBES. Deine Geheimnisse sterben nie E-Book

Bianca Iosivoni

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Beschreibung

Es heißt, in den Mooren Schottlands kann man mehr als nur sein Leben verlieren ...

Ein Schauder erfasst Dahlia, als sie vor den Toren von MacRaven Manor steht. Dunkle Schatten ranken sich um die Burg in den schottischen Highlands, so dunkel wie die Geheimnisse der Menschen, die sie bewohnen. Dahlia ist angereist, um dem Bestsellerautor J.J. Burnett die letzte Ehre zu erweisen – ihrem ehemals besten Freund Jake, der bei einem tragischen Unfall ums Leben kam. Als sie unerwartet einen großen Teil seines Vermögens erbt, macht sie sich damit plötzlich seine Familie zum Feind. Was jedoch niemand von ihnen ahnt: Dahlia hat eine geheime Mission. Sie will Jakes Mörder entlarven, denn sie ist davon überzeugt, dass sein Tod alles andere als ein Unfall war. Auf der Suche nach Beweisen kommt sie nicht nur Jakes Zwillingsbruder Evan viel zu nahe, sondern auch dem mysteriösen Ayden. Doch was als verführerisches Spiel zwischen den dreien beginnt, entwickelt sich zunehmend zur Gefahr – und bald weiß Dahlia nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Nur eines ist sicher: Sie muss die Wahrheit ans Licht bringen, bevor es zu spät ist.

Ein vertuschter Mord, ein Erbe in Millionenhöhe und eine Liebe, die gefährlicher kaum sein könnte … Düster, atmosphärisch, spannend und voller Leidenschaft.

»BAD VIBES« ist perfekt für dich, wenn du auf diese Tropes stehst:

*** Spice & Thrill *** Secrets & Lies *** Enemies to Lovers *** Dark Past *** Forced Proximity ***

Lust auf noch mehr leidenschaftliche Gefühle und fesselnde Spannung? Dann lies auch den SPIEGEL-Bestseller: »SORRY. Ich habe es nur für dich getan«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 739

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bianca Iosivoni ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten New-Adult-Autorinnen Deutschlands. Sie liebt nicht nur prickelnde Lovestorys mit ihren Höhen und Tiefen, sondern auch clevere Thriller voller Twists. Nach dem großen Erfolg von SORRY erscheint mit bad vibes eine süchtig machende Murder Mystery voller Spice, Thrill und atemberaubenden Twists, die sowohl Gänsehaut als auch Herzklopfen verursacht.

Außerdem von Bianca Iosivoni lieferbar:

SORRY. Ich habe es nur für dich getan

Die Canadian-Dreams-Reihe:

Golden Bay. How it feels

Golden Bay. How it hurts

Golden Bay. How it ends

www.penguin-verlag.de

Bianca Iosivoni

bad vibes

Deine Geheimnisse sterben nie

Roman

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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

Redaktion: Melike Karamustafa

Innenillustration: Alexander Kopainski

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Das Zitat auf dieser Seite stammt aus: Margaret Atwood, Second Words: Selected Critical Prose, 1960 – 1982, Anansi, 2000

Trotz sorgfältiger Recherche und Nachforschungen konnten leider nicht alle Rechteinhaber ermittelt werden. Bei berechtigten Ansprüchen wenden Sie sich bitte an den Verlag.

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28751-1V002

www.penguin-verlag.de

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.Deshalb findet sich auf dieser Seite eine Triggerwarnung.Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Bianca Iosivoni und der Penguin Verlag

Für alle Reputation Fans,

die verzweifelt auf Rep TV warten.

Und für alle Frauen,

deren Female Rage in letzter Zeit ins Unermessliche gestiegen ist.

Willkommen in unserer Villain Era.

(P.S.: Dem Hund geht es gut.)

»Men are afraid that women will laugh at them.Women are afraid that men will kill them.«

– Margaret Atwood

»Don’t blame me for what you made me do.«

– Taylor Swift

Stammbaum

Einleitung

Aufzeichnung des Notrufs vom 02. April

Uhrzeit: 02:19 AM

Dauer: 1 Minute 04 Sekunden

»Notruf 999. Wie kann ich helfen?«

Pause.

»Hallo? Hier ist der Notruf. Können Sie mich hören?«

Pause. Schnelle Atemgeräusche.

»Ja?«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Es … es ist etwas passiert. Jemand wurde verletzt. Schwer.«

»Wo befinden Sie sich gerade?«

»Ich … ich weiß nicht … im Moor, glaube ich.«

Tippgeräusche.

»Wo genau?«

»Bei Rannoch.«

»Rannoch Moor in den schottischen Highlands?«

»Genau. Irgendwo zwischen … zwischen Glencoe und Pitlochry.«

»Wie heißen Sie?«

Pause. Keuchende Atemzüge.

»Können Sie mir sagen, was geschehen ist?«

»Da ist … Blut. So viel Blut …«

Stimme der anrufenden Person wird immer leiser.

Tippen stoppt.

»Bleiben Sie ganz ruhig. Sind Sie verletzt?«

»Ich … Ich glaube nicht.«

»Ist jemand anderes verletzt worden?«

»Ja …«

»Wurden Sie oder Ihre Begleitung angegriffen?«

»Ja …«

Tippgeräusche.

»Ist der Angreifer noch da?«

Kurze Pause.

»Ja.«

Schnelle Tippgeräusche.

»Polizei und Rettungsdienst sind in zwanzig bis dreißig Minuten bei Ihnen. Suchen Sie ein Versteck, und bringen Sie sich und Ihre Begleitung in Sicherheit.«

»Das kann ich nicht.«

Tippen stoppt abrupt.

»Warum nicht?«

Mehrere Sekunden Stille.

»Weil ich der Angreifer bin.«

Teil 1 Tod

Kapitel 1

Ich höre fremden Menschen beim Sterben zu. Ich höre ihr Keuchen und Röcheln, lausche ihrem Überlebenskampf, bevor die Kraft sie endgültig verlässt.

»Bitte …« Ein gurgelndes Geräusch des Mannes. »He… Helfen Sie … mir …«

Die Hilfe wird nicht eintreffen. Nicht rechtzeitig.

Ich bin das Einzige, was ihm jetzt noch bleibt.

»Halten Sie durch, Mark. Die Rettungskräfte sind gleich bei Ihnen.«

Mein Blick zuckt über die Monitore auf dem Schreibtisch vor mir. Notarzt und Rettungswagen sind noch etwa fünf Minuten entfernt – dem Mann bleiben wahrscheinlich keine zwei mehr. Dabei war es ein ganz normaler Tag für den vierundfünfzigjährigen Mark aus Redbridge, London. Er hatte seiner Schwester versprochen, während ihrer Geschäftsreise das Wohnzimmer für sie zu renovieren. Doch dann rutschte er auf der Leiter aus, fiel geradewegs in seine Bohrmaschine – und das Metall drang tief in seinen Oberkörper.

Anfangs hat Mark noch gescherzt, dass seine Schwester ihn bis in alle Ewigkeit damit aufziehen wird, doch dann wurde seine Atmung immer schwerer, seine Stimme immer schwächer.

Ich bin keine Ärztin, nur eine Disponentin in der Leitstelle mit einer Erste-Hilfe-Ausbildung und einigen Monaten Praktikum im Krankenhaus, aber aufgrund seines Zustands, der sich seit Beginn des Notrufs rapide verschlechtert hat, vermute ich, dass es seine Lunge oder ein anderes lebenswichtiges Organ erwischt hat.

»Will … nicht …« Mark stöhnt vor Schmerzen auf. »… sterben.«

»Ich weiß«, wispere ich. Die Tränen in meinen Augen vernebeln mir die Sicht. »Ich bin bei Ihnen. Ich bleibe die ganze Zeit da.«

»Ich … muss noch … Ich muss …« Seine Stimme verliert sich, wird von Sekunde zu Sekunde schwächer.

Und dann … nichts mehr.

Mein Herz setzt für einen winzigen Moment aus, nur um sogleich in doppelter Geschwindigkeit weiterzuhämmern, als versuche es, für ihn mitzuarbeiten. Als versuche es, ihn ebenfalls am Leben zu halten.

»Mark?« Mit zitternden Fingern fasse ich mir ans Headset. »Sind Sie noch dran? Mark!«

Keine Antwort. Keine schmerzerfüllten Laute. Keine Atemzüge.

Nur tiefe, endlose Stille.

Ich schließe die Augen und wische mir mit dem Handrücken über die nassen Wangen. Laut Protokoll sollte ich jetzt auflegen, um die Leitung für die nächste Person frei zu machen, für einen Menschen, dem möglicherweise noch zu helfen ist. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht einfach aufgeben.

Mühsam reiße ich die Augen wieder auf. »Mark!«

Nichts. Nur das Tippen und die gedämpften Stimmen der anderen Dispatcher.

»Komm schon«, murmle ich und bohre die Fingernägel in meine Handflächen. »Halt durch!«

Er könnte noch am Leben sein. Nur weil er nicht mehr bei Bewusstsein ist und ich seine Atmung nicht höre, bedeutet das nicht … Verdammt, er muss es schaffen!

Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönen die Sirenen durch die Leitung und kommen rapide näher. Schnelle Schritte, entfernte Stimmen, Wortfetzen, während sie ihn untersuchen, und dann … wird die Verbindung getrennt.

Entsetzt reiße ich den Kopf hoch.

Neben meinem Tisch steht Lorraine, eine Kollegin um die fünfzig, mit grauem Haaransatz und verblassendem Streifen eines Eherings, und nimmt den Finger vom Knopf, mit dem sie meinen Anruf beendet hat.

