Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer. - Lars Terörde - E-Book

Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer. E-Book

Lars Terörde

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Beschreibung

Ist der Triathlonsport wirklich eine so bierernste Angelegenheit? Ist der moderne Dreikämpfer etwa von Natur aus ein verbissener Geselle? Ein Blick auf die Literatur zum Thema könnte fast den Verdacht nahelegen: Zwischen Trainingsratgebern und Autobiografien herrschte weitgehend humorfreie Zone. Bis jetzt. Denn Lars Terörde, seit knapp einer Dekade überzeugter Hobbytriathlet, springt - mit der Wucht des Doppelzentners - in die Bresche. Seine gleichermaßen urkomischen wie hintergründigen Abenteuergeschichten vom Kaiserswerther Kenianer, die schon mehrfach Aufnahme in die "Achilles' Ferse"-Kolumne auf Spiegel Online fanden, treten den Beweis an, dass zwischen Wechselzonen, Windschattenverboten und Wadenkrämpfen immer auch das Zwerchfelltraining zu seinem Recht kommt. "Barfuß auf dem Dixi-Klo" erzählt mit charmantem Witz und viel augenzwinkernder Selbstironie vom normalsterblichen Langdistanz-Anwärter und seinem Kampf mit inneren Schweinehunden und permanenten Gewichtsproblemen. Von seinem Duell mit dem Erzfeind in der eigenen Familie: dem Schwager, der zwar trainingsfaul ist, aber auch umso talentierter. Wie schafft unser weißer Kenianer den Spagat zwischen Beruf, Familie und Training? Wird er das Trauma des Emscher Nachttriathlons je überwinden? Wo um Himmels willen liegt Harsewinkel? Was hat der Aufstieg seines Lieblingsvereins mit dem Rheinsteig-Extremlauf zu tun? Kann er seinen Triathletenstolz vor dem alten Schulfreund retten, der sich beim plötzlichen Wiedersehen als überraschend schneller Läufer entpuppt? Und zu guter Letzt: Wird er die Langdistanz im holländischen Stein mit und gegen den Schwager bestehen?

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LARS TERÖRDE

Barfuß auf dem Dixi-Klo

TRIATHLONGESCHICHTEN VOM KAISERSWERTHER KENIANER

Lars Terörde:

Barfuß auf dem Dixi-Klo

Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer

Covadonga Verlag, Bielefeld – 2010

ISBN 978-3-936973-56-3

ISBN-ePub 978-3-936973-61-7

Coverillustration: Niels Fliegner / dpa Picture-Alliance.

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhalt

Der Kaiserswerther Kenianer

Das Duell in der Domstadt

Der Kenianer auf Hawaii

Eine spontane Anmeldung

Nur noch sechs Wochen

Kindergartenviren

Vorstartlaunen

Marathonhelden

Ohrwürmer

Der Schock

Weihnachten

Ein folgenschwerer Irrtum

Winterschwimmen

Der dicke Schäng

Auf der Rolle

Der Zehn-Kilometer-Lauf

Februar im Ruhrtal

Ein schöner, langsamer Nachmittagsf***

Der erste Wettkampf des Jahres

Gewichtsprobleme

Der mysteriöse Schwager

Der Skandal

Auf dem Weg nach Ameland

Der Oerder Blinkert

Wettrüsten

Die lieben Nachbarn

Schlechte Tage

Frühe Fahrten

Ein sportliches Gelübde für Fortuna

Der Rheinsteig-Extremlauf

Harsewinkel

Seeschwimmen

Der Formcheck

Am Tag vor dem Start

Barfuß auf dem Dixi-Klo

Lutscher

Finale

In Sittard

Danksagung

Der Kaiserswerther Kenianer

Die Tür ging auf…

»Hallo…!«

»Hallo, Schatz! Wie war dein Lauf?«

»Grandios, einfach nur klasse…«, er rang nach Atem, »…ich habe gewonnen! Zum ersten Mal.«

»Was hast du denn gewonnen? Du warst doch ganz alleine auf einem Trainingslauf?« Sie schaute ihn misstrauisch an. Er sah kaputt aus. Dicke rote Ränder unter den Augen. Salzkrusten im Gesicht. Undefinierbarer Schmodder klebte am Ärmel des Laufshirts. Ein untrügliches Zeichen für eine Trainingseinheit, die er einen »Tempolauf« nennt, und ein klassisches Zeichen von Überforderung, wie sie findet. Aber dass er jetzt auch noch davon redete, dass er »gewonnen« hätte, machte ihr Sorgen.

»Na ja, gegen Haile halt… Heute habe ich ihn herausgefordert und…«

»Gegen Haile? Du willst mir erzählen, dass du im Kalkumer Wald gegen Haile Gebrselassie gelaufen bist?«

Immerhin kannte sie den weltberühmten Wunderläufer aus Äthiopien. Den vielfachen Weltmeister, Olympiasieger und aktuellen Inhaber der Weltbestzeit über die Marathonstrecke. Aber dass ihr Durchschnittsgatte behauptete, nach Feierabend auf einer Laufrunde irgendwo zwischen Düsseldorf-Kaiserswerth und Ratingen gegen ihn angetreten zu sein, ließ sie ernsthaft an seinem Geisteszustand zweifeln.

»Kann man sich so anstrengen, dass man noch zu Hause fantasiert?«, fragte sie sich nicht zum ersten Mal.

Sie selbst treibt keinen Sport, aber das Zusammenleben mit einem ehrgeizigen Triathleten hatte ihr die notwendigen Grund-kenntnisse über den Ausdauersport beschert. Schließlich konnte sie nicht immer weghören, wenn er am Frühstückstisch den Sinn von Trainingsplänen vor sich hin diskutierte oder ihr ungefragt mit Hilfe von Salzstreuern das taktische Verhalten eines Radsportteams und den Effekt des Windschattenfahrens erklärte. Im Laufe der Jahre hatte sie einiges an Triathlonwissen angehäuft. Ob sie wollte oder nicht.

