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Clover hat nach der Pleite mit ihrem besten Freund fürs Erste genug von Männern und der Liebe. Sie möchte sich vollkommen auf ihr Studium der Tiermedizin konzentrieren. Ihre Cousine hat allerdings andere Pläne und verdonnert Clover dazu, gemeinsam mit dem Informatikstudenten Austin an einem Artikel über das Tierheim zu arbeiten. Austin und Clover retten zusammen einen Welpen vor dem sicheren Kältetod und stellen fest, dass sie mehr als nur die Arbeit für die Campuszeitung verbindet. Trotz der starken Anziehungskraft müssen beide zunächst in ihrem Leben aufräumen und ehrlich zu sich selbst sein. Doch eine gemeinsame Gegenwart rückt in weite Ferne, denn im Hintergrund agiert eine unbekannte Macht, die ein Geheimnis nach dem anderen aufdeckt …
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Maddie Sage
Barley Mill University
Clover & Austin
(Barley-Mill-University 2)
Barley Mill – Unsteady
© 2024 VAJONA Verlag GmbH
Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Vanessa Lipinski
Korrektorat: Aileen Dawe-Hennigs und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter Verwendung von
selbstgezeichneten Motiven von Diana Gus
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für alle, die ihre Herzen an Tiere
verschenkt haben.
Lerne loszulassen.
Das ist der Schlüssel zum Glück.
Buddha
Sechs lange Monate verfolge ich diese Leute nun schon, mache mir etliche Notizen, fülle meine Pinnwand mit Ideen und komme doch immer nur in Sackgassen an. Harper und Brooks haben mich nicht weitergebracht. Ebenso wenig wie die sechs anderen Studierenden, die ich in den letzten Wochen beobachtet habe. Alle Seilenden, nach denen ich greife, sind lose, anstatt mich sicher ans Ufer der Wahrheit zu bringen. Immer noch schwimme ich in diesem Meer aus Lügen und Intrigen.
Aber es nützt nichts. Egal wie sehr ich das Gefühl habe, stets auf der Stelle zu treten – ich werde nicht aufgeben. Jetzt fange ich erst richtig an. Ich werde tiefer graben, mich festbeißen und endlich herausfinden, was hinter Schloss und Riegel steckt.
Ich bin es mir schuldig.
»Ich hasse den Januar.«
Mein Blick wandert aus dem Fenster der Straßenbahn. Es ist bereits dunkel, im Licht der Laternen lassen sich hin und wieder Hausfassaden oder kahle Bäume ausmachen. Alle paar Minuten hält die Bahn an und da ich nur noch einen Stehplatz bekommen habe, weht mir jedes Mal die eisige Luft entgegen, sobald sich die Türen öffnen.
»Reg dich nicht so auf, Schätzchen.« Moms Stimme klingt beruhigend und ich wünschte, ihre Worte würden mir helfen, den Tag nicht am liebsten aus dem Kalender zu streichen. Im Hintergrund höre ich, wie sie etwas brutzelt. Vielleicht den neuen Grillkäse, den ich ihr an Weihnachten gezeigt habe.
»Wenn das nur so einfach wäre«, brumme ich und nehme das Handy in die andere Hand.
»Was ist denn passiert?«
Draußen ist es so verflucht kalt, dass ich nicht einmal meinen gefütterten Ledermantel anziehen kann, ohne darin zu zittern. Deswegen trage ich eine unförmige Daunenjacke, in der ich ungefähr so aussehe wie das Michelin-Männchen in Dessous. Aber das ist nichts, worüber ich mich bei meiner Mom beschweren würde. Da gibt es leider noch einen ganz anderen Grund.
»Ach, es ist jedes Jahr das Gleiche. Du weißt doch, warum ich den Januar hasse.« Ein Seufzen entflieht mir. »Weil er bedeutet, dass etliche Tiere auf die Straße gesetzt oder ins Tierheim gebracht werden, da irgendwelche Idioten es für eine gute Idee hielten, ein Haustier unter dem geschmückten Tannenbaum zu platzieren. Mit einer großen Schleife auf dem Kopf und in einem dämlichen Weihnachtsmannkostüm. Nach den Feiertagen fällt ihnen dann auf, dass sie weder Zeit noch Geduld haben, sich um ein echtes Lebewesen zu kümmern.«
Denn das sind diese Geschenke nun einmal: Vierbeiner mit Herz. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb jemand ein Tier verschenkt, ohne darüber nachzudenken, was das für Konsequenzen mit sich zieht. Tiere bedeuten Arbeit und dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man sich eines anschafft. Sie kosten Geld und als kleine Welpen oder Kätzchen enorm viele Nerven.
»So ein Quatsch«, stimmt meine Mutter mir zu.
»Allein heute musste ich deswegen eine Extraschicht im Tierheim schieben. Wir haben etliche Neuzugänge bekommen.«
Viele davon – wie der Golden Retriever oder die gescheckte Katze – werden rasch ein neues Zuhause finden, da diese Tiere beliebt sind. Anderen – wie dem ängstlichen Zwergspitz oder dem zickigen hellen Kater – wird es nicht vergönnt sein, so schnell eine neue Bleibe zu finden.
»Sieben Tiere heute Vormittag.« Ich erinnere mich an die Kulleraugen der Hunde. »Im Laufe des Nachmittags erreichten uns noch drei weitere Hunde und ein Kater. Dann waren unsere Kapazitäten ausgeschöpft.«
»Ich will gar nicht wissen, was mit den Tieren geschieht, die keinen Platz mehr in einem Tierheim oder einer Tierpension finden, weil es zu viele gibt, die nach den Feiertagen abgeschoben werden.« Mom hört sich so betrübt an, wie ich mich fühle.
»Am liebsten würde ich alle bei mir aufnehmen, aber dann würde Harper vermutlich einen hysterischen Anfall bekommen.«
Hin und wieder einen Hund bei uns zu haben, fände sie in Ordnung, aber ständig von Katzen und Hunden umschwirrt zu werden, ist ihr dann doch zu viel. Und natürlich könnten wir einem Stall voller Tiere nicht gerecht werden, das ist mir auch bewusst. Meine Cousine und ich sind wegen der Uni oder Arbeit fast den ganzen Tag unterwegs, da wird es schwer, einem Hund genügend Aufmerksamkeit zu schenken.
Trotzdem wäre es schön, ein paar Vierbeiner in unserer Wohnung herumlaufen zu haben. Aber da muss ich mich wohl mit dem Tierheim zufriedengeben. Zumindest vorerst. Irgendwann, wenn ich ein Haus mit Garten habe, adoptiere ich vermutlich jede Woche einen weiteren Hund, den sein alter Besitzer nicht mehr lieb hat.
»Ich muss leider auflegen, Schätzchen. Aber wir telefonieren die Tage noch mal, ja?« Das Brutzeln ist verklungen und ich höre das Klappern von Geschirr. »Grüß Harper von mir und lass dich nicht zu sehr von dem miesen Tag runterziehen, okay? Hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Mom. Bis dann.«
Die Gedanken an die Tiere lassen mich nach Beenden des Gesprächs allerdings noch lange nicht los. Am schlimmsten trifft es diejenigen, die von ihren ursprünglichen Herrchen oder Frauchen gequält wurden. Eine Bindung zu ihnen aufzubauen, ist mit das Schwerste an der Arbeit im Tierheim. Viele von ihnen werden niemals ein normales Leben führen können, doch die meisten bekommen eines Tages eine zweite Chance. Mit viel Geduld, Ruhe und Zuneigung ist es mir inzwischen bei einigen Tieren gelungen, zu ihnen durchzudringen.
Seit ich in Mortens Heim arbeite, sind Hunde für mich die Krone der Schöpfung geworden. Menschen haben diese plüschigen, tollpatschigen Wesen nicht verdient, denn Hunde geben einem das, wozu die meisten Leute nicht in der Lage sind: bedingungslose Liebe. Hunde sehen nicht, ob man Geld hat, wie beliebt man auf Instagram ist oder was man im Leben erreicht hat. Hunde schenken einem die Aufmerksamkeit, die man an seinen dunkelsten Tagen braucht, um wieder das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Hunde gehen nicht voreingenommen auf einen zu, sondern überhäufen einen sofort mit ungebändigter Liebe. Menschen haben Hunde nicht verdient – zumindest nicht diese Menschen, die sich einen Spaß daraus machen, ihre Zigaretten an wehrlosen Geschöpfen auszudrücken. Die, die sich darüber lustig machen, wenn ein Hund Wodka aus seinem Napf trinkt und dabei beinahe draufgeht. Diese Menschen haben die reine ungezügelte Liebe von Hunden oder anderen Tieren definitiv nicht verdient.
An meiner Station steige ich mit schwerem Herzen aus der Bahn und biege nach ein paar Metern in unsere Straße ein. Zu allem Überfluss fängt es auch noch an zu schneien. Ich bin kurz davor, einen Schreikrampf zu bekommen, denn so hatte ich mir meinen ersten Tag zurück am Campus nach den Weihnachtsferien nicht vorgestellt.