»Was soll das?«, zische ich, reiße mir das Headset herunter und springe auf. »Dazu hattest du kein Recht!«

Sie ist nicht meine Vorgesetzte, auch wenn sie sich gerne so aufführt.

»Doch, hatte ich. Du kennst die Vorschriften, Dahlia.«

»Aber …«

»Er ist tot, Schätzchen«, sagt sie in dieser herablassenden, alles besser wissenden Tonlage und nippt an ihrem Kaffee, als wäre das hier ein ganz normaler Plausch unter Kolleginnen. »Und selbst wenn ihm die Rettungskräfte helfen konnten, hat dich das nicht zu interessieren. Es ist nicht mehr deine Aufgabe.«

Ich zittere vor Wut. Auf sie, weil sie recht hat. Auf mich, weil ich einfach nicht loslassen kann. Auf die ganze Welt, weil sie so verdammt unfair ist.

»Mach eine Pause, wenn du sie unbedingt brauchst.« Lorraine schenkt mir einen gespielt mitfühlenden Blick, aber ihr Lächeln ist herausfordernd. »Oder kündige, wenn du nicht die Nerven für diesen Job hast.«

Mit diesem Rat macht sie auf dem Absatz kehrt und geht zu ihrem eigenen Tisch hinüber, aber die Blicke des restlichen Teams sind noch immer auf mich gerichtet.

Langsam lasse ich mich wieder auf den Stuhl sinken, setze das Headset auf und ziehe die Tastatur heran. Lorraine kann mich mal. Nur weil sie seit Anbeginn der Zeit in der Notrufzentrale arbeitet und jeder Funke Mitgefühl in ihr verkümmert ist, heißt das nicht, dass ich genauso kaltherzig sein muss. Oder dass ich eine blutige Anfängerin bin, der man einfach dazwischenfunken darf, immerhin mache ich diesen Job seit beinahe fünf Jahren.

Ich starre auf den Monitor und warte fieberhaft auf die Worte, die die Kollegen und Kolleginnen vom Rettungsdienst ins Computersystem eintragen, sobald sie fertig sind. Als sie endlich erscheinen, atme ich erstickt aus.

Reanimationsmaßnahmen erfolglos.

Todeszeitpunkt 06:34 PM.

Mark schien ein netter Kerl gewesen zu sein. Das Ganze war ein Unfall, ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit. Und jetzt ist er tot.

Um mich herum geht es unermüdlich weiter, die anderen Dispatcher sind in Gesprächen, sammeln wichtige Informationen, versuchen zu helfen und Menschenleben zu retten.

Mir bleibt keine Zeit für eine Pause, keine Zeit, um das soeben Erlebte zu verarbeiten oder mit jemandem darüber zu reden, da in dieser Sekunde der nächste Anruf aufblinkt.

Ich atme tief durch und wische mir ein letztes Mal über die Augenwinkel. »Notruf 999, wie kann ich helfen?«

Kapitel 2

Es ist kurz nach zehn Uhr abends, als ich die Wohnungstür aufschließe und das Licht einschalte. Das Erste, was ich höre, sind die trampelnden Schritte meiner Nachbarn von oben, das Geschrei des Ehepaars von unten und das gleichmäßige Tropfen meines Wasserhahns in den Pausen dazwischen.

Hastig schließe ich ab, lege die Kette vor und lasse den Blick prüfend durch das Ein-Zimmer-Apartment wandern.

Die Fenster sind geschlossen. Alles steht an seinem Platz. Nichts deutet darauf hin, dass jemand hier gewesen sein könnte, obwohl die Zahl an Einbruchsdelikten mit jedem Jahr steigt. Andererseits gibt es hier auch nichts zu holen.

Kahle Wände starren mir entgegen. Keine Bilder, keine Fotos oder Gemälde, keine motivierenden Sprüche, damit ich morgens aus dem Bett komme. Deko und Innendesign waren noch nie meine Stärke, und das, obwohl ich in einem Haus aufgewachsen bin, in dem es immer frische Blumen und gerahmte Fotos gab.

Das Trampeln von oben wird lauter.

Seufzend lasse ich mich mit dem Rücken gegen die Tür sinken. Die Mauern in diesem Haus sind aus Papier, aber wenigstens ist die Miete in Shadwell einigermaßen bezahlbar. Zumindest so bezahlbar, wie man in London leben kann.

Manchmal stelle ich mir vor, ich hätte eine Katze und sie würde mich nach jeder Schicht freudig begrüßen, mir schnurrend in die Arme springen oder um meine Beine streichen. Aber Haustiere sind unglaublich teuer, und von meinem nicht gerade üppigen Gehalt könnte ich mir niemals eins leisten.

Ich drücke das Buch, das ich mir auf dem Nachhauseweg im Waterstones gekauft habe, fester gegen meine Brust. Wenigstens kann ich mir das leisten.

Schnell ziehe ich Mantel, Schal und Stiefel aus und tausche meine dunkelgrüne Arbeitsuniform gegen eine bequeme graue Stoffhose und einen flauschigen Pullover. Die getragenen Kleidungsstücke hänge ich ordentlich auf die Kleiderstange neben dem Fenster. In meinem winzigen Bad, in dem ich jede Wand von der Mitte aus berühren kann, wenn ich die Arme ausstrecke, wasche ich mir das Make-up ab und binde mir das lange Haar zu einem unordentlichen Knoten hoch oben auf dem Kopf. Es hat exakt die gleiche Farbe wie meine Augen: Goldbraun. Unauffällig. Unscheinbar. Leicht zu vergessen. Genauso, wie ich es möchte.

Wenige Minuten später erfüllen das Rauschen des Wasserkochers und leise Musik aus meinem Laptop die Luft. Das Gerät ist sieben Jahre alt und mein wertvollster Besitz. Ich nehme ihn überallhin mit, weil ich paranoid genug bin, Angst zu haben, dass hier eingebrochen und er gestohlen wird.

Dad hat ihn mir zu meinem achtzehnten Geburtstag gekauft. Ein viel zu teures Geschenk, trotzdem bin ich ihm überglücklich um den Hals gefallen. Und musste ihm kurz vor meinem Umzug nach London versprechen, dass wir uns regelmäßig zu Videocalls verabreden.

Ich zünde zwei Kerzen an, dann gieße ich mir eine große Tasse Tee ein und fülle das restliche Wasser in die Plastikschale mit Instantnudeln. Es war die letzte Packung. Ich muss dringend einkaufen gehen.

Wieder ist Geschrei von unten zu hören, und ich erstarre mit dem Wasserkocher in der Hand. In den letzten Monaten habe ich zweimal die Polizei gerufen, damit sie nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Bisher haben sie nichts Auffälliges entdecken können. Keiner der beiden war verletzt – oder sie verheimlichen es gut. Aber ich hatte schon zu viele Opfer von häuslicher Gewalt – Frauen, Männer, Kinder – in der Leitung, um zu glauben, dass dort unten alles gut ist. Und wenn sich jemand nicht helfen lassen will, können selbst wir nichts tun.

Marks verzweifelte Stimme taucht in meinen Gedanken auf.

Helfen Sie mir. Ich will nicht sterben.

Ich kneife die Augen zusammen, atme tief durch.

»Ich hab es versucht«, murmle ich, auch wenn er mich nicht mehr hören kann. »Ich hab es wirklich versucht.«

Entschieden stelle ich den Wasserkocher zurück auf den alten Gasherd, da auf der Arbeitsfläche kein Platz dafür ist, schnappe mir Tee und Nudeln und setze mich auf die Couch. Die Lichterkette am vollgestopften Bücherregal und die kleine Stehlampe neben dem Schlafsofa spenden genug Licht, dass ich die grelle Deckenlampe ausschalten kann.

Es ist spät. Meine nächste Schicht beginnt erst morgen Mittag um zwölf, aber wie ich meine Nachbarn kenne, werden sie mich spätestens gegen sechs Uhr wieder wecken. Trotzdem will ich mich heute Abend mit dem neuen Bestseller von J. J. Burnett ablenken.

Bücher, manchmal auch Serien, sind meine Auszeit von den Schrecken da draußen. Von all den Unfällen und der Gewalt, die ich Tag für Tag, Nacht für Nacht mit anhören muss. Es ist eine Flucht vor der Realität. Selbst wenn Krimis und Thriller blutig und grausam sein können, sind sie dennoch fiktiv. Das Gute gewinnt. Die Bösen werden bestraft.

Auch wenn ich mir beim vierten Teil des »Gentleman-Killers« schon lange nicht mehr sicher bin, wer eigentlich noch gut und wer böse ist.

In den letzten Bänden haben wir den erschreckend charmanten Gentleman-Killer kennengelernt und auf seiner Mission begleitet. Ich verstehe, dass er Menschen, die Böses tun, bestrafen will, aber die Art und Weise, wie er das macht, kann ich nicht gutheißen. Trotzdem lese ich immer weiter, obwohl er im Finale von Band 3 eine reiche Frau brutal erwürgt hat, die grässlich zu allen Menschen in ihrem Umfeld war. Aber hat sie deswegen den Tod verdient?

Seufzend nehme ich das Buch in die Hand und versuche, den Lärm von meinen Nachbarn ebenso auszublenden wie die Autos, die draußen vorbeifahren, und es mir auf dem durchgesessenen Polster gemütlich zu machen.

