Bastarde der Strangorren - Daryll Fate - E-Book

Bastarde der Strangorren E-Book

Daryll Fate

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Beschreibung

Einst war ich eine erfolglose Hobbyschriftellerin und glaubte, meine Geschichten und die magischen Wesen darin wären nur ein Produkt meiner Fantasie. Doch dann traf ich meine eigenen Figuren leibhaftig und mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt.
In der Fantasy-Reihe „Magische Seiten“ beschreibe ich meine Abenteuer in dieser fantastischen Welt rund um die beiden Magier Rick und Alec. Ich erzähle Euch von einer tiefen Liebe, einer ungewöhnlichen Freundschaft und magischen Wesen, die sich im Verborgenen halten.
Seit meiner ersten Begegnung mit Rick und Alec war viel geschehen. Das Rätsel um meine magische Herkunft hatte sich endlich gelöst, Alec und Lluh waren mir wie eine Familie ans Herz gewachsen, und meine Liebesbeziehung zu Rick schien gefestigt zu sein ( Magische Seiten – Band 1: Ruf der Marwaree & Band 2: Fluch der Taikons).
Aber dann war durch meine Schuld Ricks dämonische Seite endgültig ausgebrochen und er hatte sich den Strangorren, bluttrinkenden Dämonen mit zerstörerischen Kräften, angeschlossen ( Magische Seiten – Band 3: Blut der Strangorren). Mich hatte er einfach zurück gelassen. Verlassen. Schon zum zweiten Mal. Natürlich war ich ihm gefolgt und dank meines unverbesserlichen Dickkopfs war Rick nun wieder mit mir zusammen, sogar noch enger als jemals zuvor. Doch das hatte von uns allen einen hohen Preis gefordert. Unser Kampf ums Überleben hatte gerade erst begonnen …

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Daryll Fate

Bastarde der Strangorren

Vierter Band der Reihe "Magische Seiten"

UUID: bd012598-8c3b-4646-93e3-1ccfb8e9f1a1
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhalt

Einst war ich eine erfolglose Hobbyschriftellerin und glaubte, meine Geschichten und die magischen Wesen darin wären nur ein Produkt meiner Fantasie. Doch dann traf ich meine eigenen Figuren leibhaftig und mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt.

In der Fantasy-Reihe „Magische Seiten“ beschreibe ich meine Abenteuer in dieser fantastischen Welt rund um die beiden Magier Rick und Alec. Ich erzähle Euch von einer tiefen Liebe, einer ungewöhnlichen Freundschaft und magischen Wesen, die sich im Verborgenen halten.

Seit meiner ersten Begegnung mit Rick und Alec war viel geschehen. Das Rätsel um meine magische Herkunft hatte sich endlich gelöst, Alec und Lluh waren mir wie eine Familie ans Herz gewachsen, und meine Liebesbeziehung zu Rick schien gefestigt zu sein (Magische Seiten – Band 1: Ruf der Marwaree & Band 2: Fluch der Taikons).

Aber dann war durch meine Schuld Ricks dämonische Seite endgültig ausgebrochen und er hatte sich den Strangorren, bluttrinkenden Dämonen mit zerstörerischen Kräften, angeschlossen. Mich hatte er einfach zurück gelassen. Verlassen. Schon zum zweiten Mal.

Natürlich war ich ihm gefolgt und dank meines unverbesserlichen Dickkopfs war Rick nun wieder mit mir zusammen, sogar noch enger als jemals zuvor. Doch das hatte von uns allen einen hohen Preis gefordert (Magische Seiten – Band 3: Blut der Strangorren): Die Strangorren hatten Alec fast vollständig ausgesaugt, sein Blut ebenso wie seine Magie. Trotzdem hatte er Rick dabei geholfen, mich zu heilen, nachdem die kleine Werwölfin Chocco mir die Kehle aufgerissen hatte, um mich in ihr Rudel zu holen. Ich wusste noch immer nicht, mit welcher Art von Magie Rick und Alec mich vor dem sicheren Tod bewahrt hatten – und zu was für einer Kreatur ich nun wurde.

Außerdem hatte Rick eine Revolte unter den Strangorren losgetreten, als er – nicht ganz freiwillig – einen magischen Blutsbund mit mir eingegangen war. Einige von Ricks treuesten Strangorren-Dämonen hatten daraufhin die Seiten gewechselt und seitdem schäumte ihr ehemaliger Anführer Caleb vor Wut auf uns. Calebs ganz besonderer Hass richtete sich dabei auf mich, denn irgendwie hatte ich es geschafft, seine Alpha-Magie gegen ihn zu wenden. Keiner wusste so genau, woher meine neuen magischen Kräfte stammten und was sonst noch in mir brodelte.

Nichtsdestotrotz gab es auch gute Nachrichten. Wir waren alle noch am Leben und in Kisha hatte ich eine weibliche Vertraute gefunden. Darüber hinaus schienen Rick und Alec endlich ihre Dauer-Fehde begraben zu haben. Vielleicht war das aber auch nur ein Zweckbündnis, denn wir befanden uns auf der Flucht, nicht nur vor Caleb, sondern auch vor Daretree, einem Wesen des Chaos. Unser Kampf ums Überleben hatte gerade erst begonnen.

TEIL 1

1

„ Selbst wenn ich deiner absolut hirnrissigen Argumentation zustimmen würde – was ich nicht tue –, warum zur Hölle musstest du es heimlich tun? Du hättest vorher mit mir darüber reden müssen!“

„Vorher mit dir darüber reden?“ Ich schnaubte. „Du hättest doch niemals zugestimmt. Lieber wärst du ...“

„ Ganz recht! Ich hätte niemals zugestimmt!“, fiel Rick mir ins Wort. Seine Finger gruben sich tiefer in meine Schultern. „Du wärst beinahe verblutet!“

„ Das ist lächerlich. An so einem kleinen Kratzer verblutet niemand!“

Wieder versuchte ich, mich aus Ricks Klammergriff zu lösen. Genauso erfolglos wie schon die letzte halbe Stunde. Eine halbe Stunde vollgefüllt mit einer endlosen Schimpftirade. Rick war einfach nicht zu stoppen. Und offenbar wollte er mich für den Rest seines Lebens festhalten – was unter anderen Umständen, wenn wir nackt und allein gewesen wären, eine durchaus verlockende Vorstellung war. Aber wir waren nicht nackt und wir waren alles andere als allein. Mal abgesehen von meinen beiden besten Freunden, Alec und Lluh, die sich ausnahmsweise auf Ricks Seite geschlagen hatten, starrten uns rund ein Dutzend weiterer Augenpaare an.

Es war eine ziemlich schräge Gruppe von Verbündeten. Am seltsamsten war vielleicht, dass ausgerechnet Lenny uns einen sicheren Unterschlupf gewährte. Denn Lenny und sein debiler Halbbruder Pax waren beide durch geschwisterliche Bande mit unserer schlimmsten Feindin Daretree verbunden. Daretree galt als Meisterin des Chaos und konnte die bösartigsten Emotionen in jeder Art von Wesen anstacheln. Sie liebte es, Terror und Leid zu verursachen, Wesen gegeneinander aufzuhetzen oder auch in den Selbstmord zu treiben. Als wäre das nicht schon übel genug, konnte sie sich auch noch verdreifachen inklusive ihrer beängstigend starken Kräfte. Lenny besaß anscheinend die gleiche Magie wie seine Schwester, auch die Sache mit dem Verdreifachen. Doch im Gegensatz zu Daretree fand er keinen Gefallen an der Qual von anderen. Zumindest redete ich mir das ein. Letztendlich hatte Lenny uns allen den Hintern gerettet und vor Daretree beschützt. Nach dem Kampf hatte er uns in ein sicheres Versteck geführt, ein stillgelegtes Sägewerk im Naturschutzgebiet an Frantows Felsküste.

Lenny half uns Kisha zuliebe, weil seine Schwester Daretree seinen schwachsinnigen Halbbruder Pax dazu gebracht hatte, Kisha das rechte Auge bei vollem Bewusstsein aus dem Gesicht zu reißen. Außerdem schien vor diesem Desaster noch so einiges mehr zwischen Lenny und Kisha vorgefallen zu sein. Doch weder Lenny noch Kisha wollten darüber reden.

Kisha wiederum war bei uns, weil sie eine Schwäche für Alec hatte. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass Alec diese zärtlichen Gefühle erwiderte, aber er wollte sich das aus irgendwelchen Gründen nicht eingestehen. Kisha wurde von Robin, einem ihrer Leute, begleitet. Warum Robin, dieser schlaksige Halbwüchsige, bei uns blieb, wusste ich nicht so genau – aber ich vermutete, dass es mit Lenny zusammenhing. Die beiden schienen befreundet zu sein. Vielleicht sah Robin in Lenny so eine Art väterlichen Mentor. Oder vielleicht wollte Robin erreichen, dass Kisha ihren Groll auf Lenny begrub.

Dann war da noch Johnny, der einzige Gestaltwandler in der Runde. Ein Werbaribal, also ein Wesen, das sich in so eine Art überdimensionalen Schwarzbär verwandeln konnte, vorzugsweise bei Vollmond. Johnny war ein Streuner und wie alle Gestaltwandler hasste er Strangorren. Aber Rick war für ihn nun mal so etwas Ähnliches wie ein großer Bruder, dem er beistehen wollte, auch wenn das bedeutet, an der Seite von Strangorren zu kämpfen.

Abgesehen von dieser wild zusammengewürfelten Runde umringte uns natürlich auch unser neues kleines Strangorren-Rudel. Braggard und seine Frau Fanny wirkten angesichts unseres Streits todunglücklich, ihr üblicher Gesichtsausdruck, wenn Rick und ich uns gegenseitig anfauchten. Ihre Tochter Maakra hätte sich früher darüber amüsiert, weil sie es toll fand, wenn jemand diesen verbohrten Macho-Strangorren Kontra gab. Aber seit ihr Bruder Cameron im Kampf schwer verletzt worden war, schien ihr aufmüpfiger Teenager-Spott verschwunden zu sein. Die anderen fünf Strangorren, Durago, Bakir, Hydor, Navarous und Rajko, verfolgten die Auseinandersetzung von Rick und mir mit einer Mischung aus Verunsicherung und Hilflosigkeit.

Rick schien es egal zu sein, dass wir von allen angestarrt wurden. Ich hingegen sehnte mich nach ein bisschen Privatsphäre und einem Ende dieses sinnlosen Streits. Doch Rick wurde nicht müde, mir Vorwürfe zu machen.

„ Kleiner Kratzer?“, blaffte Rick zum unzähligsten Mal. „Ich habe deinen kleinen Kratzer geheilt, ich weiß wie klein er war. Er war so klein, dass ich durch den Heilzauber bis morgen früh außer Gefecht gesetzt bin.“

„ Willst du mir jetzt etwa ein schlechtes Gewissen machen?“, empörte ich mich. „Dass ich damit uns alle in Gefahr gebracht habe, weil du uns nicht mehr verteidigen kannst?“

„ Scheiße, nein! Was ich will ist, dass du endlich aufhörst, solche Kamikaze-Aktionen im Alleingang zu starten!“

„ Aber es ist wahr“, meldete sich plötzlich Durago zu Wort. „Du hast uns alle in Gefahr gebracht, Fate. Der Geruch deines Blutes ist stark und süß. Fremdartig, leicht wieder zu erkennen. Er lockt Werwölfe, Strangorren und Vampire gleichermaßen an.“ Durago wandte sich an Rick. „Fate muss sich endlich waschen und wir müssen ihre Kleider verbrennen, sonst werden wir uns nicht mehr lange hier verstecken können.“

Es kränkte mich, dass ausgerechnet Durago Vorwürfe gegen mich erhob, denn er war mein heimlicher Liebling unter unseren Strangorren-Rebellen. Fuchsrote Haut, schräge Augen, hohe Wangenknochen und rabenschwarzes Haar. Seine Zähne waren wie bei fast allen Strangorren sehr spitz und auch die Klauen an seinen Händen konnten sich sehen lassen. Doch die typische Strangorren-Hautmusterung war bei ihm nur sehr schwach ausgeprägt, was deutlich zeigte, dass er ein Mischling war. Durago war Einzelgänger und wahrscheinlich war das auch der Grund, wieso er derjenige von Ricks Männern war, dem ich mich spontan am stärksten verbunden fühlte. Die meiste Zeit schwieg er, wirkte abweisend und in sich gekehrt, so als würde ihn das alles gar nicht interessieren. Umso mehr traf es mich, wie schlecht seine Meinung über mich war.

Noch viel schlimmer war, dass Durago recht hatte. Daran hatten weder Rick noch ich während unseres schier endlosen Streits gedacht. Wir hatten zwar die letzte Schlacht gegen Caleb und Daretree gewonnen, aber seitdem waren wir auf der Flucht. Dank Lenny hatten wir eine kurze Verschnaufpause, aber mehr auch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man uns entdeckte – und Durago hatte uns daran erinnert, dass wir gerade dabei waren, diese Zeit drastisch zu verkürzen.

Trotzdem! Ich hatte keine Wahl gehabt. Es war der einzige Weg gewesen, willentlich eine meiner Visionen herbei zu führen: Indem ich blutete. Dieser winzige Schnitt an meinem Hals, den ich mir zugefügt hatte, war nun wirklich nicht der Rede wert. Rick übertrieb einfach maßlos.

„ Danke, Durago“, brummte Rick. „Wenn es um Fate geht, übersehe ich manchmal das Offensichtliche.“ Rick ließ meine Schultern los und nahm mich bei der Hand. „Wir gehen runter zu den Klippen und waschen dir das Blut ab. Fanny, hast du noch halbwegs passende Klamotten für Fate?“

Fanny schüttelte den Kopf.

„ Ich besorge was“, sagte Lluh und flatterte los. Der kleine Viggill mit seinen Fledermausflügeln und dem magischen Talent, sich unsichtbar machen zu können, war ein Meister im Organisieren von dringend benötigten Dingen.

Stumm und kleinlaut ließ ich mich von Rick wegführen. Er hielt mich fest an der Hand. Instinktiv erwiderte ich seinen Händedruck. Rick war sauer auf mich, und ich auf ihn. Trotzdem mussten wir beide unseren üblichen Dickkopf hintenanstellen, denn es ging nicht mehr nur um uns zwei. Wir waren nicht mehr alleine. Wir waren letztendlich für alle verantwortlich.

Rick hatte damit kein Problem. Er war der geborene Anführer und er hatte nie etwas anders getan, als mit einem Team zu arbeiten. Auch wenn Rick kein übermäßig geselliger Mann war, so war er dennoch daran gewöhnt, in einer Gruppe zu agieren. Genauer gesagt, eine Gruppe anzuführen. Schon früher bei Moira und seinen Freunden. Dann war er zwar zu Caleb gegangen, dem ungekrönten Oberhaupt der Strangorren, aber auch dort hatte Rick sich nie wirklich unterworfen, sondern hatte gleich zum Einstieg den Rang eines Anführers bekommen. Offiziell war Caleb sein Alpha gewesen. Inoffiziell hatte das keine einzige Sekunde lang funktioniert. Stattdessen hatte er Caleb seine Männer abspenstig gemacht – und das noch nicht mal absichtlich. Für Rick war dieses Alpha-Gruppen-Ding seine zweite Natur.

Aber ich ... ich fühlte mich maßlos überfordert. Ich hatte Angst. Nicht wegen Caleb und seiner Meute wütender Strangorren, die uns an den Kragen wollten. Und auch nicht wegen Daretree, die ihren persönlichen Ehrgeiz daran gesetzt hatte, an mir Rache zu nehmen. Und auch nicht, weil mich ein weiblicher Mini-Werwolf gebissen hatte und ich mich womöglich in ein Monster verwandelte. Okay, letzteres machte mir tatsächlich einigermaßen zu schaffen. Aber immerhin hatte ich die kritische erste Vollmond-Nacht überstanden, ohne dass irgendetwas Abartiges aus mir geworden war. Bis auf diese Sache mit dem Spiegeln von Magie, als ich Caleb seine eigenen Kräfte um die Ohren geschleudert hatte. Er hatte seine Männer mit Alpha-Magie auf uns gehetzt – und ich hatte genau diese Alpha-Magie wie mit einem Hohlspiegel gegen ihn gekehrt. Ich hatte Calebs Magie dazu benutzt, seine Männer nach meinem Willen zu lenken und ihnen den Rückzug zu befehlen. Damit hatte ich Caleb in die Knie gezwungen und kurzfristig die Macht über seine Männer besessen! Das war ein wahnsinniges Gefühl gewesen, wie ein Rausch. Es hatte uns in der Schlacht den entscheidenden Vorteil verschafft und darauf war ich irrsinnig stolz. Aber es hatte mich auch zu etwas gemacht, was ich einfach nicht sein konnte. Meine neue Magie hatte mir eine Rolle aufgedrängt, die mir höllische Angst machte: Eine Alpha zu sein.

Ich war zwar Ricks Gefährtin und ich wollte mich auch gar nicht vor der Verantwortung drücken, die das mit sich brachte. Wenn Rick ihr männlicher Alpha war und wir durch die Hölle gehen mussten, dann war das eben so, und ich würde ohne zu murren an Ricks Seite sein. Als seine Geliebte und seine Gefährtin. Seine Männer hatten uns verteidigt. Also würde ich auch ohne zu zögern das gleiche für sie tun.

Aber ich war nun mal keine Alpha! Ich wollte laut schreien, dass sie sich für den Job eine andere suchen sollten. Das Problem war nur: da gab es keine andere.

>Hast du dir deswegen die Kehle durchgeschnitten? Weil du keine Alpha sein willst?<

Ricks Frage hallte unausgesprochen durch meinen Kopf. Verdammt! Ich hatte unsere neue Blutsverbindung vergessen. Dank ihr konnten wir uns auch stumm verständigen. Wir hatten es von Anfang an ziemlich gut hinbekommen, auf diese Art zu kommunizieren. Aber es war verdammt schwer, dem anderen etwas zu verschweigen. Zumindest mir fiel es schwer, mich von Rick abzuschotten.

„ Das ist nicht fair!“, fluchte ich. „Ich kann deine Gedanken nicht lesen, wenn du es nicht willst!“

Ricks Mundwinkel zuckten. „Ich kann deine Gedanken auch nicht lesen. Es war nur eine Frage ins Blaue hinein. Es ist das, was ich vermute. Und offenbar liege ich richtig.“

„ Erstens habe ich mir nicht die Kehle durchgeschnitten“, wiederholte ich zum ungefähr hundertsten Mal, „und zweitens wollte ich nur die Geschichte zu Ende zu schreiben, diese ...“, händeringend suchte ich nach einem geeigneten Wort, „nenn es von mir aus Vision. Ich hatte so ein Gefühl, dass mein Blut der Schlüssel dazu sein könnte. Und ich hatte recht damit“, fügte ich trotzig hinzu. „Es hat funktioniert. Nun wissen wir, wie lange Caleb dich schon beobachtet hat. Sein Vater hat dich bereits als Kind ausgesucht und in dir eine Gefahr für den Machtanspruch seines Sohnes erkannt. Calebs Fehler war es, dass er dich unterschätzt hat, dass er nicht wahr haben wollte, dass du ein Alpha bist, der sich niemals unterwerfen wird. Außerdem wissen wir jetzt, weshalb Caleb so erpicht darauf war, dass du den Blutsbund mit mir eingehst. Er hat von Anfang an darauf spekuliert, dass er dich mit mir erpressen kann. Du musst ihm sein Herz brechen oder sein Herz bricht dich – das war Courgens Prophezeiung an Caleb.“

„ Ich bin nicht begeistert darüber, dass mich jetzt alle für einen liebekranken Trottel halten. Aber abgesehen davon, um zu wissen, dass du meine Schwachstelle bist, braucht man nun wirklich keine Prophezeiung von Courgen.“ Rick seufzte. „Trotzdem ist es gut, dass du es niedergeschrieben hast. Meinen Männern gibst du damit die Bestätigung, dass sie das Richtige getan haben. Doch du musst endlich aufhören, mit dem Tod zu liebäugeln.“

„ Das habe ich nicht“, widersprach ich. „Ich habe das alles im Griff. Es hätte auch von alleine wieder aufgehört zu bluten.“ Das tat es nämlich immer, wenn es mit dem Schreiben und meinen Pseudo-Visionen zusammenhing.

„ Ja, das ist richtig“, stimmte Rick mir überraschenderweise zu.

Erstaunt sah ich ihn an. Trotz dieser scheinbar versöhnlichen Worte, war seine Wut immer noch deutlich spürbar.

„ Ich konnte spüren, wie sich deine Wunde schloss“, sprach Rick weiter, „doch sie heilte nicht schnell genug. Hätte ich nicht nachgeholfen, wärst du trotzdem verblutet. Du hast gerade erst einen Werwolf-Biss überstanden. Ganz zu schwiegen von dem Gemetzel mit Caleb und Daretree. Dein Körper ist momentan nicht stark genug für solche Experimente. Und ich bin nicht stark genug, um dich zu verlieren“, fügte er leise hinzu.

„ Du wirst mich nicht verlieren.“ Ich drückte seine Hand.

„ Nur um das mal ganz offiziell klar zu stellen“, knurrte Rick, „wenn du lebensmüde bist, dann wirst du nicht alleine gehen. Ich werde dich nicht sterben lassen – selbst wenn es das letzte ist, was ich tue.“

„ Das darfst du nicht! Willst du mir allen Ernstes damit drohen, dass du ...“

„ Es ist mir scheißegal, ob ich verbotene Magie benutzen muss oder dabei drauf gehe. Oder beides. Ich werde dich nicht sterben lassen! Und selbst wenn ich, rein theoretisch, ganz brav wäre“, fügte Rick süffisant hinzu. „Dein Tod wird ein Loch in mich reißen und daran werde ich zugrunde gehen. Wir haben einen Blutsbund. Unterschätze das nicht. Wenn du dich umbringst, dann tötest du uns beide.“

„ Ist das so?“, entgegnete ich und sah ihm fest in die Augen. „Gut. Denn dann wird dein Tod auch mich umbringen. Vielleicht hält dich das im Gegenzug davon ab, ständig deinen Hals zu riskieren.“

Ricks Miene wurde zu einem unergründlichen Pokerface. Eigentlich hatte ich ihm ein kleines Lächeln entlocken wollen. Dass er nun den Unnahbaren spielte, war kein gutes Zeichen. Bereute er es etwa, mit mir diesen Blutsbund eingegangen zu sein? Denn freiwillig hatte er es nicht getan. Auch nicht, als ich ihn darum gebeten hatte. Erst angesichts von Calebs Drohung, mich ihm für immer wegzunehmen, hatte Rick das Ritual durchgezogen. Ich legte den Kopf schief und musterte ihn. Pokerface hin oder her, aber mittlerweile kannte ich Rick gut genug. Das, was er vor mir verbarg war kein Bereuen. Plötzlich verstand ich.

„ Verdammt!“, fluchte ich. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Du spekulierst tatsächlich darauf, dass Alec dann die Magie des Chaos benutzt, um mich zu retten während du stirbst?“

„Wer von uns beiden kann jetzt Gedanken lesen?“

„ Habt ihr noch einen weiteren Kuhhandel geschlossen, von dem ich nichts weiß?“, giftete ich.

„ Kein Kuhhandel. Und keine Spekulationen. Alec ist, was dich betrifft, sehr berechenbar. Weitaus berechenbarer als du. Ich muss es hören“, kehrte Rick wieder zum ursprünglichen Thema zurück. „Bitte sag mir, dass du nicht lebensmüde geworden bist.“

„ Du denkst doch nicht wirklich, ich könnte Selbstmordgedanken hegen?“

„ Seit diesem Werwolf-Biss hast du Angst, dich in etwas Grässliches zu verwandeln. Du hast Angst, zu einem Monster zu werden. Ich weiß, was diese Angst mit einem machen kann.“

„ Ja, ich habe diese Angst“, gab ich zu. „Aber andererseits bin ich schon seit meiner Geburt ein Monster, das normalerweise gleich bei der Geburt vom eigenen Volk getötet wird. So ein Mischwesen wie mich darf es eigentlich gar nicht geben. Für die meisten bin ich eine Missgeburt. Doch als ich das erfahren habe, bin ich damit erstaunlich gut klar gekommen. Vielleicht weil ich so ein Eigenbrötler bin und schon immer das Gefühl hatte, irgendwie seltsam zu sein. Mich deswegen umzubringen ist mir ehrlich gesagt gar nicht in den Sinn gekommen. Für mich war damals nur wichtig, dass es für dich keinen Unterschied macht. So ist es auch jetzt. Solange du mich liebst, solange du mich so liebst, wie ich bin, will ich nicht sterben. Ich wollte wirklich nur die Geschichte zu Ende schreiben“, beteuerte ich. „Ich habe einfach nicht daran gedacht, dass mein Blutgeruch unsere Feinde anlocken könnte. Oder womöglich für deine Männer eine Versuchung ist. Das war gedankenlos. Das wäre einer echten Alpha nicht passiert“, fügte ich hinzu. „Ich bin eine Fehlbesetzung! Warum zur Hölle braucht ihr überhaupt eine Alpha!? Caleb hat auch kein weibliches Pendant.“

„ Es ist nicht so, dass wir eine weibliche Alpha brauchen. Trotzdem bist du es. Du bist es seit dem Moment, als du Caleb mit seiner eigenen Alpha-Magie besiegt hast. Du hast unsere Männer gerettet und ihren ehemaligen Alpha unterworfen als ich dazu nicht mehr fähig war. Und du bist meine Gefährtin, die Gefährtin ihres neuen Alphas. Aus all diesen Gründen bist du jetzt ihre weibliche Alpha. Das ist nur logisch.“

„ Zur Hölle mit Logik! Ich bin Einzelgänger, ein Außenseiter, schon mein ganzes Leben lang. Und jetzt soll ich eine Horde von Strangorren anführen? Wie soll das gehen?“

„Wen würdest du als meinen Stellvertreter vorschlagen?“

Verwirrt über diesen abrupten Themenwechsel starrte ich Rick an. „Wie kommst du jetzt darauf?“

„Sag schon. Wen?“

„ Ich kenne die meisten deiner Männer gar nicht.“

„ Genau deswegen frage ich dich. Nicht nachdenken. Sag mir einfach, bei wem es sich richtig anfühlt. Wenn ich nicht wäre, wer würde sie anführen?“

„ Durago“, antwortete ich schließlich meinem Bauchgefühl folgend.

„ Richtig“, bestätigte Rick. „Perfekte Wahl. Durago hat genug Mumm, sich einzumischen und auch einem dominanteren Mann Widerworte zu geben, wenn er von einer Sache überzeugt ist. Er ist unerfahren und bei weitem nicht der Stärkste meiner Männer. Doch wenn es hart auf hart kommt, ist er der Zäheste. Ihm ist es egal, ob die anderen ihn mögen, weil er immer ein wenig Abstand hält und nur seinem eigenen Urteil vertraut. Kommt dir das bekannt vor? Anführer und Außenseiter haben vieles gemeinsam. Manchmal ist es nur ein kurzer Augenblick, der darüber entscheidet, ob du das eine oder das andere bist.“

Wir hatten das Meer erreicht. Rick kraxelte mit mir zusammen die Klippen bis ganz hinunter. Ich wollte mich ausziehen, doch Rick hielt mich zurück. Irritiert sah ich ihn an, dann bemerkte ich das verräterische Glitzern in seinen Augen und lächelte. Wir waren allein. Die anderen außer Sicht- und Hörweite. Rick schälte mir stumm die blutbefleckten Kleider vom Leib und warf sie achtlos auf einen Haufen. Das letzte Kleidungsstück, ein hässlicher Baumwollslip, den Fanny mir gegeben hatte, entflammte in Ricks Hand. Er warf ihn auf den restlichen Kleiderhaufen und schickte noch einen kleinen Feuerball hinterher. Eine Stichflamme schoss hoch und meine Klamotten verwandelten sich in ein Häufchen Asche. Kein Stückchen Stoff, mit dem ich mich bedecken konnte, war übrig geblieben. Ich fühlte mich irgendwie ausgeliefert und wollte rasch ins Wasser steigen, um nicht splitterfasernackt mitten in der Wildnis zu stehen.

„ Hey!“, protestierte Rick. „Hast du nicht etwas vergessen? Oder muss ich wirklich die ganze Arbeit alleine machen und mich selbst ausziehen?“

„Aber wenn mich jemand sieht ...“

„ Ich sehe dich. Nur ich. Niemand sonst. Wir sind allein.“

„Aber die anderen werden vielleicht ...“

„ Die anderen wissen ganz genau, was wir tun, sobald wir allein sind. Warum auf einmal so schüchtern?“, spottete Rick. „Das letzte Mal hattest du keine Hemmungen, über mich herzufallen, obwohl alle anderen genau nebenan gewartet haben.“

Ich lief knallrot an, musste aber gleichzeitig lächeln. Ja, es war definitiv zu spät für Schamgefühle. Trotzdem hatte es etwas Verruchtes, dass ich nackt war, während Rick noch alle Kleider trug. Verrucht und erregend. Das verräterische Kribbeln zwischen meinen Beinen wurde stärker. Ich griff nach Ricks Jeans, öffnete Knopf und Reißverschluss und spürte, wie er sich mir entgegen wölbte. Voll Vorfreude rieb ich meine Hüften an ihm und schob meine Hände unter sein Shirt. Rick hatte einen fantastischen Körper. Sehnig und muskulös. Unzählige Narben bedeckten seine Haut und ich liebte jede einzelne davon. Sie waren ein Teil von ihm und deswegen waren sie schön.

Rick küsste mich und griff nach meinem Hintern. Instinktiv schlang ich die Beine um seine Hüften. Im nächsten Moment war er in mir. Ich riss ihm das Shirt vom Körper und er zerrte sich die restlichen Klamotten vom Leib. Dann trug er mich ins Wasser und wir liebten uns mit jeder einzelnen Faser unseres Körpers.

2

Als wir zu den anderen zurückkehrten war es bereits dunkel. Mit einem zufriedenen Lächeln erinnerte ich mich daran, wie ich den Sonnenuntergang verbracht hatte. Feucht und heiß. Und das Meerwasser zum abkühlen. Ich fühlte mich wie neugeboren.

Wann würden Rick und ich wohl das nächste Mal Gelegenheit haben, ungestört alleine zu sein? Wirklich ungestört und weit genug von den anderen weg, dass ich mir keine Gedanken wegen des Supergehörs von Strangorren machen musste. Wir waren leise gewesen und dank eines kräftigen Seewindes hatte die Brandung alles andere übertönt. Hoffentlich.

Misstrauisch sah ich in die Runde. Kein dummes Grinsen war zu sehen. Dank des Vollmondes konnte ich die Gesichter relativ gut erkennen. Fast alle waren draußen. Kaum einer hielt die bedrückende Atmosphäre im Inneren des Sägewerks aus, wo sich Fanny und Maakra um den schwer verletzten Cameron kümmerten.

Ich hielt nach Lluh und den versprochenen Kleidern Ausschau, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Ich trug lediglich Ricks T-Shirt, das mir bis in die Kniekehlen reichte. Rick lief dafür mit freiem Oberkörper durch die Gegend – ein durchaus lohnender Anblick. Trotzdem wartete ich sehnsüchtig darauf, ihm sein Shirt zurückgeben und mich wieder vollständig anziehen zu können. Die fehlende Unterwäsche machte mich irgendwie nervös. Ich überlegte gerade, ob ich mir um den kleinen Viggill Sorgen machen sollte, als Fanny mich zu sich winkte und mir ein Bündel Kleider überreichte.

„ Ist Lluh bei euch?“, fragte ich, während ich rein ging, um mich umzuziehen.

„ Er meinte, er hätte etwas vergessen und ist noch mal los geflogen.“

Ich inspizierte den kleinen Stapel, den mir Fanny überreicht hatte. Jeans, Shirt, Socken und obendrauf schwarze Spitzenunterwäsche. Alles dabei, was ich brauchte. Ich sah in das Etikett des BHs und des passenden Slips. Meine Lieblingsmarke in der richtigen Größe. Ich redete mir ein, dass Lluh aus purer Neugier meine Schubladen durchwühlt hatte (damals als ich noch eine feste Bleibe gehabt hatte) und deswegen so genau über meine Unterwäsche Bescheid wusste. Dass er sich unsichtbar machen konnte, hatte damit hoffentlich nichts zu tun. Nein, ganz bestimmt nicht. Unsichtbar machen war anstrengend für einen Viggill und danach entwickelte Lluh immer einen Heißhunger auf Süßes, am liebsten mit viel Schokolade, Fett und Milch. Ganz bestimmt war es purer Zufall, dass Lluh bei seinen Besuchen stets meine gesamten Schokoladenreserven vertilgt hatte. Wenn Lluh zurückkam, würde ich ein ernstes Gespräch mit ihm führen.

„ Hat Lluh gesagt, was er vergessen hat?“, fragte ich.

„ Er hat was von Zähneputzen gesagt.“

Lluh kannte mich viel zu gut. Eine Zahnbürste war eindeutig Bestechung. Wenn er auch noch Zahnpasta und Zahnseide mitbrachte, dann musste er ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen meiner Dessous haben.

Ich verzog mich in einen ungestörten Raum des verlassenen Sägewerks und schlüpfte rasch in die Kleider. Die Jeans war ein bisschen zu weit und das Shirt dafür ein bisschen zu eng. Aber die Unterwäsche passte perfekt. Oh ja, ich würde ein sehr ernstes Gespräch mit Lluh führen. Zahnbürste hin oder her.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, wollte ich wieder nach draußen zu den anderen gehen. Nichts wie raus aus der bedrückenden Atmosphäre im Inneren des Sagewerks, wo Cameron von seiner Familie umsorgt wurde. Beim Gedanken an den jungen Krieger mit dem verkohlten Arm verkrampfte sich mein Magen. Zusammen mit seinem Vater hatte er sich als erster Rick angeschlossen. Nein, das stimmte nicht ganz, die ersten waren Maakra und Fanny gewesen. Seine Schwester und Mutter. Streng genommen hatten also die Frauen der Kleinfamilie den Stein ins Rollen gebracht und die offene Rebellion begonnen. Das machte es für mich umso schlimmer. Denn anders als die Männer hatten sie es nicht allein für Rick, sondern auch für mich getan.

Ich war es mir selbst schuldig, nach Cameron zu sehen. Mit einem Stoßseufzer verließ ich den kleinen Büroraum, in dem ich mich umgezogen hatte und ging zu der Ecke des Arbeitsraums, in der man Camerons Krankenlager eingerichtet hatte. Fanny kniete neben ihm. Sie streichelte seine Hand und redete leise auf ihn ein. Cameron hatte die Augen geschlossen, doch ich vermutete, dass er sich nur schlafend stellte.

„ Hallo, Fanny“, sagte ich. „Bringst du Rick bitte sein Shirt? Damit ersparst du mir eine Menge dumme Bemerkungen.“ Das war natürlich eine haarsträubende Begründung. „Lass dir Zeit, schnapp ein wenig frische Luft und vertritt dir die Beine. Ich bleibe solange bei Cameron“, fügte ich hinzu.

Fanny sah mich traurig und dankbar zugleich an. Ich bemühte mich um ein aufmunterndes Lächeln und tatsächlich hellte sich ihre Miene ein wenig auf. Sie drückte kurz meine Hand und ging nach draußen. Es brach mir jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn Fanny zu mir aufsah als wüsste ich, wie man die ganze Welt retten konnte.

Ich kniete mich neben Cameron. Er öffnete die Augen und blickte mich mit ausdrucksloser Miene an. Er sah grässlich aus. Blass, tiefschwarze Augenringe, das fröhliche Leuchten in seinen Augen scheinbar für immer erloschen. Es tat weh, diesen leeren Blick zu sehen. Aber es war immer noch besser als der Anblick des schwarz verkohlten Knochens, der einmal sein Arm gewesen war. Wie durch ein Wunder konnte er seine Finger noch bewegen. Nicht viel, aber doch einige Millimeter. Genug, dass niemand es übers Herz brachte, ihm den Arm zu amputieren.

Ich musste an Johnny denken, den jungen Werbaribal, den Rick als kleinen Knirps unter seine Fittiche genommen hatte. Es fiel Johnny sichtlich schwer, dass sein großes Vorbild zu einem blutsaugenden Strangorren geworden war. Trotzdem war er bei uns geblieben. Rick zuliebe. Obwohl Gestaltwandler die natürlich Beute von Strangorren waren. Das Blut eines Gestaltwandlers half Strangorren gegen Schmerzen und wirkte wie ein Heilmittel. Johnny hatte Cameron mehrmals trinken lassen, aber nicht weil er Cameron helfen wollte. Wie jeder andere Gestaltwandler hasste er Strangorren. Johnny hatte es beim ersten Mal nur getan, um mich davon abzuhalten, Cameron mein eigenes Blut zu geben. Und danach ... nun ja, vermutlich aus Treue und Freundschaft zu Rick.

Aber trotz Johnnys Blut setzte keine Heilung bei Cameron ein. Wenn ich ehrlich war, dann hatte ich sogar das Gefühl, dass es schlimmer wurde und der Arm immer weiter abstarb. Cameron hatte keine Infektion. Ich wusste nicht mal, ob Strangorren so etwas überhaupt bekommen konnten. Aber die Schmerzen fraßen den jungen Strangorren innerlich auf. Die Schmerzen und das Wissen, dass es nichts gab, womit wir seinen Arm retten konnten. Vor zwei Stunden hatte Johnny das letzte Mal Cameron von sich trinken lassen. Wenn ich Johnny darum bat, würde er Cameron sicher ein weiteres Mal von seinem Blut geben. Nicht mir zuliebe, sondern Rick zuliebe. Aber Johnny sah mittlerweile auch nicht mehr besonders gesund aus. Noch mehr Blut zu spenden könnte womöglich üble Folgen für ihn haben.

„ Ich will es versuchen“, sagte Cameron plötzlich.

Er musste mir nicht erklären, was er damit meinte. Ich war zwar kein Gestaltwandler, aber Chocco, die kleine Werwölfin, hatte mich gebissen. Vielleicht hatte der Werwolf-Biss mein Blut verändert und es wirkte nun wie das Blut eines Gestaltwandlers, vielleicht war es sogar stärker als Johnnys Blut, weil ich noch eine ganz andere Art von Magie in mir trug. Aber ich hatte auch einen Blutsbund mit Rick und nach dem Werwolf-Biss hatte ich mich weder verwandelt noch war ich gestorben. Stattdessen hatten ich während meiner ersten Vollmondnacht Strangorren-Zeichen auf meiner Haut gehabt. Nur kurz, aber sie waren da gewesen. Und wenn mein Blut wie das eines Strangorren wirkte, dann war es pures Gift für Cameron.

„ Du weißt, was ich bin“, entgegnete ich. Es fiel mir schwer, ihm diese Hoffnung auf die Heilwirkung meines Blutes nehmen zu müssen. „Dass ich zur Hälfte von Meereswesen, den Marwaree, abstamme. Auch das ist in meinem Blut. Außerdem habe ich mich nicht in einen Werwolf verwandelt. Wahrscheinlich haben es dir die anderen nicht erzählt, aber an meinem Hals waren die gleichen Hautzeichnungen wie ihr Strangorren sie habt.“

„ Ich weiß, dass dein Blut mich töten könnte. Das ist okay. Alles ist besser als dieses langsame Krepieren.“ Cameron griff mit seiner unverletzten Hand nach mir und klammerte sich an meinem Arm fest. „Bitte!“, flüsterte er. „Bitte. Nur ein bisschen Blut. Selbst wenn ich die Kontrolle verliere, bin ich zu schwach, um dir zu schaden. Und alle anderen sind in Hörweite, du kannst sie rufen, wenn du Hilfe brauchst. Dir kann nichts geschehen.“

Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich machte mir keine Sorgen darüber, dass Cameron mich aussaugen könnte. Ich hätte alles getan, um ihm zu helfen. Aber das Risiko, ihn mit meinem Blut zu vergiften, konnte ich nicht eingehen. Angestrengt überlegte ich, ob es nicht doch anders sein könnte, ob es nicht irgendeinen Hinweis gab, dass ich Cameron mit meinem Blut helfen konnte oder ihn zumindest gefahrlos trinken lassen konnte. Rick hatte mein Blut zwar nicht geschadet, aber er hatte einen Blutsbund mit mir und das veränderte alles. Ein Blutsbund neutralisierte automatisch die giftige Wirkung von Strangorren-Blut auf einen Artgenossen. Caleb war der einzige andere Strangorr, der mein Blut genommen hatte; allerdings bevor ich diese Verbindung mit Rick eingegangen war und mich Chocco gebissen hatte. Also vor meiner potentiellen Verwandlung in etwas Strangorren-Ähnliches.

„ Bitte!“ Cameron klammerte sich fester an meinen Arm.

Auch ein kranker Strangorr war erstaunlich kräftig. Ich spürte, wie Camerons Krallen durch meinen Ärmel schossen und sich tief in meine Haut drückten. Plötzlich wusste ich, dass er die ganze Zeit von Strangorren-Zeichen an meinem Hals gewusst hatte. