Balintgruppen - Dankwart Mattke - E-Book

Balintgruppen E-Book

Dankwart Mattke

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Beschreibung

Erkenntnisse über die Welt gewinnt man, indem man die Welt oder aber sich selbst und die eigenen Reaktionen auf diese beobachtet. In der Balintgruppenarbeit wird die Verbindung von Selbst- und Fremdbeobachtung zur Diagnostik von Arzt- bzw. Therapeut-Patient-Beziehungen genutzt. Diese Arbeitsweise wurde mit dem Doppelfokus Professions- und Methodenentwicklung zu einem Urmodell für Supervision und bildet daher einen wichtigen Bestandteil von Facharzt- und Psychotherapie-Weiterbildungen.

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Die Autoren

 

Dr. med. Dankwart Mattke, Psychiater, Psychoanalytiker und Supervisor, war als Leitender Arzt in der Rhein-Klinik Bad Honnef tätig. Derzeit führt er eine fachärztliche Praxis für psychosomatische Medizin und Psychotherapie in München, berät und coacht Führungskräfte und leitet regelmäßig Balintgruppen.

 

Dr. med. Heide Otten ist Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, in eigener Praxis tätig und Vizepräsidentin der Stiftung Psychosomatik und Sozialmedizin. Sie war mehrere Jahre Geschäftsführerin der Deutschen Balintgesellschaft und Präsidentin der Internationalen Balintgesellschaft.

Dankwart MattkeHeide Otten

Balintgruppen

Supervision in medizinischen Handlungsfeldern

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033768-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033769-5

epub:   ISBN 978-3-17-033770-1

mobi:   ISBN 978-3-17-033771-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort der Reihenherausgeber

 

 

Supervision wird seit vielen Jahren in therapeutischen, sozialen, pädagogischen, ärztlichen und organisatorischen Handlungsfeldern eingesetzt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich eine Vielzahl an unterschiedlichen Richtungen ergeben. In der Kohlhammer-Reihe Supervision im Dialog sollen die wichtigsten methodischen Auffassungen berücksichtigt werden: Psychodynamische, systemische, kognitiv-verhaltenstherapeutische und humanistische Ansätze werden einbezogen, wobei es viele Überschneidungen in den supervisorischen Vorgehensweisen gibt.

Auch die Anwendungsfelder von Supervision haben sich seit den ersten Anfängen in der Psychoanalyse und in der Sozialen Arbeit ausdifferenziert. Die Buchreihe Supervision im Dialog widmet solchen Einsatzbereichen und Handlungsfeldern je einen eigenen Band, um ein lebendiges und praxisnahes Bild der spezifischen Aufgaben und Bedingungen zu vermitteln. Therapien und Beratungen für Einzelpersonen, Paare, Familien, Gruppen und Organisation sind die wichtigsten Einsatzbereiche von Supervision. Neben der berufsbegleitenden Anwendung ist Supervision auch einer der wichtigsten Bausteine in vielen Ausbildungen, sei es zum Psychotherapeuten, Facharzt oder in der Sozialen Arbeit. Es gibt auch Gebiete, in denen die Einführung bzw. verstärkte Durchführung regelmäßiger Supervisionen ein Desiderat darstellt, wie etwa in Lehr- und Betreuungseinrichtungen und Krankenhäusern.

Die Besonderheit der Reihe ist der Dialog. Jeder Band wird von mindestens zwei Autoren gestaltet, die unterschiedliche Positionen vertreten und diese nach jedem Hauptkapitel miteinander vergleichen. So lernen Leser nicht nur die wichtigsten Themen, Hintergründe und Kontroversen kennen, sondern erleben dabei auch einen lebendigen Austausch zweier engagierter Fachvertreter. Die Diskussion in Dialogform dient dem Zweck, den zuvor abgehandelten Text aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, die Essenz noch einmal zu benennen, offene Fragen, Probleme und Verbesserungsvorschläge zu diskutieren.

Wir hoffen, durch diese dialogische Präsentation des in Bewegung befindlichen Kompetenzfeldes der Supervision auch die Leser unserer Reihe zum Austausch anzuregen.

Andreas Hamburger

Wolfgang Mertens

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort der Reihenherausgeber

Vorwort

1   Historische Einordnung

2   Unverzichtbares Hintergrundwissen

2.1   Was ist Balintarbeit?

Dialog

2.2   Die Bedeutung der Gruppendynamik in Balintgruppen

Dialog

2.3   Die Balintgroßgruppe – Beispiel für einen Parallelprozess

Dialog

2.4   Balintarbeit im kulturellen Kontext am Beispiel von Balintarbeit in China

Dialog

3   Zentrale Themen und Anwendungsgebiete

3.1   Balintarbeit in der Facharztweiterbildung

Dialog

3.2   Balintgruppen für niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten

3.3   Balintgruppen in der Klinik

3.4   Balintgruppen für Studierende

3.5   Balintarbeit für Anwälte

Dialog

3.6   Balintgruppen für Lehrer

3.7   Balintgruppen in der sozialen Arbeit

3.8   Diskussion: Anwendung der Balintarbeit in der Medizin und darüber hinaus

4   State of the art – Techniken der Balintarbeit

4.1   Skulpturarbeit mit Balintgruppen

Dialog

4.2   Abgrenzung zu Supervision und Organisations-beratung

Dialog

5   Entwicklung und Forschungsstand: Balint International und internationale Forschung

Dialog

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Balintgruppen tragen den Namen von Michael Balint (1896–1970), einem ungarischen Arzt, Biochemiker, Psychiater und Psychoanalytiker, der sich gleichermaßen für die technischen Fortschritte der Medizin als auch die Entwicklung der Psychiatrie und Psychoanalyse interessierte.

Diese Grundlagen seines Denkens brachten ihn auf die Idee, Ärzten das Zusammenwirken von Technik und Empathie nahezubringen. Zuvor hatte er bereits mit seiner Frau Alice in Budapest Gruppen von Sozialarbeitern geleitet, die sich über ihre Arbeit mit ihren Klienten austauschten.

Er experimentierte nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Gruppe von Ärzten in London, die er supervidierte, indem er die psychoanalytischen Methoden anwandte und sie ermunterte, ihre eigene Wirkung auf den Patienten, auf die Diagnose und die Therapie zu untersuchen. Er nannte diese Gruppen »training cum research« Gruppen (Kap. 1).

Diese Form der Supervision ärztlichen Wirkens ist erhalten geblieben, wurde weiterentwickelt und ist heute als Fort- und Weiterbildungsmethode anerkannt.

Die Balintgruppenarbeit verbindet die Supervision mit der Selbsterfahrung. Die Teilnehmer entwickeln im Laufe der kontinuierlichen Gruppenarbeit ein besseres Verständnis sowohl für die Symptome und Beziehungsangebote ihrer Patienten als auch für ihre eigene Reaktionsweise.

Balintgruppen sollen die Empathie und das psychosomatische Denken im medizinischen Alltag schulen. Heute wird diese Methode in vielen sog. helfenden Berufen erfolgreich angewandt (Kap. 2).

Neben der streng analytischen Arbeitsweise in den Balintgruppen mit freier Assoziation haben sich andere psychotherapeutische Methoden als Ergänzung bewährt. Wir sehen heute den systemischen Ansatz als wichtig an. Der Einfluss des sozialen und emotionalen Umfeldes auf die Zweier-Beziehung rückt zusätzlich in den Fokus, wenn wir diese betrachten und analysieren. Hier haben sich Methoden wie das Aufstellen einer Skulptur als hilfreich zum Verständnis erwiesen (Kap. 3).

Gruppendynamische Aspekte gewinnen ebenso mehr Beachtung. Wurden Balintgruppenleiter zunächst im Stil des »Learning by Doing« ausgebildet, so sind uns heute die theoretischen Aspekte der Gruppendynamik ebenfalls wichtig. Insbesondere für den Gruppenleiter ist es unabdingbar, die Komplexität des Geschehens in der Gruppe zu verstehen und zu beachten. Nicht alle Beiträge sind dem vorgestellten Beziehungsgeflecht und dem parallelen Prozess zuzuordnen, es gibt innerhalb der Gruppe eine zusätzliche Dynamik. Dies trifft insbesondere auf Gruppen innerhalb einer Institution zu (Kap. 4).

Auch weltweit findet die Balintarbeit heute Beachtung. Die Veränderung der sozialen Beziehungen in der globalisierten Welt mit dem Zugang zu Wissen über die Medien und mit zunehmender Demokratisierung führt zu Veränderungen. Am Beispiel der Arzt-Patient-Beziehung in China wird dieses aktuelle Bedürfnis erläutert ( Kap. 4.5).

Internationale Forschung gibt einen Einblick in das wachsende Interesse daran zu verstehen, wie Balintarbeit wirkt und welchen Nutzen sie in der vor allem medizinischen Fort- und Weiterbildung hat. Demzufolge bemühen sich nationale Balintgesellschaften, die Balintarbeit als Bestandteil von Aus-, Weiter- und Fortbildung anzusiedeln, so wie dies in Deutschland seit 1987 mit Einführung der Psychosomatischen Grundversorgung in die vertragsärztliche Versorgung geschieht (Kap. 5).

Die beiden Autoren des vorliegenden Bandes blicken auf eine lange Zusammenarbeit zurück. Sie begegneten sich Ende der 1960er Jahre am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, einer Nachfolgeinstitution des 1917 von Emil Kraepelin gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts (Kap. 1).

1          Historische Einordnung

 

 

Heide Otten

Michael Balint (1896–1970) wurde in eine Zeit des Umbruchs – insbesondere in der Medizin – hineingeboren. Hier nur einige Beispiele:

Wilhelm Conrad Röntgen (1845–1923) entdeckte 1895 die nach ihm benannten Röntgenstrahlen und erhielt dafür 1901 den ersten Nobelpreis für Physik.

Marie (1867–1934) und Pierre (1859–1906) Curie entdeckten 1898 die Radioaktivität.

Rudolf Virchow (1821–1902) entwickelte die Zellularpathologie, wonach die Zelle der Ort der Erkrankung sei. Dies wurde möglich durch Mikroskope, mit denen die Zellen sichtbar gemacht werden konnten. Der Weg für Erkenntnisse in der Bakteriologie und Mikrobiologie wurde gebahnt, Erreger von Infektionskrankheiten konnten gefunden werden. Virchow kämpfte für die konsequente Anwendung seiner Erkenntnisse in der Chirurgie, um die Wundinfektion und die damit verbundene Sterblichkeit zu reduzieren.

Emil von Behring (1854–1917), Paul Ehrlich (1854–1915) und Robert Koch (1843–1910) entwickelten Impfstoffe gegen Erreger, die Seuchen verursachen und viele Menschen das Leben kosteten.

Sigmund Freud (1856–1939) entwickelte zu Ende des 19. Jahrhunderts eine Psychopathologie, die als moderne Grundlage der Psychosomatik körperliche Symptome in Zusammenhang mit psychischen Phänomenen brachte. 1896 verwendete Freud zum ersten Mal den Begriff »Psychoanalyse«. Er entwickelte zusammen mit seinem Freund und Mentor Josef Breuer (1842–1925) die »talking cure« – Grundlage der Gesprächspsychotherapie –, indem sie Symptome durch Gespräche zu beeinflussen suchten.