Ohne nachzudenken, blättere ich nach hinten bis zum Autorenfoto. Ein Mann Ende zwanzig mit kurzen braunen Haaren und intensiven blauen Augen strahlt mich an. Sein Gesicht mit der hohen Stirn, der geraden Nase und dem markanten Kinn drückt Selbstbewusstsein aus. Die vollen Lippen sind zu einem gut gelaunten Lächeln verzogen. Alles an ihm sprüht geradezu vor Energie und Tatendrang. Das Bild steht in einem so krassen Kontrast zum Inhalt seiner Bücher, dass sich unweigerlich etwas in meiner Brust zusammenzieht.

Als ich bemerke, wie ich mit den Fingern über das Foto streiche, ziehe ich sie abrupt zurück und schlage das erste Kapitel auf. Müdigkeit und Erschöpfung nach dem langen Arbeitstag zerren an mir, wollen mich mit sich in die Dunkelheit reißen, aber ich kämpfe dagegen an und beginne die ersten Zeilen zu lesen.

Das hier ist nur ein Buch, auch wenn mich mit dieser Reihe eine regelrechte Hassliebe verbindet, denn leider kann der Autor wirklich gut schreiben. Und egal, wie oft ich mir sage, dass es nur eine Geschichte ist, reine Fiktion, die mich vom Alltag ablenken soll, kann ich nicht vergessen, dass sie auch ein Teil von ihm ist. Ein Teil des Mannes, der sie geschrieben hat.

Ich habe ihn nicht als J. J. Burnett kennengelernt, sondern als Jake. Als den jungen Mann mit den großen Träumen, dem Ehrgeiz und dem Hunger nach Erfolg. Ich kannte ihn, bevor ihm der Durchbruch gelang.

Bevor alles anders wurde.

Bevor er alles zerstört hat, was gut und richtig war.

Kapitel 3

Als ich die Augen aufschlage, steht ein Mann vor meinem Bett.

Ich will zusammenzucken, aufspringen, schreien, wegrennen – aber ich kann nicht.

Ich kann mich nicht bewegen.

Nicht meine Arme. Nicht meine Beine. Nicht mal einen Finger. Keinen einzigen Muskel.

Panik schießt durch mich hindurch. Hektisch schnappe ich nach Luft. Gurgelnd. Röchelnd. Keuchend. Etwas Schweres liegt auf meiner Brust und drückt mir die Luft ab.

Der Mann steht noch immer da. Beobachtet mich aus leeren Höhlen, wo seine Augen sein sollten. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, weil er gar keins hat.

Und als er die Hand nach mir ausstreckt …

Oh Gott …

Bitte …

Mein Herz rast so schnell, dass es wehtut.

Ich kann mich nicht rühren … mich nicht wehren … nicht atmen … Ich kriege keine Luft mehr!

Ich … ich kann nicht …

Und dann ist es vorbei.

Der Mann ist fort.

Ich setze mich ruckartig auf. Das Buch fällt mit einem dumpfen Laut zu Boden.

Mein Brustkorb hebt und senkt sich panisch. Zitternd presse ich mir die Hand auf den Mund, um nicht zu schreien. Vor Angst. Vor Wut und Frustration, weil es wieder passiert ist.

Die Schlafparalyse ist zurück.

Auch wenn mein Verstand begriffen hat, was mit meinem Körper geschieht, kann ich die Angst nicht einfach abschütteln. Gehetzt schaue ich mich in meinem Apartment um.

Die Kerzen sind erloschen. Die Lampe flackert kurz. Aber Tür und Fenster sind geschlossen. Niemand ist eingebrochen. Niemand steht tatsächlich mitten in der Nacht vor meinem Bett.

Ich kann wieder richtig atmen. Kann mich bewegen. Ich bin nicht länger gefangen in meinem eigenen Körper.

Ich bin in Sicherheit.

Ich bin in Sicherheit.

Ich bin in Sicherheit.

Doch egal, wie oft ich diesen Satz in Gedanken aufsage, mein rasender Puls will sich nicht beruhigen.

»Eine Schlafparalyse ist keine Krankheit«, hallen die Worte meiner Ärztin in meinem Bewusstsein wider. »Die Lähmungserscheinung der Skelettmuskulatur ist ein normaler Prozess im Schlaf. Sie wachen nur zu früh auf, während sich Ihr Körper noch in der REM-Schlafphase befindet und Sie träumen. Darum sehen und hören Sie Dinge, die gar nicht da sind.«

Tränen treten mir in die Augen. Denn obwohl ich den Ablauf kenne und begriffen habe, was mit mir passiert, hasse ich es, mich so hilflos und ausgeliefert zu fühlen. Über ein Jahr lang war alles in Ordnung, aber jetzt ist die Paralyse zurück. Ich hasse es, dass mir mein eigener Körper das antut. Und ich hasse es, dass ich dadurch das Gefühl habe, etwas würde nicht mit mir stimmen. Als wäre ich kaputt. Beschädigt. Krank.

Hastig wische ich mir über die Augen.

»Alles ist gut«, flüstere ich, doch die Erleichterung will sich nicht einstellen. All meine Sinne sind noch immer in höchster Alarmbereitschaft. Und das Rauschen des Blutes in meinen Ohren wird untermalt von … einem Vibrieren?

Stirnrunzelnd schiebe ich die Decke zurück und stehe auf, obwohl meine Knie zittern. Und da sehe ich es: Mein Handy muss heruntergefallen sein, denn es liegt mit dem Display nach unten neben dem Buch auf dem Boden – und vibriert erneut.

Wenigstens weiß ich jetzt, was mich geweckt hat, obwohl es draußen noch dunkel ist.

Ich ignoriere das Beben in meinen Fingern, als ich es aufhebe. In der Sekunde, in der mein Blick auf den Namen des Anrufers fällt, erstarre ich.

Jake.

Seinen Namen auf dem Display zu lesen, ist wie ein Schlag in die Magengrube. Meine Knie geben nach, und ich sinke wieder aufs Sofa.

Jake ruft mich an. Um drei Uhr einundvierzig. Das letzte Mal, dass wir miteinander geredet haben, ist über ein Jahr her – und es war nicht schön. Wir sind nicht im Guten auseinandergegangen. Warum meldet er sich ausgerechnet jetzt? Mitten in der Nacht?

»Hallo …?«

»Dahlia.« Seine Stimme klingt blechern, gepresst, weit weg. Und so vertraut, dass es wehtut.

Hat er den Lautsprecher an? Ist er unterwegs? Da ist ein Rauschen im Hintergrund, das ich nicht zuordnen kann.

»Was ist los, Jake? Warum rufst …«

»Du musst mir helfen!«, unterbricht er mich. »Bitte, Dahlia! Du bist die Einzige, der ich noch trauen kann.«

Mein privates Ich, meine Sorgen, Gedanken und Gefühle treten in den Hintergrund, und mein berufliches Ich übernimmt die Kontrolle. Selbst wenn es hierbei nicht um Leben und Tod gehen sollte, schaltet etwas in meinem Inneren um.

»Sag mir, wo du bist.«

Der Aufenthaltsort ist das Wichtigste. Wenn er nicht automatisch mit dem Anruf übermittelt wird, müssen wir ihn sofort erfragen. Niemandem ist geholfen, wenn wir zwar alle Details des Unfalls und das Ausmaß der Verletzungen kennen, aber nicht wissen, wo wir die Einsatzkräfte hinschicken sollen.

Doch das hier ist kein typischer 999-Anruf. Es ist Jake. Der dramatische, überdrehte Jake, der in allem ein Abenteuer und eine Inspiration für seine Geschichten sieht. Völlig egal, was er damit anrichtet und wem er wehtut.

»Unterwegs«, antwortet er nach einem Moment. »Ich … im Auto … verliere noch … Bitte, Dahlia!«

Ich presse mir das Handy fester ans Ohr, um ihn besser zu verstehen. Die Verbindung ist schlecht. Wo verdammt noch mal steckt er?

»… hinter mir her.«

»Wer ist hinter dir her, Jake? Was ist …«

Ein gleichmäßiges Tuten verschluckt meine Worte. Ich starre das Telefon an, doch der Anruf ist beendet.

Was ist passiert? Wo bist du? Wie kann ich dir helfen? Warum meldest du dich ausgerechnet jetzt, nach all der Zeit?

Doch die Ersthelferin in mir schiebt alle persönlichen Gefühle erneut beiseite und ruft sofort zurück.

Stille. Und dann …

»Hallo. Sie haben J. J. Burnett – oder Jake, je nachdem, wer dran ist – angerufen. Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«

Nein, verdammt. Ich lege auf und wähle die Nummer erneut. Dann wieder. Und wieder. Doch auch beim vierten Versuch nimmt er nicht ab, nur die nervige Ansage springt an.

Was um alles in der Welt sollte das? War das wirklich ein Notfall? Oder nur ein Scherz? Ein schwacher Versuch, das, was zwischen uns kaputtgegangen ist, wieder zu kitten?

Du musst mir helfen! Du bist die Einzige, der ich noch trauen kann.

… hinter mir her.

Hatte er wieder mal Streit mit seiner Familie? Seinem Agenten? Denkt er deswegen, dass er nur noch mir vertrauen kann? Denn wenn es ein echter Notfall gewesen wäre, hätte er 999 gewählt oder die Polizei gerufen. Oder nicht?

Mein Blick fällt auf das Buch, das seinen Autorennamen trägt, dann sehe ich zum Regal hinüber. Die Lichterkette umrahmt die Thriller, die Jake mir empfohlen hat und die ich geliebt habe. Wir haben uns über Bücher angefreundet, haben uns ständig ausgetauscht, doch am Ende war es ausgerechnet Jakes Drang nach Erfolg, der uns auseinandergebracht hat.

Nachdenklich betrachte ich mein Handy. Zögere. Seufze. Dann halte ich es mir ein letztes Mal ans Ohr, aber nun klingelt es nicht mal mehr. Ich werde sofort zur Ansage weitergeleitet.