»Ja klar! Heute habe ich ihn endlich gepackt! Auf den ersten Kilometern sind wir noch zusammen gelaufen, dann habe ich ihm einen kleinen Vorsprung gegönnt und ihn in Sicherheit gewiegt. Er hat wohl gedacht, er würde das Ding schon schaukeln«, erzählte er freudestrahlend. »Aber da hatte er sich gehörig geschnitten. Auf den letzten Kilometern habe ich all die Körner eingesetzt, die ich zuvor gespart hatte, und dann…«, er grinste müde, »…habe ich ihm auf den letzten Metern vor dem Ortseingang noch die Fersen gezeigt! Er hat sich noch ganz schön gewehrt, aber…«

»Moment mal! Entschuldige, wenn ich dich unterbreche«, fiel sie ihm ins Wort. »Was erzählst du mir da eigentlich für eine verrückte Geschichte? Du bist mit Gebrselassie in unserem Wald um die Wette gelaufen? Das ist ja schon wirr! Aber dass du auch noch gewonnen haben willst… Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«

»Nee, nee, Schatz, doch nicht gegen Gebrselassie! Ich bin gegen Haile gelaufen…«

»Ist das nicht der Gleiche? Das ist doch sein Vorname.«

»Quatsch. Mein Haile ist doch nicht echt! Der ist hier drin.« Er deutete auf seinen Laufcomputer am Handgelenk. »Das ist der virtuelle Laufpartner, der auf meiner Hausrunde immer die Bestzeit läuft.«

»Und der heißt Haile? Welche Marketingabteilung denkt sich denn so einen Schwachsinn aus? Die sind sich auch für nichts zu schade, um euch Sportlern ihren Technikkram aufzuschwatzen.«

Der Mann wurde kleinlaut: »Äh, Moment mal! Der heißt doch gar nicht so. Das ist lediglich ein virtueller Laufpartner, den jeder nach seinen eigenen Wünschen programmieren kann. Ich habe ihn so eingestellt, dass er mir über GPS anzeigt, wie viele Meter ich hinter meiner Hausrundenbestzeit zurückliege.« Er druckste verlegen. »Den Namen Haile habe ich mir ausgedacht.«

»Du nennst Zahlen in deiner Uhr Haile?«, fragte sie belustigt. »Oh Mann, dir ist aber nicht viel peinlich, oder? Ist das noch derselbe Mann, der sich immer darüber schlappgelacht hat, dass Frauen ihren Autos Namen geben?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Machen das alle Läufer so, oder bist nur du so kindisch? Lass mich raten, wahrscheinlich ist das so eine Idee von einem aus deiner Läufer-Community! Ihr habt doch echt alle einen an der Waffel.« Sie grinste, ging in die Küche und holte ihm eine Flasche Wasser, einen Messbecher und das Iso-Pulver. Nein, böse war sie ihm nicht. Aber sie konnte sich immer wieder über die Dinge amüsieren, die in der Parallelwelt eines Ausdauersportlers wichtig waren.

»Und du hast also heute gegen Haile gewonnen?«, augenscheinlich hatte sie ihren Spaß an der Geschichte gefunden.

»Ja, sage ich doch! Ich spiele mit ihm immer Kölner oder Kenianer. Der Gewinner ist der Kenianer, der Verlierer der Kölner!«

»Und bis heute warst du immer der Kölner?«

»Na, jedenfalls auf der Hausrunde. Auf anderen Strecken habe ich ihn natürlich schon geschlagen.«

»Kölner oder Kenianer! Tststs…« Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Dann bist du also jetzt der Kenianer? Tut mir leid, aber…« Sie begann zu lachen. »Das ist bekloppt! Du bist fast zwei Meter groß, wiegst annähernd zwei Zentner, und deine Hautfarbe hat auch nicht viel von einem Kenianer!«

»Ach, menno…!«

»Lass mir doch meinen Spaß«, sagte sie. »Schließlich muss ich mir deine Geschichten auch immer anhören. Welchen Schnitt du gelaufen bist, wie deine Herzfrequenz war und wie viele Monatskilometer du geschafft hast. Du kannst dir jede Altersklassenplatzierung bei irgendwelchen Provinzveranstaltungen merken, aber unseren Hochzeitstag vergisst du ständig…!«

»Stimmt nicht, es ist der 22. November!«

»Gottseidank, den Kopf gerade noch mal aus der Schlinge gezogen«, dachte der Mann, natürlich ohne zu erwähnen, dass es Boris Becker war, der ihn mit einer Eselsbrücke gerettet hatte. Der einstige Tennis-Crack hatte am gleichen Tag Geburtstag.

»Oha, erstaunlich! Aber ich denke, du weißt, was ich meine.«

Er mixte sein Sportgetränk, während sich unter ihm eine Schweißlache auf dem Parkett bildete.

»Dafür bin ich neue Bestzeit gelaufen. Die bisherige war ganz schön alt. Dass ich das überhaupt noch mal schaffen würde, hätte ich nicht gedacht.« Seine Freude darüber ließ er sich auch nicht durch die Hänseleien seiner Frau nehmen.

»Ja, ja, Haile sei Dank! Jetzt trag mal brav deine Laufdaten in deine Excel-Tabellen ein und spring unter die Dusche. Ich hole eben Sohnemann von seinem Freund ab, und dann gibt es Abendessen«, entgegnete sie versöhnlich. Aber ein hingekichertes »Er ist ein Kenianer und ich sein Weib, ich glaub’ es nicht!« ließ sie sich im Hinausgehen trotzdem nicht nehmen.

