Barley Mill - Unforgiven (3) - Maddie Sage - E-Book

Barley Mill - Unforgiven (3) E-Book

Maddie Sage

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Beschreibung

Carlota hat dank ihres Modedesignstudiums sowie zahlreicher Nebenjobs und Familienverpflichtungen kaum Zeit für etwas anderes. Doch von der Theaterfakultät erhält sie die Zusage, die Kostüme für ein bevorstehendes Stück anzufertigen. Hudson hat das entsprechende Drehbuch geschrieben, das bei Carlota für jede Menge Herzklopfen sorgt. Das kreative Schaffen schweißt die beiden zusammen, denn sie verbindet weitaus mehr, als nur für den Erfolg des Theaterstücks einzustehen. Und was genau ist es, das sie mit der Person gemein haben, die all ihre Geheimnisse zu kennen glaubt?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Prolog
1 Carlota
2 Hudson
3 Carlota
4 Hudson
5 Carlota
6 Hudson
7 Carlota
8 Hudson
9 Carlota
10 Hudson
11 Carlota
12 Hudson
13 Carlota
14 Hudson
15 Carlota
16 Hudson
17 Carlota
18 Hudson
19 Carlota
20 Hudson
21 Carlota
22 Hudson
23 Carlota
24 Hudson
25 Carlota
26 Hudson
27 Carlota
28 Hudson
29 Carlota
30 Hudson
31 Carlota
32 Hudson
33 Carlota
Danksagung

Maddie Sage

 

 

Barley Mill University

Carlota & Hudson

(Barley-Mill-University 3)

Barley Mill – Unforgiven

© 2025 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

 

Lektorat: Annalena Ogrodnik

Korrektorat: Annalena Ogrodnik und Lara Gathmann

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag unter Verwendung von

selbstgezeichneten Motiven von Diana Gus

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

Für die Zukunft

– und alles, was sie bereithält

 

Füße, wofür brauche ich euch,

wenn ich Flügel zum Fliegen habe?

 

Frida Kahlo

Prolog

 

Ein letztes Mal. Ich habe es mir versprochen. Wenn es nach diesem Versuch keine weitere Spur gibt, werde ich aufgeben. Ich werde aus Barley Mill verschwinden und mir ein neues Leben aufbauen. Darin bin ich gut.

Untertauchen. Mich bedeckt halten. Menschen aus dem Hintergrund beobachten. Dabei sein, ohne wirklich teilzuhaben.

Als ich durch meine Notizbücher blättere, wird mir schnell klar, dass ich nicht aufgeben darf. Mein Blick fällt auf den Eintrag von vor ein paar Wochen.

 

Gnade?

Rache.

Überall auf dem Weg bis zum Ziel. Keine Gnade.

Ich bin es mir schuldig.

 

Mein Hang zum Dramatischen springt mir aus jeder Zeile entgegen. Ich spüre die Wut von damals, die Angst, die Hoffnungslosigkeit und den Schmerz. Es ist so weit, Zeit, alles auf eine Karte zu setzen.

Ich hasse dieses Leben. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Leben danach. Eines in Frieden und Ruhe. Ohne all die grausamen Gefühle, die mich nachts nicht schlafen lassen.

Ob es all das wert ist?

Keine Ahnung. Dafür habe ich inzwischen vor Ewigkeiten meinen inneren Kompass verloren. Ich brüte jeden Tag über all den Dingen, die sein könnten und noch sein werden.

Bei der Vorstellung, bald mein Ziel erreicht zu haben, klopft mir das Herz bis zum Hals.

Ich durchstöbere die Mails, die Harper mir vor Monaten aus den Archiven ihrer Mom besorgt hat. Die Hinweise auf Clovers Vater, die seltsame Familienkonstellationen hervorgebracht haben. Und immer noch bin ich hier – auf der Suche nach der Wahrheit, nach einem Fünkchen Hoffnung.

Es soll endlich vorbei sein. Dieses Vorhaben bringt mich an meine Grenzen. Wenn ich nicht bald aufpasse, bringt es mich noch um …

 

 

1 Carlota

 

Ich sehe den Becher fallen und weiß im selben Moment, dass ich nicht schnell genug sein werde.

Wie in Zeitlupe dreht sich das grüne Plastikmonster um hundertachtzig Grad. Der Orangensaft spritzt heraus – und landet auf meinen Zeichnungen. Auf einem Stoffballen. Dem Tisch. Meinem weißen Shirt.

Ignacio starrt sekundenlang auf den Becher, nur um im nächsten Moment loszuheulen.

Ich unterdrücke das genervte Stöhnen nicht. Vielmehr entfahren mir einige nicht jugendfreie, spanische Flüche. Mamá wäre nicht unbedingt stolz auf mich.

»Joder! Álvaro, wo bist du schon wieder? Komm sofort her und kümmere dich um unseren Bruder!«

Ich springe vom Stuhl auf, nehme Ignacio in die Arme. Sein kleiner Brustkorb hebt und senkt sich mit rasender Geschwindigkeit. Meine Finger streichen in sanftem Rhythmus über seinen Rücken. Ich versuche, ruhig zu bleiben. Dabei möchte ich meinem sechsjährigen Bruder am liebsten den Hals umdrehen. Ist ja nicht so, als müsste ich in wenigen Wochen eine ganze Kollektion auf die Beine stellen. Und sie auch noch vor meinem gesamten Fachbereich präsentieren.

Meine Skizzen und die aufgeschriebenen Maße der Models schwimmen in gelber Flüssigkeit. Die kann ich sofort in die Tonne werfen. Auf dem dünnen Stoff erkenne ich hässliche Sprenkel. Hoffentlich kann ich wenigstens den noch verwenden. Mein Budget ist längst ausgeschöpft. Auch der Ballen war der letzte, den sie im Geschäft hatten.

»Álvaro, ich zähle bis drei und wenn du dann nicht hier bist, poste ich das Bild von deinem elften Geburtstag bei Instagram«, rufe ich in Richtung Flur. Von dort vernehme ich leises Gemurmel mit anschließendem Schmatzen.

Der Drang, zu ihm zu stapfen und ihn am Kragen in die Küche zu ziehen, wird übermächtig. Ich bin kurz davor, die spanische Mutter raushängen zu lassen, als ich die Haustür ins Schloss fallen höre.

Schlurfende Schritte kommen näher und mein Bruder erscheint halb nackt im Türrahmen. Er trägt nur eine kurze Sporthose und Flip-Flops, die bei jedem weiteren Schritt ihr typisches Geräusch von sich geben. Sein schwarzes Haar ist zerzaust und die buschigen Augenbrauen bilden eine wütende Linie. »Carli, verdammt, was ist nur los mit dir?«

»Sei froh, dass ich Mamá und Papá nicht von deinem ständigen Mädchenbesuch erzähle, hermanito. Jetzt nimm dir entweder einen Lappen oder pass auf Ignacio auf«, knurre ich zurück.

Ich bin seine aufsässige, pubertäre Testosteronphase mehr als leid. Seit ein paar Monaten kommt hinzu, dass er das andere Geschlecht für sich entdeckt hat. Er nutzt seinen Charme in vollen Zügen aus.

Ich stelle mich den Mädchen inzwischen nicht einmal mehr vor, da er in der nächsten Woche ohnehin schon ein anderes mitbringt. Dabei versuche ich zwischendurch dezent zu vermitteln, dass er zu einem kleinen Macho und Herzensbrecher heranwächst. Einem Typen mit eindeutigem Ruf, dem irgendwann der Stempel Fuckboy aufgedrückt wird. Sein siebzehnjähriges Hirn scheint allerdings noch nicht reif genug zu sein, um meine Bedenken nachvollziehen zu können.

»Ist doch egal. Ich bin nach dem Abschluss nächstes Jahr sowieso aus Barley Mill verschwunden. Hättest du vielleicht auch tun sollen, dann wärst du jetzt nicht so verklemmt und verbittert«, bekomme ich dann meist zu hören.

Ich bin froh, dass er mich und nicht unsere Mutter beleidigt, denn ich tue seine Worte als jugendliche Naivität ab. Mamá hingegen könnte die gehässigen Sprüche sicher nicht so leicht wegstecken. Früher hatten sie und meine ältere Schwester Lorena sich ständig in den Haaren und ich habe öfter gehört, wie Mamá abends im Wohnzimmer saß und weinte.

Die Beziehung der beiden wurde erst besser, nachdem meine ältere Schwester nach Mexico City gezogen war, um dort Medizin zu studieren. Hatten wir uns bis dahin noch gemeinsam um den Familienfrieden gekümmert, bleibt das seitdem an mir hängen. Drei Jahre, in denen ich mich schon um meine Geschwister sorge, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Mich von Álvaro beschimpfen zu lassen, ist nicht das, was ich mir darunter vorgestellt hatte, wenn ich mich mehr wie eine Mutter als eine große Schwester benehmen muss.

Ganz abstreiten kann ich nicht, dass es mich auch trifft. Aber ich ignoriere den Kloß in meinem Hals und mache einfach weiter. Ich rede mir ein, dass er es nicht so meint, wie er es sagt. Auch wenn ich mir da manchmal nicht ganz sicher bin.

Wenigstens Ignacio und Paula hören noch auf mich. Zum Glück sind die beiden noch ein paar Jahre von der Pubertät entfernt, und Álvaro bis dahin hoffentlich geistig weiterentwickelt. Womöglich habe ich dann auch endlich den Mut aufgebracht, die Welt mit meiner Mode zu erobern. Dazu gehört es ebenfalls, mich ein Stück weit von meiner Familie abzunabeln. Wobei ich Angst habe, dass sie ohne mich nicht zurechtkämen.

Wenn ich mir anschaue, wie Álvaro zwischen Ignacio und dem Geschirrtuch hin- und herblickt, weiß ich wieder, weshalb ich nach meinem Schulabschluss nicht aus Barley Mill verschwinden konnte.

Ich hebe meinen kleinen Bruder vom Stuhl und drücke ihn an Álvaros Brust. Meine Beine tragen mich zur Spüle. Rasch schnappe ich nach dem Tuch und tupfe damit den Orangensaft vom Tisch. Einige Zeichnungen sind glücklicherweise noch zu retten. Ich lege sie auf die Küchenzeile, damit ich den Rest des Tisches trocken wischen kann. Mein Herzschlag beruhigt sich langsam wieder. Selbst der Fleck auf dem Stoff kommt mir nicht mehr so groß vor. Ich bin ein wenig versöhnlicher gestimmt, da das Ausmaß des Schadens nicht so immens ist, wie ich vorhin dachte. Mir gefällt dieser sanfte Gelbton auf den Skizzen sogar. Sollte ich mir das Farbkonzept doch noch einmal überlegen? Ein kleiner sommerlicher Spritzer könnte der eher dunkel gehaltenen Herbst- und Winterkollektion den Anstrich verleihen, nach dem ich die letzten Tage vergeblich gesucht habe.

»Ignacio, du bist in Genie«, lobe ich den Kleinen, der mich überrascht anschaut.

Lächelnd wische ich die letzten Spuren seines Missgeschicks weg. Das Geschirrtuch landet im Wäschekorb, der für Schmutzwäsche im Flur steht. Jeden Abend ist er prall gefüllt. Wie ein einziger Haushalt einen solchen Berg an dreckigen Klamotten produzieren kann, ist bei der Familie Gomez Martinez schnell geklärt. Ignacio saut sich beim Spielen mit seinen Kumpels täglich ein, während Paula mindestens dreimal die Woche Tennis spielt. Álvaro trägt selbstverständlich nicht zweimal hintereinander dieselben Klamotten. Das könnte ja uncool rüberkommen. Papá kommt alle paar Wochen mit einem vollen Koffer nach Hause, dessen Inhalt man umgehend in die Wäschetrommel hauen könnte. Damit Mamá nicht auch noch meine Sachen waschen muss, sammle ich mein Zeug meistens und wasche es selbst.

»Sag mal, wann gibt’s eigentlich etwas zu essen? Hast du was gemacht?«

Ich atme tief durch, um ihm keine zu scheuern. Wäre er nicht mein Bruder, hätte ich ihn längst vor die Tür gesetzt. »Sehe ich aus wie deine Bedienstete?«

»Willst du eine ehrliche Antwort, hermanita?«

»Du möchtest dich um die Artischocken kümmern? Wie nett von dir. Denk nicht, du kannst dir alles erlauben, hermanito.« Ich werfe ihm ein falsches Lächeln zu. Langsam ist das Ende meines Geduldsfadens erreicht.

»Was, wenn ich es nicht mache?« Er grinst mich schadenfroh an, denn er denkt, er hätte mich ausgespielt.

Aber natürlich habe ich ein Ass im Ärmel. »Dann verkaufe ich deine Karte fürs Campusfestival. Dabei wolltest du doch meine Collegefreundinnen kennenlernen.«

Dass keine von ihnen Interesse an einem hormongesteuerten Teenager hat, habe ich nicht erwähnt. Vermutlich findet er trotzdem ein Mädchen, dem er vorspielen kann, ein Student zu sein. Er hat sogar Mamá gefragt, ob er mit zum Festival darf, damit er sich über das Studienangebot informieren könnte. Ich habe ihm damit gedroht, ihn bei unseren Eltern als Gigolo zu enttarnen. Aber ich bin keine Petze.

Von selbst hätte ich ihn niemals dorthin eingeladen. Eigentlich müsste ich ihn an einer Leine halten und dürfte ihn nicht aus den Augen lassen. Er ist schlimmer als ein Welpe, der gerade die Welt für sich entdeckt.

Die Phase, in der er sich auf sein Zimmer verzogen, Videospiele gezockt und Unmengen Cola getrunken hat, hat mir deutlich besser gefallen.

»Aber natürlich gehe ich dir zur Hand, liebste Schwester. Was ist denn außer den Artischocken noch zu erledigen?« Er setzt einen engelsgleichen Gesichtsausdruck auf, der bei unserer Mutter sicher ziehen würde, mich aber völlig kaltlässt.

»Du könntest noch den Schinken schneiden, alles in die Auflaufform geben und mit Käse bestreuen. Die Melone müsste auch noch geschnitten werden.« Ich tippe mir mit dem Zeigefinger gegen das Kinn und zwinkere meinem kleinen Bruder zu, den Álvaro gerade auf seine linke Hüftseite hievt. »Und ich glaube, Ignacio hat noch ein bisschen Durst. Vielleicht presst du ihm nach der Aufregung vorhin einen frischen Orangensaft. Das würde ihn sicher freuen. Wenn du gerade dabei bist, könntest du mir auch einen machen.«

Álvaro funkelt mich finster an, aber ich habe ihn dank des Festivals in der Hand, und das weiß er auch. Ich gönne mir einen kleinen Triumph, da es nicht oft vorkommt, dass ich am längeren Hebel sitze.

»Zu Befehl, meine Gebieterin«, brummt er und setzt unseren kleinen Bruder auf einen Stuhl.

Seufzend nimmt er sich eine Orange, wirft sie in die Luft und fängt sie wieder auf. Aus der Schublade holt er sich ein Messer und halbiert die Frucht auf einem Holzbrett.

Ich wende meinen Blick ab und sortiere stattdessen meine Zeichnungen. Die, die endgültig nicht mehr zu retten sind, lege ich Ignacio hin. Gemeinsam mit seinen Buntstiften. Hoffentlich kann ich ihn die Dreiviertelstunde, bis Mamá und Paula wieder zu Hause sind, beschäftigen. Spätestens dann sollte auch das Abendessen fertig sein. Vorausgesetzt, Álvaro stellt sich nicht vollkommen hirnlos an. Bis dahin sollte ich es auch geschafft haben, die Skizzen neu – wenn auch nur grob – anzufertigen.

Ich nehme mir ein leeres Blatt und zeichne eilig ein Mannequin, das ich mit geschickten Strichen bekleide. Die Form und der Duft der Orange haben mich zu einem glockenförmigen Unterteil des Mantels inspiriert. Damit sieht er gleich viel raffinierter aus. Vor allem, wenn ich einen senfgelben Spitzensaum, übergroße Taschen und einen aufgestellten, gelben Kragen hinzufüge.

Wow, das Design ist mir echt gut gelungen.

Wie wahnsinnig male ich der Figur braune Haare, passend zu dem derben Leder des Mantels.

Was wäre, wenn …?

Ich stocke und halte das Papier eine Armlänge von mir entfernt. Dann mache ich mich ans Werk. Auf dem Kopf des Mannequins thront nach ein paar Strichen ein winziger, sonnengelber Spitzenschleier, der an eine dünne Mütze erinnert.

Hoffentlich finde ich noch passende Schuhe zu dem Outfit, dann wäre es perfekt. Mir schweben zudem gelbe Lederhandschuhe vor. Sie müssen glänzen und eine Haptik wie zerknüllte Alufolie haben.

Ich bin so tief in meiner Arbeit versunken, dass mir nicht einmal auffällt, wie Mamá die Küche betreten und Ignacio in den Arm genommen hat.

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet sie ihren anderen Sohn, der neben dem Backofen steht und desinteressiert auf seinem Handy herumscrollt. Auf seiner Brust prangt der Schriftzug Kitchen Queen. Muss er echt dermaßen übertreiben und eine von Mamás Kochschürzen tragen?

Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich ein Shirt überzustreifen. Zumindest sind es draußen fast dreißig Grad, wodurch er nicht in Erklärungsnot gerät.

»Mamá! Wie lief Paulas Training? Das Essen ist übrigens auch gleich fertig. Vielleicht deckst du schon mal den Tisch, Carli?«

Dieser kleine, fiese Mistkerl.

»Cabrón«, zische ich ihm zu, als ich mich neben ihn drücke, um die Teller aus dem Hängeschrank zu holen.

»Selber Vollidiot.« Er lächelt unsere Mutter an, während er mich beleidigt. Dabei bewegen sich seine Lippen kaum, weshalb ich ihm vorschlagen will, dass er mit seinen schlechten Schulnoten doch Bauchredner werden könnte. Dafür bräuchte er nicht einmal einen Abschluss. Paula verhindert jedoch meinen Wutausbruch, als sie aufgeregt in die Küche stürmt.

»Ihr glaubt nicht, was nächste Woche ist«, trällert sie in schriller Tonlage.

Álvaro stöhnt entnervt und tippt wieder auf seinem Smartphone, was mich fast zur Weißglut gebracht hätte. Wären da nicht Paulas geflochtene Zöpfe, die in die Luft fliegen, als die Zehnjährige wie wild herumspringt.

»Am Wochenende nehme ich an meinem ersten richtigen Turnier teil.« Die Kleine klatscht freudig in die Hände und strahlt über beide Ohren. »Bis dahin habe ich jeden Tag Training. Ich bin so aufgeregt. Meint ihr, ich werde gewinnen?«

Ich lächle, stelle die Teller auf den Tisch und nehme Paula in die Arme. »Das ist ja großartig. Natürlich wirst du gewinnen.«

Für sie ist es eine Chance, ihr Können unter Beweis zu stellen. Für mich heißt es, dass ich meinen Terminkalender völlig umwerfen muss. Ich werde Paula sicher zweimal zum Training bringen müssen, weshalb ich meine Arbeit, den Entwurf der Kollektion und die Vorbereitungen für den Semesterabschluss darum herum bauen werde. Irgendwie muss ich Álvaro dazu überreden, nächste Woche einkaufen zu gehen. Das werde ich nicht auch noch schaffen.

Himmel, Papá kommt in anderthalb Wochen auch von seiner Ausgrabungsstätte in Chile wieder.

Hinter meinen Schläfen pocht es.

Manchmal wünsche ich mir, der Tag hätte mehr als vierundzwanzig Stunden. Oft habe ich so viel zu tun, dass ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Ohne Kalender wäre ich geliefert, denn mein Gedächtnis ist wie ein Sieb.

Bei den vielen Terminen kann man schnell mal durcheinanderkommen. Keine Ahnung, wie andere Menschen ohne einen Planer zurechtkommen. Aber vermutlich haben andere Leute Anfang zwanzig auch nicht so viel zu tun wie ich. Sich zwischendurch zu benehmen wie eine Studentin, bleibt dabei leider allzu oft auf der Strecke.

Ich warte noch auf den Moment, in dem mir meine vielen Aufgaben um die Ohren fliegen wie die Raketen in der Silvesternacht. Nur würden sie keine bunten Funken am Himmel hinterlassen, sondern alles schwarz färben.

Das Piepen der Eieruhr reißt mich aus meinen Gedanken.

Álvaro greift nach den Topflappen und holt die Auflaufform aus dem Ofen.

»Mhm, das riecht aber köstlich«, schwärmt Mamá bei der Duftwolke, die uns entgegenprallt.

Ich würde gern klarstellen, dass ich den Großteil der Vorarbeit geleistet habe, verkneife mir den Kommentar jedoch. Soll Álvaro sich doch sonst was darauf einbilden, dass unsere Mutter denkt, er hätte das Essen selbst gekocht. Das wäre eine Premiere und eigentlich weiß auch jeder hier im Haus, wie selten er allein auf die Idee kommt, jemandem seine Hilfe anzubieten.

»Stopp«, rufe ich, da mein Bruder die heiße Auflaufform einfach so auf den Tisch stellen will.

Hastig fische ich zwei Topfuntersetzer aus einem der Schränke und lege sie nebeneinander auf den Tisch. Álvaro grinst seinen Fehler weg und stellt die Form ab. Er wirft die Topflappen zurück auf die Arbeitsfläche und entledigt sich der dunkelroten Schürze.

Bevor er sich setzen kann, räuspert sich Mamá, den Blick streng auf den entblößten Oberkörper ihres Sohnes gerichtet. Dieser rollt mit den Augen, verschwindet aber erneut mit schlurfendem Schritt aus der Küche.

In der Zwischenzeit räume ich meine Zeichenutensilien beiseite und helfe dabei, Geschirr und Besteck zu verteilen. Als Álvaro zurückgeschlendert kommt, dampfen die Portionen des Auflaufs bereits auf den Tellern. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Denn alles, was mein Magen heute verdauen durfte, waren eine Banane und ein Müsliriegel.

Mamá faltet die Hände und schließt die Augen. Mit leiser Stimme spricht sie ein Gebet, in dem sie Gott für unser Mahl dankt. Zwar sind meine Eltern recht gläubig und schleppen uns öfter, als uns lieb ist, in die Kirche, aber ich glaube nicht an eine höhere Macht. Ganz egal, um welche Religion es sich handelt.

Anschließend stürzen wir uns auf das Essen. Eine Weile entsteht eine genießerische Stille, in der wir uns den Auflauf schmecken lassen. Jeder nimmt noch einen Nachschlag. Álvaro isst noch einen dritten Teller.

Er springt plötzlich und ungestüm auf, sodass das Geschirr auf dem Tisch wackelt. »Ich bin noch verabredet. Wir sehen uns später.«

»Um diese Uhrzeit?«, hakt Mamá nach.

»Ay, es ist halb acht und locker noch stundenlang hell. Ich bin vor zehn wieder da.«

Sie nickt und winkt mit der Hand in Richtung Haustür. »Sieh zu, dass du rauskommst.«

Zehn Sekunden später ist er verschwunden.

»Seid ihr satt?«, frage ich an meine kleinen Geschwister gerichtet. Nickend bejahen sie und ich räume die Teller aufeinander.

»Hast du heute auch noch etwas vor, Carli?« Die Stimme meiner Mutter ist sanft. Allein ihre spanischen Worte fühlen sich wie eine feste Umarmung an.

»Ich muss noch zwei Skizzen neu anfertigen, den Saum eines Brautkleides umnähen und Stoffproben für mein Abschlussprojekt anfertigen. Oh, und ich habe noch ein paar Aufsätze zu korrigieren. Wird wohl wieder eine Nachtschicht.« Ich zucke mit den Schultern, obwohl ich mich mit all dem manchmal viel zu überfordert fühle. Als würde ich versuchen, fünf Leben in eines zu stopfen. Hinzu kommt noch all der undankbare Kram, den ich täglich für meine Familie tue und für den mir an den Kopf geknallt wird, ich sei verbittert und verklemmt.

»Eine Pause würde dir guttun. Ich weiß zu schätzen, was du hier tust, aber du nimmst dir zu viel vor.« Sie lächelt verhalten und reicht mir das Geschirr an, das ich in die Spülmaschine räume.

»Die letzten zweieinhalb Jahre hat es doch auch funktioniert. Und in ein paar Wochen sind Ferien, da gönne ich mir mehr Ruhe. Versprochen.«

»Du musst auf dich aufpassen, Süße. Es bringt nichts, bei allem immer zweihundertfünfzig Prozent zu geben. Manchmal genügen auch hundert. Ich weiß, du willst, dass alle glücklich sind. Aber denk hin und wieder mal zuerst an dich.« Mamá nimmt meine Hände. Dabei schaut sie mir so ernst in die Augen, dass ich die Sorgenfalte auf ihrer Stirn entdecke.

Vielleicht würde sie mich verstehen, wenn sie wüsste, weshalb ich mir all das aufhalse. Aber es gibt Dinge, die ich wegen des Familienfriedens für mich behalte. Denn es ist wichtiger, dass es meinen kleinen Geschwistern gut ergeht. Sie würden nicht verstehen, was ich auf mich genommen habe, damit sie sorglos weitermachen können wie zuvor.

Ich will auch gar nicht, dass sie es wissen. Für mich ist das in Ordnung und ich habe meine Situation akzeptiert. Genau deshalb kann ich mich aber nicht mit hundert Prozent zufriedengeben.

»Mach ich, Mamá.« Rasch gebe ich ihr ein Küsschen auf die Wange. »Ich kümmere mich dann mal um meine Kollektion. Sicher ist noch nie jemand Modedesigner geworden, indem er geschlafen hat. Nachts bin ich am produktivsten.«

Ihr Schmunzeln wirkt hohl und traurig.

Ich schlucke mein Unwohlsein hinunter, dann beuge ich mich zu ihr vor. »Übrigens steht im Kühlschrank noch Tiramisu mit ordentlich Bums.«

Irgendwie habe ich es heute Nachmittag, bevor ich Ignacio von der Schule abgeholt habe, geschafft, Mamás und mein Lieblingsdessert zu zaubern.

Ich werde es mir vermutlich in der Nacht holen. Zusammen mit einem Jumbokaffee oder einem Energydrink.

»Carlota, du bist ein wahrer Engel«, entfährt es meiner Mutter mit leuchtenden Augen.

»Weiß ich doch.«

Ich schließe die Spülmaschine. Mit einer geschickten Bewegung greife ich nach meinen Zeichenutensilien und meinem Rucksack. Den Stoffballen klemme ich mir unter den Arm.

Kurz beobachte ich Paula und Ignacio dabei, wie sie sich um ein Stickerheft streiten.

»Gute Nacht, ihr zwei. Bringt euch bitte nicht gegenseitig um.«

Ich bahne mir den Weg zwischen meinen Geschwistern und dem Kühlschrank hindurch, wobei ich den Kleinen durchs Haar wuschele.

»Wollen wir noch eine Folge Tom und Jerry schauen?«, schlägt Mamá vor und Paula ist sofort hellauf begeistert.

»Ich bin zu alt für diesen Kram«, brummt Ignacio.

Aber als Paula ihm das Heft überreicht, erklärt er sich bereit. »Eine Folge geht schon klar.«

Die beiden hechten ins Wohnzimmer, in das unsere Mutter ihnen folgt. Im Türrahmen dreht sie sich noch einmal um und lächelt mich an. »Schlaf wenigstens ein bisschen. Ich habe auch noch nie von einem Modedesigner gehört, der ganz ohne Schlaf gesund geblieben ist.«

Ich verdrehe innerlich die Augen, auch wenn mir klar ist, dass sie recht hat. »Buenas noches, Mamá.«

Völlig überladen strauchle ich die Treppe hinauf. Trotz der Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und damit alle Sachen runterzuwerfen, möchte ich nicht zweimal laufen.

Ohne Zwischenfall komme ich in meinem Zimmer an und lasse zuerst den Stoffballen auf mein Bett fallen. Anschließend platziere ich meine Stifte und Zeichnungen auf dem Schreibtisch. Den Rucksack hänge ich an die Garderobenhaken meiner Tür.

Ich reiße die Fenster auf, um die stickige Frühsommerluft durch eine frische Abendbrise zu tauschen. Ächzend hieve ich die Nähmaschine von ihrem Platz neben meinem Nachttisch auf den Schreibtisch. Ich betrachte die Wand, die ich mit Zeichnungen, Fotos und aus Zeitschriften geschnittenen Outfitinspirationen tapeziert habe.

Bevor ich mich meinen eigenen Designs widmen kann, spüre ich allerdings, wie der Kleidersack, der an meinem Schrank hängt, beinahe meinen Nacken kitzelt.

Zuerst muss ich dieses verfluchte Brautkleid umnähen, das ich gestern noch bei dieser leicht nervtötenden, perfektionistischen Braut abgemessen habe. Sie hat sich ständig im Kreis gedreht und ich kann nur hoffen, dass ich die Länge des Tülls und des Unterstoffes richtig abgenommen habe.

Ich war kurz davor, sie mit einer Schimpftirade zu attackieren, als glücklicherweise auch noch mal meine Chefin eingegriffen hat. Meine dreimaligen Ermahnungen haben bei ihr leider nicht gefruchtet, wofür ich ihrem Kleid am liebsten einen Vokuhilaschnitt mit Fransen verpassen würde. Nur würde Christin dann sowohl mich als auch Lilith feuern. Das könnte ich meiner besten Freundin nicht antun, wo sie doch glücklich mit ihrem Job am Empfang des Brautmodengeschäfts ist. Eine Arbeit, die ich ihr vor ein paar Wochen besorgt hatte.

Ich schließe die Nähmaschine an den Strom und spule neues, weißes Garn auf. Während mein rechter Fuß auf dem Pedal ruht, swipe ich mit den Fingern über mein Handy. Ich klicke mich durch die Instagram-Stories meiner Freunde.

Und halte bei Harper inne.

Ihre Story schaue ich mir von vorn an und betrachte die drei kleinen Videos.

Dann noch mal.

Und noch mal.

Und ein weiteres Mal.

Nur um immer wieder bei demselben kurzen Clip stehenzubleiben.

#birthdayboy

Seine grünen Augen strahlen bei seinem breiten Lächeln. Er hat einen Dreitagebart und trägt ein hellblaues Shirt, das seine Haut leuchten lässt. Das volle Haar hat er sanft nach hinten gegelt, wodurch es in der Abendsonne leicht glänzt.

Ich werde diesen Anblick die ganze Nacht nicht mehr loswerden. Mein Mund wird bei meinen Fantasien ganz trocken. Unaussprechliche Gedanken, bei denen ich zu schwitzen beginne. Meine Haut prickelt und ich spüre ein Kribbeln zwischen den Beinen.

Ich streiche mit den Fingerkuppen meiner linken Hand über die Innenseiten meiner Oberschenkel. Zaghaft berühre ich meinen Hals, streiche über meinen Mund. Fast entfährt mir ein erregtes Keuchen.

Hitze steigt in meine Wangen, sobald das Video wieder verschwindet und ein Bild von Austins und Clovers gemeinsamer Backsession erscheint. Danach kommt ein Foto der fertigen Torte, auf die in geschwungenen Buchstaben ein Glückwunsch zum einundzwanzigsten Geburtstag geschrieben wurde.

Ich spüre einen winzigen Stich in der linken Brustseite, da meine Freunde auf den Videos von Harper zu sehen sind. Nur ich sitze zu Hause und erledige die Aufgaben, für die ich tagsüber keine Zeit habe. Wäre der Abgabetermin für die Stoffproben nicht übermorgen, hätte ich es womöglich auch zu seiner Feier geschafft. Aber weil Ignacio auch noch Saft über meinen Stoff geschüttet hat, ist es unmöglich geworden.

Mir wird mulmig zumute. Ich komme mir bei meinen Vorstellungen von seinen Fingern auf meinem Körper erbärmlich vor. Dabei wünsche ich mir seit Jahren nichts sehnlicher, als mich ihm hinzugeben. Ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn begehre. Doch ich habe zu viele andere Baustellen, die meine Aufmerksamkeit erfordern.

Ein weiteres Opfer, das ich für meine Familie erbringe. Gleichzeitig ist es das größte Opfer, das ich von mir selbst verlange. Bei dem ich mir sicher bin, dass ich eines Tages daran zugrunde gehe.

Es gibt nichts Schlimmeres als unterdrückte Gefühle, die jedes Mal hochkommen, wenn ich in seiner Nähe bin. Wenn ich ein Bild von ihm sehe. Wenn ich eine freie Minute habe und meine Gedanken stets zu ihm wandern.

Wie oft ich mich frage, was er gerade tut oder woran er denkt. Wie oft ich nachts wach im Bett liege und von ihm fantasiere.

Irgendwann platze ich noch wegen all dem, was ich fühle. All das, was tief in meinem Herzen schlummert und was ich nicht in die Welt hinausschreien kann.

Ich presse die Lippen aufeinander. Meine Finger wandern über mein Handydisplay und ehe ich wieder einen Rückzieher machen kann, habe ich ihm bei Instagram eine Nachricht geschickt.

 

Ich: Alles Gute zum Geburtstag, Hudson. Feier schön. Sorry, dass ich nicht dabei sein kann. Besos. <3

Ohne eine Antwort abzuwarten, werfe ich das Handy auf die Bettdecke. Ich nehme das Brautkleid aus dem Überzug, um mich an die Arbeit zu machen.

Vorhin habe ich wirklich nicht gelogen, denn das hier schreit alles nach einer doppelten Nachtschicht. Ich freue mich schon auf die Nervennahrung in Form von Tiramisu. Immerhin stellt dieser Tag noch etwas Positives in Aussicht. Auch wenn das mal wieder mit ungesundem Essen und Dutzenden Kalorien verbunden ist.

Ich fädele das Garn durch das dünne Nadelöhr und beginne seufzend mit meinem allabendlichen Ritual.

 

 

2 Hudson

 

Grandpa quatscht mit Reverend Bennett und pflückt ein paar Dollarscheine aus seinem Geldbeutel, die er dem Pastor zusteckt.

»Ich glaube, heute war das letzte Mal, dass ich mit dir in die Kirche gegangen bin, Kumpel«, stöhnt Brooks, der sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel reibt. »Von dem Gesang bekomme ich immer furchtbare Kopfschmerzen.«

»Das sagst du jedes Jahr, kommst dann aber trotzdem mit, weil du meinem süßen Hundeblick nicht widerstehen kannst.« Ich wackle mit den Augenbrauen, bevor ich besagten Gesichtsausdruck aufsetze. Dafür kassiere ich allerdings einen ordentlichen Fausthieb gegen meinen Oberarm.

»Ich bin nur wegen des Kuchens hier.« Brooks schaut meinem Großvater dabei zu, wie er dem Reverend regelrecht an den Lippen hängt. »Na ja, und eventuell wegen Clarence. Meinst du, wenn ich mir so einen Mantel überwerfe, bezahlt er mich auch dafür, dass ich irgendein wirres Zeug von Aposteln rede?«

»Ich denke, da muss ich dich enttäuschen. Seine Augen sind noch gut genug, um einen Scharlatan zu entlarven.« Ich schüttle mit dem Kopf und haue Brooks gespielt auf den Hinterkopf.

Dieser taumelt nach vorn. Er mimt den Schwerverletzten und tut so, als würde er um sein Gleichgewicht ringen. Ein gequälter Laut entweicht seinem Mund, was mindestens die Hälfte der Kirchengemeinde veranlasst, uns ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Brooks hebt entschuldigend die Hände in die Höhe und setzt ein spitzbübisches Lächeln auf. »Alles in Ordnung, Leute. War nur ein unsportliches Foul.«

Ich fasse mir an die Stirn. »Du sorgst noch dafür, dass wir aus dieser Gemeinde fliegen.«

Die umstehenden Menschen wenden ihre Blicke langsam wieder ab und konzentrieren sich auf ihre Gespräche. Mein bester Kumpel presst die Lippen aufeinander, kurz davor, in schallendes Gelächter auszubrechen. »Ich kann es nicht fassen, dass du deinen Sonntagmorgen lieber mit alten Spießern verbringst als mit einem fetten Kater von der Party am Vortag.«

Meine Hand wandert zu dem Kreuzanhänger meiner Kette und ich spüre die spitzen, kühlen Ecken des Metalls an meinen Fingerkuppen. Ich hebe die Achseln. »Ist ja nur alle zwei Wochen.«

»Zwei Tage im Monat zu viel«, erwidert Brooks seufzend.

»Mir wäre sechsmal die Woche Basketball auch zu viel.«

»Touché.«

Grandpa verabschiedet sich von dem Reverend mit einem freundlichen Händedruck. »Bis nächste Woche dann, Keith.«

»Ihr duzt euch?«, frage ich verwundert.

»Aber natürlich, wieso auch nicht? Keith ist ein äußerst freundlicher Mann.« Mein Großvater schiebt seine Brille auf den grauen Kopf, auf dem das Haar inzwischen eher licht geworden ist.

»Und sicher noch freundlicher, wenn man ihm zehn Dollar in den Superheldenumhang steckt«, flüstert Brooks mir zu.

Ich pruste los und bin gleichzeitig entsetzt über den Blödsinn, der ständig aus seinem Mund zu kommen scheint. Wie Harper es mit ihm aushält, ist mir schleierhaft. Mir geht er schon auf den Senkel, wenn ich nur länger als eine Stunde mit ihm Tekken zocke. Oder wenn er mal wieder nicht einkaufen war. Oder wenn seine stinkende Trainingstasche offen im Badezimmer liegt. Ich klinge schon wie ein Ehemann, dabei wäre mit Brooks verheiratet zu sein das Letzte, was ich mir für mein Leben wünschen würde.

»Du meinst wohl liturgisches Gewand, mein Junge«, verbessert Grandpa ihn mit scharfem Blick aus seinen dunklen Augen. Die Falten tanzen dabei in seinem Gesicht und umrahmen den tadelnden Ausdruck, mit dem er meinen Kumpel straft.

Brooks bringt es scheinbar nicht aus der Ruhe, dass Grandpa jedes seiner Worte gehört hat. »Genau das lag mir auf der Zunge, Clarence.«

»Ja, ja, denk nicht, ich wäre senil. Deine ironischen Sprüche kenne ich inzwischen fast so gut wie die von Hudson.« Grandpa zieht spielerisch ein paarmal an Brooks’ Ohr. »Der neue Reverend ist mir inzwischen ein guter Freund geworden. Er und seine Frau haben mich erst letzten Monat zum Essen eingeladen.«

Ich klopfe meinem Großvater auf die Schulter. »Es freut mich wirklich sehr, dass ihr euch so gut versteht.«

»Mich auch«, beteuert Brooks.

Grandpa und ich werfen ihm einen genervten Blick zu.

»Du bist und bleibst ein elender Schleimer, kleiner Brooks«, gebe ich zurück und stoße ihn mit meiner Schulter in Richtung unseres Autos.

»Alter, ich bin seit fünf Jahren größer als du.«

»Die vier Zentimeter sind dir viel wert, oder? Ich wusste nicht, dass es dir so sehr auf die Größe ankommt. Musst du damit anderweitige Defizite kompensieren?« Ich nehme ihm seine Cap ab und setze sie meinem Großvater auf.

»Wie alt bist du noch mal geworden? Zweiundzwanzig oder zwölf? Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Er greift nach der Kappe und wirft sie uns wieder zu.

Brooks fängt sie geschickt aus der Luft, bevor ich danach greifen kann. »Du wolltest deine Größe ständig vergleichen, Kumpel. Ich habe keine Defizite«, wettert dieser, wobei er sich die Cap verkehrt herum auf den Kopf setzt.

»Unmöglich bist du, das ist alles.« Ich grinse auf dem Weg zurück zum Wagen. Was soll man auf eine solch überzeugende Feststellung auch Weiteres antworten?

»Ich freue mich, dass bei euch alles wie immer ist.« Grandpa steuert auf die Fahrertür zu. »Wer hat Hunger auf Kuchen?«

 

 

Nach einer zehnminütigen Fahrt zurück zum Grundstück meines Grandpas stehen Brooks und ich in der Küche. Er kramt Geschirr hervor, während ich Kaffee koche.

»Danke für den Kuchen, Rita. Wir sehen uns dann morgen«, verabschiedet sich mein Großvater von seiner Nachbarin und schließt die Tür geräuschvoll hinter sich.

»Soll ich dir helfen?«, rufe ich und eile in den Flur, um ihm etwas abzunehmen.

Dabei falle ich beinahe über Blaze, der sich der Länge nach auf dem Boden breitgemacht hat. Er liegt auf dem Rücken und spielt mit einem kleinen Häschen, das jedes Mal quietscht, wenn er draufbeißt. Inzwischen geht er mir bis zum Knie. Ich bin gespannt, wie viel er noch wachsen wird. Zum Glück haben Clover und Austin ihn im Winter gerettet. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie ihn nicht rechtzeitig gefunden hätten. Seit ein paar Monaten hat er hier sein neues Zuhause gefunden, worüber ich sehr froh bin. Denn so hat mein Großvater jemanden, der auf ihn aufpasst, wenn ich gerade mal nicht in Woodstown bin.

»Tritt nur nicht dem armen Hund auf die Pfoten.« Grandpa schüttelt amüsiert den Kopf.

»Echt jetzt? Dir ist der Hund wichtiger? Was, wenn ich über ihn gestolpert wäre?« Ich bücke mich, um den plüschigen Bauch des Berner Sennenhundes zu streicheln. Daraufhin wedelt er mit der Rute und springt auf. Mit einem Satz hat er die Pfoten gegen meine Brust gedrückt und schleckt mir mit der feuchten Zunge durchs Gesicht.

Brooks’ kehliges Lachen ertönt hinter mir. »Alter, das ist mehr Erotik, als du die letzten paar Monate hattest, oder?«

»Halt die Klappe.« Ich löse mich von dem Hund. Mit einer schnellen Bewegung schnappe ich mir das angesabberte Häschen von Blaze und werfe es direkt in Brooks’ grinsendes Gesicht.

Dieser begutachtet das Kuscheltier erst kritisch, dann wirft er es wieder dem Hund zu. »Ich geh mal die Muffins von Harper und mir aus meinem Auto holen.«

Er schlüpft nach draußen und ich gehe mit Blaze an meiner Seite zurück in die Küche. Von dort bringe ich die Teller und Tassen nach draußen auf die Terrasse. Rasch decke ich den Tisch, auf dem ein Strauß Pfingstrosen steht. Grandpas Blumen sehen auch Tage, nachdem er sie gepflückt hat, noch so aus, als kämen sie frisch vom Feld.

Ich halte ihm das Fliegengitter auf, als er mit dem prall gefüllten Kuchenteller hantiert. Brooks kommt um die Ecke und stellt den Teller mit Muffins ebenfalls auf dem steinernen Terrassentisch ab. Ich hole noch fix den Kaffee aus der Küche, bevor ich mich zu den Männern an den Tisch setze. Blaze legt sich neben Grandpa, da bei ihm die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass er ein Stück Kuchen fallen lässt.

Eine Weile lassen wir uns den Kuchen und den Kaffee schmecken. Bei Temperaturen jenseits der dreißig Grad meide ich normalerweise jegliche Form von Heißgetränken. Doch bei purem, schwarzem Koffein mache ich gern mal eine Ausnahme. In Windeseile bin ich bei meinem dritten Stück Aprikosenkuchen angekommen, obwohl ich dazwischen noch mindestens zwei Muffins in mich gestopft habe.

»Warum ist Harper heute nicht mitgekommen?«, fragt Grandpa lächelnd, nachdem er Blaze mit einem halben Muffin gefüttert hat.

»Sie ist übers Wochenende nach New York zu ihrer Familie gefahren. Heute ist sie mit ihrer Mom essen und kommt erst danach wieder«, sagt Brooks und nimmt sich noch ein Stück Kuchen.

»Schade, dass sie nicht dabei ist. Sie ist so ein liebes Mädchen.« Etwas, das er über meine Ex-Freundin Bailey nie gesagt hat. Grandpa nickt meinem Kumpel liebevoll zu. Obwohl ich es nicht möchte, verspüre ich einen winzigen Stich in der Brust.

»Das ist sie«, schwärmt Brooks mit gläsernem Blick.

»Wie sieht es denn bei dir mit den Frauen aus, mein Junge?« Grandpa legt seine schwielige Hand über meine. Obwohl er mein Großvater ist und mir eine eigentlich einfache Frage gestellt hat, fühle ich mich plötzlich wie in der achten Klasse im Matheunterricht. Als mein Lehrer mich drannahm, um sich an meinem nicht vorhandenen Talent zu ergötzen. Jedes Mal, wenn ich die Gleichung falsch löste, legte er einen Dollar in ein Sparschwein. Davon gingen wir am Ende des Schuljahres gemeinsam Eis essen. Irgendwann fand ich die Idee amüsant, weil ich wirklich eine komplette Null in Mathe war. Aber in der achten und neunten Klasse war mir das vor den Mitschülern unsagbar peinlich, wenn ich stotternd und schwitzend vorn an der Tafel stand.

»Ich …«, fange ich an und räuspere mich lautstark. »Tja, seit Bailey war da bisher niemand mehr, den ich interessant genug fand.«

Mit dem Daumen streiche ich über das Tattoo auf der Innenseite meines Unterarms, kurz vorm Handgelenk, das ich mir mit achtzehn habe stechen lassen.

I survived it because the fire inside me burns brighter than the fire around me.

»Das tut mir leid zu hören. Aber du bist noch so jung, es kommen und gehen sicherlich noch etliche Damen.« Grandpa drückt meine Hand mit zerknirschter Miene. Ihm scheint ebenfalls aufgefallen zu sein, dass dieses Gespräch sich in eine unangenehme Richtung entwickelt.

Ich nicke ihm zu, allerdings will ich momentan keine Frau wieder so nah an mich heranlassen. Meine letzte Beziehung hat mir die Luft zum Atmen genommen. Bailey hat mich erdrückt und auch ich habe ihr nicht gutgetan. Wir waren nicht füreinander bestimmt. Ich hatte sie wirklich gern, die Trennung war wirklich hart. Nach allem, was ich ihr über die Frau vor ihr erzählt hatte, wäre ich nie davon ausgegangen, dass sie mich vor vollendete Tatsachen stellen könnte.

Ich schlucke schwer, der Geschmack des Kaffees brennt in meinem Hals. Die Aprikosen haben ein saures Kribbeln an meinem Gaumen hinterlassen. Dieses Thema ist keines, an das ich bei meinem Geburtstagskaffee gern erinnert werde.

»Hast du Clarence schon von deinem Engagement für die Theaterfakultät erzählt?«, lenkt Brooks die Unterhaltung auf einen anderen Punkt.

»Noch nicht.«

Grandpa lehnt sich zu mir vor, Neugierde flackert in seinen Augen.

»Ich habe doch für mein Abschlussprojekt fürs zweite Studienjahr mein erstes eigenes Drehbuch geschrieben. Die Dozenten fanden es wohl ansprechend und haben es den Leuten vom Theater gezeigt, die es in ein paar Wochen am Campus aufführen werden. Sie proben bereits seit einem Monat«, berichte ich meinem Großvater.

Er streicht sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Und das sagst du mir erst jetzt?«

»Bis vor ein paar Tagen stand das ganze Projekt noch auf der Kippe, weil wir nicht wussten, ob wir von der Uni bezuschusst werden. Ich wollte die Pferde nicht zu früh Scheu machen. Aber seit Freitag ist alles geklärt.« Ich schütte den Rest des Kaffees herunter. Das vorherige Gesprächsthema schlägt mir nach wie vor auf den Magen. Bei dem Gedanken daran zieht sich mein Herz zusammen.

Also schüttle ich ihn unsanft ab und fokussiere mich auf die Neuigkeiten, die ich meinem Grandpa gerade mitgeteilt habe.

Er klatscht einmal schallend in die Hände. Die Falten um seinen Mund werden tiefer, als er breit lächelt. »Das ist ja großartig! Wann ist denn die Premiere?«

»Ende Juli. Zumindest wenn wir nächste Woche jemanden finden, der sich um die Garderobe und die Kulissen kümmert«, antworte ich. »Am Mittwoch haben wir ein Casting, bei dem sich hoffentlich jemand als interessiert und kompetent genug herausstellt.«

»Da wird sich bestimmt jemand finden. Ich drücke dir jedenfalls beide Daumen. Darf ich das Stück denn vorher mal lesen oder ist das noch alles streng geheim?« Mein Großvater gießt uns allen noch eine Tasse Kaffee ein. Anschließend verteilt er die restlichen Kuchenstücke auf Brooks und meinen Teller. Den letzten Muffin teilt er sich mit Blaze, der – treu wie er ist, wenn es ums Essen geht – seine Schnauze auf Grandpas Oberschenkel platziert hat.

»Eigentlich ist alles superdiskret, aber für dich würde ich eine Ausnahme machen«, ziehe ich ihn auf. »Das ist nicht so lebensverändernd, wie es sich anhören mag. Ich habe keine Verträge mit irgendwelchen Verschwiegenheitsklauseln unterschrieben.«

»Noch nicht.« Brooks hebt seine Porzellantasse an und stößt sie wie ein Bierglas gegen meine. »Irgendwann können wir dich nur noch in Hollywood besuchen, was, Clarence?«

Mein Großvater hustet ein wenig, weil er sich beim Lachen an dem Muffin verschluckt haben muss. Er reckt die Tasse mit uns in die Luft. Es klirrt, als sie gegeneinanderstoßen. Glücklicherweise geht kein filigran bemaltes Porzellan zu Bruch. »Auf euch, Jungs. Eines Tages werdet ihr die Welt regieren.«

 

 

3 Carlota

 

Ich streiche über den ockerfarbenen Viskosestoff. Er ist angenehm weich unter meinen Finger. Nicht umsonst wird er als Kunstseide bezeichnet.

Ich ziehe eine Bahn von der Rolle und messe mit einem Band nach, ob die Länge für das Innenfutter meines Mantels reichen wird. Mir gefällt es, wenn die Kleidung nicht kratzt, sondern ein angenehmes Tragegefühl auf der Haut hinterlässt. Da das Bouclé für den äußeren Teil des Mantels eher rau ist, soll das Innere sich sanft an den Körper schmiegen.

Ein weiterer Vorteil ist es, dass die Farbe des Stoffes perfekt zu den Schuhen passt, die ich letzte Woche im Gimme One More Chance gesehen habe. Hoffentlich sind sie noch dort, wenn ich später nach dem Spanischkurs in den Second-Hand-Laden hineinschneie.

Ich gehe die Maße meiner Skizze durch und rolle noch etwas mehr Viskose ab. Mit der Stoffschere schneide ich ein passendes Stück ab. Immerhin werden uns ein paar Basisstoffe von der Uni finanziert. Aber das Bouclé sowie sämtliche Accessoires, die es nicht im Theaterfundus gibt, muss ich mir selbst kaufen. Wenn ich ehrlich bin, sind die Sachen, die es dort gibt, nicht unbedingt modern oder hübsch anzusehen. Deshalb bin ich des Öfteren auf Flohmärkten oder eben in Second-Hand-Läden unterwegs.

Wenigstens lassen sich die Sachen nach der Modenschau bei Vinted wieder verkaufen. Ansonsten würde ich von diesem Studium wirklich noch arm werden.

Ich suche mir eine beigefarbene, breite Spitzenbordüre heraus, die ich als Highlight auf den Saum des Mantels aufnähen möchte. Passende Perlenketten in Senfgelb habe ich vor ein paar Tagen von Austins Grandma geschenkt bekommen. Sie und Clover haben mir außerdem zwei grobmaschige Schals gestrickt, die ich bei der Präsentation meiner Kollektion miteinbeziehen werde.

Vor mir sehe ich bereits die fertigen Designs. Meine Skizzen werden der Vorstellung in meinem Kopf nicht einmal ansatzweise gerecht.

Das merkwürdige am Entwerfen von Mode ist es, dass man immer umdenken muss. Im Sommer kreiere ich Outfits für den Winter, obwohl ich schwitze und mir nichts Schlimmeres vorstellen könnte, als in einer Daunenjacke zu stecken. Die Models sind genervt, wenn sie dicke Mützen und gefütterte Stiefel tragen müssen, wenn es draußen fünfunddreißig Grad im Schatten sind.

Im Winter ist es dann genau umgekehrt. Ich trage noch Rollkragenpullover und Kuschelsocken, während ich mir Designs überlege, bei denen ich mich luftiger Stoffe wie Leinen oder Chiffon bediene.

Aus der Schublade nehme ich mir einige goldene Knöpfe und packe sie in meinen mitgebrachten Schmuckbeutel. Ich schaue mich im Atelier um und überlege, ob ich noch etwas vergessen habe. Falls ich heute Abend vor der Nähmaschine feststellen sollte, dass etwas fehlt, würde ich mich ärgern. Bis zur Show bleiben nicht mehr viele Wochen und ich habe noch Unmengen zu schneidern. Zeit zu verlieren, kann ich mir momentan nicht leisten.

Ich krame meinen Kalender hervor, in den ich gern meine To-do-Listen schreibe, um sie Punkt für Punkt abzuhaken. Hinter drei der Stichwörter auf der Was-ich-aus-dem-Atelier-brauche-Liste kann ich einen Haken setzen.

Mir fehlt noch das Glitzergarn, das Professorin Leighton im letzten Jahr an meinen Designs geliebt hat. Meine Kommilitonen fanden es zu gewagt, doch ich habe mich dafür entschieden, es zu verwenden. Mir hat es gefallen und dem Sommerlook einen Hauch Eleganz verliehen. Ein Detail, das den Wenigsten auffallen würde. Aber wenn, dann sorgt es für großes Aufsehen. Eben wie bei unserer Professorin, die mir für meine kreative Arbeit eine glatte Eins gegeben hat. Die beste Note, die sie in unserem Jahrgang vergeben hat.

Ich klaube meine Sachen zusammen. Ein letzter prüfender Blick durch den Raum und ich weiß, dass ich für heute nichts vergessen habe. Als ich aus dem Atelier gehen will, rausche ich geradewegs in Tybalt hinein.

»Carli, hi, genau zu dir wollte ich«, bringt er atemlos hervor und lässt sich auf einen Stuhl fallen, der vor einer der Werkbänke steht. Er greift nach der Gliederpuppe und richtet ihre Arme in die Höhe. Dann zeigt er mit der Holzfigur auf mich. »Ich habe einen Auftrag für dich.«

Irritiert schaue ich meinen Mentor an. Er sieht mal wieder so aus, als hätte er gerade einen Fallschirmsprung hinter sich. Seine blonden Haare stehen in alle erdenklichen Himmelsrichtungen ab. Die Augen hat er immer ein Stückchen zu weit aufgerissen und seine Wangen sind gerötet.

»Por Dios! Was denn für einen Auftrag? Ich habe in den nächsten Tagen keine einzige freie Minute mehr.« Ich nehme mir einen der umstehenden Stühle und lasse mich ihm gegenüber nieder.

»Du musst quasi gar nichts machen. Ich kümmere mich um alles. Es reicht mir, wenn du Ja sagst. Oder sí. Von mir aus auch oui.« Er fuchtelt wild mit der Gliederpuppe in der Luft herum, hantiert erneut an ihr, sodass es letztlich aussieht, als würde die Figur vor mir niederknien.

»Das klingt mir nach einem ziemlich zwielichtigen Angebot«, ziehe ich ihn auf.

Mir ist bereits in der Einführungswoche aufgefallen, dass Tybalt und ich auf einer Wellenlänge sind. Sowohl in fachlicher Hinsicht als auch beim Humor. Er gibt mir etliche wertvolle Ratschläge, die mir hin und wieder schon ein paar gute Noten beschert haben. Die Professoren unserer Fakultät kennen meinen Namen dank ihm bereits seit dem ersten Semester. Er ist scheinbar nicht darum verlegen, mich bei jeglichen Lehrstuhltreffen zu erwähnen.

»Ich mache nur zwielichtige Angebote. Das müsstest du doch inzwischen wissen, Miss España.« Mit seinen neunundzwanzig Jahren gehört Tybalt zu den gefragtesten Jungdesignern des Landes. Trotzdem zweifle ich des Öfteren an seinem Verstand. Insbesondere dann, wenn er es für eine gute Idee hält, seine Kollektion einen Abend vorher noch mal fast komplett über den Haufen zu werfen. Nur um über Nacht noch rasch Pailletten mit Leder zu kombinieren. Stoffe, die auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheinen, werden bei ihm zum Leben erweckt.

»Weißt du noch, als wir im Frühjahr auf der New York Fashion Week waren und ich dich gefragt habe, ob du das Samtkleid in der Taille raffen kannst?« Er lehnt sich zu mir vor und hält mir die Gliederpuppe direkt vor die Nase.

»Ich erinnere mich«, gebe ich schmunzelnd zurück.

Wenn auch nur verschwommen.

Die Eindrücke, die ich während Tybalts Show sammeln durfte, habe ich erst langsam verarbeiten können. Es geschah so vieles gleichzeitig und ich war völlig in dem Gefühl verloren, Mode zu kreieren. Mit meinen eigenen Händen etwas zu schöpfen, das die Menschen begeisterte. Etwas, das die Models auf dem Laufsteg trugen und worüber die Magazine berichteten. Dorthin wollte ich.

Tybalt hatte mir vor ein paar Monaten meinen sehnlichsten Wunsch erfüllt. Seitdem sind meine Ziele hoch gesteckt und ich bin bereit, sie eines Tages zu erreichen. Diese Woche hatte mich zum Träumen animiert. Mir gezeigt, was möglich wäre.

»Damals meintest du auch, du hättest keine Zeit und müsstest an der Hose weiterarbeiten.« Er wartet meine Reaktion ab, also nicke ich, weiß jedoch nicht, worauf er hinaus möchte. »Weißt du noch, was ich daraufhin gesagt habe?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ist das eine Fangfrage?«

Unbeirrt von meinen Worten spricht er weiter. »Ich sagte, dass man hin und wieder eine Arbeit liegen lassen muss, um etwas Grandioses zu erschaffen. Manchmal brennt dir etwas auf der Seele und es muss raus. Es bahnt sich seinen Weg nach draußen. Ich meinte, du solltest die dämliche Hose in die Ecke werfen und dich auf das Kleid fokussieren. Und siehe da, es ist zu einem der It-Pieces der Saison geworden. Nur weil ich meiner Intuition gefolgt bin und du meine Idee dermaßen genial umgesetzt hast.«

»Du redest wirres Zeug, Ty«, erwidere ich. »Stand der Textilkleber wieder offen und deine Nase konnte nicht widerstehen?«

»Geh bloß weg mit diesem stinkenden Schund. Nur wer nichts von seinem Handwerk versteht, verwendet diesen Stoffkleber.« Er schüttelt entsetzt den Kopf und richtet die Puppe wieder auf mein Gesicht. »Nein, Miss España, damit möchte ich dir nur klarmachen, dass du nie zu wenig Zeit hast. Es kommt darauf an, wofür du dir die Zeit nehmen möchtest. Und ich denke, mein Auftrag ist es wert, ein paar Stunden zu opfern.«

Mein Mentor stellt die Figur endlich wieder beiseite. Mit gefalteten Händen und wissendem Lächeln betrachtet er mich einen Moment lang. Am Anfang waren mir seine bohrenden Blicke unangenehm, doch mittlerweile komme ich mit seiner leicht wahnwitzigen Art zurecht.

»Und wofür, denkst du, soll ich meine kostbaren Tage auf Erden verwenden?« Ich lehne mich auch vor und starre ihn mit demselben durchdringenden Ausdruck an.

»Für das neue Theaterstück.«

»O Gott, nie im Leben. Da konzentriere ich mich doch lieber auf meine Abschlusskollektion.«

Tybalt lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. »Hör es dir doch erst mal an.«

»Was denn? Haben sie den Kostümfundus endlich niedergebrannt? Oder gab es eine große Motteninvasion?« Ich stecke die Klammer an meinem Hinterkopf fest und streiche mir die restlichen Strähnchen hinters Ohr.

»Ay, Señorita«, tadelt er mich. »Es geht um die Garderobe für die Vorstellung. Es soll moderner werden, lässig und gleichzeitig stilvoll. Klingt das nicht nach etwas, das dir gefallen könnte?«

»Eine weitere Arbeit kann ich momentan nicht in meinen Kalender quetschen.« Ich seufze aus tiefstem Herzen, denn Tybalt sieht mich mit herabhängenden Mundwinkeln an. »Was müsste ich denn machen?«

Er schlägt mit der geballten Faust auf die Tischplatte und erhebt sich. »So will ich das hören, Carli.«

Mit stapfenden, eiligen Schritten verschwindet er in der Kammer mit unseren Spinden. Dort, wo wir unsere alten Kollektionen aufbewahren.

Ich platziere meinen Kopf auf der abgestützten Hand und staune, als mein Mentor zurück ins Atelier kommt. In seinen Händen hält er die Kleidersäcke, auf die ich meine Initialen gestickt habe.

CGM. Der Name meiner Marke, die ich hoffentlich eines Tages führen werde.

»Was ist da drin?«, fragt Tybalt mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen.

»Ich weiß es nicht, sag du es mir.«

»Es ist ganz egal, was sich darin befindet.« Mit einem Rascheln öffnet er den ersten Sack. »Streetstyle in Paris.« Der zweite Reißverschluss gleitet nach unten. »Karneval in Rio trifft auf Rave-Szene in Berlin-Mitte.«

Er zeigt mir noch die anderen beiden Designs, die er aus meinem Spind gezogen hat. Allesamt Aufgaben der letzten beiden Semester, für die ich gute Noten bekommen habe.

»Es ist egal, weil jedes einzelne Outfit rasend schön ist. Nimm eines davon und bewirb dich damit, du kommst auf jeden Fall in die nächste Runde.« Er hängt die Kleiderbügel an den Pavillon und ich betrachte die Kleidung, die ich in den letzten Jahren hier an der Uni selbst gestaltet habe.

»Und dann, Ty? Was dann? Ich schaffe es beim besten Willen nicht, eine ganze Kollektion für das Theaterstück zu schneidern und auch noch meiner anderen Arbeit gerecht zu werden. Ich kann mich nicht vierteilen«, wende ich ein.

Mir schwirrt der Kopf von dem Gespräch. Eigentlich hatte ich nur schnell meine Liste abarbeiten und sofort weiter zum Brautmodenladen fahren wollen. Die Kleider muss ich dringend vor heute Nachmittag im Geschäft abliefern. Christin kennt in Sachen Unpünktlichkeit keine Gnade.

»Da komme ich ins Spiel. Wenn sie dich genommen haben, stelle ich dir eine Schneiderin aus meinem Ensemble zur Seite, bis deine Kollektion fertig ist. Klingt das nach einem Plan?« Tybalt wackelt mit den Augenbrauen. Er greift wieder nach der Gliederpuppe, die noch immer kniet, und stellt sie direkt vor mir ab.

»Was soll ich als Gegenleistung erbringen? Es reicht ja wohl kaum, wenn ich ihr die Skizzen und hübsche Stoffe gebe. Was springt dabei für dich raus?« Ich schaue ihn ungeduldig an. Schon früh im Leben habe ich gelernt, dass man seine Schulden bezahlen muss – komme, was wolle. Niemand tut etwas für dich, ohne dafür im Gegenzug etwas zu verlangen. Auch nicht Tybalt.

Und eine Gomez Martinez begleicht stets ihre Schuld. Womöglich schaue ich während des Änderns der Brautkleider zum wiederholten Male Game of Thrones und habe deshalb den Leitsatz der Lannisters auch für mich übernommen. Blutvergießen und Schlachten sind neben all der Spitze und den glitzernden Unterröcken eine willkommene Ablenkung. #TeamKhaleesi seit Staffel eins.

Als Nächstes werde ich allerdings erneut The Bold Type schauen.

»Du würdest mich einfach wieder auf die nächste Fashion Week begleiten. Mit deutlich gekürztem Gehalt, versteht sich. Aber ich brauche dich dort als meine persönliche Styling-Assistentin. Mehr verlange ich nicht.« Tybalt legt den Kopf schief und nickt mir zu. »Komm schon, Miss España, haben wir einen Deal?«

Der Plan ist verlockend, das gebe ich zu. Grundsätzlich habe ich mit einer Anmeldung nichts zu verlieren. Im Gegenteil. Es könnte in meiner Bewerbungsmappe gut aussehen, wenn ich über meinen Haute-Couture-Rand hinausschaue und Streetstyles für ein modernes Theaterstück entwerfe. Je mehr Aufträge ich in meiner Studienkarriere schon vorzuweisen habe, desto eher nehmen mich später die großen Häuser in Europa für ein Anerkennungsjahr.

Ich strecke ihm meine Hand entgegen. »Wir haben einen Deal, Ty. Gracias.«

 

 

»Also ich weiß ja nicht.« Lilith zieht die Stirn kraus.

Sie reicht mir eine winzige Kaffeetasse, die ich eher in einem Puppenhaus als in einem Brautmodengeschäft erwartet hätte. Selbst mit meinen dünnen Fingern habe ich Schwierigkeiten, dieses mickrige Porzellangeschirr zu greifen.

Ich setze mich auf einen der plüschigen Barhocker und lehne mich auf den Empfangstresen. »Vielleicht ist das eine gute Chance, mich in einem mir noch eher fremden Bereich zu beweisen. Ich meine, wann bekommt man schon mal die Möglichkeit, die Garderobe für ein Theaterstück zu kreieren?«

»Die Frage ist eher, ob man das überhaupt will.« Sie fährt sich durchs rote Haar und reicht mir die Karte mit den Bestellungen, die heute eingetroffen sind und die noch geändert werden müssen. Drei Kleider, für die ich bis Freitag Zeit habe.

»Ist ja nicht so, als müsste ich barocke, zehnlagige Hüftpolster und Spitzenkragen anfertigen. Es geht um eine trendbewusste Festlegung der Modelinie in dem Stück. Dafür muss ich ein paar Proben besuchen und mich mit dem Drehbuch auseinandersetzen. Vorausgesetzt natürlich, ich bekomme den Auftrag überhaupt.« Ich nehme einen Schluck Kaffee aus der Puppentasse und lege den Kopf in den Nacken. Angestrengt puste ich die Wangen auf und lasse die Luft langsam wieder entweichen.

»Du wirst den Job kriegen, da bin ich mir sicher. Aber du sagst doch, dass du mit deiner Abschlusskollektion schon so viel zu tun hast. Du glaubst wirklich, Tybalt gibt dir eine seiner Schneiderinnen und lässt dich dann noch auf der Fashion Week deine rechte Hand spielen? Meinst du nicht, er verfolgt damit irgendeinen Zweck?« Lilith stemmt die Hände in die Hüfte. Das rote Haar trägt sie zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengebunden. Sie verabscheut diese Frisur, wird von Christin jedoch mehr oder weniger dazu gezwungen, sie zu tragen. Da der Job hier aber fast doppelt so gut bezahlt ist wie der in der Unibibliothek, fügt Lil sich unserer strengen Chefin.

»Was soll er denn für einen Zweck verfolgen? Er beutet meine Arbeitskraft für die Fashion Week aus, bis ich das Studium abgeschlossen habe und meine eigene Marke gründe. Ich finde es sehr nett von ihm, dass er mich unterstützt.« Ich schiebe ihr meine Tasse hin, damit sie sie auffüllt. Der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee kitzelt mich in der Nase.

»Aber vielleicht will er was von dir?«, wendet Lilith ein, die immer noch skeptisch ist. Mit Tybalt ist sie noch nie wirklich warm geworden. Was wahrscheinlich daran liegt, dass die beiden grundverschieden sind.

Ich falle vor Lachen beinahe vom weiß gepolsterten Stuhl. Die Tasse klappert gefährlich, als sie zurück auf den Untersetzer stelle. »Habe ich vergessen zu erwähnen, dass er vor drei Wochen im engsten Familienkreis seine Frau geheiratet hat? Mit der er im Übrigen seit über elf Jahren zusammen ist.«

»Was nicht gegen eine Affäre mit einer heißen Studentin spricht«, brummt Lilith.

»Aber sicher nicht ein paar Tage nach der Hochzeit. Da müsste er doch noch in der Honeymoonphase sein. Außerdem habe ich Hayden schon kennengelernt. Die zwei sind ein Herz und eine Seele. Tybalt ist kein Typ, der seine Frau betrügen würde.« Mit einem großen Schluck trinke ich den Kaffee aus.

»Du sollst nur vorsichtig sein.« Meine Freundin legt ihre Hand über meine und übt sanften Druck aus. »Ich hoffe, du bekommst diesen Auftrag. Dann komme ich auf jeden Fall zu der Premiere. Das wäre das erste Mal seit der High School, dass ich ein Theater betrete.«

»Was für eine Ehre«, meine ich kichernd. Ich proste ihr mit meiner Tasse zu und sie füllt sie ein weiteres Mal auf.

»Pass bloß auf, dass Christin dich nicht beim Kaffeetrinken erwischt. Sonst zieht sie dir das vom Lohn ab. Damit hat sie mir letztens auch erst gedroht.« Lilith stellt die Kanne zurück auf die Ablage. Dort, wo rosafarbene Cupcakes, Sträuße weißer Rosen und Champagnerflöten stehen. Über dem Empfangstresen hängt eine silbern glitzernde Girlande, auf der Mr. & Mrs. steht. Darunter hängt eine in Bögen drapierte Lichterkette, an der tropfenförmige Diamanten um die Wette funkeln.

»Ich bin eh so gut wie weg. Ich muss die Kleider nach Hause bringen und Paula vom Tennis abholen.« Ich raffe die Karten zusammen. Zum dritten Mal diesen Monat hat eine Braut das Modell Theodora gekauft, das ich Anfang des Jahres gemeinsam mit Tybalt und Christin gestaltet habe.

»Aber komm gleich nicht zu spät zum Spanischunterricht, mi profesora«, ruft Lilith mir hinterher, als ich mich auf den Weg ins Lager mache.

Ich drehe mich auf dem Absatz um und ziehe eine Braue in die Höhe. »Mach ich nicht, keine Sorge. Komm du lieber nicht zu spät. Du hast letzte Woche schon einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen.«

 

 

4 Hudson

 

Ich springe von meinem Theatersessel hoch und winke den Darstellern auf der Bühne zu. Jasmin und Tom halten kurz vor der Kussszene inne. Beide schauen mich genervt an. Ich meine sogar, ein leises Ächzen zu hören, ignoriere es aber.

»Ronald, wir brauchen hier mehr Licht.« Ich deute auf die linke Hälfte der Bühne. Zu dem Pult, auf dem Jasmin zuvor gesessen hat. »Bitte mit einem Hauch mehr Gelbgold. Es soll ein epischer Moment werden.«

Der Techniker zischt etwas Unverständliches und richtet dann den Scheinwerfer aus. Nach einer winzigen Pause, in der ich es hinter mir klicken höre, leuchten die Schauspieler in einem sonnigen Gelb.

---ENDE DER LESEPROBE---