Frustriert werfe ich es aufs Sofa und stehe auf, um zu überprüfen, ob auch wirklich alle Fenster und die Wohnungstür geschlossen sind. Ob ich wirklich allein bin.

Dann schalte ich die Lampe aus, lasse nur die Lichterkette für die Nacht an und schreibe Jake eine Nachricht. Wahrscheinlich ist das ein Fehler, aber ich kann nicht anders.

Was sollte dieser Anruf? Was ist los?Melde dich, wenn es wichtig ist.Aber nur, wenn du es wirklich ernst meinst.

Kapitel 4

Drei Jahre zuvor

Jake

»Du solltest diesen Loser endlich fallen lassen«, murmelte ich und nippte an meinem Single Malt Scotch.

»Ach, wirklich?« Dahlia erwiderte meinen Blick mit einem amüsierten Gesichtsausdruck und lehnte sich auf der Sitzbank zurück.

Um uns herum Musik, Gespräche und das rege Treiben eines gut besuchten Londoner Pubs an einem Freitagabend. Auf dem Tisch standen unsere Getränke, daneben lag das Buch, das wir beide gelesen und über das wir bis eben gesprochen hatten. Eine historische Familiensaga, zu der Dahlia mich gezwungen hatte und die – so ungern ich es auch zugab – gut gewesen war.

»Wirklich.« Ich schaute auf meine Armbanduhr. Rolex. Neuestes Modell. Teuer. Die Zeiger zeigten kurz nach neun. Wir waren um acht verabredet gewesen, damit ich ihn kennenlernen konnte. »Zum wievielten Mal in diesem Monat versetzt dich der Kerl jetzt?«

Sie zuckte mit den Schultern, dabei wusste sie es ganz genau. Dahlia achtete ebenso penibel auf Details wie ich. Und weil sie bereits damit gerechnet hatte, dass er nicht auftauchen würde, hatte sie unsere aktuelle Lektüre mitgebracht.

»Was findest du überhaupt an ihm?«, hakte ich nach. Denn ganz ehrlich? Sie hatte etwas Besseres verdient.

»Süß, wie du dich aufregst.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, bevor sie einen Schluck aus ihrer Flasche Cider nahm. »Wenn du es unbedingt wissen musst: Der Sex ist gut, Seamus verlangt nicht viel und will mich nicht ständig sehen. Es ist bequem.«

»Sollte eine Partnerschaft nicht auf mehr beruhen als auf gutem Sex und Bequemlichkeit?«

»Sollte sie?« Herausfordernd zog sie die Brauen in die Höhe. »Sag du es mir.«

Ich kniff die Augen zusammen. Ahnte sie etwas? Oder spielte sie nur mit mir? Die Medien dichteten mir ständig irgendwelche Frauengeschichten an. Nicht, dass ich mich dagegen wehrte. Je länger ich im Gespräch blieb, desto besser. Aber von ihr konnte niemand, nicht einmal Dahlia, wissen. Dafür waren wir zu vorsichtig gewesen.

Das Vibrieren in meiner Hosentasche rettete mich davor, antworten zu müssen. Ein einziger Blick auf mein Handy genügte, um den Anruf wegzudrücken und das Gerät mit dem Display nach unten auf den Tisch zu legen.

»Deine Familie?«

Ich seufzte genervt. »Wer sonst?«

»Was wollen sie diesmal?«

»Keine Ahnung. Interessiert mich nicht. Wenn es kein Geld ist, dann ist wieder mal irgendjemand wütend darüber, dass ich ihr oder sein dreckiges kleines Geheimnis in einem meiner Bücher verwendet habe.«

Einen Moment lang musterte mich Dahlia mit einer Mischung aus Mitgefühl und Nachdenklichkeit. »Ich begreife nicht, warum du noch immer bei ihnen wohnst.«

»Ich bin kaum noch dort, aber MacRaven Manor gehört unserem Clan«, erwiderte ich schlicht. »Es ist meine Pflicht und Aufgabe als Clanmitglied, dazu beizutragen, dass unser Erbe erhalten bleibt.«

Selbst wenn die Instandhaltung und Renovierung der Burg mehrere Millionen im Jahr verschlang.

»Allerdings gefällt es mir hier. Ich denke, ich bleibe noch eine Weile in London.«

Das entlockte ihr ein kleines Lächeln. Wir kannten uns noch nicht lange, aber wir teilten dieselben Interessen: gute Bücher, gute Pubs, gute Gespräche. Abgesehen davon hatten wir uns vor meinem Durchbruch kennengelernt, also konnte ich sicher sein, dass sie nicht nur hinter meinem Geld her war wie viele andere Leute, die sich mir neuerdings an den Hals warfen und mir plötzlich die Füße küssen wollten.

»Aber hier geht es gar nicht um mich, sondern um dich, Darling«, erinnerte ich sie und drehte das Glas Scotch in meinen Fingern.

Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. »Aha, Vermeidungstaktik. Wie clever.«

»Weißt du, was wirklich clever wäre?«

»Nein, aber du wirst es mir in ungefähr fünf Sekunden verraten, ob ich es hören will oder nicht.«

Ich lehnte mich nach vorne. »Wenn du diesen Seamus endlich in den Wind schießen und dir jemand Neues suchen würdest. Jemand Anständiges.«

Sie verdrehte die Augen. »Und wer soll das sein?«

»Ich würde dir ja meinen Zwillingsbruder Evan vorstellen, aber er ist ein schrecklicher Mensch.«

»Noch schrecklicher als du?«

»Oh ja. Und ich bin schon nicht gerade nett.«

Ihre Miene wurde weicher. »Zu mir warst du immer nett.«

»Das liegt daran, dass du etwas Besonderes für mich bist.«

Sie lachte laut auf.

Autsch. Nicht gerade gut fürs Ego.

In ihren braunen Augen funkelte es vergnügt. »Falls das eine Einladung war, mit dir ins Bett zu steigen: Kannst du vergessen. Über den Punkt sind wir längst hinaus. Außerdem wäre ich jetzt, da du ein international gefeierter Autor bist, nur eines deiner Groupies. In wie vielen Ländern stehst du gerade mit dem Gentleman-Killer auf Platz 1 der Bestsellerliste?«

»Sieben.«

»Angeber.«

»Du hast gefragt, Darling.« Ich prostete ihr mit meinem Glas zu und trank einen großen Schluck. Das kräftige, vertraute Aroma aus meiner Heimat breitete sich in meinem Mund aus. »Übrigens war das keine Einladung. Na ja, irgendwie schon, aber wir wissen beide, dass du niemals darauf eingehen würdest.«

Was auch der Grund dafür war, warum wir so offen miteinander umgehen konnten. Zwischen uns hatte es nie eine sexuelle Spannung gegeben. Und inzwischen war Dahlia mir zu wichtig, um unsere Freundschaft für ein bisschen extra Spaß zu riskieren. Vor allem, weil es die einzige richtige Freundschaft in meinem Leben war.

Trotzdem zog ich sie gerne damit auf.

»Lass mich raten.« Scheinbar nachdenklich tippte sie sich ans Kinn.

Ihre Fingernägel waren gepflegt, aber weder lackiert noch professionell manikürt. Unauffällig, genau wie der Rest ihrer Erscheinung: schulterlanges goldbraunes Haar, von Natur aus leicht gewellt. Ein perfekter Lidstrich und Mascara, aber sonst kein auffälliges Make-up. Sie trug niemals Lippenstift. Ihr Kleiderschrank enthielt, abgesehen von Schwarz und Jeans, nur neutrale Farben.

Dabei hätte sie eine Granate sein können. Mit diesen Kurven und diesem Lächeln hätte sie mühelos jede Person um den Finger wickeln können, wenn sie es darauf anlegte. Stattdessen begnügte sie sich damit, unter dem Radar zu bleiben und sich von ihrem aktuellen Lover regelmäßig versetzen zu lassen.

Doch obwohl der Mistkerl an diesem Abend nicht aufgetaucht war, wirkte Dahlia nicht aufgebracht. Im Gegenteil. Ich kannte sie seit einem Jahr und hatte sie selten so relaxt erlebt wie heute.

Wie ich gerade lehnte sie sich nun ebenfalls vor. »Der Grund dafür, dass ich niemals auf ein Angebot dieser Art von dir eingehen werde, ist, dass wir so gute Freunde sind?«

»Allerdings. Du stehst auf Sex, hast aber Angst vor echten emotionalen Bindungen. Und das hier«, ich deutete zwischen uns hin und her, »ist bereits eine emotionale Bindung. Mehr erträgst du nicht. Deshalb suchst du dir immer wieder Typen wie Seamus, John, Harry oder wie sie alle heißen, die es zwar im Bett bringen, dich ansonsten aber völlig kaltlassen.«

»Psychoanalysierst du mich gerade?«

»Möglicherweise.«

»Ich bin keine Protagonistin in einem deiner Bücher, Jake.«

»Aber du könntest eine sein, wenn du mir endlich dein Geheimnis verraten würdest.«

Unbekümmert nippte sie an ihrem Cider. »Welches Geheimnis?«

»Wer dir wehgetan hat.«

Sie hielt in der Bewegung inne und starrte mich an. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, hatte es ihr die Sprache verschlagen.

Bevor sie antworten und mir endlich gestehen konnte, woher die Dunkelheit kam, die sich in ihren Augen verbarg, trat jemand an unseren Tisch.