So, sie war weg, und er hatte seine Ruhe. Der Puls verlangsamte sich, die Verbindung seines Armkästchens zum Rechner war hergestellt, und schon konnte er sich an den bunten Grafiken begeistern, die seine Laufleistungen sichtbar machten. Dann schrieb er noch schnell einen beifallheischenden Kurzbericht über seine jüngste Heldentat im Blog seiner Läufer-Website und begab sich unter die Dusche.

»Hallo Papa…« Sohnemann riss ihn aus den Gedanken an den erfolgreichen Wettlauf, während das heiße Wasser auf ihn niederprasselte. Er wollte mit unter die Dusche.

»…Papa!«

»Ja, Sohnemann, was ist denn?«

»Mama hat erzählt, dass du nicht mehr Papa heißt. Stimmt das?«

»Wieso das denn? Natürlich bin ich der Papa. Wie soll ich denn sonst heißen?«

»Känianah oder so…« Der Fünfjährige tat sich mit der Aussprache schwer.

»Unsinn, wie kommt die Mama denn auf so was?«

»Weil, du hast doch den Wettlauf gewonnen, hat sie erzählt bei der Mama von Ben, und dass du jetzt Känia- oder Kännianna oder so heißt, und dann haben die beiden ganz doll gelacht und irgendwie gesagt, dass alle Männer doof sind…«

»Na, super! Schön, dass deine Mutter so etwas erzählt!«

Beim Abendessen fragte der Mann noch mal nach: »Du hast unseren Freunden von meinem Lauf gegen Haile erzählt und ihnen gesagt, dass ich jetzt der Kenianer bin? Musste das sein? Ist doch irgendwie peinlich…«

»Peinlich? Das nennst du peinlich? Das war ein Spaß! Ich werde dir erzählen, was wirklich peinlich war: Dein Verhalten war peinlich, als du dich über das Geburtstagsgeschenk beschwert hast, das genau diese Freunde dir gemacht haben.«

»Aber das war doch auch unmöglich.« Er erinnerte sich noch gut an seinen Schrecken beim Auspacken des Pakets.

»Unmöglich? Das war ein super Trainingsanzug, und du hast dich vor allen anderen Gästen darüber lustig gemacht!«

»Hallo?!? Der Anzug ging doch gar nicht! Ich hatte mir Tights und Windstopper-Funktionswesten aus High-End-Kunstfasern gewünscht, und die haben mir einen Trainingsanzug mit Pluderhosen aus Baumwolle gekauft.«

»Der Anzug war schweineteuer, ich habe ihn zufällig im Katalog gesehen.«

»Es war Baumwolle, überhaupt nicht atmungsaktiv…«

»…und du hast gesagt, dass der für Opas mit Kathederbeuteln in der Rehaklinik sei! Das war peinlich! Die waren echt angefressen, und wir können froh sein, dass sie mit uns überhaupt noch was zu tun haben wollen. Also halt dich schön ruhig und lass mich mal wieder ein bisschen Schönwetter machen – auch wenn es auf deine Kosten geht.«

Na ja, so standen die Dinge für ihn. Jetzt musste er mit diesem Namen leben. Er hatte ihn schwer erkämpft. Also wollte er ihn mit Stolz tragen, denn immerhin hatte er Haile auf der Hausrunde besiegt! Er hatte als Erster das Ziel am Ortseingangsschild erreicht und für den Titel gekämpft.

Er war der Kaiserswerther Kenianer!

Das Duell in der Domstadt

Der Kenianer ist Triathlet! Kein guter, aber doch mit einigen Jahren Erfahrung auf dem imposanten Buckel. Und immer mit dem Ehrgeiz, neue Distanzen zu bewältigen und alte Strecken schneller als im Jahr zuvor zu schaffen. So setzt er sich in jeder Saison neue Ziele.

Dieses Mal war es eine neue Bestzeit für die Kölner Mitteldistanz, die 2,5 Kilometer Schwimmen, 90 Kilometer Radfahren und 21,1 Kilometer Laufen von den Teilnehmern forderte. Seine Form war so gut wie lange nicht, und zwischen ihm und einem positiven Saisonfazit lagen nur 113,5 Kilometer in weniger als fünfeinhalb Stunden. So dachte er zumindest noch zu Beginn der Saison darüber.

Des Kenianers Training war besser als in den Jahren zuvor, das Weib noch toleranter und die Urlaubsplanung geschickt eingefädelt. Drei Wochen auf der Nordseeinsel Ameland im April lieferten die Grundlage für gute Laufleistungen. Eine neue Marathonbestzeit war das erste Ergebnis. Weitere drei Wochen Sommerurlaub zu Hause und in nahegelegenen Mittelgebirgen brachten den Schub für die Radfahrbeine. Die ewigen Gewichtsprobleme waren zwar nicht plötzlich verschwunden, doch deutlich weniger ausgeprägt als in vergangenen Jahren. Es sprach eigentlich alles für einen glorreichen Abschluss seines Sportjahres.

Eigentlich? Ja, leider nur eigentlich! Denn im Laufe des Jahres war ein immer stärker leuchtendes Störfeuer in die heile Triathlonwelt des Kenianers getreten. Ein Störfeuer in Form des knapp vier Jahre jüngeren Schwagers. (Tatsächlich war er noch nicht vor Amt und Gott Schwager, aber keiner hätte ein Problem damit, wenn er es denn werden sollte.)

Über des Kenianers Schwesterherz war der Schwager einst zum Sport gekommen und hatte sich bald als jemand entpuppt, der eine außergewöhnliche Leidensfähigkeit bei Ausdauerwettkämpfen mit chronischer Unlust am systematischen Training und einem ausgeprägten Hang zu ausschweifenden Kalorienexzessen verband. So konnte sich der Kenianer in der familieninternen Sporthierarchie auch weiterhin immer als Platzhirsch gebärden und beim Adventskaffee seinen Triathlonerfahrungsschatz gönnerhaft ausbreiten. In dem sicheren Gefühl, unangreifbar zu sein. Denn er kannte des Schwagers Referenzzeiten.