In der Psychiatrie beschäftigte sich Emil Kraepelin (1856–1926) mit der gestörten Hirnfunktion bei psychischen Erkrankungen und förderte die Hirnforschung.1992 erschien seine Arbeit mit dem Titel »Über die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel.«

Er ging so weit, Symptome an Kranken durch gesprächslose Beobachtung zu erforschen und zu klassifizieren. Dem phänomenologischen Ansatz von Jaspers und dem psychodynamischen Ansatz von Freud stand er ablehnend gegenüber. Er sah als Ursache der psychischen Erkrankungen biologische und genetische Fehlfunktionen an. Sein Ziel, Symptome durch die Anwendung spezifischer pharmakologischer Substanzen zu beseitigen, begründete die moderne Psychopharmakologie.

Kraepelins Theorie veränderte die Psychiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch seine Symptom-Beobachtungen und -Klassifizierungen und – trotz des Einflusses von Sigmund Freud und seiner Erkenntnisse – erfreute sich diese einer Wiederbelebung Ende des 20. Jahrhunderts. So hat der wissenschaftliche Ansatz Kraepelins neben dem bio-psychosozialen Modell von George L. Engel (1913–1999) in der biologischen Psychiatrie ihre Fortsetzung gefunden.

Kraepelin arbeitete ab 1903 in München und es gelang ihm, dort eine Forschungsstätte für Psychiatrie zu gründen. Leider spielten die nachfolgenden Leiter der Forschungsstätte in den 1930er und 1940er Jahren eine unrühmliche Rolle in der NS-Erbgesundheitspolitik: Kraepelins Hypothese, psychische Erkrankungen seien auf genetische Fehlfunktionen zurückzuführen, floss in das Konzept der Rassenhygiene ein.

1948 trat die Max-Planck-Gesellschaft die Nachfolge der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an, die auf Wunsch der West-Alliierten wegen ihrer Kollaboration mit dem NS-Regime aufgelöst wurde.

Es entstand das heutige Max-Planck-Institut für Psychiatrie (MPI), das mit zwei selbständigen Teilinstituten – dem Klinischen und dem Theoretischen Institut – weitergeführt wird. Neurophysiologische, psychopharmakologische und klinische Forschung wurden gleichermaßen gefördert.

1965 wurde unter der Leitung von Paul Matussek eine selbständige Forschungsstelle der Max-Planck-Gesellschaft für Psychopathologie und Psychotherapie unter dem Dach des MPI eingerichtet. Unter anderem entwickelte er hier sein Psychosenmodell und eine Psychotherapie für Psychosen. Lebhafte Diskussionen über die kontroversen Einstellungen zur bio-psycho-sozialen Dimension von Krankheiten bestimmten das Klima des Institutes.

Hier begegneten wir Autoren uns Ende der 1960er Jahre.

Heide Otten arbeitete als Doktorandin in einem Team der psychopharmakologischen Abteilung unter der Leitung von Norbert Matussek, einem Bruder von Paul Matussek. Dankwart Mattke arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der klinischen Abteilung.

Michael Balint wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts mit all diesen neuen Erkenntnissen und Fragestellungen in der Medizin, der Psychiatrie, der Philosophie und den Naturwissenschaften auf. Zudem erlebte er zwei Weltkriege und ihre Folgen – gerade auch im medizinischen Bereich und in der Entwicklung psychosomatischen Denkens.

Als Sohn eines praktischen Arztes in Budapest begleitete er seinen Vater zu Hausbesuchen bei den Patienten und beobachtete, was sich zwischen Arzt und Patient abspielte.

Er studierte ab 1914 in Budapest Medizin, war fasziniert von der naturwissenschaftlichen Seite der Medizin und las gleichzeitig die Schriften Freuds.

Nach dem Studienabschluss 1920 arbeitete er bis 1924 bei Warburg in dessen Biochemischen Institut in Berlin. Hier testete er Medikamente auf ihre Wirkung und unerwünschten Nebenwirkungen. Dies brachte ihn auf die Idee, dass auch die Persönlichkeit des Arztes eine Wirkung und unerwünschte Nebenwirkungen auf den Patienten habe. Er folgerte daraus, dass diese erforscht werden müssten.