»Ähm … Entschuldigung.« Die blonde Frau musste um die vierzig sein. Das Mädchen war vermutlich ihre Tochter, denn sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. »Sind Sie J. J. Burnett? Der Schriftsteller?«

Jede Emotion verschwand so schnell aus Dahlias Miene, als hätte sie einen Schalter umgelegt. Mit der Flasche in der Hand lehnte sie sich zurück. Sie kannte das Prozedere besser als jeder andere, weil sie es in den letzten Monaten oft genug miterlebt hatte, wenn wir zusammen unterwegs gewesen waren.

»Genau der bin ich.« Mit einem strahlenden Lächeln wandte ich mich an die beiden. »Wie kann ich euch helfen?«

»Hab ich doch gesagt!«, rief die Tochter und gab ihrer Mutter einen Klaps gegen den Arm.

Diese zog eines meiner Bücher aus ihrer Handtasche. Hardcover. Erstauflage. Den Rillen im Buchrücken nach zu urteilen, mehrmals gelesen. »Wären Sie so freundlich, mir ein Autogramm zu geben?«

»Aber natürlich. Ich habe auch den perfekten Stift dabei.« Ich erkundigte mich nach ihrem Namen und unterschrieb mit schnellen, geübten Bewegungen.

»Ooh, blutrote Tinte.« Mutter und Tochter sahen einander mit großen Augen an. »Wie aufregend!«

»Um ehrlich zu sein, signiere ich nur noch in dieser Farbe, nachdem mir eine Leserin einmal vorgeworfen hat, meine Unterschrift – in Schwarz – wäre nicht echt, sondern in das Buch hineingedruckt worden.« Ich hielt der Frau ihr Exemplar hin.

»Vielen Dank! Das ist mein Lieblingsbuch von Ihnen!« Sie drückte es sich wie einen Schatz an die Brust. »Die meisten – meine Tochter eingeschlossen – mögen ja den Gentleman-Killer am meisten, aber ich kriege nicht genug von ›Die Affäre‹. Wird es einen zweiten Teil geben?«

Nur wenn ich noch mehr Dreck ausgraben kann. Doch diesen Gedanken behielt ich wohlweislich für mich und lächelte stattdessen unverbindlich. »Wir werden sehen.«

»Danke.«

»Ist das Ihre Freundin?«, fragte das Mädchen und beäugte Dahlia neugierig.

»Eine Freundin«, korrigierte diese gelassen.

Die beiden bedankten sich erneut und verabschiedeten sich.

Als ich einen Schluck von meinem Scotch trank, fiel mir Dahlias skeptische Miene auf. »Was?«

»Blutrote Tinte?« Sie hob die Brauen. »Du musst es besonders machen, was?«

»Allerdings.« Grinsend prostete ich ihr zu und leerte mein Glas in einem Zug. »Blutrot für die Show, Schwarz für den langweiligen Papierkram und Dunkelblau für meine Sammlung an Geheimnissen.« Ich holte meinen kostbarsten Besitz aus der Jacketttasche, ein kleines schwarzes Notizbuch, und hielt es in die Höhe.

Mein Leben war durchorganisiert, von meinen Reisen und meinem Tagesablauf bis hin zur Farbe meiner Unterwäsche – und meiner Stifte. Nur wenn alles bis ins kleinste Detail geplant war, konnte das Uhrwerk namens Leben funktionieren. Nur auf diese Weise konnte ich funktionieren.

Dahlias Blick wanderte zwischen dem Notizbuch und meinem Gesicht hin und her. In all der Zeit hatte sie mich nie gefragt, ob sie es sich anschauen könnte, und das rechnete ich ihr hoch an. »Welche Familiengeheimnisse hast du eigentlich für ›Die Affäre‹ benutzt?«

Mit einem süffisanten Lächeln steckte ich das Notizbuch wieder ein. »Das, meine liebe Freundin, wirst du nur über meine Leiche erfahren.«

EILMELDUNG: BRITISCHERBESTSELLERAUTOR J.J. BURNETTTÖDLICHVERUNGLÜCKT

Vergangene Nacht, am 19. Februar gegen 4:00 AM Ortszeit, ist der britische Bestsellerautor J.J. Burnett im Alter von nur 29 Jahren bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen. Dies wurde heute Morgen von seiner Agentur in Edinburgh bestätigt.

Internationale Berühmtheit erlangte Burnett durch seine Bestsellerreihe »Der Gentleman-Killer«, die sich millionenfach verkauft hat und in über dreißig Sprachen übersetzt wurde. Band 5 wurde für dieses Jahr angekündigt, ebenso wie eine zeitnahe Verfilmung als Netflix-Serie.

Gerüchten zufolge hat die Geschichte eines Vorfahren seines eigenen Clans – den Gründern und Inhabern des weltweit bekannten MacRaven Gin – Burnett zur Figur des »Gentleman-Killers« inspiriert. Sein Urururururgroßvater soll, getarnt als erfolgreicher Geschäftsmann und charmanter Gentleman, mehr als zwanzig Männer und Frauen in Schottland getötet haben, ohne je gefasst oder verurteilt worden zu sein. Mit seinen Büchern hat Burnett den Serienmörder zu einem populären Antihelden der Moderne gemacht. Zusätzlich soll er sich an weiteren Geheimnissen und tragischen Geschehnissen aus seiner Familiengeschichte für seine Werke bedient haben.

Historische Fakten, die diese Aussagen belegen, existieren nicht, und bisher haben weder Burnett selbst noch seine Familie diese Gerüchte bestätigt. Dennoch halten sie sich hartnäckig.

[Presse-Foto von Burnett mit seinem neuesten Buch, Der Gentleman-Killer, Band 4, neben dem britischen Königspaar]

Zeugenaussagen zufolge saß der Bestsellerautor selbst am Steuer, als er mit hoher Geschwindigkeit durch die schottischen Highlands fuhr und auf der Strecke zwischen Loch Rannoch und Loch Tay die Kontrolle verlor. Er kam von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Der Schriftsteller verstarb noch an der Unfallstelle, bevor die Rettungskräfte ihn Stunden später aus dem Wrack befreien konnten. Erste-Hilfe-Maßnahmen waren nicht möglich. Der Tod wurde unverzüglich festgestellt. Das Auto erlitt einen Totalschaden.

Außer dem Schriftsteller soll sich niemand sonst im Wagen befunden haben.

Die genaue Todesursache konnte bislang nicht geklärt werden. Police Scotland untersucht den Unfall.

J.J. Burnett hinterlässt ein Erbe in Millionenhöhe und mehrere unveröffentlichte, nicht fertiggestellte Manuskripte.

Kapitel 5

Zwei Wochen später

Die schottische Landschaft zieht an mir vorbei, ohne dass ich etwas von ihrer Schönheit wahrnehme. Ich habe London schon vor Stunden verlassen und den Zug nach Edinburgh genommen, bin von dort aus nach Glasgow weitergefahren und sitze jetzt im Scots Rail, der mich tiefer in den Norden des Landes bringt.

Es ist ein Dienstagnachmittag Anfang März, und das Abteil ist nicht sonderlich voll. Ganz vorne sitzt eine Familie, zwei junge Frauen mit ihrem kleinen Sohn und ihrer Tochter. Helles Kinderlachen schallt durch den Waggon, während sie etwas spielen.

Ein Stück weiter hinten telefoniert ein Geschäftsmann seit fast einer Stunde. Obwohl ich nicht hinzuhören versuche, habe ich inzwischen erfahren, dass es um wichtige Verträge und hohe Geldsummen geht.

Am Tisch rechts von mir sitzt ein Mann um die siebzig mit seinen beiden Enkelkindern. Hin und wieder fragt er sie etwas oder erklärt ihnen, woran wir gerade vorbeifahren, um sie von ihren Handys wegzulocken. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Ich betrachte die Spiegelung im Fenster.

Müde ist das erste Wort, das mir bei meinem Anblick einfällt. Seit die Schlafparalyse zurück ist, habe ich Angst davor, ins Bett zu gehen. Ich habe Angst davor, einzuschlafen und zu träumen, aber noch mehr davor, aufzuwachen und mich wieder nicht bewegen zu können. Also habe ich in den letzten beiden Wochen kaum geschlafen und viel zu viel Koffein in mich reingeschüttet. Mittlerweile könnte nicht einmal mehr das beste Make-up der Welt meine Augenringe verdecken. Immerhin passen die bräunlichen Schatten zur Farbe meiner Augen und Haare.

Ich streiche mir eine Strähne hinters Ohr, die sich aus dem geflochtenen Zopf gelöst hat, der mir über die Schultern fällt, und reibe mir den verspannten Nacken. Vielleicht wäre ich besser mit dem Caledonian Sleeper ganz ohne Umsteigen gefahren, aber die Preise für ein Bett im Nachtzug sind unbezahlbar. Selbst ein einfacher Sitz, auf dem ich die ganze Nacht hätte verbringen müssen, wäre teuer gewesen – und zeitlich nicht machbar, da ich eine Nachtschicht in der Leitstelle hatte. Ich kann von Glück reden, dass ich mir überhaupt spontan freinehmen konnte.

Jetzt bleibt mir eine Woche Zeit, um alles zu erledigen. Um mich ein letztes Mal von Jake zu verabschieden.

Du musst mir helfen … hinter mir her.

Seine Stimme erklingt so klar in meinem Kopf, als würde er neben mir sitzen.

Ein kalter Schauder wandert durch meinen Körper. Er beginnt mit einem unangenehmen Prickeln an meiner Kopfhaut und windet sich wie eine Schlange bis hinunter in meine Zehenspitzen. Ich schüttle mich, doch das Gefühl bleibt. Genau wie der schwere Klumpen Schuldgefühle in meinem Magen.