Es fing schon heute Morgen damit an, dass die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt lagen, als ich zu meiner ersten Vorlesung gefahren bin. Unser Professor ging davon aus, wir hätten vertiefte Kenntnisse in Mikrobiologie und erzählte uns irgendeinen Mist über einzellige Algen sowie von kuriosen Urtierchen. Das einzig Kuriose an diesem Morgen war, dass auf seinen Folien ständig Bilder von Plankton waren, der bei Spongebob die Weltherrschaft an sich reißen wollte. Professor Grayson hat sich einen Ast abgelacht, als einer der Studierenden ihn darauf angesprochen hat und meinte, es wäre nicht unwahrscheinlich, dass die Intelligenz der Einzeller uns eines Tages überholen könnte.
Wie soll ein so winziges Plankton uns bitte mit einer selbst gebauten Atombombe niedermetzeln? Ich glaube, so was ist nur in Bikini Bottom möglich. Vermutlich hat Grayson sich mit Brooks ausgetauscht, der ständig irgendetwas von Spongebob erzählt, von dem niemand weiß, was er damit eigentlich sagen will. Außer Harper, die sich schlapp lacht und sofort weiß, aus welcher Folge das Zitat stammt, da sie ständig gezwungen wird, mit Brooks und ihrem Bruder Trevor dem gelben Schwamm bei seinen Abenteuern zuzuschauen. Fehlt nur noch, dass sie demnächst alle drei zum Quallenfischen aufbrechen.
Eigentlich war ich abends mit Will, Hudson und Jayden im Mill Grill verabredet, was ich aber absagen musste, da die Schicht im Tierheim dazwischengekommen ist. Es ist seit zwei Jahren zu unserem Ritual geworden, dass wir uns am ersten Tag nach den Ferien zum Burgeressen treffen und uns über die Zeit zu Hause unterhalten.
Wenigstens kann ich gleich mit Harper über ihre Ferien reden. Zwar haben wir über die Feiertage geschrieben, aber persönlich zu sprechen, ist doch immer noch etwas anderes. Vor allem, weil es bei meiner Cousine das erste Weihnachtsfest nur mit ihrem Dad und ihrem Bruder war, nachdem sie sich vor ein paar Wochen mit ihrer Mom zerstritten hatte.
Ich biege in die Einfahrt unserer Wohnung ein und gleite über eine spiegelglatte Fläche. Mit Mühe kann ich mich auf die Mauer retten, ohne dass ich mich auf die Nase lege. Ich beiße die Zähne aufeinander, um nicht doch noch laut loszuschreien. Dieser Tag ist echt für die Tonne.
Wie gesagt, ich hasse den Winter. Ich hasse die Kälte und bin froh, wenn endlich wieder Sommer ist. Für die eisige Jahreszeit bin ich nicht gemacht. Dafür liebe ich Trägertops und Hotpants viel zu sehr.
Zwar kann man unter Shorts auch Strumpfhosen tragen, aber das ist bei minus vier Grad Celsius nicht gerade die genialste Lösung. Selbst ich habe eine Grenze, bei der ich meine Netzstrumpfhose im Schrank lasse und eine schwarze Jeans anziehe. Und die liegt nun einmal unter dem Gefrierpunkt.
Glücklicherweise haben meine Doc Martens eine robuste Sohle und so schaffe ich es ohne weitere Zwischenfälle bis zur Haustür. Ich schließe auf und schleppe mich mit müden Beinen die Treppe in den ersten Stock hinauf.
Diese Wohnung war vor ein paar Monaten wirklich ein Glücksfall und ich bin Großtante Judith nach wie vor dankbar dafür, dass sie Harper und mir diese Bude hinterlassen hat. Zwar ist das ältere Ehepaar, das im Erdgeschoss wohnt, ein wenig anstrengend, wenn es um Mülltrennung oder Lärm am Wochenende geht, aber sie haben sich langsam mit uns arrangiert. Schließlich geben wir nicht oft einen Grund dafür, dass sie sich über uns beschweren müssten.
Mein Schlüssel knackt im Schloss und die Tür schwingt auf. Ich entdecke sofort die Klamotten auf dem Boden im Flur und verhindere ein Stöhnen. Das überlasse ich lieber Harper, die leider nicht sehr leise dabei ist. Liegt wohl in der Familie.
Sie hat mich vor ein paar Wochen gewarnt, sie würde sich irgendwann dafür rächen, dass sie nie schlafen konnte, als Will häufiger mal hier war und wir was miteinander hatten.
Zwei Monate ohne Sex ist schon hart, insbesondere wenn man nebenan ein Pärchen hat, das viel zu scharf aufeinander ist und jede Sekunde nutzt, um miteinander in die Kiste zu hopsen. Diese Turtelei halte ich nicht mehr lange aus. Auch wenn ich gerade erst aus den Ferien zurück bin, gehen sie mir jetzt schon auf den Wecker. Können die beiden nicht bitte Hudson nerven?
Ich gehe slalommäßig um die am Boden liegenden Kleidungsstücke herum, da ich es nicht einsehe, ihre Sachen aufzuheben, wenn sie es nicht einsehen, sich erst in Harpers Zimmer die Klamotten vom Leib zu reißen.
Geräuschvoll lasse ich die Tür ins Schloss fallen und poltere ein bisschen herum, wovon sich die beiden scheinbar nicht beirren lassen.
Ich ächze und schlüpfe endlich aus meiner dicken Jacke, die ich an die Garderobe hänge. Dabei fällt mein Blick in den Spiegel, der über der Kommode hängt, auf die Harper eilig ihren Autoschlüssel geworfen hat und auf der ihr verdammter Spitzen-BH liegt. Ich hoffe sehr für die beiden, dass sie es nicht auf diesem Möbelstück getrieben haben. Denn falls doch, würde ich keine Sekunde zögern und es mit Spiritus zu übergießen, um mir an den berstenden Flammen anschließend die Hände zu wärmen.
Meine Reflexion sieht abgekämpft aus. Die Schatten unter meinen Augen sind dunkel und meine rosa Löckchen von dem Schnee draußen völlig plattgedrückt. Ich muss unbedingt einen Termin bei Fred machen, bevor mein brauner Ansatz wieder hervorkommt. Die Sommersprossen auf meinen geröteten Wangen sind das Einzige, was mich an wärmere Temperaturen erinnert.
Mein Septum hat sich über Silvester entzündet und ich musste eine eklige Salbe auftragen, die nach Anis gestunken hat. Bis ich es wieder einsetzen kann, werde ich sicher noch zwei Wochen warten müssen. Wenigstens die Piercings an meinen Ohren haben mich nicht im Stich gelassen und funkeln unter meinem Haar hervor.
Müde streife ich die Schuhe ab und husche eilig in die Küche, um diesem sexuellen Krisenherd zu entkommen. Wenn ich mir das weiter anhören würde, würde sich mein Vorsatz, nicht mehr mit Will zu vögeln, vermutlich sofort ins Nichts auflösen. Dabei habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen, mich nicht mehr auf die Freundschaft Plus mit ihm einzulassen, weil mir das absolut nicht gutgetan hat. Und alles, was mir nicht guttut, kann gern eine Meile Abstand von mir halten. Wobei das bei Will und einer gemeinsamen Clique nicht unbedingt leicht umzusetzen ist.
In der Küche suche ich den Kühlschrank nach etwas Essbarem ab und bin enttäuscht, dass weder Harper noch ich daran gedacht haben, einzukaufen. Schon blöd, wenn man mit knurrendem Magen nach Hause kommt, von seinen Mitbewohnern belästigt wird und dann auch noch nichts zu essen im Haus hat. Selbst in den Hängeschränken finde ich nichts, was mich anspricht. Die letzte Möglichkeit, der Schrank über der Spüle, enttäuscht mich ebenfalls.
Warte, was ist das?
Ich räume die Schüsseln beiseite und krame die Müslipackung hervor. Eine riesige Schachtel Lucky Charms in Form von Einhörnern lacht mich gehässig an. Essen in Tierform finde ich ziemlich verwerflich. Das habe ich Harper schon mal gesagt, als sie diese gruselige Puddingbiene kaufen wollte.
Bunte Einhornköpfe sind definitiv zu viel des Guten.
Dieser Tag zeigt mir immer deutlicher seinen Mittelfinger und ich frage mich, warum mir das Leben heute so schwer gemacht wird.
»Mayday, Mayday. Rückzug, Clover hat die Lucky Charms entdeckt«, ruft Brooks mit Roboterstimme in den Flur.
»Oh, Mist, die habe ich doch extra gut versteckt.« Harper erscheint hinter ihm und verzieht das Gesicht. Ihre hellbraunen Haare sind zerzaust und sie hat diesen verklärten Blick drauf, auf den ich ein klein wenig neidisch bin. Auch wenn das vielleicht gruselig klingt.
