Bällende Hunde - LUCA MARIA - E-Book

Bällende Hunde E-Book

LUCA MARIA

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Beschreibung

Ein Atheist, ein Christ und ein sieben Tage langer Roadtrip im Hitzesommer.

Theo, 25, Student, geht nicht zur Beerdigung seines religiösen Bruders. Als ihn posthum ein Brief erreicht, wird er vor die Wahl gestellt: Entweder macht Theo mit dem frommen Jacob einen einwöchigen Roadtrip, oder er wird vom Erbe ausgeschlossen. Kurz vor der finanziellen Pleite, ringt Theo sich schließlich durch.
Gemeinsam mit Jacob geht es in einer gelben Schrottkarre auf die Straße. Wider Erwarten verstehen sich die beiden und Theo erkennt, dass seine Voreingenommenheit haltlos ist.
Doch dann erfährt Theo Jacobs wahre Beweggründe, was ihn endgültig vor die Herausforderung stellt, seine Vorurteile zu hinterfragen und zu lernen, wirklich zu vergeben.

Eine Geschichte über Freundschaft, Toleranz und die Kraft der Vergebung.

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Seitenzahl: 354

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Luca Maria

Bällende Hunde

Roman

 

über den Autor

LUCA MARIA ist 1996 in Göttingen geboren und lebt nach Stationen in Bonn und Düsseldorf in Bochum. Nach einigen kleineren Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien ist 'Bällende Hunde' sein Debütroman. 
Er ist Mitglied im Bundesverband junger Autoren und Autorinnen e.V..
Über Lesungen, Veröffentlichungen und andere Neuigkeiten auf dem Laufenden bleiben? 
Schau bei Instagram vorbei: lucamaria_arend

 

IMPRESSUM

1. Auflage 2024

© 2024 by hansanord Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN Buch 978-3-947145-86-7

ISBN E-Book 978-3-947145-87-4

Cover | Umschlag: Tobias Prießner

Lektorat: Ursula Schötzig

Für Fragen und Anregungen: [email protected]

Fordern Sie unser Verlagsprogramm an: [email protected]

hansanord Verlag

Johann-Biersack-Str. 9

D 82340 Feldafing

Tel. +49 (0) 8157 9266 280

FAX +49 (0) 8157 9266 282

[email protected]

www.hansanord-verlag.de

 

Inhalt

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»Deggah!« Jacob schlug die Hände zusammen, als würde er wieder beten. Aber anders als vor Fahrtbeginn tat er es dieses Mal nicht. »Jetzt gib Gas, Theo, ich mach mir gleich in die Buxe!«

Montag, der 1. August. Legen wir ruhig mit ein paar Spoilern los, das ist schon okay. Ich tuckerte also in Onkel Herbert – Vater Trabbi, Mutter Ente – über diese Landstraße und der Christ, der rechts neben mir saß und dem ich heute zum ersten Mal begegnet war, wand sich in seinem Sitz hin und her wie ein Fisch an Land.

»Wenn’s so dringend ist, fahre ich rechts ran.«

»Nein!« Er schüttelte wild den Kopf. Dabei verrutschte sein Cap von schräg zu schräger und das Kreuz an seiner Kette schlug hin und her. »Das geeeht nicht!«

»Aber waruuum nicht?«

»Weil ich …« Er drehte die Hände, als würde ein Ball dazwischenliegen. »Weil ich mehr als nur pinkeln muss.«

»Na und?« Ich deutete über das Feld zu unserer Rechten. »Nimm halt Taschentücher. Wie wär’s mit den Bäumen da hinten?«

»Neiiin!« Diese Option schien ihm so abwegig, dass er kurzzeitig sein Gehampel einstellte. »So was macht man nicht!«

»Dann musst du eben warten.«

»Theo, ich kann nicht mehr!«

Also drückte ich fester aufs Gaspedal. Obwohl seine Fürze mich langsam zum Würgen brachten, bezweifelte ich, dass er es wirklich nicht mehr zurückhalten konnte. Was ich aber nicht bezweifelte, war weiteres Gezeter. Was hatte mein Bruder an diesem Typen, den er seinen besten Freund genannt und mit dem er sogar ein Grundstück gekauft hatte, nur finden können?

»Da vorn!« Er deutete auf ein Ortsschild, das sich leuchtend gelb von der grauen Landstraße abhob, aber da rauschten wir schon daran vorbei.

»Vielleicht gibt es ein Geschäft oder ein –«

Doch Jacob musste etwas gesehen haben, was mir entgangen war. »Links!«, schrie er und ich riss das Lenkrad herum, ohne zu wissen, wohin er wollte. Doch nach einer kleinen Kurve sah ich, was er zum Ziel seiner Notdurft auserkoren hatte.

»Nicht dein Ernst, Jacob, dass du hier –«

Aber da sprang Jacob schon aus dem rollenden Wagen und sprintete zur Feuerwache. Seine Schritte flogen die zehn Stufen in fünf Sprüngen hoch, wobei er sich zurücklehnte und sich beide Hände unter den Arsch presste. Er riss die Tür zur Feuerwache so weit auf, dass sie sich an der Wand verkeilte und offen stehen blieb.

Ich bremste kurz hinter der Treppe. Eigentlich hätte ich hier nicht halten dürfen, aber da mein genialer Beifahrer die Autotür hinter sich nicht geschlossen hatte, kam ein Wenden nicht infrage. Onkel Herbert, ein pissgelber Greis und genauso eigensinnig, war so zerbrechlich, dass eine bei der Fahrt geöffnete Tür sicher allein durch den Luftwiderstand abgerissen wäre.

Aus dem Gebäude schallte eine Stimme, mechanisch verzerrt und vermutlich durch eine Glaswand getragen, nach draußen. »Wie kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«

»Es ist ein Notfall, es brennt sozusagen lichterloh!«

»Was ist passiert? Wo ist es passiert? Sind Personen involviert und wenn ja, wie viele?«, bekam er die W-Fragen in alarmierendem Tonfall entgegengeschleudert.

»Es brennt in meiner … Ich kann das nicht … Es sind ungefähr …«, schrie Jacob, wobei seine Stimme zum Ende jedes unvollendeten Satzes in die Höhe schoss.

Ich ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. Er, sechsundzwanzig, und nicht in der Lage, es auszusprechen.

»Involviert ist quasi nur eine Person, die …«

»Was ist los?«, schrie die Feuerwehrfrau, und bevor Jacob etwas erwidern konnte, brüllte ich durch die geöffnete Wagentür: »Kacken, der Mann muss kacken!«

Einen Moment lang war es still. Ich meinte, seinen Darm arbeiten zu hören.

