Bärige Kurzgeschichten - Michael Wagner - E-Book

Bärige Kurzgeschichten E-Book

Michael Wagner

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Beschreibung

Michael Wagner nimmt uns mit in die tieferliegenden Abgründe seines Seins und präsentiert eine Auswahl verschiedener bäriger Kurzgeschichten, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten aktuell waren, aber auch in der Mitte der 2020er-Jahre nichts an Unterhaltungswert eingebüßt haben. Vom Einblick in den Alltag eines Gefängnisses und die Seele eines Süchtigen über rührende Betrachtungen klassischer Familienstrukturen und romantisierter Beziehungen sowie völlig abstruse Beobachtungen bis zur Analyse der Arbeit des Einflusses des Vaters der modernen Zeitungsreportage, Egon Erwin Kisch, wartet eine enorme Bandbreite auf die Leserschaft.

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BÄRIGE KURZGESCHICHTEN

Liebe Leserschaft, lassen Sie sich mitnehmen in die tieferliegenden Abgründe meines Seins: Ich präsentiere eine Auswahl verschiedener bäriger Kurzgeschichten, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten aktuell waren, aber auch in der Mitte der 2020er-Jahre wenig an Unterhaltungswert eingebüßt haben. Manche, wie die Betrachtungen über meine Großmutter, spiegeln wahrheitsgetreu die damaligen Abläufe wider, manch andere sind schlicht der Fantasie entsprungen und bei wieder anderen mischen sich Realität und Fiktion. Legen wir los.

Inhaltsverzeichnis

Der Spieler

Stadtführung im Knast

Eine Betrachtung zum Thema Glücksspiel

Die Familie

Dorian wird zum Mann

Ein Leben

Mein Lehrer

Gedanken an Josef (Ein Rest aus dem Bär)

Vor der Abreise

Die Reise

Kurzer Blick auf die Realität

Meine Oma

Der Lattenrost

Oma und die Nachrichten

Oma und Geburtstage

Oma und das Essen

Oma und Familienfeste

Wenn Oma stirbt

Ein Blick auf mein eigenes Altern

Ansichtssache

Allgemeine Überlegungen zum alt werden

Ludmilla

Irgendwie fängt es irgendwo immer an

Zum Abschluss eine kritische Betrachtung des Vaters der modernen Zeitungsreportage

Der Spieler

Bis zu diesem Tag hat mich mein guter Freund Max etliche Male gebeten, seine Geschichte aufzuschreiben und mit anderen zu teilen. Eine Geschichte voll Schmerz, die in tiefen Abgründen spielt und doch wieder auf sonnigen Höhen. Die Geschichte eines Lebens, des Lebens von Max. Er hat bis heute zehn Jahre verloren, seine Würde, Freunde und viel Geld. Na und, der ist doch selbst schuld, niemand hat ihn gezwungen, sein Geld in Glückspiel zu investieren – so dachte ich würden die Leute denken, wenn ich berichte, was passiert ist. Doch heute möchte ich einen kleinen Blick auf sein Leben werfen. Max ist ein extremer Spieler, er hat lange Erfahrung in der Championsleague. An einem Tag über 1000 Euro zu verspielen war für ihn keine Seltenheit. Tausende zu gewinnen im Onlinecasino, um den Tag dennoch mit einem riesigen Minus zu beenden auch nicht. Automaten spielte er auch. Die gibt’s allerorts, in jeder Stadt verfügbar. So kam er auch in den Genuss Erfahrungen mit dem Übernachten in Bahnhöfen zu machen, weil er das Geld für das Hotel verspielte.

Mit diesen Worten möchte ich kein Mitleid erhaschen für meinen Freund. Ich möchte berichten. So subjektiv es geht und genauso nah an den Fakten wie es geht. In einer kurzen Geschichte erzähle ich von ihm.

Er sitzt an der Ecke vor meinem Supermarkt seit ich mich erinnern kann. Aufdringlich ist er nie. Er hält niemandem seine Hände entgegen, er bettelt niemanden direkt an. Er sitzt nur stumm da und starrt auf seine Schüssel mit den paar Münzen, die vor ihm liegt. Manchmal sehe ich ihn im Stadtpark dösen. Seine Kleidung ist verwaschen und alt, aber sauber. Seine Augen unter dem verfilzten blonden Haar strahlen Intelligenz aus. Manchmal trinkt er ein Bier. Betrunken habe ich ihn noch nie gesehen. In der Stadt ist er als höflich und zurückhaltend bekannt. Es wird sich erzählt, dass er früher ein Appartement in der schicksten Gegend der Stadt bewohnt hat. Dass er einen Z3 fuhr. Neulich wollte ich ihm was Gutes tun und lud ihn zum Essen in ein schickes Restaurant ein. Erst lehnte er ab und meinte, das bereite ihm ein schlechtes Gewissen. Doch als ich ihm mit den Leckereien, die er zu erwarten hatte, den Mund wässrig gemacht hatte, willigte er ein. Ich muss schon zugeben, dass ich in erster Linie neugierig war, wie ein solcher Mensch auf der Straße landen kann. Er sträubte sich zuerst, mir etwas zu erzählen. Doch nach dem Dessert faltete er seine Hände, die Ellbogen auf dem Tisch aufgestützt sagte er: „Sie wollen wissen, wie ich in diese Situation gekommen bin. Nun gut, ich will es Ihnen erzählen“. Und dann erzählte er von der Vergangenheit. Er war Drucker bei einem kleinen Verlag. Wirklich viel Geld hat er nie verdient, aber es hat immer gut gereicht zum Leben. Außerdem erzählte er, gab es da noch eine andere Möglichkeit, an Geld zu kommen. Angefangen habe es am Geburtstag eines Arbeitskollegen, berichtete der Mann. Der Abend sei sehr spaßig gewesen. Und einiges an Geld sei auch dabei rumgekommen. Achttausend Euro hat Max an diesem Abend im Casino gewonnen. Genug, damit er wieder hinging.

Eine Zeitlang hatte Max jeden Monat im Schnitt immer das Doppelte gehabt als das, was auf seinem Lohnzettel stand. Dann kam der Absturz. Max ging plötzlich regelmäßig in Spielhallen, um an den Daddelautomaten sein Geld zu verprassen. Er meinte, es habe ihn entspannt. Bis er plötzlich merkte, dass nicht nur sein Gehalt, sondern auch sein Erspartes für dieses fragwürdige Hobby draufging. Da war es schon zu spät, sagte er. Der Spielteufel hatte seine Seele gefangen. Er konnte nicht mehr aufhören zu spielen, bis er kein Geld mehr hatte. Alles wurde geopfert. Sein Auto, seine teure Münzensammlung und schließlich auch noch seine Wohnung. Und heute, so schloss er die kurze, aber ergreifende Erzählung, heute sitze er auf der Straße. Ob er denn nie Hilfe in Anspruch genommen habe, wollte ich wissen. Ob er denn immer noch spiele. Ja, er spiele immer noch hin und wieder, selten zwar, aber er tue es noch. Und Hilfe könne ihm da keiner geben, wenn er es nicht selber tat, sagte Max. Nachdem wir das Lokal verlassen hatten, steckte ich ihm 100 Euro zu. Er nahm es an, seine Augen blitzen als er den Schein in den Händen hielt. Ich wusste nicht, dass ich damit weder ihm noch mir einen Gefallen getan hatte. Die nächsten Wochen sah ich ihn nicht mehr vor dem Supermarkt. Ich dachte, er könne von dem Geld, was ich ihm gab, leben und habe es daher nicht mehr nötig, zu betteln. In Wahrheit hatte er aus den 100 Euro vierhundert gemacht. Dann hat er sich ein Sakko ausgeliehen und ist ins Casino gefahren. Dort machte er aus den vierhundert neuntausend Euro.

Max stand zitternd vor dem blinkenden Münzengrab. Die Maschine musste weiter rotieren. „Endlich den Verlust wettmachen“, kein weiterer Gedanke steckte in seinem Gehirn. Der Spieler neben ihm hatte soeben 230 Euro gewonnen. Verzweiflung stand in sein Gesicht geschrieben, nervös fingerte er eine Zigarette aus seiner Schachtel. Sein Vorrat an Münzen war fast aufgebraucht. Er wechselte nochmals zwanzig Euro. Genau wusste er nicht mehr, wie viel er umgetauscht hatte. Die Summe belief sich auf 380 Euro. Sechs Euro mehr als seinen Verlust hatte Max monatlich zur Verfügung. Er wollte nicht aufhören, daran zu glauben, jeden Moment den Jackpot knacken zu können. Wie sich Max wünschte, die Zeit um lumpige zwei Stunden zurückdrehen zu können. Zu dem Moment, in dem er sich entschloss, fünf Euro einzusetzen. Als er den Spielsalon verließ, schwindelte ihm. Rastlos irrte er durch die Stadt. Angsterfüllt überlegte er, wo er auf die Schnelle Geld herbekäme. Sein Magen rumorte. Er hatte noch nichts gegessen und keine Lebensmittel mehr im Kühlschrank.

Da fiel sein Blick zu einem Zwei-Euro-Stück, das auf dem Boden lag. „Ein paar Brötchen, den Rest des Monats Hunger oder die Chance auf einen prall gefüllten Kühlschrank“, schoss ihm durch den Kopf. Er entschied sich zu setzen. Er verlor.