Ich könnte die letzte Person sein, mit der er gesprochen hat. Und obwohl ich ständig mit Notfällen konfrontiert werde, habe ich diesen nicht als solchen erkannt. Ich habe gezweifelt, habe sogar überlegt, ob es nur ein Scherz, nur Jakes typisch dramatische Art war. Bis ich am nächsten Morgen die Nachrichten gelesen habe …

Widerwillig reiße ich den Blick von der vorbeiziehenden Landschaft los, von den Weiden und Schafen, dem bräunlichen Gras und den kleinen Dörfern, die wir passieren, und richte ihn auf die Karte in meiner Hand.

Die Einladung zu seiner Beisetzung morgen Nachmittag.

In den letzten Stunden habe ich die Karte so fest umklammert, dass sich die Kanten in meine Haut gebohrt und eine dunkelrote Spur hinterlassen haben. Nachdenklich fahre ich mit den Fingerkuppen über die in Gold geprägte Schrift.

J. J. Burnett.

Warum haben sie nicht seinen richtigen Namen auf die Einladung geschrieben, sondern den, mit dem er berühmt geworden ist? Den Namen, der ihm und seiner ganzen Familie unglaublich viel Geld eingebracht hat?

Erneut peitscht Jakes gehetzte Stimme durch meinen Kopf. Ich kann sie einfach nicht abstellen, sie nicht ausblenden.

Wer war hinter dir her, Jake? Und warum bist du damit ausgerechnet zu mir gekommen? Wieso hast du nicht die Polizei gerufen? Wir waren fertig miteinander – und jetzt schlägst du das Buch einfach wieder auf und zwingst mich dazu, weiterzulesen. Du zwingst mich dazu, das nächste Kapitel ohne dich zu beginnen.

Du bist die Einzige, der ich noch trauen kann.

Aber weshalb? Was wolltest du mir anvertrauen, das du niemandem sonst sagen konntest?

Ich starre auf den Brief, der der Einladung beigefügt wurde. Er stammt von einer Anwaltskanzlei. Ein imposanter Briefkopf, nur wenige Worte darunter und eine große, eigenwillig geschwungene Unterschrift.

Testamentseröffnung am 05. März um 3 PM in MacRaven Manor, Rannoch Moor, Schottland.

Die Familie MacRaven bittet um Ihre Anwesenheit.

Ich bin nicht nur zu Jakes Beerdigung eingeladen, sondern auch zur Verkündung seines Letzten Willens. Als ich den Umschlag vor ein paar Tagen geöffnet habe und mir der Brief in den Schoß fiel, war ich überrascht. Entsetzt. Verwirrt. Ängstlich.

Woher wissen Jakes Anwälte, wo ich wohne? Wie haben sie mich gefunden? Und warum hat Jake ausgerechnet mich in seinem Testament bedacht?

Seufzend sehe ich wieder nach draußen.

Mittlerweile haben Berge den Horizont erobert. Die Gipfel sind schneebedeckt und ragen wie Riesen empor, die das Tor zu den Highlands bewachen. Die Sonne ist gerade untergegangen und taucht den Himmel in eine dramatische blutrote Farbe. Wir passieren Wälder voller Tannen, abgeschiedene Bahnhöfe, die nur aus zwei Gleisen und einem Bahnhofshäuschen bestehen, und tiefblaue Seen – oder Lochs, wie die Schotten sie nennen.

»Wusstet ihr, dass die Eisenbahnstrecke durch das Moor auf künstlich geschaffenem Untergrund angelegt wurde?«, erzählt der ältere Herr am Nebentisch. Mit den gerollten Rs und den fehlenden Buchstaben in manchen Worten ist sein schottischer Akzent nicht zu überhören. Allerdings kann ich nicht zuordnen, aus welchem Teil des Landes er stammt.

»Echt?« Beide Enkelkinder sind hellhörig geworden und lassen ihre Handys sinken.

»Aye. Durch den Torf war der Boden so weich, dass es lange Zeit unmöglich war, einen Zug oder ein Auto hindurchzuschicken. Aber dann kam jemand auf die schlaue Idee und hat eine Menge Erde ins Moor gebracht. Die Schienen, über die wir gerade fahren, liegen auf einem Bett aus Erde, Baumwurzeln und Asche. Wenn das nicht so wäre, würden wir einfach im Moor versinken.«

Ich schnaube. »Wie beruhigend …«

»Waren Sie schon mal in Schottland?«, wendet sich der Mann daraufhin an mich.

Ich blinzle, überrascht von der direkten Frage. »Nein. Noch nie.«

Die Lüge kommt mir viel zu leicht über die Lippen.

»Nay?« Seine buschigen weißen Brauen wandern in die Höhe und vertiefen die Falten auf seiner Stirn. »Eine Schande. Zum Glück holen Sie das jetzt nach, lass.«

Glück würde ich das nicht nennen. Aber statt zu antworten, lächle ich nur verkrampft und hole meinen Laptop hervor.

Ich versuche das Gespräch auszublenden, während es draußen immer dunkler wird und ich die offizielle Website von MacRaven Gin studiere. Dort ist nicht nur die Geschichte des Unternehmens aufgeführt, von seiner Gründung im Jahr 1934 bis zum heutigen Tag und den zahlreichen Awards, die sie gewonnen haben. Es gibt auch detaillierte Infos zu allen wichtigen Mitarbeitenden. Vor allem zu den Führungskräften.

Obwohl ich mir die Homepage schon ein Dutzend Mal angeschaut habe, wandert mein Blick immer wieder über die Namen, Fotos und Berufsbezeichnungen. Ich mag zwar nicht wissen, was und warum Jake mir etwas in seinem Testament hinterlassen hat, aber ich fahre nicht unvorbereitet nach Schottland. Erst recht nicht, wenn ich es mit dieser Familie zu tun bekomme.

»Gibt es Geister in den Mooren?«, fragt der kleine Junge am Nebentisch in diesem Moment aufgeregt.

»Aye«, bestätigt sein Großvater. »Es sind schon Menschen darin verschwunden, die nie wieder aufgetaucht sind. Es heißt, in den Mooren Schottlands kann man nicht nur sein Leben, sondern auch seine Seele verlieren.«

Kapitel 6

Es ist völlig dunkel, als wir an der Rannoch Station halten. Beim Aussteigen erfasst mich ein schneidender Wind, als wollte er mich zurück in den Zug drücken. Wie eine Warnung, bloß nicht hier auszusteigen.

Doch dafür ist es zu spät.

Mein Atem kondensiert in der kalten Luft. Nebel kriecht über den Boden, und die klamme Feuchtigkeit scheint innerhalb von Sekunden sämtliche Kleiderschichten zu durchdringen. Gänsehaut überzieht meinen Körper, als ich den kleinen Koffer neben mir auf dem Bahngleis abstelle und mich umsehe.

Die einzige Lichtquelle bilden die zwei einsamen Straßenlampen, die den winzigen Bahnhof flackernd beleuchten. Dazu der Schein aus der Innenbeleuchtung des Zuges hinter mir.

Wie es aussieht, bin ich die Einzige, die ausgestiegen ist. Kein Wunder, denn Rannoch ist keine Stadt, nicht einmal ein Dorf, sondern lediglich ein Ausgangspunkt für Wanderer, die von hier aus losziehen, um die Gegend zu erkunden.

Die Haltestelle liegt am Ende einer Straße und scheint völlig verlassen zu sein. Kein riesiges Bahnhofsgebäude, wie ich es von King’s Cross in London gewöhnt bin. Nur ein längliches Haus aus rötlichem Backstein im unteren und weißen Wänden im oberen Bereich, mit dunklen Dachschindeln und dunkelgrün umrandeten Sprossenfenstern. Im flackernden Licht der Lampen erkenne ich das Schild mit der Aufschrift Tea Room. Allerdings ist das Café, genau wie der kleine Warteraum daneben, um diese Uhrzeit längst geschlossen.

Um mich herum nur die Weite der Moorlandschaft, in völlige Dunkelheit getaucht.

Ein ungutes Gefühl breitet sich in mir aus. Es ist spätabends – und ich bin allein. In London wird es nie so finster, und man ist auch nie richtig allein. Hier draußen hingegen? Mitten in der Wildnis der schottischen Highlands? Ich bin wahrhaftig im Nirgendwo gelandet. Hoffentlich finde ich die Pension, in der ich ein Zimmer für die nächsten Tage gebucht habe.

Ein schrilles Pfeifen.

Ich zucke zusammen, als sich der Zug zischend in Bewegung setzt. Hinter Rannoch Station verschwinden die Gleise im dichten Nebel, als würden sie ins Nichts führen.

Gespenstische Stille breitet sich aus, nur durchbrochen von leisem Blätterrascheln und dem Ruf eines Vogels in der Nacht. Keine Autos, keine Busse, keine laute Musik. Keine Menschen.

Das ungute Gefühl in meinem Inneren verstärkt sich. Die Angst ist mir viel zu vertraut.

Als ich die rostige Fußgängerbrücke entdecke, die über die Gleise zu einem Parkplatz führt, bücke ich mich hastig nach meinem Koffer – und nehme aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Einen Schatten.

Ich wirble herum und erstarre, als ich die Person entdecke.

Nur wenige Meter von mir entfernt steht ein Mann an den Gleisen. Ganz in Schwarz, genau wie in meinen Albträumen. Genau wie in den schrecklichen Momenten nach dem Aufwachen, wenn ich völlig ausgeliefert bin.

Mein Herz hämmert wild und panisch. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an. Und obwohl ich mich bewegen, obwohl ich weglaufen könnte, wage ich es nicht, mich zu rühren.