»Wirklich?«, fragte die Feuerwehrfrau. »Das ist Ihr Notfall?«

»Ja.« Jacob klang peinlich berührt.

»Da lang.«

»Danke, danke schön, vielen lieben Dank!«

»Nun gehen Sie schon!«

Schnelle Schritte, quietschende Turnschuhe, ein Türknallen, dann wieder Stille.

Ich lehnte mich zurück. Nicht einmal eine Stunde war seit unserem Kennenlernen vergangen, und schon versetzte Jacob eine Dorffeuerwehr in helle Aufregung. Wie sollte das nur eine ganze Woche lang gut gehen – was zum Teufel tat ich hier? Um auch das direkt zu spoilern: Diese Fragen stellte ich mir nicht zum ersten und bei Weitem nicht zum letzten Mal. Was für eine absurde Idee. Und das alles für die paar Kröten von meinem Bruder …

In der Hitze – die Nadel des Thermometers lag weit im roten Bereich und zeigte etwa 37 Grad – bohrten sich diese Gedanken durch meinen Kopf und pressten sich von innen gegen meine Stirn, so wie sich die Federn des Sitzpolsters mir in Rücken und Po drückten. Jacobs Fürze schwirrten immer noch umher, verloren aber immerhin etwas von ihrem beißenden Aroma. Er und ich … der Roadtrip …

»Gott segne Sie, liebe Frau!«

Ich schreckte auf.

»Jaja«, kam es blechern zurück.

Drei Sekunden später stapfte Jacob die Stufen herunter und kam auf den Wagen zu. Zwei Schritte davor blieb er stehen, breitete die braun gebrannten Arme aus und sah nach oben. Schau in den Himmel und sag mir, was du siehst. »Herr, ich danke dir!«

Er richtete sein Cap von völlig verrutscht zu gewollt schief und kletterte zurück in Onkel Herbert.

»Besser?«

»Theo!« Sein schleppender Blick. Sein langsames Schweigen. Instinktiv wusste ich, dass damit noch viel Zeit ins Land gehen würde. »Ich bin befreit von dieser Last!«

»Na prima.« Ich seufzte. Ein weiterer Zeitkiller der nächsten Tage. »Können wir dann?«

»Ein Gebet vorm Losfahren, das habe ich dir doch erklärt.«

»Aber es ist noch dieselbe Fahrt«, sagte ich und klopfte aufs bebende Armaturenbrett. Dass der Motor noch lief, war kein Zufall. Ich wollte es unbedingt vermeiden, wieder so spektakulär abzuwürgen wie vorhin. »Es war ja nur ein Zwischenstopp, das zählt nicht.«

Jacob schaute drein wie jemand, dem man nach jahrelangem Spielen endlich die Regeln erklärt hatte und für den nun endlich alles einen Sinn ergab. »Buddy. Du hast vollkommen recht!«

»Sehr gut«, sagte ich. »Sollen wir dann?«

Er legte die Hände vor dem Mund zusammen und rief im Tonfall eines Jahrmarktbudenbetreibers: »Alle Altlasten sind nun von Bord, einsteigen, alles einsteigen bitte, die nächste Runde geht rückwärts!«

»Juchhu«, flüsterte ich und wir fuhren weiter, während Jacob einmal mehr drauflos quasselte.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich ja noch keine Ahnung von dem, was vor mir lag. Und dabei rede ich gar nicht von der Kotzorgie am zweiten, Magda und den Rockern am dritten oder dem Unfall mit der Taube am fünften Tag. Ich rede nicht mal von den ganzen Verletzungen an meinem Körper und auch nicht von Jacobs großer Lüge. Ich rede von dem Zeug unter der Oberfläche, das Zeug, das am Ende wirklich zählt: von den Bällenden Hunden.

Aber das spoiler ich jetzt nicht! Fangen wir von vorne an. Eigentlich ging alles mit der Beerdigung von Luis los. Mit der Beerdigung meines Bruders, die … Ach, Shit. Ich komme wohl nicht drum herum. Was das angeht, muss ich ein Geständnis ablegen. 

1

Ich ging nicht zur Beerdigung meines Bruders.

Jemand schlug gegen meine Tür. Ich zuckte zusammen. »Theo? Theo, sind Sie da?«

Die Stimme meines Vermieters drang hindurch wie das Bellen eines Hundes. Einer bissigen Bulldogge mit bedrohlich geblecktem Gebiss, um genau zu sein. Schnell stellte ich den Ton meines Handys auf stumm. In der Ecke ratterte der Ventilator auf höchster Stufe.

»Theo? Verdammt noch mal …«

Ein Kratzen auf dem Boden, dann war es still. Doch mittlerweile kannte ich das Spiel gut genug. Ich wartete. Durch das geöffnete Fenster drangen Verkehrslärm und Abgase herein.

Etwa eine Minute später stampfte mein Vermieter die Treppen empor. »Nie wieder Studenten!«, rief er dabei. »Seit Jahr und Tag nur Ärger mit diesem Bengel!«

Kurz darauf knallte es ein Stockwerk über mir. Durch einen Parcours aus Versandboxen, Wäschebergen und Geschirrstapeln schlich ich zur Tür und bückte mich nach dem Umschlag. Darauf stand in dicken, roten Buchstaben »MAHNUNG«. Ich riss ihn auf, las mit »Wenn nicht bis spätestens Ende August …« die ersten Worte und warf das Schreiben zu seinen Vorgängern.

Mein Blick fiel auf das Bilderregal. Dort standen zwei Rahmen, links und rechts. Dazwischen klaffte eine Lücke.

Ich schob die Schuldgefühle beiseite und setze mich. Der Wind aus der Steckdose blies den Krampf von meinen Schläfen seitlich bis zum Hinterkopf. Das war immerhin etwas.

Um nicht nichts zu tun, griff ich nach der neuesten Ausgabe von U. Müller. Ein Bestseller, wie jeder Band aus seiner Reihe. Wahllos schlug ihn es auf. »Eigen- und Fremdgruppe: Die Gleichmachung des Unbekannten.« Die Überschrift des Kapitels sprang mir entgegen. Mehrmals überflog ich die einleitenden Sätze, doch nichts davon blieb hängen. Nach ein paar Versuchen gab ich es auf. Stattdessen ließ ich die Seiten von hinten nach vorne über den Daumen gleiten. Der Geruch von frisch bedrucktem Papier beruhigte mich. Schließlich fand ich auf der Innenseite des Einbands doch noch Worte, mit denen ich etwas anfangen konnte. Es war die Rückgabefrist. Und die war abgelaufen.

Trotz Widerstands schweiften meine Gedanken zur Beerdigung ab. Beerdigung, was war das eigentlich für ein furchtbares Wort. Das klang so verdammt … endgültig. Man gräbt ein Loch in die Erde. Versenkt darin den Sarg. Und schüttet alles wieder zu. Als wäre nichts gewesen, als wäre alles wie immer. Doch so war es nicht. Denn von nun an fehlte einer, der vorher noch da gewesen war.

Das Gedankenkarussell begann sich zu drehen. Ich erhob mich, etwas zu schnell. Mein Kreislauf rebellierte und ließ das Apartment schwanken. Nase ein, Mund aus, sagte ich mir. Schon jetzt trieb mir die Wärme mit glühenden Nadeln ein Stechen in den Schädel. Dabei rollte laut Wetter-App die eigentliche Hitzewelle erst an, um sich dann in einem Gewitter zu entladen. Doch ich bezweifelte, dass es noch regnen würde.

An der Spüle trank ich in kräftigen Zügen ein Glas Leitungswasser. Auch meine Pilea bekam einen Schluck. Sie war zwar eine Kämpferin und die bisher einzige Pflanze, die mir noch nicht vertrocknet war. Aber vor allem war sie eines der wenigen Versprechen an Marie, die ich noch nicht gebrochen hatte.

Marie. Ich stellte sie mir vor, auf einer hölzernen Bank in einer Kirche, neben meiner Mutter. Wie sie verstohlen umherspähte in der Hoffnung, ich würde doch noch kommen. Aber das tat ich nicht. Dafür war zu viel zwischen mir und meinem Bruder Luis passiert.

Ich ging die Kette der Ereignisse rückblickend durch. Bis vor drei Jahren war alles gut gewesen. Zugegeben, der Kontakt hatte nachgelassen. Hier und da eine kleine Meinungsverschiedenheit. Nichts, was es vorher gegeben hatte, aber auch nichts, was eine Erwähnung wert wäre. Es war also alles in Ordnung gewesen, mehr oder weniger. Bis Luis sich vor drei Jahren und aus heiterem Himmel einer Gemeinde angeschlossen hatte. »Gemeinde«, so hatte er es genannt. Ich hatte immer ein anderes Wort verwendet: »Sekte.« Und als dann vor etwa einem Monat die Diagnose kam …

Ich konnte nicht zur Beerdigung gehen. Weder Marie noch meine Mutter verstanden meine Entscheidung. Vor allem Marie war nicht müde geworden, mir die Tragweite meines Wegbleibens zu erklären. Ihre Hinweise darauf, dass ich gar nicht wissen könne, wer und wie diese Leute aus der Sekte waren und ob es sich überhaupt um eine Sekte handelte, ließen mich kalt. Ich brauchte nicht zu bestätigen, was ich schon wusste. Selbst als sie merkte, dass ihre Versuche meinen Entschluss nur noch fester in Beton gossen, hatte sie es weiter probiert. Bis sie gestern schließlich losgefahren war. Ohne mich.

Mit verschränkten Armen stellte ich mich vor das Regal. Das Holz war in der Mitte ein bisschen dunkler, ein bisschen weniger durch die Sonne geblichen. Kaum sichtbar für das Auge eines Ahnungslosen, und doch war da so etwas wie ein Fleck. Es war der Platz, an dem das Bild gestanden hatte, unser Bild. Das Bild von Luis und mir. Vor einem Jahr hatte ich es von dort entfernt. Direkt nach unserem großen Streit. Nach unserer letzten Begegnung.

Mein Bruder und ich waren darauf zu sehen gewesen. Er vier, ich gerade eingeschult. Wir lagen auf einer Wiese und grinsten unsere Milchzähne in die Kamera. Mutter hatte uns von oben fotografiert, bei einer Runde unseres unendlichen Wolkenspiels: Schau in den Himmel und sag mir, was du siehst.

Die Erinnerung schob das Stechen in meinem Kopf wieder Richtung Schläfen. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Auf dem Foto links der Lücke war Marie, die Barney umarmte. Auf der rechten Aufnahme saß ich als Kind auf dem Schoß meiner noch jungen Mutter. Sie lächelten auf diesen Bildern, ihre Augen glänzten dabei. Doch auch das taten sie nur in meinen Gedanken. Mittlerweile lag eine undurchdringbare, matte Staubschicht auf dem Glas.

Was jetzt wohl auf der Beerdigung geschah? Sicher würden sie beten, aber wofür? Einen Toten interessierte es herzlich wenig, was die Lebenden noch zu sagen hatten, was sie taten und wie sie fühlten. Ein großer Plan, ein besserer Ort. Alles nur Worte, die im Nichts verpufften.

Vielleicht lag es nicht daran, dass Marie und Mutter meine Entscheidung nicht verstehen konnten. Vielleicht … wollten sie es gar nicht. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie zu enttäuschen. Offenbar verhielt ich mich falsch. Ich hatte nicht ein Mal geweint. Doch sie begriffen anscheinend nicht, dass ich es einfach nicht konnte. Fast alles, was in mir vorging, stieß bei ihnen auf Unverständnis. Ganz egal, was ich sagte.

Meine Wangen begannen zu glühen, doch mit der Wärme hatte das nichts zu tun. Kurzentschlossen klappte ich die zwei verbliebenen Bilder um.

Ich wandte mich ab und stolperte mit dem ersten Schritt über einen Haufen Bücher. Mit einem lauten Rums knallte ich aufs Laminat. Fluchend rappelte ich mich auf die Seite. Hinter mir lagen die Bücher, angespült wie Muscheln an den Strand. Ich griff nach dem dicksten Wälzer. Es war die Bibel. Ein Exemplar, das mir von Luis vor Jahren in die Hand gedrückt worden war und das ich dann achtlos in eine Ecke geschmissen hatte. Nur einmal hatte ich die Ausgabe benutzt. Um das Bild von uns beim Wolkenspiel darin verschwinden zu lassen.

Ich sah auf die Seiten zwischen der Bindung. Sah den Riss in der Mitte, der die gestapelten Blätter voneinander trennte, wie ein Keil, der einen Holzstamm spaltet. Für einen Moment überlegte ich, es herauszuholen. Meine Hand zitterte. Nase ein, Mund aus.

Da schlug es wieder gegen meine Tür. »Theo? Ich habe Sie gehört! Machen Sie auf, verdammt noch mal, ich will mein Geld!«

Schau in den Himmel und sag mir, was du siehst. Ich lag auf dem Boden und schleuderte die Bibel samt Foto Richtung Tür. Die Hitze presste auf meinen Kopf ein. In meinen Schläfen hämmerte es mehrmals pro Sekunde, im gleichen Rhythmus wie mein Vermieter. Auf meiner Zunge lag ein Pilzbelag aus Abgasen. All das, gemischt mit der Hitze und dem Lärm der Straße, wurde zu einem gewaltigen Dröhnen.