In Berlin begann er eine psychoanalytische Ausbildung bei Hanns Sachs, die er bei Sandor Ferenczi in Budapest fortsetzte.

Sein Interesse galt immer beidem: sowohl der naturwissenschaftlichen Medizin als auch der Psychoanalyse. Daraus folgte ganz selbstverständlich die Beschäftigung mit der psychosomatischen Medizin, zu deren Entwicklung er entscheidend beitrug.

Schon in Ungarn arbeitete er mit einer Gruppe von Ärzten und Sozialarbeitern, um die Wirkung der Beziehung zu untersuchen. Die politischen Verhältnisse Ungarns hinderten ihn jedoch an weiterer Forschung. So emigrierte er 1939 nach England und setzte dort die Gruppenarbeit mit Allgemeinärzten fort (Balint, 1957; Otten, 2012).

In seinem Buch »Der Arzt, sein Patient und die Krankheit« (1957) beschreibt er seinen Forschungsansatz, die Wirkung der »Droge Arzt« zu untersuchen. Er ging davon aus, dass die Arzt-Patient-Beziehung nur durch die Ärzte selbst erforscht werden kann; jeder Beobachter störe die Beziehung.

Er lud praktische Ärzte in eine Gruppe ein, in der die Beziehung der Ärzte zu ihren Patienten thematisiert wurde. Hier bediente er sich in der Gruppenarbeit der psychoanalytischen Methode, durch freie Assoziationen, Einfälle, Phantasien und Bilder den emotionalen Gehalt der Interaktion zu erfassen.

Diese Form der Supervision arbeitet mit Spiegelungsphänomenen in der Gruppe. Der Supervisor – Gruppenleiter – hat die Aufgabe, diese Spiegelungsphänomene zu verdeutlichen, aber nicht als Lehrender oder »schlauestes« Mitglied – wie Balint es formulierte –, sondern als Moderator.

In seinen Gruppen verfolgte er zusätzlich das Ziel, psychosomatisches Denken bei den Hausärzten zu fördern. Dieses ist besonders nach den beiden Weltkriegen mit den Folgen der Kriegstraumatisierung erwünscht.

Durch das Buch weckte er weltweit Interesse an seiner Gruppenarbeit. Er wurde zu Kongressen eingeladen, wie z. B. die Lindauer Psychotherapiewochen, und reiste in die USA, nach Frankreich, Belgien und Holland. Boris Luban-Plozza lud ihn nach Sils/Maria und Ascona in die Schweiz und nach Mailand ein, wo sie mit Studierenden arbeiteten.

Es entstanden nationale Gesellschaften, die diese Art der Gruppensupervision verbreiteten, zunächst noch zu Balints Lebzeiten und mit seiner Unterstützung in Frankreich (1967) und Großbritannien (1969). Nach Balints Tod 1970 folgten Italien (1971), Belgien (1974) und Deutschland (1974), die sich alle 1975 zu einer Internationalen Balint Föderation (IBF) zusammenschlossen.

Heute sind in der IBF 22 nationale Balintgesellschaften Mitglied: Australien/Neuseeland, Belgien, Dänemark, Deutschland, China, Finnland, Frankreich, Holland, Israel, Italien, Kroatien, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Serbien, Schweden, Schweiz, UK, Ungarn und USA.

In Deutschland ist die Balintarbeit ein Teil der Facharzt-Weiterbildung (Kap. 2.1). Auch andere Länder bemühen sich darum, diese Art der Supervision in ihre Fort- und Weiterbildungskataloge aufzunehmen.

Die Einsicht, dass die Persönlichkeit des Arztes für die Diagnose und Therapie eine Rolle spielt und dass Psyche und Körper gleichermaßen Beachtung im medizinischen Handeln finden müssen, ist mit den immer besseren technischen Möglichkeiten in der Medizin nicht verschwunden, sondern nimmt gerade wieder an Bedeutung zu. »Wie wichtig das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist, entdeckt die Medizin gerade neu«, schreibt die Zeit im August 2006 in einem Artikel, der überschrieben ist mit: »Die Heilkraft des Vertrauens«. Weiter heißt es darin: »Doch im modernen Gesundheitssystem scheint das Wissen um die ›Beziehungsmedizin‹ mehr und mehr verloren gegangen zu sein. Im Dickicht von Gerätemedizin, Bürokratie und Gesundheitspolitik bleibt kaum mehr Zeit und Raum für die Heilkraft der ›Droge Arzt‹« (Albrecht, 2006, o. S.).

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte Boris Luban-Plozza diesen Begriff »Beziehungsmedizin« mit den Monte-Vérita-Gesprächen in Ascona publik gemacht. Hier versammelten sich Ärzte und Patienten zum Austausch über ihre Beziehung zueinander, hierher waren Studierende eingeladen, die in Balintgruppen ihre Student-Patient-Beziehung reflektierten. Aus diesen Treffen heraus entwickelte sich der Ascona-Balint-Preis für Studierende, der noch heute alle zwei Jahre von der Stiftung für Psychosomatik und Sozialmedizin (www.stiftung-ps.de) zusammen mit der IBF vergeben wird (www.balintinternationnal.com). Studierende aus aller Welt reichen Arbeiten ein, in denen sie eine Beziehung zu einem Patienten beschreiben und reflektieren. Hieraus ergibt sich ein interessantes Bild über die unterschiedlichen Gesundheitssysteme und Ausbildungswege in verschiedenen Ländern (Otten, Petzold & Nease, 2017 und 2019).

Ein wesentliches Anliegen der Balintgesellschaften ist, bereits früh in der medizinischen Ausbildung auf die Bedeutung der »Droge Arzt« aufmerksam zu machen.

2          Unverzichtbares Hintergrundwissen

 

 

Die Forderung nach Hintergrundwissen wird vor allem an die Balintgruppenleiter, zertifiziert nach den Richtlinien der Deutschen Balintgesellschaft e. V., gestellt. Das Mitglied in der Gruppe sollte mit der Bereitschaft zu »frischem Denken« und »dem Mut zur eigenen Dummheit« kommen und den Mut mitbringen, frei zu assoziieren, sich emotional einzulassen, Perspektivwechsel vorzunehmen, sich blinde Flecken zu gestatten und andere Wahrnehmungen als Bereicherung zu erleben.

2.1       Was ist Balintarbeit?

Dankwart Mattke

Das von Michael Balint entwickelte methodische Arbeiten in Balintgruppen wird als eine der Wurzeln von Supervision angesehen (Mattke, 2007). Fand Supervision im sozialen Bereich selbst nach dem Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen noch im Einzelsetting statt, so brachte Balint bereits in den 1940er Jahren Sozial-Fürsorgerinnen und später auch Ärzte in Gruppen zusammen. Balint wollte in seinen Gruppen mit Ärzten zum einen die Entwicklung von der »Organmedizin« zur ganzheitlichen Medizin vermitteln (Professionsentwicklung) und zum anderen die Ärzte trainieren, ihre Person und ihr Gefühl in der Behandlung von Patienten als Instrument einzusetzen (Methodenentwicklung).

Nach einer Fallvorstellung in der Balintgruppe wurde und wird eine Beziehungsdiagnostik angestrebt. Das geschieht mit Hilfe der Gruppe. Während der Referent vorträgt, entwickeln sich Gefühle, Stimmungen, Assoziationen und Bilder in der Gruppe, die nach der Fallpräsentation möglichst frei im geschützten Gruppenraum mitgeteilt werden. Wie ein Prisma das weiße Licht in Farben zerlegt, spiegelt die entsprechend geleitete Gruppe die vielfältigsten Beziehungsaspekte der Arzt-Patient-Beziehung.

Für viele Ärzte ist es immer wieder ein quasi entkrampfendes Erlebnis, von den Kollegen nicht nur auf eine lückenlose Diagnostik hin abgefragt und kontrolliert zu werden, sondern zu erfahren, wie im Behandlungsraum Beziehungsarbeit mitläuft, die nicht als störend herausgehalten werden muss. Ganz im Gegenteil: Die im Objekt (Patient) gefangengehaltenen eigenen Gefühle können helfen, die professionelle Performanz und damit die Behandlungsergebnisse ganz erheblich zu verändern und zu verbessern. Dies ist sehr kurz gefasst das Grundmodell jeder Balintgruppe. Es wurde in einer parallelen Entwicklung zum »Proto-Modell« oder Basis-Modell von Supervision im Gruppenkontext!

Die Forderung, den »Gruppenvorteil« auch für die Supervision zu nutzen, war Teil der rasanten Entwicklungen der Gruppendynamik nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Entwicklungen verliefen in den frühen Pionierzeiten parallel. Eine Weggabelung kann nachträglich darin gesehen werden, dass Supervisoren der späten 1960er und frühen 1970er Jahre anfingen, mit den damals entstehenden Teams gruppendynamisch zu arbeiten.

Während Michael Balint die Mitglieder der Gruppen in seiner Praxis selbst auswählte, besteht ein Team aus Professionellen, die in der Alltagsroutine durch institutionelle Strukturen verknüpft und auf Kooperation angewiesen sind. Die Idee, dass sich Kooperation im Team allein durch gemeinsame gruppendynamische Prozesse und ihre Reflexion verbessern lässt, stellte sich bald als Wunschdenken der Pioniere heraus. Bei der Analyse der Grenzen einer gruppendynamischen Einflussnahme auf Teams kamen rasch institutionelle Rahmenbedingungen in den Blick und es zeigte sich, dass Supervision nur einen sehr begrenzten Einfluss auf diese Strukturen nehmen kann. Institutionelle Rahmenbedingungen und ihre Veränderung wurden dann in den 1980er Jahren das Feld von Organisationsberatung und Organisationsentwicklung (O.E.). Im Rahmen von O.E.-Prozessen kann Supervision allerdings sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting zur Klärung von Rollen und Funktionen beitragen und dadurch einen wichtigen Platz in der Beratungsarchitektur dieser Prozesse einnehmen.

Der »Gruppenvorteil« in Supervisionen wurde historisch einerseits durch die anhaltende Erfolgsgeschichte der Balintgruppen belegt, andererseits durch den Eintritt der angewandten Gruppendynamik in die Supervisionsszene. Gruppendynamiker waren es dann auch, die unser Augenmerk auf die institutionellen Rahmenbedingungen lenkten, in denen supervidierte Gruppen stattfinden.

Es entwickelten sich seit den 1990er Jahren die folgenden Standards. Supervision, zwar auch im Einzelsetting, vor allem aber, wenn sie in Gruppen stattfindet, fokussiert auf:

•  die zu supervidierende Person (Lernende der Psychotherapie),

•  die Therapiegruppe, mit der die lernende Person zur Supervision kommt,

•  das soziale System, in dem der zu supervidierende Prozess sich ereignet (Ausbildungssystem bzw. Fort- oder Weiterbildungssystem).

Soziale Selbstreflexion geht nicht auf Balint zurück, sondern hat ihre Vorläufer in der angewandten Gruppendynamik und der Gruppenanalyse. Bis heute wird die Bedeutung der Gruppe für die Balintarbeit oft nicht gesehen oder sehr vernachlässigt. Rappe-Giesecke (2003, S. 144) nimmt als Grund dafür eine für Balintgruppen typische Komplexitätsreduktion an. Klassische Balintgruppen begreifen sich meist als psychische Systeme oder höchstens einfache Sozialsysteme und nicht als organisierte Sozialsysteme, in denen Professionelle und Klienten/Patienten gleichzeitig Mitglieder organisierter Sozialsysteme sind: In den von uns skizzierten Fallbeispielen beispielsweise die Balintarbeit in der Psychosomatischen Grundversorgung (PSGV) oder wenn Mitgliedern einer Klinikorganisation Balintgruppen angeboten werden.

2015 hat das Balint Journal, offizielles Organ der Deutschen Balintgesellschaft (DBG), ein Heft der Frage gewidmet: Ist das noch Balint? Zunächst der Leserbrief eines Zahnarztes aus diesem Heft: Im Verlauf seiner »Balint Seminare« schildert eine »zunehmend ratloser werdende« zahnärztliche Kollegin immer wieder auftretende lähmende Konflikte in ihrem Praxis-Team. Der Kollege greift schließlich zu einer modifizierten Form der Skulptur-Arbeit: Das Team der zahnärztlichen Praxis wird aufgestellt. Es entwickelt sich ein Prozess, in dem die »Chefin« des Teams in ihren Beziehungsdilemmata identifiziert werden kann. In der anschließenden Gruppenarbeit werden die »Verwicklungen« so deutlich erlebbar, dass die Referentin ihre eigenen Anteile daran sehen kann und es ihr »wie Schuppen von den Augen fällt«, sie fühlt sich befreit und lacht herzlich in die Runde.

Wir erfahren nicht, wie es weiterging, der Kollege schildert die Vignette, weil er »Angst« hatte, zu dieser Modifikation der »klassischen« (?) Balintgruppenarbeit zu »greifen«. Er schreibt befreit: »Wer heilt, hat Recht.«

Peter Stammberger berichtet dann über eine Podiumsdiskussion während einer Balint-Studientagung. Es geht dem Autor weniger um die beiden einleitenden Referate als um die darauffolgende Diskussion. In dieser wird deutlich, dass die sogenannte klassische Balintgruppenarbeit vom Begründer Balint als eine Form der Anwendung von Psychoanalyse gesehen wurde. Balint ging so weit, dass er für die Leitung von Balintgruppen eine psychoanalytische Ausbildung forderte. Hier hilft die Historie: Zur Zeit der Praxistätigkeit von Balint galten Patienten mit sogenannten strukturellen Störungen als psychoanalytisch nicht behandelbar. Die moderne, zeitgenössische Psychoanalyse sieht das ganz anders, weil auch sie sich weiterentwickelt hat. Ebenso, und das wird dann in der Diskussion deutlich, muss sich die Balintmethode weiterentwickeln; und das hat sie auch getan. Sogar hinsichtlich des Credos ihres Begründers, dass Balintarbeit eine Anwendung von Psychoanalyse sei.

Die Arbeit von Philipp Herzog (2015) im genannten Heft des Balint Journals »Ist das noch Balint?« polarisiert und spitzt zu: Der Autor konfrontiert uns mit Paradoxien, die erfrischend zu lesen sind. Die Frage nach der Klassik wird schlicht ad absurdum geführt.

Im Balint Journal (1/2000) geht Kornelia Rappe-Giesecke ebenfalls von einer Paradoxie aus, wenn sie titelt: »Vorwärts zu den Wurzeln – Balintgruppenarbeit aus kommunikationstheoretischer Sicht.«

Die Autorin bleibt dann allerdings nicht bei der Paradoxie. Sie verwirft die Frage, was die Balintmethode sei und argumentiert, dass sich im Laufe der letzten Jahrzehnte unterschiedliche Settings mit unterschiedlichen Zielen, Zusammensetzungen der Mitglieder und sicher auch Vorgehensweisen der Leiter herausgebildet haben. Sie unterscheidet und beschreibt dann sechs Subtypen von Balintgruppen und empfiehlt den Balintgruppenleitern, sich ihrer Stärken bewusst zu werden, anstatt dem Drang zur Optimierung und Weiterentwicklung ihrer Methode zu folgen. Und dann stellt sie nochmals dezidiert fest, dass es die Balintgruppenarbeit ebenso wenig gebe wie die Supervision.