Nervös irrte er durch die Stadt. Kaute an den Fingernägeln und rauchte eine seiner letzten Zigaretten. Sein Mund war schon fast abgetötet vom Rauch.

Dann traf er mich und wir gingen essen.

Er hatte tatsächlich Glück mit den 100 Euro, die ich ihm gab. 125 Sonderspiele. Beim ersten Spiel. Er drehte sich erst mal eine Zigarette. „Warum nicht gleich zu Anfang“, dachte er. Doch er hatte Glück, wie er empfand. Er würde zwar nicht den Einsatz wiederbekommen, aber er würde einen vollen Kühlschrank haben. Nebenher spielte er noch an zwei weiteren Automaten. Am ersten knackte er den Jackpot, beim zweiten drückte er 50 Spiele. Er frohlockte. Ich weinte – innerlich und leise.

Stadtführung im Knast

Die Stadtführung in dieser Woche ging in die Justizvollzugsanstalt der kleinen Stadt, die einen Einblick in die Knast-Strukturen geben wollte. Mit ambivalenten Gefühlen ging ich hin. Doch der Besuch hat sich gelohnt. Zum einen ermöglichte er eine kleine Charakterstudie über die Machtstrukturen im Gefängnis. „Ich hab erst mal eine geknallt gekriegt, als ich das erste Mal mit meinem Zimmergenossen allein in der Zelle war“, wurde mir berichtet. Jedenfalls begann der Tag im Knast mit einer Messe. Die Gefangenen richteten sich dabei nach ihrem mutmaßlichen Leitwolf, ein im Vergleich nicht sonderlich muskulöser, eher drahtiger Mann. Stand er auf, folgten die anderen, fing er an die Musik zu beklatschen, taten es die restlichen Männer auch. Was mich aber viel mehr beschäftigte, war die Frage, wie das Älterwerden hinter Gittern funktioniert, das krank und hilfsbedürftig sein. Ich meine nicht die medizinische Versorgung auf der Krankenstation, sondern das alltägliche Leben mit krummem Buckel und schwacher Brust zwischen Mauern und Stacheldraht.

„Man kriegt hier alles, von Heroin bis Handy“, sagte einer der Angestellten. Gesundheit jedoch kann man sich nicht kaufen, „Medikamente schon“, sagte der Priester in seiner Predigt. Kurz zuvor hatten die Gottesdienstbesucher eines Gefangenen gedacht, der an einem Asthmaanfall starb. Im Gefängnis gibt’s meiner kurzen Beobachtung nach kaum echte Freundschaft, aber „Bekannte kann man sich kaufen“, so der Priester. Mit ihren langen grauen Zöpfen und verwaschenen Tätowierungen saßen die Alten unter den Gefangenen wie Relikte aus einer vergangenen Zeit zwischen den jungen, strammen Vertretern der neuen Unterwelt mit Gel in den Haaren und Oberarmen so dick wie Kinderschenkel. Laut Aussage eines Mannes mit Knasterfahrung überlebt hier, zumindest psychisch, nur, wer genügend Geld und körperliches Durchsetzungsvermögen hat. Ein wenig hilft den Verbrechern, wenn Bürger sich ihrer annehmen und Freizeit mit ihnen verbringen. Und wer weiß, vielleicht erleichtert das zumindest einigen der 700 Häftlinge in dieser Stadt, um die es geht, nach der Entlassung am Leben der Gesellschaft teilzunehme

Eine Betrachtung zum Thema Glücksspiel

Geld ist die Droge. „Ich ordnete alles dem Spiel unter. Ich hatte mich aus dem Leben zurückgezogen, ließ alles schleifen“, berichtet Michael Park aus Busdorf (Name geändert). Der junge Mann ist zum Zeitpunkt der Recherche einer von geschätzten 2000 pathologischen Spielern in Schleswig-Holstein.

Der Gedanke, sich zu töten, war da. Park sah keinen Ausweg mehr. Seit er 12 Jahre alt war, nagt der Spielteufel an ihm. Der Metallbauer verlor seine Arbeit. Die Freundin, mit der er acht Jahre zusammen war, verließ ihn. „Im Nachhinein ist das gut gewesen. Das hat mir die Augen geöffnet, wie tief ich gesunken bin“, sagt er. Zur Zeit unseres Gesprächs machte er eine Therapie in der Fachklinik Bredstedt: „Die Arbeit fängt nach der Entlassung an. Ich werde die nächsten Jahre sicher nicht für voll genommen, das Vertrauen muss ich mir erst wieder verdienen.“ Der Suchtdruck kann jederzeit zurückkommen. So wie 2006, als sein Vater starb. Zwei Jahre war er da schon spielfrei. Er verlor wieder die Kontrolle. „Wenn sich der Automat dreht, sind alle Sorgen und Nöte vergessen“, sagt Michael Park.