Doch ich öffnete nicht. Stattdessen ballte ich die Hände zu Fäusten. Luis hatte geglaubt und am Ende dran glauben müssen. Er war zwar tot, doch genommen hatten sie ihn mir schon vor langer Zeit. Sie, diese Sekte, dieser rückwärtsgewandte Haufen. Wahre Freunde, die er sich da angelacht hatte. Niemals würde ich mit diesen Leuten gemeinsam am Grab meines Bruders stehen.

Sollte sich mir die Chance bieten, musste ich Marie und Mutter beweisen, was ich wusste: dass sich mein Bruder einer Gruppe von Fundamentalisten angeschlossen hatte. 

2

»9. Sinner-Gebot: Du sollst begehren deines Nächsten Match :-P«

Der Slogan knallte mir von einer vorbeifahrenden Straßenbahn entgegen. Er stand in einer Sprechblase, geformt von einem Mund mit verführerisch roten Lippen. Ich blieb fast nicht rechtzeitig stehen. Ein Motorrad schnitt unseren Weg und meine Hand rutschte halb vom Lenker.

»Barney, stopp!«

Zum Glück gehorchte der Rüde aufs Wort. Ich tätschelte ihn. Sabber lief aus seiner Schnauze und tropfte auf den Bordstein.

»Hast du gut gemacht.«

Barney legte den Kopf zur Seite. Heute war er ziemlich gut drauf.

»Na komm, auf geht’s.«

Wir überquerten die Straße. Ich schob mein Rad mit links, während ich rechts die Leine hielt. Für ein paar Meter zerrte der Hund, dann beruhigte er sich wieder.

»Der muss einen Maulkorb tragen, solche dürfen nicht einfach so ohne!«, schrie mich ein Rentner an.

»Das kann ich nur zurückgeben!«

Der Alte begriff nicht und zeterte noch, während wir weitergingen. Ich gab mir keine Mühe, mein Grinsen zu verbergen.

Ab und zu wichen uns Passanten aus. Normalerweise gingen wir mit dem Hund nicht in die Stadt. Durch seine kantige Statur konnte Barney zwar bedrohlich wirken. Doch mit seinem wahren Wesen hatte das nichts zu tun. Er war ein Mix verschiedener Rassen, wobei nur Dogge und Ridgeback mit Sicherheit bestimmt werden konnten. Wahrscheinlich lag aber niemand daneben, der auf einen Schäferhund als Großonkel setzte. Herausgekommen war ein Kraftpaket mit schwarz-weiß gemustertem Fell. Barney interessierte das alles nicht. Er watschelte hechelnd über den Asphalt.

Der Betonklotz, den sie neben dem Bahnhof aus dem Boden gestampft hatten, erschlug mich beinahe. Ich betrachtete den Schriftzug aus blinkenden Neonschildern: »Shopping in Paradise.« Darunter stand: »Himmlische Angebote, jeden Tag!« Ich schnaufte. Ein Blick auf die Übersicht der Läden genügte, um zu wissen, dass der richtige Name eher »Shopping in Plasticland« hätte sein müssen.

»Kannst du mir sagen, wer zum Teufel noch so eine blöde Mall braucht?«

Als Antwort kackte Barney einen Haufen auf den Bürgersteig. Mir schlug ein so heftiger Gestank entgegen, dass ich würgen musste. Ich griff in meine Tasche, doch die Tüten hatte ich mal wieder vergessen. Kurz spähte ich umher. Dann scheuchte ich ihn weiter und ließ die Scheiße liegen.

Auf dem Vorplatz lehnte ich mein Rennrad gegen eine Laterne. Legte das Bügelschloss an. Dann das Rahmenschloss. Und zu guter Letzt die Kette. Mit Spucke am kleinen Finger wischte ich noch einen Fleck von der Felge.

Im Bahnhof tummelte sich gefühlt die halbe Stadt. Wir kämpften uns durch die Halle, wobei Barney eine Schneise durch die Leute zog. Sie wichen uns aus, mal schüchtern, mal staunend, mal böse schauend. Am Gleis angekommen, suchte ich uns einen Schattenplatz abseits des Getümmels. Der Hund tapste vor und zurück.

»Ist alles gut, Junge.«

Barney setzte sich. Seine Nase arbeitete und sein Kopf drehte sich von einem Geräusch zum nächsten. Er hechelte schnell und unregelmäßig. Ich hockte mich neben ihn und streckte ihm eine Hand entgegen. Sofort legte er seine Pfote hinein.

»Sehr gut, gut machst du das.«

Seine Atmung wurde langsam ruhiger und schließlich legte er sich hin. Ich sah zu einer Bahnhofsuhr. Wir waren ein bisschen zu früh. Auf dem Bahnsteig gegenüber rief die Ansage einen Zugausfall aus, mit der Bitte um Verständnis. Die Wartenden fluchten alle gleichzeitig drauf los. Ich musste lachen.

Kurz darauf fuhr an unserem Gleis der Zug ein. Aus allen Türen stiegen Reisende aus. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Angesteckt von meiner Unruhe stand Barney auf und schnupperte mit angelegten Ohren in die Luft. Er witterte Marie, bevor ich sie sah. Alle Anspannung fiel von ihm ab und er wedelte aufgeregt mit dem Schwanz.

»Da ist ja mein Liebling!« Sie streichelte den Hund ausgiebig, bevor sie sich mir zuwandte. »Theo, du hast es auch geschafft?«

»Sieht wohl so aus.« Ich lächelte. Marie zog mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Barney winselte vor Freude.

»Alles gut bei dir?«

»Na klar!« Sie gähnte und rieb sich die Schläfen. »Auf ins Café?«

»Mit dem Hund?«, fragte ich.

Marie grinste. Ihre dunklen Locken wehten im Wind eines vorbeirauschenden Güterzugs. »Sicher, du Blödmann. Tische gibt’s auch draußen.«

Und während Barney ungeduldig an der Leine zog, nahm Marie meine Hand und drückte sie fest. 

3

»Bei euch das Übliche? Oder heute mal was anderes?«

Marie sah mich von der Seite her an. Ich fragte mich, ob sie spürte, wie attraktiv ich die Kellnerin fand, jetzt, im Sommer. Normalerweise wusste sie, was los war, wohingegen ich bei ihr meist daneben lag.

»Ich wie immer. Und du?«

»Ich auch.« Marie nickte.

»Also eine Apfelschorle und ein Kaffee mit Hafermilch, kommt sofort.« Sie kritzelte die Bestellung auf ihren Block.