In diesem Moment macht der Fremde einen Schritt in meine Richtung und tritt in den Schein der Straßenlampe. Das Licht wirft harte Schatten auf sein Gesicht und betont die große Narbe an seiner Wange. Sie zieht sich von seinem linken Mundwinkel aufwärts, Richtung Wangenknochen.

Ich atme scharf ein. Ein Glasgow Smile.

Trotz allem, was ich in den letzten Jahren an Notrufen miterlebt habe, ist mir das bisher nicht untergekommen. Die Foltermethode, ursprünglich erdacht von Gangs in Glasgow im 19. Jahrhundert, die jedoch bis heute für grausige Verbrechen genutzt wird und mittlerweile weltweit bekannt ist.

Dieser Mann ist der Beweis dafür.

Er scheint in meinem Alter zu sein, Mitte bis Ende zwanzig, hat dunkle Haare, trägt einen langen Mantel – und beobachtet mich.

Schlagartig kommt wieder Leben in mich. Schnell greife ich nach meinem Koffer und laufe zur Fußgängerbrücke, die mir nun, da ich den Mann gesehen habe, gar nicht mehr so unheimlich vorkommt wie zuvor.

Ein Geräusch hinter mir. Folgt er mir? Oder sind das nur meine eigenen Schritte, die in der Nacht widerhallen?

Als ich die ersten knarzenden Stufen erklimme, bleibe ich wider besseres Wissen kurz stehen und sehe zurück. Doch dort, wo der Mann bis eben stand, ist niemand mehr.

Ich wirble herum. Nichts. Ich bin allein mit meinen keuchenden Atemzügen und der Angst, die schwer auf meiner Brust liegt.

Habe ich ihn mir nur eingebildet? Aber das ist keine Schlafparalyse, und selbst wenn ich total übermüdet bin, habe ich im Wachzustand nie zuvor Dinge oder Personen gesehen, die in Wahrheit gar nicht da sind.

Der Fremde wirkte nicht wie ein Wanderer – kein Rucksack, kein Wanderstock, keine besondere Ausrüstung. Nichts, das darauf hindeutet, dass er eine der Routen durch das Moor genommen hat. Der einzige andere Weg führt über die Brücke, auf der ich gerade stehe. Das Bahnhofshäuschen ist abgeschlossen, und von hier aus habe ich einen guten Überblick, aber von dem Fremden ist keine Spur mehr zu sehen.

Schaudernd wende ich mich ab und laufe weiter.

Kam eine solche Figur, ein Mann mit einem Glasgow Smile, nicht auch in Jakes Büchern vor? Im ersten Band des Gentleman-Killers? Glaube ich deshalb, ihn gesehen zu haben? Oder war er wirklich dort, und es gibt eine völlig logische Erklärung dafür?

Erleichterung breitet sich in mir aus, als ich den Parkplatz hinter der Brücke erreiche. Dort steht ein einzelnes zweistöckiges Gebäude mit Licht hinter den Fenstern. Die Pension.

Ein letztes Mal schaue ich mich nach dem Mann um, nur um sicherzugehen, dass er tatsächlich nicht mehr da ist, aber soweit ich das aufgrund der zahlreichen parkenden Autos beurteilen kann, bin ich allein.

Entschlossen öffne ich die Tür und betrete die Pension.

Hinter der Rezeption sitzt eine ältere Dame mit lockerem grauem Dutt und Lesebrille auf der Nase. Als sie mich bemerkt, hellt sich ihre Miene auf. »Herzlich willkommen!«

»Danke.« Froh, die Reise überstanden zu haben und auf ein freundliches Gesicht zu stoßen, stelle ich den Koffer neben mir ab. »Ich würde gerne einchecken. Mein Name ist Dahlia Stewart.«

»Natürlich, natürlich.« Obwohl ein Computer vor ihr steht, blättert sie ganz oldschool durch einen Ordner und zieht ein bedrucktes Blatt Papier heraus. »Sie hatten Glück bei Ihrer Reservierung. Inzwischen sind wir komplett ausgebucht. Machen Sie Urlaub in Rannoch Moor?«

»Nicht wirklich.«

»Oh.« Ihr Lächeln verblasst. »Dann sind Sie wohl wegen der Beerdigung hier?«

Ich nicke, auch wenn das lediglich ein Teil der Wahrheit ist. Denn ich bin nicht nur hergekommen, um der Beerdigung meines früheren besten Freundes beizuwohnen.

Ich bin hier, um herauszufinden, wer ihn getötet hat.

Kapitel 7

Im viktorianischen Zeitalter glaubten die Menschen, dass Regen während einer Beerdigung ein gutes Omen sei, weil es bedeutete, dass der Verstorbene in den Himmel gekommen war.

Am Tag von Jakes Beerdigung scheint die Sonne.

Nicht sonderlich überraschend, denn das ist genau seine Art von Humor. War, korrigiere ich mich in Gedanken. Das war seine Art von Humor.

Bevor wir ihn jedoch zu Grabe tragen, muss ich die Testamentsverkündung im Kreise seiner Familie überstehen.

Nach einer unruhigen, schlaflosen Nacht habe ich den ganzen Vormittag in meinem Pensionszimmer damit verbracht, meine bisher gesammelten Unterlagen rund um seinen Tod und seine Familie durchzugehen und mich durch alle News und Gerüchte zu klicken, die über Nacht hinzugekommen sind.

Als mich das einzige Taxi in der Gegend am frühen Nachmittag vor den Toren von MacRaven Manor absetzt, beherrscht ein einziger Gedanke mein ganzes Sein: Ich will nicht hier sein. Nicht so. Nicht jetzt. Nicht, um mich mit diesen Leuten in einen Raum zu setzen und mir anzuhören, wem Jake was vermacht hat.

Die gotische Burg ist aus dem für das Land typischen Sandstein erbaut und erhebt sich wie eine mittelalterliche Festung vor mir. Ein riesiges Gebäude mit einem einsamen Turm auf der Westseite, von Efeu überwucherten Mauern, dunkelgrauen Dachschindeln und unzähligen kleinen Fenstern, die mir wie aus tausend dunklen Augen entgegenstarren. Umgeben von einem gigantischen Grundstück mit eigenem Wald und einer dicken Sandsteinmauer, die vor langer Zeit zum Schutz vor Engländern und Eindringlingen aus verfeindeten Clans erbaut wurde. Dazu ein schmiedeeisernes Tor, auf dem das runde Familienwappen mit dem Raben und den lateinischen Worten ne remittas prangt.

Es muss Millionen kosten, Burg und Ländereien instand zu halten. Andererseits hat Jake auch Millionen Pfund mit seinen Büchern verdient. Und wie es aussieht, muss sich seine Familie vorerst keine Sorgen machen, denn in den letzten zwei Wochen sind gleich fünf von Jakes Romanen nach seinem plötzlichen Tod auf der Sunday-Times-Bestsellerliste gelandet. Sogar alte Werke wie »Die Affäre« und »Lady des Grauens«, die vorher eher unbekannt waren.

So makaber es auch ist, ausgerechnet sein Tod hat seiner Karriere einen weiteren gigantischen Schub verliehen.

Vor den Toren von MacRaven Manor stehen mehrere kleine Transporter mit den Logos aller großen Zeitungen und Boulevardblätter. Von The Sun über The Scotsman und Daily Mail bis hin zu The Times und weiteren namhaften Nachrichtensendern. Die dazugehörigen Presse- und Kameraleute warten nur darauf, die nächstbeste Person für mehr Insider-Informationen in die Finger zu kriegen.

Angewidert verziehe ich das Gesicht. Ich bin kein Fan der britischen Presse. Die meisten von ihnen drucken, was die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen lässt, völlig egal, ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Ganz gleich, wessen Leben sie damit zerstören. Hauptsache, am Ende stimmt die Kohle. Ich kann gar nicht zählen, wie viele Lügen und Gerüchte sie über Jake verbreitet haben – und es nach seinem Tod noch immer tun.

»Miss?« Der Fahrer sieht in den Rückspiegel und erinnert mich daran, dass wir bereits seit mehreren Minuten hier stehen, während das Tachometer weiterläuft.

»Entschuldigung.« Hektisch krame ich in meiner übergroßen Handtasche mit dem Laptop nach meinem Geldbeutel. Ich bezahle mit Kreditkarte und atme erleichtert auf, als die Zahlung durchgeht. Hoffentlich habe ich noch genug für die Rückfahrt übrig. Zugticket und Pensionszimmer verschlingen mehr, als ich mir im Moment leisten kann, aber ich habe mir geschworen, die Sache durchzuziehen. Ich muss herausfinden, was wirklich passiert ist.

»Warten Sie!«, ruft der Fahrer, als ich nach dem Türgriff taste. »Hier draußen kriegen Sie nicht so leicht ein Taxi. Ich gebe Ihnen meine Nummer. Rufen Sie an, wenn Sie zurück zur Pension wollen.«

»Das ist nett von Ihnen.« Dankbar stecke ich den Zettel ein, atme tief durch und steige aus.

»Miss?«, spricht mich sofort einer der Presseleute an und hält mir ein Mikrofon unter die Nase. »Sind Sie eine Freundin von J. J. Burnett?«

Ich gebe mein Bestes, ihn zu ignorieren, ihn einfach auszublenden, als wäre er gar nicht da, aber da steht bereits der Nächste vor mir. Und der Übernächste. Es werden immer mehr, bis sie mich von allen Seiten umschließen.

»Gehören Sie zur Familie?«

»Wie heißen Sie?«

»Standen Sie und J. J. Burnett sich nahe?«

Mein Puls trommelt wie wild. Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn. Vor lauter Menschen kann ich kaum noch die Burg erkennen.