Ich lasse mich auf einen Hocker sinken und stütze die Ellenbogen auf der Kochinsel ab. »Klappe, Tanner.«
»Aye aye, Ma’am.« Brooks grinst mich schief an, dann gleitet sein Blick zurück zu Harper. »Sorry, aber du musst die Standpauke deiner Cousine allein ertragen. Ich habe leider Training.«
»Kann ich nicht mitkommen?«, quengelt Harper und zwinkert mir dabei zu.
Manchmal habe ich das Gefühl, die beiden werden zu ein und derselben Person. Seit sie so viel Zeit miteinander verbringen, haben sie etliche Marotten des anderen übernommen. Unter anderem zwinkert Harper inzwischen genauso sexuell angehaucht wie er. Womöglich bilde ich mir das auch nur ein, weil ich endlich mal wieder ein bisschen Erotik in meinem Alltag brauche. Da reichen die heißen Romane einfach nicht mehr. Nur leider habe ich momentan nicht die Zeit dafür, mich um eine Beziehung zu kümmern. Und dass ich nicht für dieses Ding mit der Freundschaft Plus ohne Gefühle gemacht bin, hat mir das Intermezzo mit Will deutlich gezeigt. Also bleibt es vorerst wohl doch bei meiner Fantasie.
Brooks beugt sich zu seiner Freundin und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. Sie schauen sich so lange verträumt in die Augen, dass ich mich dabei unangenehm fühle und widerwillig die Einhornköpfe studiere.
»Bis später, Clover«, trällert mein Kumpel, woraufhin ich ihm nur müde den Mittelfinger entgegenstrecke.
Er schnaubt und schüttelt belustigt den Kopf. Klasse, wenn er nachher wieder hier aufschlägt, bedeutet das, der große Vögelmarathon geht in die nächste Runde. Ich schreibe Ohrstöpsel auf meine imaginäre Einkaufsliste. Anders werde ich das nicht durchstehen. Nicht nach diesem misslungenen Start ins neue Jahr.
Nachdem die Haustür hinter Brooks ins Schloss gefallen ist, setzt sich Harper neben mich. Sie greift nach der Müslipackung und dreht sie in ihren Händen.
»Bist du sauer? Einhörner sind genau genommen keine echten Tiere. Über die Darstellung von Fabelwesen in Form von Essen haben wir nie gesprochen.«
Meine Mundwinkel zucken.
Gott, was habe ich diese Gespräche mit ihr über die Feiertage vermisst.
»Sagen wir, es ist eine Grauzone. Diesmal lasse ich dich mit einer Verwarnung davonkommen.«
»Puh, Glück gehabt.« Sie atmet hörbar aus. »Wie war dein erster Tag?«
»Wo soll ich da anfangen?«
Harper zuckt mit den Schultern und friemelt weiter an der Verpackung herum. »Bei heute Morgen vielleicht?«
Tja, wenn sie es hören will. Selbst schuld.
Also kotze ich mich bei ihr über meinen miserablen Tag aus. Ich verschweige kein Detail, sondern erzähle ihr auch von meiner Sehnsucht nach Nähe zu einem anderen menschlichen Wesen. Vorzugsweise die Nähe zu einem Kerl, den ich ungefähr so interessant finde wie Will. Am besten jemanden, den ich noch spannender als ihn finde, damit ich endlich über diesen Typen hinwegkomme. Er hätte nie mehr als nur ein Freund sein sollen. Die ganze Geschichte mit der Freundschaft Plus hat alles nur komplizierter gemacht. Und das nur, weil ich Gefühle für ihn entwickelt habe, von denen ich mir gewünscht hätte, sie abstellen zu können.
Wenigstens habe ich kurz vorm freien Fall die Reißleine gezogen. Schließlich lässt sich weniger Sex besser kompensieren als ein gebrochenes Herz, dessen Trümmer erst einmal wieder zusammengesetzt werden müssen. Auch dafür hätte ich zurzeit keinen Nerv. Zunächst werde ich mich um die heimatlosen Tiere kümmern und mich erst anschließend wieder meiner Libido zuwenden.
»Man kann deine Gedanken lesen, Cousinchen. Wenn du so grimmig und gleichzeitig wehmütig guckst, denkst du an Will. Habe ich recht?«
Ich verdrehe die Augen. Wann bin ich zu einem Buch geworden, in dem andere mühelos lesen können? Oder ist das nur bei Harper so, weil wir zusammenwohnen und miteinander verwandt sind?
»Kann schon sein«, murmle ich, wobei ich den Einhörnern einen finsteren Blick schenke. Den Hype um diese pinken, glitzernden Regenbogenpferde konnte ich nie nachvollziehen.
Das Einzige, was in meinem Leben pink ist, sind meine Haare. Und das reicht mir allemal. Da können die Einhörner bleiben, wo der Pfeffer wächst. Dann lieber Hunde.
»Möchtest du darüber reden?«
Harper ist viel zu verständnisvoll und kitzelt ständig Worte aus mir heraus, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie meine momentane Gefühlswelt beschreiben können.
»Es ist nur nicht gerade leicht, Brooks und dir dabei zuzuschauen, wie glücklich ihr seid, wenn ich so was wie eine einseitige Trennung hinter mir habe. Versteh mich nicht falsch, ich freue mich riesig für euch und ihr seid perfekt füreinander, aber … Keine Ahnung, ich glaube, ich bin irgendwie neidisch auf das, was ihr habt.«
Heilige Scheiße, jetzt ist es raus.
Der Gesichtsausdruck meiner Cousine verändert sich sekündlich von mitleidig über schmerzverzerrt zu ungläubig. Schließlich entscheiden sich ihre Züge dafür, einen wilden Mix aus allem darzustellen, und ich muss beinahe lachen. Aber eben nur beinahe.
»Oh, Clovie, das tut mir leid«, beteuert sie und wirft sich mir um den Hals.
»Clovie?«
»Das Gegenstück zu Harpie.«
»Ich reiße Brooks die Eier ab.«
Sie kichert verlegen. »Bitte nicht.«
»Dieser Typ macht mich fertig. Wie hältst du das den ganzen Tag mit ihm aus? Ich hätte ihn schon längst um die Ecke gebracht.« Ich schüttle mit dem Kopf, denn ich kann mir nicht vorstellen, wie man Brooks allein mehr als eine Stunde erträgt. So viel geballte gute Laune kann nicht gesund sein.
»Willst du das wirklich wissen?« Harper wackelt mit den Augenbrauen und blinzelt mir übertrieben zu.
»Besser nicht, sonst schlafe ich schlecht.« Das Grinsen auf meinen Lippen fühlt sich echt an und ich bin unsagbar froh, sie nach so vielen Jahren zurück in meinem Leben zu wissen. Eine kleine Ewigkeit lang hat sie nicht mehr in Barley Mill gewohnt, wobei wir bis zur Grundschule fast jeden Tag miteinander verbracht haben.
Sie löst sich von mir und steht auf. Vor dem Schrank über der Spüle bleibt sie stehen, um nach ganz hinten zu greifen. Ungefähr an die Stelle, an der ich zuvor die Lucky Charms entdeckt habe. Hervor zaubert sie ein kleines Einmachglas, das ich nur allzu gut wiedererkenne.
Wir haben es kurz nach Thanksgiving zusammen gebastelt, als ich einen schwachen Moment hatte und nach einer Party mit Will im Bett landete. Ich bin nicht stolz darauf und ärgere mich schrecklich darüber. Harper hat mein Selbstmitleid nicht länger mitansehen wollen und mir ein Strafglas vor die Nase gestellt.
Jedes-Mal-hundert-Dollar-wenn-ich-wieder-mit-ihm-in-die-Kiste-springe–Glas, steht dort schwarz auf weiß in Harpers geschmeidiger Handschrift.
Und einhundert Dollar sind wirklich nicht wenig Geld. In seliger Weinlaune haben wir uns dazu entschieden, die Strafe so hoch oben anzusiedeln, damit ich ja nicht auf die Idee komme, mich erneut auf ihn einzulassen. Daher überlege ich es mir inzwischen dreimal, ob ich mich nicht zusammenreißen kann. Und bisher fahre ich damit ganz gut.
»Dieses Glas platzieren wir jetzt hier auf Augenhöhe.« Sie stellte es in unser Gewürzregal. »Damit es auch wehtut, wenn du die Hundert-Dollar-Scheine siehst, die du für Sex verbraten hast.«
»Die Sache ist aber, dass ich nicht vorhabe, Geld in dieses Glas zu stecken, von dem du dir dann noch mehr von den Einhorndingern kaufen wirst.« Ich klinge entschlossener, als ich es bin. Gegen eine Wagenladung Lucky Charms in Fabelwesenform ist doch nichts einzuwenden, oder?
»Denk nicht mal dran. Du schleichst nicht noch ein Wochenende wie von einem Dämon besessen durch die Wohnung und bestellst dir einen Keuschheitsgürtel. Weißt du, wie peinlich es war, das Paket entgegenzunehmen? Ich wusste nicht mal, dass es so was in einem Onlineshop gibt.«
»Das war ein Scherzartikel«, erwidere ich mit unschuldiger Miene.
Harper verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich habe nicht gelacht.«
»Aber Brooks schon, oder?«
»Er ist eben leicht zu begeistern.« Sie hebt die Achseln und lächelt. »Ach, übrigens haben wir dir einen Avocadoburger aus dem Grill mitgebracht. Er ist in der Mikrowelle.«
Mir fällt die Kinnlade herunter, gleichzeitig läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Der Foodporn spielt sich also hinter dem Glas der Mikrowelle ab. Der einzige Ort, an dem ich vorhin nicht nachgesehen habe. »Das sagst du mir erst jetzt? Ich sterbe vor Hunger.«
Ich springe auf und entdecke den Burger, der auf einem Teller liegt, von dem aus er mich lüstern anschaut und dem ich ungeniert schöne Augen mache. Das hier ist definitiv besser als Sex.
Rasch stelle ich die Mikrowelle an und mir wird warm ums Herz. »Harpie, du bist die beste Cousine der Welt.«
»Weiß ich doch, Clovie.«
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. »An dem Spitznamen arbeiten wir noch, ja?«
»Von mir aus.« Harpers blaue Augen leuchten diabolisch auf, was bedeutet, dass sie damit gar nicht einverstanden ist.
Ich lächle, während ich meinem Burger dabei zuschaue, wie er Runde um Runde für mich dreht und mich damit wahnsinnig macht. »Aber jetzt erzähl mir erst mal von deinem Weihnachten und Silvester. Was sagst du eigentlich zu meinem Geschenk?«
»Reisen macht einen bescheiden. Man erkennt, welch kleinen Platz man in der Welt besetzt.«
Bei meinen Worten rollt Scarlett mit den Augen. Ihre blonden Haare hat sie zu einem unordentlichen Dutt gebunden, über ihrer Schulter hängt Moms Reisetasche. Ich nehme ihr die dicke Ledertasche ab und wundere mich nicht zum ersten Mal darüber, was meine Mutter für essenzielles Handgepäck hält. Vermutlich hat sie wieder den halben Hausstand mitgenommen und Scar und mir fällt erst heute Abend auf, dass wir keine Zahnpasta mehr haben.
»Der Philosophiekurs bekommt dir nicht, Junge.« Mein Dad eilt die Treppe hinunter und klopft mir lachend auf die Schulter. »Die letzten drei Wochen hast du uns ganz schön viele Zitate um die Ohren gehauen und dein alter Herr hat nur die Hälfte von dem verstanden, was du uns sagen wolltest.«
Ich nehme den sperrigen Koffer entgegen, den er in der Hektik heute früh erst packte, wofür er von Mom nur einen genervten Blick kassierte. Dem Gewicht nach zu urteilen, werden sie ziemlich sicher für Übergepäck zahlen müssen.
»Gustave Flauberts Worte kann man aber nicht falsch verstehen, Dad. Hast du nicht das Gefühl, dein Leben ist nur ein winziger Hauch verglichen mit der Vielzahl an Menschen, die auf diesem Planeten leben und schon gelebt haben? Wie groß die Welt ist und wie wenig man letztlich im Laufe seines Daseins davon erkunden kann?«
»Hörst du dir eigentlich selbst zu, Austin? Seit wann bist du zum spießigen Professor mutiert?«, wettert meine Schwester grinsend und zeigt mir einen Vogel. »Du bist ein wandelnder Widerspruch.«
»Nur weil ich mich neben der modernen Technik auch für die existenziellen Fragen des Lebens interessiere? Würde dir vielleicht auch guttun, Scar.«
»Sicher nicht, kleiner Bruder.«
Ich räuspere mich und sehe sie tadelnd an. Ständig hält sie mir vor, dass sie sechs Minuten älter ist als ich. »Vielleicht bist du der ältere Zwilling, aber dafür bin ich der hübschere von uns beiden.«
Dad lacht so kehlig, dass auf seinen Wangen die Grübchen zum Vorschein kommen und die Lachfalten sich unter seinen braunen Augen tief in die Haut graben.
Ich werde dieses Geräusch in unseren vier Wänden vermissen, wenn sie wieder auf Reisen gehen. Aber ich gönne ihnen, dass sie ihre durch den Ruhestand gewonnene Zeit mit einer Weltreise verbringen. Erst haben sie lange darauf gewartet, Kinder bekommen zu können. Als es dann gleich zwei auf einmal waren, hatten sie jahrelang alle Hände voll mit Scarlett und mir zu tun. Zweiundzwanzig Jahre später haben sie es sich redlich verdient, ihren eigenen Träumen und Wünschen nachzugehen. Wir sind in unserem Haus gut versorgt und halten alles in Schuss, so mussten Mom und Dad das Familiendomizil nicht verkaufen, als sie aufbrachen. Und wir konnten hier wohnen bleiben, ohne Miete für eine Studentenbude aufbringen zu müssen.
Zwar ist es meistens anstrengend, mit Scarlett zusammenzuleben, aber ich habe mich mit unserer WG-Situation langsam arrangiert. Zumindest haben wir inzwischen einen Putzplan aufgestellt, da ich es leid bin, hinter ihr her zu räumen.
Ich habe keinen Ordnungsfimmel und Staub hier und da ist mir auch kein Dorn im Auge, aber einigermaßen sauber sollte es zu Hause dann doch sein. Da Mom sich früher immer um den Haushalt gekümmert hat – die Rollenverteilung bei meinen Eltern war da ziemlich traditionell – und jetzt nicht mehr da ist, bleibt der Spaß an uns hängen. Irgendjemand muss es ja machen. Aber derjenige bin sicherlich nicht immer ich.
»Und ihr besucht Granny jede Woche, in Ordnung?« Mom kommt mit einer weiteren Tasche voll Proviant aus der Küche und betrachtet unseren kleinen Auflauf im Flur.
Ich weiß, dass meine Mutter ein schlechtes Gewissen hat, weil sie und Dad ihre Reisen machen, während meine Großmutter im Seniorenheim wohnt und meine Eltern sie nicht besuchen können. Doch Granny hat ihnen zu verstehen gegeben, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Sie sei dort in bester Gesellschaft und sicher hätte meine Mom keine Lust, jeden Mittwoch mit ihr Rommé zu spielen.
Seit einem halben Jahr wohnt sie inzwischen in dem Heim und scheint sich dort wirklich wohlzufühlen. Es ist kein richtiges Altersheim, sondern mehr so etwas wie ein betreutes Wohnen, wo sie ihre eigenen Räumlichkeiten hat und täglich jemand vorbeischaut, der ihr im Alltag hilft oder Medikamente bringt. Wir haben meine Großmutter nicht dorthin abgeschoben, stattdessen wollte sie nach dem Tod meines Großvaters vor etwas über einem Jahr nicht mehr allein in ihrem großen Haus wohnen und wir suchten nach einer günstigen, kleineren Alternative.
»Klar, dienstags geht Austin, donnerstags ich und am Sonntag sind wir meist zusammen da. Granny geht es dort bestens. Und sie freut sich, wenn wir euch einmal die Woche über FaceTime anrufen.«
Trotz Scarletts aufrichtigem Lächeln scheint Mom nicht wirklich überzeugt. Sie seufzt und legt die in Frischhaltefolie gehüllten Sandwiches sowie die Brotdose mit den geschnittenen Apfelstücken in den Jutebeutel, den sie sich über die Schulter geschwungen hat. Unweigerlich frage ich mich, wie sie all die Taschen transportieren wird. Eine fürs Handgepäck, eine mit Proviant und dann ist da noch Dads riesiger Rucksack.
»Diesmal sind wir ja auch nicht so lange weg wie vorher. Anfang Mai kommen wir zu Grandmas Geburtstag zurück, dann wird sie sich freuen«, bekräftigt Mom sich selbst. Das blonde Haar trägt sie wie Scarlett zu einem lässigen Dutt zusammengebunden, wobei ihrer weiter im Nacken sitzt als der meiner Schwester, der mitten auf ihrem Kopf prangt und halb auseinanderfällt.
»Ganz sicher wird sie sich freuen.« Ich nehme Mom den Beutel ab und bedeute Dad, die Haustür zu öffnen. Scarlett wird unsere Eltern zum Flughafen fahren, da ich gleich meine erste Vorlesung nach dem Jahreswechsel habe. Bei meiner Schwester fängt die Uni erst heute Nachmittag an, daher hat sie sich breitschlagen lassen, die beiden zu bringen.
Dad und ich verfrachten das Gepäck zum Van. Er prügelt die Koffer umständlich hinten in den Wagen und platziert die Taschen in alter Tetrismanier irgendwie dazwischen.
Dann klopft mein Vater mir auf die Schulter und sieht mich ernst an. »Pass auf deine Schwester auf.«
»Mach ich doch immer.«
Und das tue ich wirklich. Niemand außer meinen Eltern liegt mir so sehr am Herzen wie sie.