Unter dem Tisch grummelte Barney.

»Ja, oh wei! Wen haben wir denn da? Was darf es für dich sein, mein kleiner süßer Spatzi-Spatz?« Die Bedienung verfiel in einen Singsang, der den Hund ganz verrückt machte. Anders als die Gäste um uns herum, die alle ein Stück wegrückten, schien sie Barney direkt ins Herz geschlossen zu haben.

»Ein Wasser für ihn wäre sehr nett«, sagte ich, um das Theater schnell zu beenden, doch ohne Erfolg.

»Ein Wasser für dich Süßi, kriegst du gleich ein kleines feines Napfi-Napfilein!«

Während Barney zu ihrer Stimme tänzelte, strafte Marie mich mit einem ihrer missbilligenden Blicke. Darin war sie unerreicht. Kurz überlegte ich, sie daran zu erinnern, dass es nicht meine Idee gewesen war, mit dem Hund herzukommen, ließ es aber bleiben.

Stattdessen wollte ich meine Bitte nach einem Wasser wiederholen und damit auch weiteres Gesäusel unterbinden, da kippte Barney plötzlich zur Seite und blieb reglos liegen.

»Oh mein Gott!«, schrie die Kellnerin. »Ist er tot? Ist er tot?«

Ich sah zu Barney. Er wirkte wie ausgestopft. Seine Beine standen in schiefen Winkeln ab und die Zungenspitze hing ihm aus der Schnauze.

»Dem geht’s gut.« In all den Jahren hatte ich Marie selten so genervt gehört. »Der hat Narkolepsie, weiter nichts.«

»Oh, ach so.« Die Kellnerin legte sich eine Hand auf die Brust. »Passiert das häufiger?«

»Nur manchmal, wenn er aufgeregt ist«, antwortete ich schnell. »Aber nicht immer. Lässt sich nicht vorhersagen.«

Die Kellnerin nickte. Wahrscheinlich wäre sie vor Schreck noch länger bei uns stehen geblieben, doch eine Frau zwei Tische weiter winkte sie zu sich herüber.

Ich lächelte Marie zu, doch sie erwiderte es nicht.

»Willst du denn gar nicht wissen, wie es war?« In ihrer Stimme schwang Erschöpfung mit.

Ich wich ihrem Blick weitläufig aus. »Ich weiß nicht. Keine Ahnung.«

»Ich soll dich von deiner Mutter grüßen. Es geht ihr ziemlich schlecht.«

Schweigend beobachtete ich Barney, der langsam aus seiner Trance erwachte. Ich hielt ihm eine Hand hin. Mühevoll gab er mir die Pfote.

»Theo?«

»Hm?«

»Kannst du mich bitte angucken?«

Ich sah Marie in die Augen und verlor mich einmal mehr in ihrem tiefen Dunkel. Die Lachfältchen, für die ich immer seltener verantwortlich war, lagen tiefer als sonst.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Ja.«

Marie schüttelte den Kopf. »Sie hat zwar geweint, wirkte aber gefasst. Ich glaube, sie realisiert das alles noch gar nicht. Wie auch, wenn man überlegt, dass die Diagnose gerade einmal einen Monat her ist …«

In mir zog sich etwas zusammen.

»Wir haben gestern Abend noch über Luis geredet. Über die Zeit im Krankenhaus. Aber es war das, was sie nicht gesagt hat, was mir am meisten Sorge bereitet.«

»Was hat sie denn nicht gesagt?«

Marie seufzte. »Sie hat nicht gesagt, dass sie überrascht ist, dass du nicht da bist. Auch über euren Vater hat sie nicht gesprochen. Aber was kann es Schlimmeres geben, als das eigene Kind zu begraben, alleine, ohne den Vater und den anderen Sohn, das muss so –«

»Was soll das heißen?« Ich fuhr sie heftiger an, als ich es wollte, doch einmal auf dem Level, blieb ich dabei. Barney, wieder voll bei Bewusstsein, sprang wie elektrisch geschockt auf. »Was willst du damit sagen? Dass ich wie er bin? Dass ich meine Familie im Stich lasse? Was willst du von mir, Marie?«

»Nichts, Theo, ich will gar nichts.« Sie klammerte sich an ihrem Stuhl fest. Und obwohl es mir leidtat, entschuldigte ich mich nicht.

»Also, wenn du mir nichts zu sagen hast, dann lass es auch. Du hast keine Ahnung, wie das ist in einer Familie. Du kennst das nicht.«

»Nein.« Sie senkte den Kopf. »Ich kenne das nicht.«

»So war das nicht gemeint, ich –«

»Schon gut«, schnitt sie mich ab.

Der Hund ließ sich hechelnd zu Boden plumpsen. Umständlich rückte ich den Stuhl so zurecht, dass auch sein Kopf im Schatten lag.

Maries Blick wirkte glasig. Ohne zu blinzeln starrte sie vor sich hin. Um die Wogen zu glätten, versuchte ich es mit einem Themenwechsel.

»Wann kannst du dein Auto wieder aus der Werkstatt holen?«

»Voraussichtlich Mittwoch.«

»Mittwoch, okay. Und wann musst du arbeiten?«

»In drei Tagen. Am Dienstag, wie immer.«

»Klar, wie immer.«

Sie sah mich an. »Weißt du, was wir tun sollten? Wir sollten ans Meer fahren.«

»Ans Meer?« Ich hasste es, wenn Marie andauernd mit einer neuen Idee ankam und ich der Spielverderber sein musste, der sie ablehnte.

»Klar! Wir nehmen Barney mit und machen uns eine schöne Zeit.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Direkt nach deinen Klausuren. Dann können wir mal so richtig ausspannen.«

Bei diesen Worten wurde mir schlecht. Ich wollte ihr nicht gestehen, dass ich es vergessen hatte, mich für die Prüfungen anzumelden. Nicht, nachdem sie schon im letzten Semester so einen Aufstand deswegen veranstaltet hatte.

»Geht nicht.«

»Komm schon, Theo. Es muss ja nicht lange sein. Nur drei oder vier Tage. Es würde dir guttun. Gerade im Moment.«

Da war es, ihr Totschlagargument: »Es wird dir guttun.« Ich presste die Zähne zusammen. Immer wusste sie, was mir »guttun« würde. Und warum gerade jetzt? Ich schluckte meine Wut hinunter. Doch die Momente, in denen es mir zu viel wurde, häuften sich in letzter Zeit.

»Nein. Wir können ihn nicht so lange mitnehmen.«

»Und wenn wir endlich zusammenziehen und ihn adoptieren?«

Barney fiepte von unten.