Wie hübsche Teeniemädels, die gerne hässliche Freundinnen auf Partys mitnehmen, um sich in besserem Licht präsentieren zu können, suchte der Kenianer die gemeinsame Saisonplanung mit dem Schwager. »Komm schon, etwas Training und du packst auch mal eine Olympische Distanz«, waren in den letzten Jahren des Kenianers Worte.

Mitgemacht und das Ziel erreicht hatte der Schwager bis dato immer – auch wenn er wochenlang ohne Training war, zum Wettkampf mit platten Reifen und einer eingerosteten Kette auftauchte und es stets der Kenianer war, der in den letzten dreißig Minuten vor dem Start die Wartungsarbeiten am Rad des Schwagers erledigen musste. Tatsächlich konnte der Kenianer nicht umhin, ihn für die Willensleistungen, die er bei diesen Wettkämpfen ablieferte, aufrichtig zu bewundern.

Ohne Training und mit deutlichem Übergewicht zu starten, war gewiss unvernünftig, aber des Schwagers Zähigkeit und sein Kampfgeist waren beneidenswert. Nicht selten bezahlte er sie mit tagelangem Muskelkater und hässlichen Blasen.

Doch dieses Jahr war irgendwie anders. Es begann mit der bierseligen Ankündigung des Schwagers zur Weihnachtszeit, im Mai seinen ersten Marathon mitlaufen zu wollen.

»Klar, Schwager, darauf trinken wir noch eins…!«, lallte der Kenianer zurück.

Zwar war des Schwagers Vorbereitung dann eher unorthodox, doch überraschte er den Kenianer bei seiner Marathon-Premiere mit einem nicht erwarteten Zieleinlauf. Immerhin hatte der Kenianer ausreichend Vorsprung und konnte ihn entspannt und schon umgezogen mit einem Becher Alkoholfreiem in Empfang nehmen. Und dennoch: Allein mit diesem Lauf hatte der Schwager mehr Kilometer gesammelt, als er in der Vergangenheit zum vergleichbaren Zeitpunkt im ganzen Jahr gelaufen war.

Für den Kenianer noch kein Grund zur Besorgnis. Auch nicht das nächste Ereignis, das jedem Triathleten ungläubiges Kopfschütteln entlocken muss. Kenianer, Schwager und Schwester waren auf dem Weg ins Westfälische. Der Kenianer hatte für die große Mitteldistanz (2 km Schwimmen – 80 km Radfahren – 20 km Laufen) gemeldet, der Schwager und die Schwester für die kleine Volksdistanz (0,5 km – 20 km – 5 km).

Doch morgens auf der A2 verkündete der Schwager plötzlich: »Ich frag’ mal beim Veranstalter, ob ich die Distanz noch tauschen kann.«

»Du willst echt die Olympische Distanz machen? Die doppelte Strecke?«, fragte das Schwesterherz besorgt. »Meinst du, du schaffst das?«

Die Antwort war kaum verständlich dahingenuschelt, und nachdem er bei der Orga-Leitung vorgesprochen und nachbezahlt hatte, kam der Schwager mit einer neuen Startnummer an. Olympisch? Weit gefehlt. Er hatte sich kurzerhand für die Mitteldistanz gemeldet! Zwei Kilometer war er noch nie am Stück geschwommen, und die 80 Kilometer auf dem Rad entsprachen so etwa seiner bisherigen Jahresleistung. Die Schwester bekam hektische Sorgenflecken im Gesicht, der Kenianer staunte, doch der Schwager ging cool zur Wechselzone und checkte sein Rad ein.

Als sich der Kenianer vor vielen Jahren zum ersten Mal an eine Mitteldistanz wagte, hatte er vorher zwei Nächte schlecht geschlafen und sich monatelang im Training mit Überdistanzen gequält.

Einige Stunden später auf der Laufstrecke: Die Anfeuerung »Du siehst gut aus« konnte nur als Witz gemeint sein. Der Schwager war genauso fertig, wie er aussah, und konnte nicht mal mehr über die Ironie lachen. Aber er lief. Bis zum Schluss und ohne Pause! So kam der Schwager zu seinem Debüt auf der Mitteldistanz. Schon eine halbe Stunde nach dem Zieleinlauf, gestärkt mit mindestens drei Alkoholfreien und einem halben Tablett Streuselkuchen, fand er die Sache gar nicht mehr so schlimm und plante schon neue Abenteuer.

Der Schwager hatte Blut geleckt. Die Kölner Mitteldistanz war jetzt gebucht und stand auf seinem Veranstaltungsplan. Und da seine Trainingssaison ohnehin nur von Ende Mai bis Anfang September ging, wurde er jetzt auch allmählich stärker. Beim nächsten Kurztriathlon runzelte der Kenianer zumindest schon mal skeptisch die Stirn, als er seinen Vorsprung auf den Schwager beim Laufen nicht mehr ausbauen konnte. Danach überraschte der Schwager bei einer verkürzten Mitteldistanz. Nur aufgrund der besseren Schwimmleistung war der Kenianer vor ihm geblieben, die Laufzeiten waren gleich, und auf dem Rad war der Schwager sogar schneller gewesen.

Noch misstrauischer machte den Kenianer die Zehn-Kilometer-Zeit, die der Schwager bald darauf bei einem Kurztriathlon ablieferte. Ging da wirklich alles mit rechten Dingen zu?

»Gut, ich war bei dem Triathlon nicht am Start, und manchmal sind die Laufstrecken ja recht optimistisch vermessen«, dachte der Kenianer.

Trotzdem: Der Kampf war eröffnet!