»Lassen Sie mich durch«, ist das Einzige, was ich hervorbringe.

Und es bewirkt … nichts. Sie machen keinen Platz, weichen nicht zurück. Wenn überhaupt, kommen sie mir mit ihren Mikros nur noch näher. Ich muss sie zur Seite schieben und meine Ellbogen einsetzen, um mir einen Weg vorwärts zu bahnen. Als ich endlich am Tor angelangt bin, klingle ich mehrmals hintereinander.

»Ja, bitte?«, antwortet eine tiefe Stimme.

»Hallo«, rufe ich und schaue in die Kamera. »Ich bin wegen der Testamentseröffnung hier.«

»Einen Moment.«

Ein Klicken in der Leitung. Doch das Tor geht nicht auf, da ist kein Summen, genau genommen passiert überhaupt nichts. Stirnrunzelnd trete ich einen Schritt zurück, und mein Blick fällt auf das Meer aus Blumen, handgeschriebenen Briefen, Fotos von Jake, Plüschtieren und brennenden Kerzen rechts neben dem Tor. Trauernde Fans sind jedoch keine zu sehen.

Dafür ist die Presse umso hartnäckiger. »Wie standen Sie zu Burnett? Immerhin hat er Sie in seinem Testament bedacht«, fragt ein älterer Mann im Anzug.

»Was halten Sie von den Gerüchten, dass es Mord oder Suizid war?«, wirft eine junge Journalistin mit Brille ein.

Ich werde wohl nie eine gute Pokerspielerin sein, denn ausgerechnet das ist der Moment, in dem mir die Gesichtszüge entgleisen.

Und die Meute stürzt sich wie hungrige Wölfe darauf.

»Also glauben Sie daran?«

»Welchen Grund hätte Burnett gehabt, sich umzubringen?«

»Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«

»Denken Sie, dass ihn jemand umgebracht hat?«

Ja, verdammt. Ja! Ich will es rausschreien, will der ganzen Welt mitteilen, dass er mich angerufen und um Hilfe gebeten hat, kurz bevor es passiert ist. Aber mir hat schon der zuständige Polizeibeamte am nächsten Tag nicht geglaubt, obwohl ich den Anruf und die Textnachrichten auf meinem Handy nachweisen konnte. Zwar hat er sich brav Notizen gemacht, mich aber ziemlich schnell mit einem herablassenden Lächeln nach Hause geschickt. Vermutlich hat er mich für eine verschmähte Ex gehalten. Oder für jemanden, der durch Jakes Tod an seiner Berühmtheit teilhaben will.

Ich bin weder das eine noch das andere, also presse ich die Lippen aufeinander und sage nichts.

In diesem Moment taucht ein Mann am Tor auf. Weißes, im Nacken zurückgebundenes Haar, ein schwarzer Smoking mit weißem Hemd und Fliege sowie eine vom Alter leicht gebeugte Haltung. Er wirkt wie ein Butler, den man aus einem Historiendrama herausgeschnitten und in dieses Szenario eingesetzt hat. Ihm folgen zwei Sicherheitsleute ganz in Schwarz gekleidet, mit schusssicheren Westen, Funkgeräten und Schlagstöcken. Ihre Mienen sind neutral, während sie den Blick prüfend über die versammelten Journalisten und Journalistinnen – und über mich – gleiten lassen.

Mit einem schweren Schlüsselbund, der ebenfalls in ein anderes Zeitalter zu gehören scheint, schließt der Butler das Tor auf und öffnet es gerade so weit, dass ich mich hindurchquetschen kann. Die Pressemeute, die ihn sofort mit Fragen überhäuft, ignoriert er seelenruhig.

»Bitte. Kommen Sie herein, Miss …«

»Danke«, unterbreche ich ihn.

Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass diese Leute meinen Namen und damit etwas über meine Verbindung zu Jake erfahren.

Der Butler drückt das Tor hinter uns zu und verschließt es mit geübten Bewegungen.

»Verdammte MacRavens!«, flucht ein blonder Mann mit Kamera und spuckt auf den Boden. »Wollen immer in der Öffentlichkeit stehen und lassen sich jetzt zu keinem Kommentar herab.«

Ja, weil jemand gestorben ist.

»Das Herz so schwarz wie die Raben, dessen Namen sie tragen«, pflichtet ihm die Journalistin mit der Brille bei.

Der Butler deutet mit behandschuhter Hand die gewundene Auffahrt entlang. Ich folge ihm, während die Security am Eingang zurückbleibt.

Kurz werfe ich einen Blick über die Schulter.

»Die ganze Familie ist verflucht«, höre ich den älteren Journalisten im Anzug noch mit klarem Londoner Akzent sagen.

»Das sind doch bloß Gerüchte«, widerspricht sein Kameramann und schiebt die Tür eines weißen Van auf. Darauf prangt das Logo von The Sun.

»Du nennst es Gerüchte, ich nenne es Fakten. Unzählige schreckliche Todesfälle in dieser Familie – und jetzt auch noch Burnett. Wenn das kein Fluch ist, was dann?«

Rasch wende ich mich ab.

»Bitte entschuldigen Sie die Umstände, Miss Stewart.« Der Butler zeigt mir ein kurzes Lächeln, das die vielen Falten in seinem Gesicht vertieft. »Normalerweise hätten wir Sie mit einem der Autos abgeholt, aber alle Fahrer sind damit beschäftigt, die noch fehlenden Familienmitglieder für die Beerdigung herzubringen.«

»Schon gut.« Ich laufe neben ihm, überrascht davon, wie gut er trotz seines hohen Alters Schritt hält.

»Mein Name ist Angus McDuff. Ich stehe seit über vierzig Jahren im Dienst der MacRavens.« Stolz schwingt in seiner tiefen Stimme mit. Zu Recht. Das ist eine lange Zeit. Um einiges länger, als ich am Leben bin. »Falls Sie etwas benötigen, zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden, Miss Stewart.«

»Danke. Und Dahlia reicht.«

»Ganz wie Sie wünschen, Miss Dahlia. Die Familie erwartet Sie bereits.«

Genau das habe ich befürchtet.

Kapitel 8

Je näher wir der Burg kommen, desto mehr lichtet sich der Wald, und ein typisch englischer Garten, bis auf den letzten Zentimeter perfekt getrimmt, kommt zum Vorschein.

Auf dem Vorplatz der Burg stehen nicht nur ein historisch anmutender Springbrunnen, sondern auch eine Menge teurer Autos. Porsche, Mercedes, Bentley und viele mehr.

»Ich sagte weiße Blumen!«, wettert eine aufgebrachte Stimme. »Weiß! Was soll ich mit diesem bunten Quatsch anfangen, Ivy? Wir haben einen Todesfall zu betrauern, Herrgott noch mal!«

Ich versteife mich unwillkürlich bei der schrillen, wütenden Tonlage, aber der Butler führt mich unbeirrt weiter.

Nur wenige Meter entfernt steht eine schlanke Frau, die sich an die Nasenwurzel fasst, als würde ihr das Gespräch Kopfschmerzen bereiten. »Was sollen die Trauergäste denken, wenn sie nach der Beerdigung herkommen und bunte Blumen vorfinden?«

Das blonde Haar unter dem eleganten Hut mit breiter Krempe und das teure Kleid, dazu dieser herablassende Tonfall, den ich erst vor wenigen Stunden gehört habe. Ich erkenne sie sofort: Cheryl MacRaven. Laut Unternehmenswebsite neunundvierzig Jahre alt und Marketingleiterin bei MacRaven Gin. Heute Morgen hat sie noch eine Pressekonferenz gehalten, die ich mir auf meinem Laptop in der Pension angeschaut habe.

»Wir betrauern den Verlust meines geliebten Neffen und bitten dringlich darum, unsere Privatsphäre zu respektieren und uns mit den immer gleichen Fragen in Ruhe zu lassen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, um die Sache aufzuklären.«

Als ob. Ich muss ein Schnauben unterdrücken. Soweit ich mitbekommen habe, ist das Einzige, was die MacRavens bisher getan haben, sich scheinbar trauernd in der Öffentlichkeit zu zeigen, nur um im gleichen Atemzug ihren kostbaren Gin zu erwähnen.

Kein Wunder, dass Cheryl Jakes Lieblingstante war. Wenn er sich früher regelmäßig über jemanden aufgeregt hat, dann über sie. Auch wenn sie schon ewig mit seinem Onkel Hamish, dem erstgeborenen Sohn von Thomas und Margaret MacRaven, verheiratet ist, hat Jake sie nie leiden können. Und als Hamish der neue CEO des international erfolgreichen Gin-Unternehmens wurde, ist Cheryl Jake zufolge noch unerträglicher geworden.

Die junge Frau, die gerade von Cheryl zusammengestaucht wird, bemerkt uns zuerst. Kurz treffen sich unsere Blicke, aber sie wendet sich schnell wieder an ihre Arbeitgeberin.

»Entschuldigung, Mrs MacRaven«, murmelt sie mit gesenktem Haupt und umklammert den farbenfrohen Blumenstrauß in ihren Händen. »Ich kümmere mich sofort darum, dass wir nur noch weiße Blumen erhalten.«

Cheryl seufzt schwer. »Das war von Anfang an deine Aufgabe, Ivy. Und jetzt verschwinde, bevor dein Spatzenhirn es wieder vergisst.«

»Mrs MacRaven.« Der Butler bleibt ein paar Schritte von ihr entfernt stehen und deutet eine Verbeugung an.

Ich habe keine andere Wahl, als ebenfalls anzuhalten, aber ich werde ganz sicher nicht vor dieser Frau knicksen.