»Jetzt fang nicht wieder damit an, Marie. Wir haben kein Geld für seine Medikamente.«

Wir bekamen unsere Getränke, die wir wortlos zu uns nahmen. Gierig schleckte Barney Wasser aus einer Plastikschale. Trotz des Lärms von Bussen und Bahnen und dem Treiben aus und in alle Richtungen war es still zwischen uns. Wir saßen an unserem Tisch wie Gestrandete auf einer einsamen Insel. Die Sonne brannte auf den Asphalt und von dort aus sprang die Hitze in meinen Kopf und machte ihn schwer.

»Ich glaube, es wäre wirklich gut, wenn wir noch mal über die Beerdigung reden«, durchbrach Marie das Schweigen. »Nicht jetzt, das habe ich verstanden. Aber irgendwann mal.«

»Irgendwann mal.«

Mein Handy vibrierte. Ich las die Mail und verdrehte die Augen.

»Was ist denn?«

»Mein Boss.« Ich zeigte ihr das Display. »Der geht mir so auf den Sack, das glaubst du gar nicht.«

»Ich hab’s dir schon hundertmal gesagt, kündige endlich!« Marie stellte ihre Tasse krachend auf den Tisch. »Bei dem Typen darfst du dich nicht wundern, wenn er dich ausnutzt. Was kommt als Nächstes, dass du ihm Schnittchen servierst?«

»Ach, das ist doch Quatsch!« Ich winkte ab.

»Ich verstehe nicht, warum du so was immer aussitzt.«

Ich steckte das Handy weg. »Meine Entscheidung.«

»Dann kannst du dich auch nicht beschweren.« Sie legte die Hände über das Gesicht. »Lass uns bitte gehen, ja?«

»Aber wir sind doch eben erst gekommen«, sagte ich und beobachtete aus den Augenwinkeln die Kellnerin.

»Schon, aber ich will einfach nur in mein Bett. Es war echt anstrengend.«

»Oder … wir gehen zu mir?«

Sie stöhnte. »Oder von mir aus das. Bevor du wieder nur über meine Mitbewohner herziehst, gehen wir einfach direkt zu dir. Ich habe echt keine Kraft für Diskussionen.«

Ich öffnete den Mund, um Widerworte zu geben, doch mir fielen keine ein.

»Wann muss Barney wieder ins Heim, was hat Frau Bellingham gesagt?«, fragte Marie.

»Spätestens um 19 Uhr.«

»Bringst du ihn dann zurück?«

»Okay.«

Sie sah sich nach der Bedienung um. »Können wir bitte zahlen?«

»Wie immer oder getrennt?«

»Getrennt«, sagte Marie. Ihre Entschlossenheit versetzte mir einen Stich.

Auch die Kellnerin wirkte irritiert. »Bar oder Karte?«

»Ich mit Karte.« Marie zückte ihr Portemonnaie.

»Ich bar.«

Und während ich mein letztes Kleingeld zusammenkratzte, legte sie ihre Karte auf das Lesegerät. 

4

Zusammen gingen wir die Fußgängerzone entlang. Marie schob mein Rad, ich hielt Barney an der Leine.

»Schmeckt’s?«

»Hm.«

Normalerweise hellte sich ihre Stimmung durch ein Eis immer auf. Aber heute wirkte selbst das nicht.

»Möchtest du meins mal probieren?«

Sie musterte meine Waffel. »Nee.«

Marie schien tief in Gedanken zu stecken. Ihre Stimmung verschlechterte sich noch, als wir die Hauptstraße erreichten. Sie war der Meinung, dass alle Innenstädte mittlerweile gleich aussahen.

Barney winselte und blieb auf drei Beinen stehen. Die rechte Vorderpfote hielt er abgeknickt über dem Boden.

»Was hat er denn?«, rief Marie.

Ich beugte mich vor. Zwischen seinen Ballen steckte eine Biene.

»Halt mal mein Eis.«

Behutsam zog ich das Insekt heraus und setzte es auf meine Hand. Die Biene krabbelte ein paar Zentimeter. Ihr filziger Körper kitzelte auf meiner Haut. Dann hob sie ab und flog summend davon.

»Wo kam die denn her?«, fragte Marie. »Ich hab dieses Jahr noch gar keine in der Stadt gesehen.«

»Ich auch nicht.«

»Egal, hat sie ihn gestochen?«

Ich begutachtete Barneys Pfote.

»Nein, nichts zu erkennen. Nichts geschwollen, alles gut.«

Doch das Kraftpaket ließ sich von meiner Diagnose nicht beeindrucken. Barney humpelte einige Schritte, als sei er gerade angeschossen worden.

»So kommen wir nie voran.« Marie lachte.

»Barney, komm mal her.« Ich nahm erneut seine Pfote, streichelte sie etwas und presste schließlich mein Eis dagegen. Doch die Kühlung war nur von kurzer Dauer, denn Barney zog seine Pfote weg und schnappte sich die Kugel samt Waffel mit einem Bissen aus meiner Hand. Schmatzend schlang er es herunter, wobei es ihm zu beiden Seiten aus den Lefzen tropfte.

»Oh, jetzt geht es dir wieder gut, was?« Marie knuddelte den Hund und dann mich.

»Dachte schon, wir müssten amputieren.« Ich zwinkerte ihr zu.

»War knapp, ganz knapp.«

Meinen freien Arm um ihre Schulter gelegt, schlenderten wir weiter. Barney war wieder putzmunter.

Leute eilten textend umher, ein paar Kids rauchten und rotzten zu Hip-Hop aus Bluetooth-Boxen und an jeder Ecke forderten penetrante Studis zum Spenden auf. In der Luft mischten sich die Gerüche von Döner, Pizza und Pommes mit Feinstaub.

»Wie wär’s, wir bingen eine Serie bei mir und bestellen später was?«

»Hast du deine Hausarbeit denn abgegeben?« Doch bevor ich das verneinen konnte, änderte sich ihre Meinung. Sie zuckte mit den Achseln. »Okay. Bin eh müde.«

Wir bogen um eine Ecke in Richtung nach Hause. Ich hörte den Mann, dann sah ich ihn. »Mach dich bereit, deinem Herrn und Retter Jesus Christus zu begegnen!« Meine Eingeweide knoteten sich zusammen.

Der Prediger stand in der Mitte der Fußgängerzone. Er war wie ein Fels in einem Fluss, an dem die Passanten links und rechts und ohne großes Interesse vorbeiströmten.

»Nur Gott kann dich von deinem Elend erlösen!«

Niemand nahm Notiz von ihm, wie er, eine Bibel in der einen und eine Wasserflasche in der anderen Hand, die Arme schwenkte. Über seiner Schulter hing der Riemen einer abgewetzten Ledertasche. Ohne sein Rufen und Gestikulieren wäre er mir ganz normal vorgekommen.