Zum ersten Mal in seiner Karriere als Triathlet hatte er einen Gegner. Waren es all die Jahre immer nur Zeiten und Platzierungen gewesen, die ihn interessierten, stand von nun an viel mehr auf dem Spiel. Bisher hatte er immer den Ton angegeben; er war das Alphatier, der große Wissende, der großzügig Tipps verteilte und mit persönlichen Einschätzungen über die moderne Trainingslehre provozierte. Doch wo würde seine Glaubwürdigkeit bleiben, wenn er von einem übergewichtigen Gelegenheitssportler überholt würde, der noch dazu aus der eigenen Familie stammte? Würde der Kenianer eine solche Schmach verwinden können? Er, der zum Formaufbau vor allem fürs Laufen und Schwimmen auch im Winter trainierte? Er, der an Samstagen regelmäßig in aller Herrgottsfrühe seine langen Radrunden startete und dann abends auf Partys stets um kurz nach zehn Uhr einzuschlafen drohte?

Das Schlimmste war jedoch die Kritik des Weibes: »Wenn er ohne Training schneller ist als du, dann brauchst du doch eigentlich gar nicht mehr zu trainieren. Dann können wir doch die Zeit besser gemeinsam verbringen, und du machst die Wettkämpfe nur noch so.«

»Nur noch so?!?« Der Kenianer war schockiert. Er machte doch Triathlon nicht einfach nur so. Monatelanger Formaufbau, wochenlange Gerstensaftkarenz zur Gewichtsreduktion, ein aerodynamisches Rad zum Preis eines kleinen Gebrauchtwagens und eine Saisonplanung nach dem Prinzip der Periodisierung sind doch nicht »nur so«. Nein, der ganze Aufwand diente einem hohen Ziel: In Köln schneller zu sein als im letzten Jahr. Da passte ihm das innerfamiliäre Störfeuer so gar nicht in den Kram.

Es stand also viel auf dem Spiel an jenem Sonntag in Köln. Nicht mehr nur die Bestzeit, sondern vor allem das Duell Mann gegen Mann. Aufgrund der Verlegung der Startzeiten auf den Mittag fand sich der Kenianer zu ziviler Uhrzeit auf der Autobahn Richtung Köln. In seinem Großmut hatte er dem Schwager angeboten, ihn in Leverkusen am Bahnhof abzuholen. »Man ist ja Sportsmann.«

Doch kaum hatte er ihn und sein Rad verladen, kam es zum Frontalangriff. Geschickt lenkte der Schwager das Gespräch aufs Essen, und der Kenianer musste gestehen, dass ihm die ungewöhnliche Startzeit etwas Kopfzerbrechen bereitete. Wann, was und wie viel zu essen sei, wusste er nicht genau. Er wollte jedoch keinesfalls mit Hunger ins Rennen gehen. Auf diese Antwort hatte der Schwager anscheinend nur gewartet. Er zog alle Register und bot selbst gemachte Frikadellen an.

Die Gedanken des Kenianers wirbelten durcheinander: »Kann er wirklich so tief sinken und mir so etwas vor einem Wettkampf anbieten, womöglich alt und präpariert?« Nach einer kurzen Denkpause war er sich sicher. »Ja, er kann!« Dankend lehnte er ab.

Beiden war klar, dass ab jetzt die Visiere heruntergeklappt und die Lanzen gehoben waren. Frikadellen, selbst gemacht, und das drei Stunden vor dem Start… unglaublich!

Beim obligatorischen Aufpumpen der Räder – der Schwager hatte wie immer keine eigene Pumpe dabei – beschloss der Kenianer, ihm nur fünfeinhalb Bar einzupumpen, was genug zum Fahren war, aber zu wenig, um schnell zu sein. Die niederträchtigen Gedanken anscheinend ahnend, ließ der Schwager die Druckanzeige keine Sekunde aus den Augen und war erst mit satten achteinhalb Bar zufrieden. »Hoffentlich platzt dir der Reifen!«, dachte der Kenianer lautlos fluchend.

Dann ging es ab zum Einchecken, bei dem die Teilnehmer sich und ihre Ausrüstung startklar machen. Problemlos gelangten beide an die Startunterlagen. Problematisch war für den Schwager jedoch der Umgang mit all den Aufklebern, die er an Helm, Rad und Kleiderbeutel anbringen musste. Heimlich hatte der Kenianer diese auf den Tisch platziert, und schon fegte der starke Wind sie in Richtung Radstrecke. Zwar fand der Schwager alle wieder, aber seine Startvorbereitung war zumindest ins Stocken geraten.

In der restlichen Zeit bis zum Start boten sich keine wirklichen Gelegenheiten mehr zur Beeinflussung des Gegners. Zu sehr belauerten sich die beiden Kontrahenten. Wie zwei Boxer in der ersten Runde, nur auf den nächsten Fehler des anderen wartend. Ernährungstechnisch ging der Kenianer mit einem schwarzen Kaffee und einem schnöden Käsebrötchen am Imbissstand auf Nummer sicher. Die Stunde bis zum Start verbrachten sie auf verschiedenen Klos, beschäftigten sich mit den letzten Einstellungen an der Wechselzone und betrachteten sorgenvoll die stramm im Wind stehenden Fahnen.

»Hoffentlich gibt es beim Radfahren nicht so ein Gelutsche wie zuletzt«, sagte der Kenianer in Erinnerung an den Start vor einem Jahr, als die Athleten der Lang- und Mitteldistanz gemeinsam auf der Strecke waren und viele dem ebenso verbotenen wie verpönten Windschattenfahren frönten.

»Stimmt, Lutschen! Das hat für mich mit Triathlon nicht viel zu tun«, entgegnete der Schwager scheinheilig.

Schließlich ging es ins Wasser. Beeindruckend viele Menschen mit schwarzen Neoprenanzügen und Badekappen drängten sich über die Einstiege in die Fluten des Fühlinger Sees. 800 Athleten im Wasser, das Auge des Sturms jedoch in trügerischer Ruhe zwischen dem Kenianer und seinem Kontrahenten. Er heuchelte ihm »Alles Gute!« und »Viel Glück!« zu. Beim Abklatschen hegte er kurz den Gedanken, den Schwager unter Wasser zu ziehen. Strafrechtliche Überlegungen ließen den Kenianer davon Abstand nehmen.

Dann der Start. Wie die vielen vor ihm beendete der Kenianer den Countdown bereits bei fünf. Er beruhigte sein Gewissen mit der Annahme, ja erst bei null an der Startlinie zu sein. Sozusagen ein fliegender Schwimmstart. Aber es galt jetzt, keine Sekunde zu verlieren. Rhythmus finden. Drei links, drei rechts – wie beim Stricken. Geradeaus schwimmen ist auf der Kölner Regattabahn mit ihren Leinen unter Wasser keine Hexerei und kein Glücksspiel wie anderswo. An der Wende nach 1.250 Metern ein kurzer Blick auf die Uhr. Überraschend schnell war er unterwegs, aber es ging noch mehr. Die Gedanken an die Konkurrenz ließen ihn das Tempo forcieren. Als besserer Schwimmer wollte er ordentlich vorlegen. Der Schwager sollte ihn in der Wechselzone nicht mehr sehen. »Weiter, immer weiter!«, zitierte der Kenianer im Rhythmus seiner euphorischen Armzüge den Torwart-Titan Oliver Kahn.

Auch wenn es ein verdammt langes Rennen werden sollte, so gab es keinen Grund, beim Wechsel zu trödeln. Ein Blick auf des Schwagers Platz beruhigte. Jungfräulich unberührt wartete dessen Rad in der tobenden Hektik der immer voller werdenden Wechselzone.

Los ging es auf die wilde Fahrradjagd.

»Geh nicht zu schnell an, du hast noch 90 Kilometer vor dir«, sagte das Engelchen auf der rechten Schulter. »Gib Gas. Zermalme ihn. Demütige ihn am nächsten Wendepunkt«, entgegnete das Teufelchen auf der linken. Der Kenianer folgte dem kleinen Satansbraten.

Nach dem Wendepunkt dann sorgenvolle Blicke auf die Entgegenkommenden. Nichts zu sehen vom Kontrahenten, und die Gerade war wirklich lang. Nach anfänglicher Erleichterung sogar ein Anflug von Sorge, ob beim Schwager im Wasser alles gut gegangen war. Doch das Mitgefühl schwand schnell. Beeindruckend hoch war des Kenianers Tempo auf den ersten zwanzig Kilometern der ersten von zwei Radrunden. Irgendwann kam dann die Erkenntnis, dass weniger eine tolle Tagesform als vielmehr nur der Rückenwind für das Tempo verantwortlich war. Kurz vorm zweiten Wendepunkt hatte der Kenianer das Gefühl, als würden ihm gleichzeitig schleifende Bremsen, ein Plattfuß und eine stetige Steigung zu schaffen machen. Auch diesmal war es nur der Wind, jetzt allerdings aus der anderen Richtung.

Und dann auf der rasenden Rückfahrt der Schock! Fröhlich und entspannt lächelnd winkte der Freund seiner Schwester vom Ende eines Pulkes zu ihm herüber.

Windschattenfahren! Verpönt und vor allem verboten bei den meisten Triathlonveranstaltungen.

Der Abstand kann gar nicht so groß gewesen sein; der Kenianer musste ihn zuvor einfach übersehen haben. Seine Gelassenheit war dahin, die Kette wanderte weiter nach rechts, der Puls stieg. Was ihn beflügelte, war der Zorn, der in ihm kochte. Während er selbst sich in fairster Triathlon-Manier allein in den Wind gestemmt hatte, »lutschte« sich sein Gegner an einer Gruppe fest. Was für ein Heuchler! Bestimmt würde er später behaupten, dass er gerade auf diesen Pulk aufgefahren sei.

»Natürlich…«, höhnte der Kenianer in Gedanken, »…und Jan Ullrich war immer sauber, Toni Schumachers Foul 1982 an Battiston ein Versehen und der Klimawandel nur ein Hirngespinst von linken Öko-Aktivisten. Was muss in diesem Menschen vorgehen, der so schmählich den Kodex missachtet? Weiß mein Schwesterherz eigentlich von den moralischen Abgründen, die sich hinter der Fassade verbergen?«

Sollte dieser Kerl sie jemals vor den Altar führen und der Pfarrer seine Aufforderung an die Gemeinde richten, jetzt zu reden oder für immer zu schweigen, was bliebe dem Kenianer anderes übrig, als aufzustehen und lauthals zu künden: »Er ist ein schamloser Lutscher, nur gierig nach guten Platzierungen. Er tritt sämtliche Regeln des Sports mit Füßen. Wer sich so benimmt, darf nicht den Platz an meiner Schwester Seite einnehmen. Außerdem hat er bestimmt seit einem Jahr schon ein Verhältnis mit einer Apothekerin, anders kann er nicht in so kurzer Zeit so gut geworden sein.« Der Kenianer war sich sicher: Die Schwester würde ihm ewig dankbar sein, wenn er sie so vor einem folgenschweren Fehler bewahren könnte.

»Was du kannst, kann ich schon lange«, sagte er sich. Sämtliche Vorsätze waren dahin. Wenn er sich so den Schwager vom Hals halten könnte, war er bereit für den Belgischen Kreisel, diese besonders ausgeklügelte und perfide Form des Windschattenfahrens in der Gruppe. Auf der Suche nach Mitstreitern überholte er einen nach dem anderen, erreichte gegen Ende der ersten Runde einen enormen Kilometerschnitt und blieb doch allein.