»Weiß ich doch, Kleiner.« Dass ich inzwischen fünf Zentimeter größer bin als er, schert ihn kein bisschen. »Wir sind stolz auf euch beide. Macht weiter so.«
»Danke, Dad, das tut gut, zu hören.« Ich erwidere die Umarmung, in die er mich zieht und bei der er mir sanft auf den oberen Rücken klopft.
»Ich vermisse meine Babys jetzt schon«, wimmert Mom, die zwischen Scarlett und mir hin- und herschaut. Sie schiebt die Unterlippe vor, dann legt sie die Arme um uns und bettet ihren Kopf an meiner Schulter. »Macht ja keinen Blödsinn, ihr beiden, sonst fliegen wir sofort zurück.«
Ich streiche ihr über den Arm und sauge ihren vertrauten Duft nach Kindheit und Zuhause ein. Am liebsten würde ich sie hierbehalten, aber ich weiß, dass die beiden sich auf ihr Abenteuer gefreut haben. »Genießt ihr erst mal die Zeit in Südamerika.«
»Wir schicken euch von jedem Ort eine Postkarte, versprochen«, beteuert Dad und öffnet die Beifahrertür. »Wollen wir los, Sonja? Der Flug wartet nicht auf uns.«
»Ja, ja, Paul. Ich komme sofort.« Sie hält sich die Hand vor den Mund, um uns etwas zuzuflüstern. »Euer Vater treibt mich schon wieder seit gestern Abend an. Er kann es kaum erwarten, loszukommen. Wie kann man nur so ungeduldig sein?«
Scarlett und ich grinsen uns an. Die beiden sind wirklich ein Traumpaar. Es ist schön, in Sachen Liebe und Beziehung zwei solche Vorbilder zu haben. Schön und gleichzeitig anstrengend, da ich mich nicht leicht beeindrucken lasse. Ich suche nach dem überspringenden Funken, dem Prickeln und der bedingungslosen Leidenschaft füreinander. Nicht unbedingt etwas, das man beim Wischen auf Tinder bekommt. Und ich bin mir nicht sicher, ob man eine solche Liebe überhaupt jemals in seinem Leben finden wird, insbesondere wenn die Erwartungen beinahe unerreichbar hoch sind.
»Aber Dad hat recht, wir sollten langsam los. Wir wissen nicht, wie viel Verkehr unterwegs ist«, stimmt Scar unserem Vater zu, was Mom nur schnauben lässt.
Wir verabschieden uns mit festen Umarmungen und einigen Tränchen meiner Mutter, der es immer schrecklich schwerfällt, sich von uns zu verabschieden. Als sie das erste Mal im August für längere Zeit weggeflogen sind, hat Mom Rotz und Wasser geheult. Ganz so, als würden wir uns jahrelang nicht mehr sehen.
»Meine Güte, Sonja, wir sind doch in wenigen Monaten zurück und bleiben eine Weile hier. Bis dahin erleben wir so viel, dass die Zeit wie im Flug vergehen wird. Kommst du jetzt bitte?« Dad ist niemand, dem Abschiede schwerfallen. Er kann es immer nicht erwarten, endlich raus in die Welt zu fliegen und neue Orte zu erkunden. Wenn Mom erst mal dort ist, hat sich ihre Laune auch wieder gebessert, aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Dad weiß das und muss ihr immer ins Gewissen reden. Beide ergänzen einander wie die fehlende Hälfte des anderen. Wie zwei Puzzlestücke, die nur gemeinsam eine Einheit bilden.
»Sei nicht so herzlos, du Rüpel. Unsere Kinder sind hier ganz auf sich allein gestellt.« Mom setzt sich auf die Rückbank hinter Dad und fixiert ihn mit düsterer Miene.
»Die beiden sind aber auch schon erwachsen und kommen wunderbar ohne uns klar. Das Haus steht auch noch. Was willst du mehr?«
»Ist ja gut, ich habe es begriffen. Ich mache mir mal wieder viel zu viele unnötige Sorgen, das willst du doch damit sagen.«
Scarlett verdreht die Augen und verschwindet hinter dem Lenkrad. Ich werfe Moms Tür zu, die kurz zusammenzuckt und mich dann erschrocken anschaut.
»Ich glaube, ihr solltet los, bevor ihr euch gegenseitig verrückt macht und einer von euch unglücklich hierbleibt«, sage ich seufzend.
»Da stimme ich Austin ausnahmsweise voll und ganz zu.« Scarlett lässt den Motor an und löst die Handbremse. »Noch irgendwelche Worte des Abschieds? Nein? Gut.«
Mit quietschenden Reifen prescht meine Schwester los.
Ich kann mir gut vorstellen, wie Mom sich lautstark über ihren Fahrstil aufregt und meint, Scar würde sie alle drei umbringen. Das Lächeln auf meinen Lippen ist wehmütig, denn ich vermisse meine Eltern jetzt schon. Klar habe ich inzwischen mein eigenes Leben, aber sie waren immer für mich da und geben mir Rückhalt. Sie nicht ständig um mich zu haben, ist schwieriger, als ich am Anfang gedacht hätte. Umso mehr freue ich mich schon darauf, wenn sie zurückkommen.
Sobald sie abgebogen sind, wende auch ich mich ab und stiefle zurück ins Haus.
»Price, was ist dein Vorschlag?«
Ich fahre herum, als Bryant meinen Nachnamen erwähnt, und starre ihn verwundert an. Mir war nicht klar, dass wir fürs erste Redaktionstreffen des Campus Curier nach den Ferien zwanzig Ideen neuer Rubriken parat haben sollten. Habe ich irgendeine Rundmail nicht bekommen?
Ich mag es nicht, mir etwas aus den Fingern saugen zu müssen. Aber noch weniger will ich zugeben, dass ich völlig unvorbereitet in dieses Meeting gegangen bin. Ich starre auf das leere Whiteboard und habe zeitgleich alle und keine Möglichkeiten.
Harper lächelt mir aufmunternd zu und ich betrachte die Notizen vor mir. Dann habe ich einen spontanen Einfall. »Wie wäre es, wenn wir in und um Barley Mill herum Orte heraussuchen, an denen man dem Uni-Alltag entfliehen und sich entspannt zurücklehnen kann? Seen, Parks oder Tiergärten. Alles, was nichts oder wenig kostet.«
Bryant nickt und schreibt Freizeitgestaltung aufs Whiteboard. Unser Chefredakteur hört sich die anderen Vorschläge ebenfalls an und schreibt eifrig mit.
»Nachdem unsere Rubrik über die Persönlichkeiten an unserer Uni bei den Lesern gut angekommen ist – danke noch mal an Harper und Austin –, habe ich beschlossen, unsere Zeitung endgültig zu revolutionieren. Niemand der Studierenden will die hundertste Meinung zur Weltwirtschaftskrise in den Zwanzigern lesen. Wir haben bisher viel zu oft an unserer Leserschaft vorbeigeschrieben. Das soll sich jetzt ändern.« Er zeigt mit dem Whiteboard-Stift in unsere Richtung und betrachtet uns der Reihe nach mit zusammengekniffenen Zügen. »Wir sind Studierende, die für Studierende schreiben. Es ist unsere Aufgabe, das Leben am Campus zu erleichtern und Anreize zu geben, damit aktuelle Themen hinterfragt werden. Wer sind wir?« Er hält die Luft an und schwingt wie ein Dirigent mit seinem Stift herum.
Leider erhält er keine Antwort, da niemand weiß, was er von uns hören möchte.
»Wer sind wir?«, fragt er erneut, diesmal noch enthusiastischer als beim ersten Mal.
Da wieder keine Antwort kommt, seufzt er theatralisch. »Der Campus Curier – genau. Das üben wir dann noch.«
Harper verkneift sich hinter vorgehaltener Hand ein Grinsen und auch ich kann das Lachen kaum unterdrücken. Bryant ist und bleibt ein skurriler Zeitgenosse. Über Weihnachten hat er die freie Zeit sicher genutzt, um Artikel über Teambuilding und gemeinsame Schlachtrufe zu lesen. Als Redakteur ist er unschlagbar, auch wenn er seine Eigenheiten hat.
»Cunningham, was hast du für uns in petto?« Er richtet sich an meine Freundin, die ihren Stift beiseitelegt und sofort voll bei der Sache ist.
»Ich würde gern da anknüpfen, wo Austin begonnen hat. Die Idee, günstige Aktivitäten in Barley Mill vorzuschlagen, finde ich sehr ansprechend und würde es noch um eine Alternative erweitern.« Harper lächelt mich an und ich bin ihr dankbar dafür, dass sie meinem spontanen mittelmäßigen Geistesblitz huldigt. Wenn es um den Curier geht, arbeiten wir zwei Hand in Hand. »Meine Cousine arbeitet im Tierheim und dort werden nach den Feiertagen ständig etliche neue Tiere abgeladen. Ich möchte unseren Studierenden die Augen öffnen und sie bitten, den Mitarbeitenden dort ein wenig die Last abzunehmen, sich um Dutzende Hunde und Katzen kümmern zu müssen. Vielleicht finden sich einige, die mit den Vierbeinern spazieren gehen. Bestenfalls kennen sie Leute, die in der Lage sind, ein ausgesetztes Tier zu adoptieren.«
Bryant blinzelt einige Male rasch hintereinander, wobei er Harper nicht aus den Augen lässt. Diese setzt sich ein wenig aufrechter hin und hält seinem prüfenden Blick stand. Bei ihm muss man hartnäckig sein und einen grandiosen Pitch abliefern, sonst verliert er nach wenigen Sekunden das Interesse. Wenn er allerdings zögert und ernsthaft über eine Idee grübelt, ist das schon die halbe Miete. Und ich weiß, dass es Harper ohnehin egal sein wird, was er sagt. Sie wird ihm damit so lange in den Ohren liegen, bis er keine andere Wahl mehr hat, als zuzustimmen. Überzeugungskraft hat sie.
Durchhaltevermögen auch.
Abgesehen davon finde ich, ihr Impuls hat Potenzial für die Titelseite. Gemischt mit meinem wäre es eine gute neue Rubrik. Innovationen bei der Campuszeitung liegen Harper und mir, vor allem, weil jeder von uns gänzlich unterschiedliche Ansätze hat, die dann jedoch gut harmonieren. Vielleicht sollten wir irgendwann zusammen eine eigene Zeitschrift rausbringen. Dann würde uns nur Bryant als Redakteur fehlen, wobei ich die Hand dafür ins Feuer legen würde, dass Harper das auch mit links schaffen würde. Seit sie und Brooks fest zusammen sind, hat sie ständig Hummeln im Hintern und steht den ganzen Tag unter Strom. Ich habe das Gefühl, sie ist momentan unaufhaltsam. Was mir recht ist, denn so haben wir in der Redaktion gut zu tun und sie bringt frischen Wind in die leicht angestaubte, in alten Schemata festgefahrene Studierendenzeitung.
Ich engagiere mich auch erst seit etwa einem Jahr für den Campus Curier und das nur deshalb, weil ich eines Nachmittags in der Zeitung geblättert habe, wobei ich fast vom Stuhl gefallen wäre. Die Themen waren zum Einschlafen und die gesamte Aufmachung zum Davonlaufen. Kein Wunder also, dass die Redaktion damals kurz davor war, den Druck gänzlich einzustellen. Niemand hat sich mehr für dieses Blatt interessiert. Irgendwie verspürte ich damals den Drang, mich in die Arbeit eines Journalisten einzufuchsen und habe mich mit Bryant hingesetzt, um ein neues Konzept zu entwickeln.
Zur gleichen Zeit habe ich auch die Campus-App entwickelt, auf der sich über die neuesten Themen ausgetauscht werden kann und auf der die Artikel auch mit einem günstigen Abo gelesen werden können. Mir kamen der Klimaschutz und die sinnvolle Verwendung von Ressourcen wichtiger vor, als dass jeder Studierende mit einer Printausgabe der Zeitung versorgt wird. Wobei die meisten doch häufiger noch auf ihr Handy schauen werden, um sich zu informieren, was auf dem Campus geschieht. Seitdem – und seit Harper sich dafür einsetzt und Werbung macht – geht es mit dem Curier wieder bergauf.
»Price und Cunningham? Arbeitet mir bis Sonntag bitte ein Konzept aus, gern auch erste Vorschläge für den Artikel. Ich würde mit der neuen Rubrik am liebsten schon im Februar anfangen. Schafft ihr das?« Bryant deutet mit seinem Stift erst auf mich und dann auf meine Freundin.
»Klar, ist ein Kinderspiel.« Harper nickt eifrig und schreibt etwas in ihr Notizbuch. »Danke, Bryant.«
Er mustert sie, verwundert über ihren Elan, und wendet sich wieder den anderen Vorschlägen zu, die auf dem Whiteboard prangen, und verlangt nach weiteren Pitches.
Harper lächelt mir verschwörerisch zu und streckt mir unter dem Tisch ihre geballte Faust entgegen, an die ich meine eigene stoße.
»Wer sind wir?«, wispert sie mir kaum hörbar zu.
»Der Campus Curier«, gebe ich zurück. Nur mit einer gehörigen Portion Selbstbeherrschung kann ich verhindern, in haltloses Gelächter auszubrechen.
Mit Harper macht diese Arbeit wirklich noch mehr Spaß als zuvor und ich bin gespannt, was wir für einen Artikel mit ihrer Cousine zusammenbasteln können. Bryant wird jedenfalls vor Begeisterung aus seinen Wanderstiefeln kippen, da bin ich mir sicher.
Jayden hält mir einen Hotdog hin, den ich gleichzeitig angewidert und verwirrt anstarre. Da ich ihm das Essen nicht abnehme, schaut er mich kurz verwundert an.
»Du weißt aber schon, dass ich seit ungefähr zehn Jahren vegetarisch esse, oder?« Meine Augen wandern zu dem Hotdog und dann wieder zu meinem Kumpel. Ist ja nicht so, als würden wir uns seit zwei Jahren mindestens einmal die Woche sehen und dabei auch miteinander reden.
»Hast du am Rande mal erwähnt, ja«, meint er grinsend und reicht das Essen an Hudson weiter, der hinter mir steht.
»Aber Bier trinkst du noch, oder?« Will erscheint neben Jayden und ich zucke innerlich zusammen.
Ihn zu sehen, verursacht immer noch ein ziemliches Gefühlschaos in meinem Inneren. Ich weiß nicht, ob ich mich freue, wütend sein soll oder ihn anspringen möchte. Letzteres ist am wahrscheinlichsten, wenn ich daran denke, was die Hände, die gerade den Becher mit der goldenen Flüssigkeit umschließen, mit meinem Körper alles schon veranstaltet haben. Schauer laufen mir über den Rücken und mein Nacken juckt. Unauffällig kratze ich mich dort, wo ich seine Zähne an meinen Schultern spüre.
Himmel.
Ich bemerke Harpers Blick, die ebenfalls neben Jayden erscheint, bewaffnet mit einem Hotdog für sich und einem vegetarischen Würstchen für mich. In ihrer Armbeuge balanciert sie zwei Becher, von denen sich der eine in naher Zukunft verabschieden würde, wenn ich nicht danach gegriffen hätte.
»Mit Bier bin ich immer versorgt«, gebe ich zurück und strecke Will mein Getränk entgegen, um mit ihm anzustoßen.
Er schenkt mir ein Lächeln, das ich vorsichtig erwidere. Ich habe keine Lust darauf, mir eine Moralpredigt von Harper anhören zu müssen. Nachher verlangt sie noch, dass ich fünf Dollar nur fürs Anschmachten in mein Glas schmeiße. Trotzdem kann ich nichts dagegen machen. Mein Körper fühlt sich zu diesen hellblauen Augen, dem kurzen braunen Haar und seinen markanten Zügen viel zu sehr hingezogen. Mit seinem verschmitzten Lächeln, wenn er von dem neuen Track spricht, den er auf seinem DJ-Pult zusammengemischt hat, bekam er mich sofort rum.
Die Vergangenheitsform trifft es da schon ganz gut. Auch wenn ich in seiner direkten Nähe immer noch weiche Knie bekomme. Das lasse ich mir garantiert nicht anmerken. Erotische Romane erfüllen auch ihren Zweck, dafür brauche ich keinen William Eugene Alderidge. Ich weiß eben selbst am besten, was mir gefällt. Nur muss meine Libido langsam auch mal verstehen, dass die Sache mit Will nicht nur das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hat, sondern schon vorher verdorben war.
»Seid ihr bereit für das erste Spiel nach den Feiertagen? Während ihr den Weihnachtsbraten genossen habt, sind unsere Jungs fünfmal um den Block gelaufen. Begrüßt gemeinsam mit mir unsere Barley Mill Panthers«, donnert die Stimme des Sprechers durch die Sporthalle und die Cheerleader drehen bei der Partymusik völlig auf.
Im selben Moment geht das Licht aus und ein Hologramm-Generator erleuchtet die Mitte mit verschiedenen durchscheinenden Personen. Letztlich bleibt es bei einem jungen Mann stehen. »Kendrick Reed, Lacrosse-Star von unserer Universität. Seit dem Jahr Zweitausendachtzehn im Team der Chesapeake Bayhawks.«
Das Hologramm des Spielers reckt die Daumen in die Höhe und springt einmal hoch. Er wünscht unserem Team viel Glück und verschwindet wieder, sobald das Licht in der gesamten Halle angeht. Mir ist bis gerade gar nicht aufgefallen, dass das gegnerische Team schon vollständig auf dem Spielfeld steht und in seinen gelben Trikots ein wenig verloren wirkt. Ich beiße genüsslich von meinem Veggie-Hotdog ab und betrachte das Geschehen um mich herum.
Die Menge rastet vollkommen aus, als die Spieler anschließend einzeln aufgerufen werden, was nichts Neues ist und mich inzwischen nicht mehr beeindruckt. Selbst Harper ist mittlerweile abgestumpft, was die Stimmung bei einem Basketballspiel angeht. Am Anfang war sie noch überwältigt von den vielen Eindrücken, aber seit sie jeden Samstag zu den Spielen geht, hat sie sich schon daran gewöhnt.
Statt die anderen anzufeuern, knabbert auch sie lieber an ihrem Hotdog herum und spült mit Bier hinterher. Gerade als Brooks aufgerufen wird, stopft sie sich den letzten Happen in den Mund. Ich muss lachen, denn sie reckt mit Hamsterbacken ihren Arm in die Höhe und versucht dabei, seinen Namen zu rufen. Was ihr nicht gelingt, denn sie verschluckt sich an dem Brötchen und Hudson muss ihr auf den Rücken klopfen.
Gott, sind wir eine schräge Truppe. Man dürfte uns nicht filmen.
Brooks lacht nur, als er sieht, wie Harper verzweifelt versucht, sich nichts von ihrem Hustenanfall anmerken zu lassen, dabei aber immer noch weiter röchelt. Sie schaut zu mir und ich schüttle nur den Kopf. »Sei froh, dass Großtante Judith das nicht gesehen hat. Sie würde sich im Grab umdrehen.«
Meine Cousine kichert und hustet gleichzeitig so laut, dass sich die Mädchen neben uns neugierig zu uns drehen, um anschließend miteinander zu tuscheln.
»Scheiße, Clover«, hüstelt sie. »Zum Glück muss ich Brooks nicht mehr beeindrucken.«
»Die Chancen würden dann vielleicht etwas schlechter stehen, stimmt. Obwohl ich glaube, dass du ihn sogar damit faszinieren würdest.«
»Vorausgesetzt, ich wäre nicht erstickt«, keucht Harper, die einen großen Schluck aus ihrem Bier nimmt und dann ihrem Freund einen Luftkuss zuwirft. Er zwinkert ihr auf diese sexuelle Brooks-Art zu, woraufhin sich ihre Wangen sanft rosa färben. Die Anziehung zwischen den beiden lässt mich wirklich noch wahnsinnig werden.
Wenigstens hat Harper ihre Techtelmechtel zum großen Teil auf Brooks’ Wohnung verlagert. Diese Woche habe ich nur noch ein weiteres Mal mitbekommen, wie die beiden es in ihrem Zimmer getrieben haben. Hudson könnte mir leidtun, aber da ich in der Vorweihnachtszeit schon das Vergnügen hatte, mehr als einmal akustischer Zeuge der beiden zu werden, gönne ich ihm das Hörspiel aus tiefstem Herzen.
Brooks ist mal wieder in seinem Element und nimmt gemeinsam mit seinem Team die Spieler der anderen Mannschaft komplett auseinander. Jeder Schritt sitzt, jeder Wurf ist ein Treffer. Schweiß läuft über seine Stirn und mit einem Seitenblick auf Harper habe ich das Gefühl, in ihren Kopf gucken zu können. Vor Weihnachten haben ihn Talentscouts besucht und dabei bereits eine Art Vorangebot ausgesprochen, wie er meinte. Sie würden ihn gern noch ein-, zweimal öfter spielen sehen, aber die Chancen stehen gut, dass er in die NBA kommen wird.
Ich stoße Jayden mit dem Ellenbogen in die Seite und deute auf meine Cousine, die völlig gebannt dabei zuschaut, wie ihr Liebster sich gerade wieder zur MVP – der Most Valuable Person – spielt.
»Hey, Harper, soll ich dir wieder ein bisschen Luft zufächeln?«, ruft Jayden ihr über die tobende Menge hinweg zu. Brooks hat natürlich wieder einen Korb geworfen.
Warum gehen wir jedes Wochenende erneut zu seinen Spielen, wenn wir doch sowieso wissen, wie sie ausgehen werden?
Harper betrachtet uns finster, wobei ihre Mundwinkel aber verdächtig zucken. Trotzdem ernten wir nichts mehr als einen halbherzigen Mittelfinger. Jayden und ich grinsen und stoßen mit unseren Bechern an.
In der Halbzeitpause stürmen die Cheerleader das Feld und sorgen für gute Laune. Hudson, Jayden und Will – dessen Blick ich meide – verschwinden, um uns neue Getränke zu besorgen.
»Übrigens habe ich noch ein kleines Attentat auf dich vor, Clovie«, fängt Harper an und friemelt dabei an Brooks’ Trainingsjacke herum.
Meine Augenbrauen schnellen in die Höhe. »Was haben wir zu dem Spitznamen gesagt?«
»Ich kann mich nicht dran erinnern.« Sie schürzt die Lippen. »Jedenfalls brauche ich dich für einen Artikel für den Campus Curier.«
Ich streiche mir die kurzen Strähnen hinters Ohr und hoffe, dass ich mich einfach verhört habe. Mein Talent, Texte zu schreiben, geht in etwa gegen null. Außerdem verstehe ich nicht, warum Harper unbedingt bei dieser Uni-Zeitung mitwirken möchte. Inzwischen ist der Curier ein wenig moderner und interessanter geworden, aber weiterhin nichts, was ich mir kaufe. Würde sie nicht dafür arbeiten, hätte ich diesem Blatt keinen einzigen Blick gewürdigt. Wobei ich sagen muss, dass diese Rubrik, die sie und Austin etabliert haben, gar nicht mal schlecht ist.
»Äh, ja, und was soll ich da machen?« Mein Nacken kribbelt plötzlich unangenehm. »Artikel schreiben ist nicht so mein Ding, das weißt du doch.«
»Darum geht es auch nicht. Bryant wollte, dass wir ein paar neue Ideen vorschlagen und weil Austin und ich brillant sind, haben wir mal wieder quasi den Zuschlag bekommen. Morgen sollen wir ihm ein Konzept präsentieren, denn er will die Rubrik schon in der Februarausgabe einführen.« Ihre Stimme überschlägt sich beim Sprechen beinahe und ich habe Mühe, ihre Worte in meinem Kopf zu ordnen. Viel Zeit bleibt mir nicht, denn sie plappert direkt weiter. »Wir wollen Orte in und um Barley Mill herum finden, bei denen man für wenig bis gar kein Geld dem Alltag entfliehen kann. Soweit also Austins Idee.«
Ich kräusle die Stirn und beiße mir auf die Unterlippe. »Was habe ich damit zu tun?«
»Ja, warte doch mal. Jetzt kommst du nämlich ins Spiel. Nachdem du mir das mit den Heimtieren erzählt hast, habe ich darüber nachgedacht, was man denn vielleicht ändern könnte. Und mir kam die Idee, unseren Kommilitonen vorzuschlagen, etwas für die Tiere zu tun und die Mitarbeiter des Tierheims zu unterstützen, indem sie mit den Hunden spazieren gehen könnten. Vielleicht finden manche Tiere so auch ein neues Zuhause.« Sie schaut mich erwartungsvoll aus großen Augen an. »Und wir bräuchten deine Expertenstimme. Außerdem haben wir überlegt, eine Fotostrecke der Vierbeiner zu machen. Was sagst du?«
Keine Ahnung, was ich sage, denn ich fühle mich leicht überfahren. Als wäre ich unter einen Rasenmäher geraten und gerade wieder ausgespuckt worden. Mir brummt der Schädel.
Genau in dem Moment wandert mein Blick über die umstehenden Menschen und ich entdecke Will, der mit einer Brünetten flirtet, die immer wieder wie zufällig seinen Unterarm berührt. Sein Lächeln ist breit und er lehnt sich ein Stück weiter zu ihr vor, um ihr etwas zuzuflüstern, was sie kichern lässt.
Unwillkürlich balle ich die Hände zu Fäusten und lockere sie erst wieder, als Jayden und Hudson mir die Sicht auf Will versperren. Beide begutachten mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Hudson reicht mir den Becher und drückt sich an mir vorbei zu Harper, der er ebenfalls ein neues Getränk reicht. Meiner Cousine wird nicht entgangen sein, weshalb ich auf einmal still war und kurzzeitig Mordfantasien hatte. Ob ich dabei auf Will oder das Mädchen losgegangen wäre, vermag ich nicht zu sagen. Zu allem Überfluss scheint sein Charme gewirkt zu haben, denn er zieht sie mit zu uns und flirtet weiter mit ihr, was das Zeug hält. Ich presse die Kiefer aufeinander und wende mich ab. Die gute Laune ist mir schlagartig vergangen. Vielen Dank auch.
Die Spieler erscheinen wieder auf dem Feld und Will deutet mit dem Finger auf Brooks, um zu zeigen, dass er den Starspieler kennt und gut mit ihm befreundet ist.
Kurz bevor es weitergeht, lehnt sich Harper mit zerknautschtem Gesicht zu mir. »Sorry, ist bestimmt scheiße.«
Ich zucke mit den Schultern, will mir nicht anmerken lassen, wie sehr es mich trifft, ihn mit einer anderen zu sehen und zu wissen, dass er nachher mit ihr vögeln wird.
»Ich bin bei deinem Artikel dabei«, platzt es aus mir heraus, bevor ich die Worte auch nur überdenken konnte.
Sie springt auf der Stelle und klatscht in die Hände. Dann schlingt sie die Arme um meinen Hals, um mich fest an sich zu ziehen. Ich schnappe nach Luft, als sie versucht, mich ebenfalls zum Springen zu animieren. Aber ich kann sie davon abhalten, durch ihren Freudentanz unser ganzes Bier zu verschütten.
»Ahhh, du bist die beste Cousine der Welt. Danke, danke, danke, Clovie.«
Kopfschüttelnd pflücke ich sie von mir und strubble ihr durch die Haare. Dieser Spitzname gefällt mir nach wie vor nicht, den muss ich ihr noch irgendwie austreiben. Aber nicht jetzt, da sie gerade so glücklich ist, mich für ihren Artikel begeistert zu haben.
Ich finde die Idee wirklich gut. Wir haben meistens nicht die Zeit, allen Tieren gleich gerecht zu werden und falls von außen ein wenig Hilfe käme, wäre das sicher nicht verkehrt. Bleibt nur zu hoffen, dass die Studierenden davon ebenso begeistert sind wie Harper und Austin.
Von dem Rest des Spiels bekomme ich verhältnismäßig wenig mit, da meine Augen ständig nach rechts wandern, wo Will inzwischen mit dem Mädchen rummacht. Ich sehe hin und wieder sogar ihre Zungen. Igitt. Ich verbiete mir, erneut dort hinzuschauen. Stattdessen fixiere ich das Spielfeld vor mir, wobei ich Brooks’ raschen Bewegungen beinahe nicht folgen kann. Er ist seit Wochen in Bestform, was nicht zuletzt an der moralischen Unterstützung seiner Freunde liegt. Womöglich befördert ihn die Beziehung zu Harper aber auch in andere Dimensionen, von denen ich nur träumen kann.
Nach dem Abpfiff klatschen die Spieler miteinander ab, wobei die Gegner die Köpfe leicht hängen lassen, da sie von unseren Jungs ganz schön zerstört worden sind. Hundertvier zu dreiundachtzig ist schon eine Ansage.
Sobald Brooks sich zu uns dreht, drückt Harper mir ihren leeren Becher in die Hand und prescht los. Er breitet die Arme aus und sie springt ihn wie eine Wildgewordene an. Sie klammert sich an ihn und er wirbelt sich mit ihr ein paarmal im Kreis, wobei er es irgendwie schafft, sie auch noch zu küssen. Allein vom Zuschauen wird mir schon schwindelig.
Einige Mädchen schauen missbilligend nach vorn und verfluchen Harper wahrscheinlich gerade innerlich dafür, dass sie den begehrtesten Sportler der Uni abbekommen hat. Da die beiden aber mittlerweile nach jedem Spiel so abgehen, ist bei den meisten zähneknirschend angekommen, dass Brooks offiziell vom Markt ist und dass sich das so schnell nicht ändern wird. Dafür sieht jeder auf den ersten Blick, dass die zwei ein richtiges Traumpaar sind.
Ich seufze, als Hudson zu mir aufrückt und die Knutscherei der beiden betrachtet. »Also wegen dir muss ich den Vögelmarathon jetzt bei uns in der Wohnung ertragen?«
Mir entfährt ein Lachen, denn ich bin erleichtert, dass ich nicht mehr die Zielscheibe von viel zu viel Erotik um mich herum bin. »Tut mir leid, aber ich konnte mir das nicht mehr antun.«
Sorry, not sorry, Kumpel.
»Ich kenne kein Pärchen, das gleichzeitig so zuckersüß und so zum Kotzen ist wie die beiden. Muss die Honeymoonphase nicht irgendwann vorbei sein?« Jayden verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt den Kopf, weil Brooks seine Hände nicht von Harpers Po nehmen kann. Diese zieht mit ihrem Zeigefinger Linien über seine Brust, was ihn verwegen grinsen lässt.
»Die ist bei denen sicher niemals vorbei. Das müssen wir jetzt bis in alle Ewigkeit aushalten«, stöhnt Hudson.
»Gebt’s zu, wir wollen doch alle nur jemanden, der uns so anschaut, wie die zwei einander.« Wir drei fahren zu Will herum, der seine Hände an die Taille des Mädchens gelegt hat und seinen Schritt an deren Hintern drückt. Bei ihm sieht es also genau danach aus, als würde er nach der einzig wahren großen Liebe suchen. Mit seinem Gelaber kann er vielleicht seine neue Eroberung beeindrucken, Hudson, Jayden und mich aber definitiv nicht.
»Ach, wollen wir das?«, gebe ich daher argwöhnisch zurück und ziehe eine Braue in die Höhe.
Will studiert meine Miene für den Bruchteil einer Sekunde, wendet sich aber rasch ab und das, was er eigentlich noch sagen wollte, wird von dem Mund des Mädchens verschluckt.
Scheinbar haben seine Worte auf sie wirklich eine anziehende Wirkung. Vielleicht erhofft sie sich – wie ich zuvor – etwas, das länger hält als die Erinnerung an ein paar heiße Nächte. Denn genau das ist es, was mir von Will geblieben ist. Einzig und allein die Rückschau auf das, was wir miteinander hatten. Auch wenn es nicht viel war, hat es mir etwas bedeutet und ich hätte mir gewünscht, er würde es genauso sehen. Aber er hat sich gegen eine Beziehung mit mir entschieden. Gegen möglicherweise aufkommende Gefühle. Gegen die Verbindlichkeit, die er mit mir eingehen würde. Gegen mich. Und das fühlt sich verdammt beschissen an.
Zu sehen, wie er mich mit unzähligen anderen Mädchen ersetzt hat, macht es nicht leichter. Dabei möchte ich ihm nicht einmal hinterhertrauern.
Ich wusste nicht, dass er mir so viel bedeutet hat, dass es wehtun würde, ihn nicht mehr ständig um mich zu haben. Mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass die Sache mit ihm zum Scheitern verurteilt war. Und trotzdem habe ich mich mit Vollgas ins Unglück gestürzt.
Das passiert mir sicher nicht noch einmal, denn bis auf Weiteres ist der Platz in meinem Herzen für mich selbst reserviert und wird von niemandem mehr überrannt.
Ich war noch nie jemand, der von den Sportlern oder den coolen Kids zu etwas eingeladen wurde. Scarlett hingegen hat das gesamte Beliebtheitsding voll durchgezogen. Schon an der High School war sie Cheerleaderin, Teil der coolen Clique und hing mit den angesagtesten Typen ab.
An der Uni ging es nahtlos so weiter. Jeder kannte meine Schwester sofort, doch niemand wusste von der Existenz eines Zwillingsbruders. Womöglich lag das in den ersten zwei Semestern daran, dass ich mich kaum aufs Collegeleben eingelassen habe. Ich mied Partys, Basketballspiele und sonst irgendwelche Veranstaltungen, auf denen man sich betrinkt und all das Zeug macht, von dem sie in den Filmen schwärmen. Und es war in meinen Augen nie ein Problem. Für mich bedeutete die Uni, dass ich endlich das erlerne, was ich später wirklich machen möchte: Programmieren. Informatik hat mich schon in der Schul-AG fasziniert und so habe ich mich kurzerhand für diesen Studiengang entschieden.
Als ich jedoch ins zweite Studienjahr kam und Scarlett mir ständig damit in den Ohren lag, was ich alles verpassen würde und dass ich mein defensives Verhalten später womöglich bereuen könne, habe ich mich hin und wieder für Partys breitschlagen lassen. Seitdem gehe ich manchmal in den Club oder zu Spielen. Ich habe mich außerdem von meiner Mathematikerblase der Sterling-Fakultät gelöst und mich in einem Philosophie- und einem Spanischkurs angemeldet. Irgendwann kam dann noch die Uni-Zeitung hinzu. Während Scars kurzer Beziehung mit Brooks bin ich sogar zwischendurch samstagabends nach den Spielen mit in die Campusbar gegangen.
Nun, was soll ich sagen. Hier bin ich also wieder, stehe vor der Tür zu besagter Bar und frage mich allen Ernstes, was ich mir dabei denke. Harper hat mich eingeladen, den Abend mit ihr, Brooks und den anderen Jungs zu verbringen. Wir wollen ein paar Fragen für unseren Artikel klären und Clover wäre ebenfalls dabei, um Ideen zu liefern.
Ich habe noch nie wirklich zu den coolen Kids gepasst und werde es auch heute wohl nicht.