»Verdammter Idiot«, zischte ich. Barney brummte.

»Theo!«

Mit jedem Schritt auf ihn zu verkrampften sich meine Muskeln stärker. Tauben flogen gurrend auf. Und je näher wir ihm kamen, desto mehr hatte ich das Gefühl, als würde er mich ansehen, genau in meine Augen blicken, mitten durch das Treiben um uns herum hindurch.

»Dass der sich nicht schämt!«

»Theo, was soll denn das? Sprich wenigstens leise!«

Tatsächlich drehten sich einige Leute nach uns um, doch in meiner Wut war mir das egal. Typen wie er hatten meinen Bruder manipuliert.

Als wir an ihm vorbeigingen, machte der Mann einen Schritt auf uns zu und versperrte den Weg. Ich hielt die Luft an.

»Mein Sohn, ich spüre, du wandelst auf unsteten Pfaden.«

Meine Hände ballten sich zu Fäusten, über deren Knöcheln sich die Haut spannte.

»Das Wort Gottes ist für all seine Kinder bestimmt. Ich möchte es dir gerne mitgeben für deinen weiteren Weg.«

Und er streckte mir lächelnd eine Bibel entgegen.

»Das ist wirklich nett von Ihnen, aber wir haben kein Interesse«, sagte Marie.

Doch der Mann machte keine Anstalten, uns durchzulassen. Wir wollten gerade um ihn herumgehen, da griff er nach meinem Arm.

»Mein Sohn, hör mich doch an!« Seine Augen waren weit aufgerissen. »In Zeiten wie diesen sollten wir uns auf unsere Gemeinsamkeiten besinnen, nicht auf das, was uns trennt. Vergebung und Freundschaft, Vergebung und Liebe!«

»Was soll das, lass mich los, du Freak!«

Wuchtig schüttelte ich ihn ab. Die Menge um uns herum kam zum Stehen. Handys wurden gezückt und gerichtet. Der Prediger wich zurück und machte erneut einen Schritt auf mich zu, ganz nah.

»Ich kann dir helfen, hier geht es um mehr!«

»Lass mich doch in Ruhe!«

»Theo, pass doch auf!«

Ich schubste den Mann heftiger, als ich es wollte. Er taumelte und fiel rücklings zu Boden. Die Flasche rutschte ihm aus der Hand und zerschellte auf dem Asphalt. Barney knurrte und fletschte für eine Sekunde die Zähne.

»Theo, spinnst du jetzt völlig?« Ich sah in Maries entsetztes Gesicht.

Alle Blicke waren auf uns gerichtet. Marie und ein paar Passanten halfen dem Mann wieder auf die Beine. Ich wollte auch anpacken, doch ehe ich mich aus meiner Starre überwinden konnte, war es zu spät.

Der Prediger wirkte überrascht, aber nicht geschockt. Er fixierte mich für einen Augenblick. Dann zog er sich sein Shirt zurecht und ging die Fußgängerzone weiter hinauf, wobei er nach einigen Schritten wieder zu rufen begann, bis er zwischen den Menschen und Geräuschen versank.

Mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher. Langsam löste sich die Menge auf. Abgesehen von ein paar Glasscherben vor meinen Füßen erinnerte schnell nichts mehr an den Vorfall. Barney schüttelte sich.

Mein Gesicht glühte vor Scham. Das einzig Gute war, nicht alleine hier zu sein. Ich wandte mich um. Mein Fahrrad stand noch da. Marie war weg. 

5

»Jetzt warte doch mal bitte!«

Marie eilte weiter und drehte sich auch nicht um. Nur langsam kam ich ihr näher, denn ich musste mit einer Hand mein Rad schieben und gleichzeitig mit der anderen Barney an der Leine um die Leute herumlotsen.

»Marie!«

Vor einer Fahrschule holte ich sie ein und griff nach ihrem Arm. Sie machte sich los, blieb aber stehen. Barney freute sich, als wären Jahre und Welten seit unserer letzten Begegnung vergangen.

»Was ist denn los mit dir?«

Ich stammelte herum, ohne zu wissen, worauf ich hinauswollte.

»Theo, das geht so nicht.«

»Er hat mich doch festgehalten und –«

»Ja, aber du hast kein Recht, jemanden so hart anzugehen.«

»Ich wollte nur, dass er mich in Ruhe lässt!«

Sie presste die Lippen aufeinander. Dann legte sie ihre Hand auf meine Wange. Ich schloss die Augen.

»Ich kann verstehen, dass es dir nicht gut geht im Moment. Es muss schwer sein, den Bruder zu verlieren. Vor allem nach dem, was letzten Sommer passiert ist. Und das tut mir auch unendlich leid für dich.« Sie machte eine Pause und zog ihre Hand zurück. »Aber du kannst andere Menschen trotzdem nicht so behandeln. Das ist einfach nicht in Ordnung. Und außerdem war es extrem peinlich.«

»Marie, genau solche Leute wie der sind doch schuld daran, dass Luis sich so verändert hat.«

»Ach Mensch, das ist doch –«

Zum Glück erkannte ich den herannahenden Herrn Vogt früh genug. »Lass mal eben auf die andere Straßenseite.« Hastig zerrte ich Fahrrad und Hund hinter mir her. Jetzt bloß nicht wieder einpennen, dachte ich. Doch Barney blieb wach.

»Warum?«, fragte Marie, folgte mir aber. Dann sah auch sie meinen Vermieter und verdrehte die Augen. »Theo, du kannst ihm nicht ewig aus dem Weg gehen.«

»Sei leise, sonst hört er dich noch!«

Doch er bemerkte uns nicht und lief weiter. Ich atmete auf.

»Genau das meine ich.« Marie sah mich kopfschüttelnd an. Nun standen wir vor dem Schaufenster eines Uhrmachers. Das Ticken der vielen Zeiger drang bis zu uns hindurch.

»Manchmal habe ich das Gefühl, ich kenne dich gar nicht«, flüsterte sie.

Ich schluckte. »Was soll das denn heißen?«

Doch sie antwortete nicht darauf. Barney fiepte und zog den Schwanz ein.

»Was war eigentlich los mit ihm? So aggressiv habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Wirklich nicht? Bei mir ist das schon mal vorgekommen.«

»Echt?«, fragte sie.

»Ja.«

»Oh Mann.« Sie starrte durch mich hindurch ins Leere.

»Hey, es tut mir leid, dass der uns so blöd angemacht hat. Lass uns einfach nach Hause gehen, ich bestell was und wir machen uns einen entspannten Tag. Ja?«

»Ich glaube, ich will jetzt alleine sein.« In ihrer Stimme lag Erschöpfung.

»Aber wir wollten doch noch –«

»Heute nicht.« Sie ließ keinen Zweifel aufkommen, dass ich nichts daran ändern konnte.

»Dann lieber morgen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Vielleicht. Ich melde mich.«

»Okay …«

Sie nahm meine Hand. »Theo«, sagte sie. Dann kam nichts mehr und sie ging davon. Barney und ich sahen ihr nach. Doch sie blickte nicht zurück. 

6

»… weil die eigene Gruppe der anderen als überlegen angesehen wird und sprechen somit von Ethnozentrismus.«

»Und dann hat sie dich einfach so stehen lassen?«

»Ja. Mit Barney. Einfach abgehauen.«

»Nur weil du den Typen weggeschubst hast?«

»Dabei hat der angefangen.«

»Hat er verdient. Diese Leute sind nicht ganz richtig im Kopf.«

»Marie hat das nicht so gesehen.«

»Weiber halt.«

»Na ja, ich weiß nicht, ob –«

»Ach komm schon«, flüsterte Paul, »als ob du das nicht auch so siehst.«

Ich schwieg.

»Es geht sowohl um Kategorisierungen im Allgemeinen als auch spezifisch um die Frage der sogenannten Ingroup und Outgroup: Wer gehört warum zu meiner Gruppe und wer nicht?«

»Guck mal, da.« Paul deutete auf ein paar Reihen schräg vor uns. Er zwinkerte unverhohlen einer Kommilitonin zu, die ihn anschmachtete.

»… und daraus folgt das Abwerten der anderen, was sowohl direkt als auch indirekt beziehungsweise bewusst oder unbewusst geschehen kann.«

»Kenn ich von Alicia aber auch.«

»Ja?«

»Klar! Stresst ständig rum, die Alte.« Er schüttelte den Kopf.

»Um diese Hindernisse zu überwinden, ist es wichtig, dass –«

»Aber ich hab endlich einen Weg gefunden, um damit –«

»Meine Herrn.« Die Stimme der Dozentin schnitt durch den Hörsaal bis zu uns ganz nach oben in die letzte Reihe. »Wenn Sie etwas Wichtigeres zu besprechen haben, dann tun Sie das gerne draußen oder aber so laut, dass wir alle etwas davon haben.«

Paul grinste. »Oder wir besprechen es unter vier Augen, nur Sie und ich.«

Alle lachten über die Bemerkung, die ohne sein charmantes Selbstbewusstsein einfach nur frech gewesen wäre. Selbst die Professorin konnte nicht umhin, verstohlen zu schmunzeln. Ich bewunderte und hasste Paul zugleich dafür. Als sich alle beruhigt hatten, ging die Vorlesung weiter.

»Wie also können wir hier ansetzen, um dem entgegenzuwirken?«

Niemand meldete sich. Ich hätte gerne etwas gesagt, um auch so bewundernde Blicke wie Paul zu ernten. Doch ich wusste nicht einmal, worum es überhaupt ging.

»Einen der wichtigsten Ansätze auf diesem Gebiet liefert uns Gordon Allport mit seiner Kontakthypothese«, löste die Professorin das Schweigen auf. »Beachten Sie hierbei: Das Potenzial einer echten Bekanntschaft muss gegeben sein sowie ein identischer Status der verschiedenen Gruppen. Legen Sie klare Regeln für ein konstruktives Miteinander fest. Außerdem sollte ein gemeinsames Ziel vorliegen. Zudem ist es hilfreich, wenn nicht ganze Gruppen aufeinandertreffen, sondern nur einzelne Mitglieder.«

Ständig drehten sich Kommilitoninnen zu uns um und suchten Pauls Aufmerksamkeit, der sich für alle seine Verehrerinnen eine eigene Geste ausdachte. Mich hingegen nahmen sie nur in seinem Schatten wahr. Aber besser so als gar nicht.

»Daher empfehle ich Ihnen zu diesem Thema das neueste Buch aus der Reihe von Müller, worin leicht verständlich beschrieben wird, wie Sie diese Probleme diagnostizieren und nachhaltig umgestalten können.«

Noch fünf Minuten. Ich stützte mein Kinn mit einer Hand ab und starrte aus dem Fenster.

»Und auch wenn die Ferien vor der Tür stehen, vergessen Sie nicht, für all diejenigen unter Ihnen, die im Wintersemester ihre Abschlussarbeit schreiben wollen, was ja, wenn ich mich so umsehe, die meisten hier betrifft: Gleich findet die Informationsveranstaltung dazu statt, an der Sie verpflichtend teilnehmen müssen, um zugelassen zu werden. Ich bedanke mich und wünsche einen angenehmen Sommer.«

Alle klopften auf Holz. Kurz darauf fanden wir uns im Tumult auf dem Gang wieder. Paul klatschte mit ein paar Leuten ab und grinste in jede Richtung. Es wurde ruhiger.

»Theo, was ich dich noch fragen wollte: Wie war eigentlich die Beerdigung von Leo?«

»Leo? Luis.«

»Ja, richtig, Luis.« Er verzog das Gesicht. »Wie war’s denn?«

»Weiß nicht«, sagte ich. »War nicht da.«

Paul zog die Brauen hoch. »Du … warst nicht da?«

»Nein.«

»Aber hast du nicht gesagt, ihr seid euch so nah gewesen?«

»Das war einmal. Bevor er …«

»Ach ja, stimmt.« Paul überlegte. »Wie geht’s deiner Mutter?«

»Keine Ahnung. Hab sie nicht gesprochen.«

»Hast du nicht mal angerufen?« Er klang entsetzt.

»Nein«, antwortete ich nur. Was hätte ich auch sagen sollen.

»Du verarschst mich doch.«

»Vielleicht können wir uns die Woche noch mal treffen?« Ich hatte keine Lust, hier in der Uni darüber zu reden.

»Von mir aus«, sagte Paul.

»Wann kannst du denn?«

»Die nächsten Tage sind recht voll.« Eine Kommilitonin schlenderte vorbei und zwinkerte ihm zu. »Muss jetzt auch los.«

»Schreib mir doch, wenn du Zeit hast.«

Paul sah ihr nach. »Schreib du mir. Bin zu busy, das vergesse ich safe.«

Wir gaben uns die Faust und er ging zur Infoveranstaltung. Ich sah ihm nach und stand noch da, als er schon längst weg war. Wahrscheinlich wäre ich noch ewig so stehen geblieben, wenn mich nicht eine allzu vertraute Stimme aus meiner Trance gerissen hätte.