»Was soll’s?«, dachte er trotzig. »Soll er mich halt in seiner Gruppe einfahren, zumindest bin ich dann der moralische Sieger!«

Beim nächsten Wendepunkt nahm er die Gruppen genauer in Augenschein. Nirgends war der Schwager zu sehen! Als er ihn schon fast in seinem Nacken wähnte, sah er ihn mit großem Abstand alleine im Kampf gegen den stärker werdenden Wind. Balsam für den Kenianerkopf und vor allem für die Beine.

Inzwischen hatte er nämlich einen neuen Gegner auf der Radstrecke: den heftigen Wind, der durch die Kölner Agrarlandschaften blies. Er dankte Gott und seinem Weib dafür, dass er sich keines dieser windanfälligen – und vor allem immens teuren – Scheibenräder gekauft hatte. Mit diesen Rädern kann man bei starkem Seitenwind nur noch schieben. Nach einer Kurve erwischte ihn der Wind auf einem Feldweg frontal von vorne, und es warteten die längsten fünf Minuten auf den Kenianer. Kopf runter, Kette nach links und an was Schönes denken, war seine Devise. Tatsächlich schmerzten sogar die Augen vom Wind. Der Schnitt sank kontinuierlich. Man musste also nicht extra in die Berge fahren, um längere Strecken unter 22 km/h zurückzulegen. Das ging offenbar auch auf dem platten Land vor den Toren Kölns. An der letzten Wende schätzte er seinen Vorsprung gegenüber dem Schwager auf ungefähr sieben Minuten.

Noch zehn Kilometer bis zum Wechsel auf die Laufstrecke. Selten war der Kenianer so froh, vom Bock zu dürfen. Der Wind hatte ihn zermürbt.

Seinen Wechselplatz fand er komplett verwüstet vor. Fast völlig verdeckt lagen die Laufschuhe unter einem Laubhaufen. Zunächst verdächtigte er den Schwager, musste jedoch eingestehen, dass der stürmische Wind schuld war. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, verzichtete der Kenianer auf die Socken. Zwar war der Vorsprung beruhigend, aber die Laufleistungen des Schwagers in den letzten Wochen waren alles andere als das. Und wie er dessen Schuhe nun direkt neben seinen stehen sah, da schienen sie ihm fast flehentlich etwas zuzurufen: »Versteck uns hinterm nächsten Baum!« Wo kamen diese Stimmen her? Nein, für derlei Gedankenspiele war jetzt keine Zeit. Der Kenianer lief unverrichteter Dinge los.

Es ging zunächst auf die Runde um den See, dann 14 Kilometer zum Ziel in die Kölner Innenstadt. Der Lauf des Kenianers folgte einem ihm wohlbekannten Muster; seine Tempostrategie gestaltete er in Anlehnung an Klaus Lage: »Tausend Mal passiert, tausend Mal nichts kapiert!« Er fand ein Tempo und glaubte, es locker halten zu können. Der Schnitt auf den ersten Kilometern war verdächtig gut, doch schon nach fünf Kilometern ging es bergab. Wie immer vertrieb er sich die Zeit mit Bruchrechnen: Zwei Kilometer sind fast ein Zehntel der verbleibenden Strecke, vier ein Fünftel, fünf ein Viertel, und so weiter, und so weiter… Bei Kilometer zehn war er noch euphorisch, was die Endzeit anging. Fantastisch, bei dem Tempo quälte ihn kein Gedanke mehr an den lieben Schwager, der sich seinerseits bestimmt im Hinterfeld quälte.

»Gut, ab Kilometer 14 wird es wieder etwas wehtun«, dachte der Kenianer, »aber es wird schon passen.« Es tat aber schon ab Kilometer 12 weh. Ab Kilometer 15 wurde es höllisch, und dann musste er die letzten drei Kilometer zunächst gegen eine Wand aus Wind laufen und später über die brutale Deutzer Brücke auf die andere Rheinseite. »Warum habe ich die Ausschreibung nicht richtig gelesen, warum habe ich in meiner selten dämlichen Arroganz der Wettkampfbesprechung nur halbherzig gelauscht?«, haderte der Kenianer mit sich. Er wähnte sich schon fast am Zieleinlauf des letzten Jahres, als es dann noch mal über den Rhein ging.

Kurzum, die gesamten letzten fünf Kilometer fühlte sich der Kenianer wie George Bush am Ende seiner letzten Amtszeit. Vielleicht kann der Veranstalter mit seiner Vorliebe für grauenvolle Anglizismen (die Bezeichnung »Rhineland Champion« für die Kombinationswertung aus dem Düsseldorfer Marathon und dem Köln-Triathlon ist wirklich unsäglich!) im nächsten Jahr den »Lame Duck Contest« ausrufen: Sieger ist, wer es schafft, seinen Laufschnitt auf den letzten fünf Kilometern am gröbsten zu unterbieten. Diesmal wäre der Kenianer der erste Anwärter auf den Sieg gewesen.

Und wenn ängstliches Umschauen ein Zeichen der Schwäche ist, so hatte er sich auch dieses geleistet. Der Freund der Schwester war zum Glück nicht zu sehen. Dass der letzte Kilometer der Halbdistanz tatsächlich 400 Meter zu lang war, ließ den Kenianer für exakt diese Distanz die Veranstalter abgrundtief hassen.

Danach waren Erschöpfung und Erleichterung, Freude über eine Zeit unter der angestrebten und die Aufnahme von Kohlenhydraten angesagt. Einer der freundlichen Helfer – die in Köln konsequenterweise alle »Volunteers« heißen – erkundigte sich an der Beutelausgabe beim Kenianer, ob alles in Ordnung sei. Der bejahte zwar, aber wirklich überzeugend wirkte das offenbar nicht. Der Helfer jedenfalls ließ den Kenianer in Sorge um dessen Gesundheit nicht mehr aus den Augen.

Gern hätte sich der Kenianer ebenso fürsorglich gezeigt und schon mal ein Bier für den demnächst eintrudelnden Schwager besorgt, aber gerade jetzt war der Andrang am Stand so groß. Schweren Herzens verzichtete er auf die Marter des Anstehens und sank erschöpft neben dem Stand zu Boden. Er stierte zum Dom und war bis auf das fehlende Bier bis ins Mark zufrieden. Er schloss für einige Zeit die Augen, und als er sie wieder öffnete, stand der Lieblingsschwager neben ihm und reichte dem Kenianer seinen vollen Becher, welchen er sich soeben mühsam erkämpft hatte. Der Schwager hatte nur lächerliche fünf Minuten mehr für die 113,8 Kilometer gebraucht als er. Zwei Fragen schossen dem Kenianer durch den Kopf: »Wie um Himmels willen hat es dieser Kerl so schnell ins Ziel geschafft?« und: »Darf ich wirklich einen Schluck von deinem Bier haben?«

Der Kenianer durfte. Beschämt beschloss er beim besten Schluck Bier seines Lebens, über die Fehde den Mantel des Schweigens zu decken. Vielleicht war ja auch alles nur ein Missverständnis gewesen. Das mit der Friko, dem Lutschen und dieser erstaunlichen Formsteigerung. »Besser, der Schwager erfährt nie, wie mein ansonsten freundschaftliches Verhältnis zu ihm in den letzten Tagen ausgesehen hat…«, dachte der Kenianer.

Ihm blieb die Erkenntnis, dass dieser Gegner bei konsequentem Training von ihm nicht mehr zu halten sein würde. Gewonnen hatte er dieses Mal zwar noch, aber als Triathlonleitwolf der Familie konnte er sich nicht mehr fühlen. Auf dem langen Weg im Shuttle-Bus zurück zur Wechselzone versuchte der Schwager, ihm fürs nächste Jahr einen Start auf der Langdistanz schmackhaft zu machen.

Aber noch wollte dem Kenianer diese Vorstellung nicht recht munden. »Was mich betrifft, habe ich doch arge Zweifel, wie das ausgehen würde«, ging es ihm durch den Kopf, »aber wenn der Schwager an den Start geht, dann wird er auch zu den Finishern zählen. So viel steht seit heute fest.«

Der Kenianer auf Hawaii

Es war einer dieser Montagabende im Oktober. Oktober ist für einen Triathleten der Monat der Regeneration, wenn er nicht gerade auf Hawaii startet. Für den Kenianer ist es der Monat des Müßiggangs, der Trägheit, der Süßigkeiten, des Alkoholkonsums, der Chips und des Fernsehens. Keine Wettkämpfe, deren Vorbereitung ihn noch aus dem Sessel trieben. Keine Diäten, um einigermaßen in den Neoprenanzug zu kommen, den er sich vor einigen Jahren in besseren Zeiten zugelegt hatte. Nach der langen Saison begann das schlechte Gewissen noch nicht zu sehr zu drücken. Die Waage wurde nicht mehr betreten, und der Gürtel mit den nummerierten Löchern signalisierte ihm jeden Morgen, dass der letzte Wettkampf schon über einen Monat her war.

So saß er denn in seinem tiefen, roten Sessel, die Chips und das Bier in Reichweite, die Fernbedienung in der Hand, umgeben von den Verpackungsresten der ersten Tafel Schokolade des Abends. Der Tag war lang gewesen, und bei Günther Jauch quälte sich eine angehende Apothekerin durch die Fragen auf dem Weg zu einer Million Euro.

Wenn nun wirklich Nichtstun angesagt ist, wenn dem Kenianer selbst das DSF-Topspiel der Woche zwischen Greuther Fürth und Osnabrück zu anstrengend ist, dann landet er beim Rätselonkel der Nation. Sind die ersten doofen Fragen erst mal überstanden, macht auch ihm das Mitraten Spaß. Unbeeindruckt von der Studioatmosphäre und ohne die Angst, einen mühsam erspielten Gewinn wieder verlieren zu können, lassen sich die Lösungen im heimischen Wohnzimmer einfach aussprechen. Und nicht minder leicht fällt es, die Kandidaten in Langweiler, Sympathieträger und aufgeregte Nervenbündel zu unterteilen.

Die Apothekerin zählte zur ersten Kategorie, die Fragen waren durchwachsen, die Dialoge zäh. Der Kenianer merkte noch, wie ihm die Sendung entglitt. Kurz vor neun im tiefen Sessel nach einem langen, arbeitsreichen Tag. Seine Lider wurden schwer und fielen in immer kürzeren Abständen zu. Er wehrte sich kurz, hörte noch, wie Günther dem Publikum vor den Bildschirmen die nächste entscheidende Frage stellte und dann zur Werbung weitergab.

Zwischen Piemont-Kirsche, Rügenwalder Mühle, Sparkassen-Finanzberater und der neuen VW-Familienschleuder verlor sich der Kenianer und sank in einen leichten Schlaf…

»32.000 Euro, was machen Sie mit dem Geld?«, fragte Günther wie immer bei dieser Gewinnstufe. »Jetzt heißt es bestimmt wieder: Das Auto ist zwar noch okay, aber ein neues wäre schon ganz nett!, Es war schon immer mein Wunsch, mit meiner Mutter nach Ägypten zu fliegen! oder: Whale Watching ist ein alter Kindheitstraum von mir!«, dachte der Kenianer, als ihm plötzlich klar wurde, dass die Frage an ihn selbst gerichtet war. Er höchstpersönlich saß auf dem hohen Stuhl, den Telefonjoker noch in der Hinterhand und die sichere Gewinnstufe bereits erreicht.

Ihm konnte nicht mehr viel passieren, und auf diese Frage hatte er schon so lange gewartet. Er wollte es nicht der Bank geben, eine Wohnung anzahlen, ein Auto oder einen Urlaub finanzieren.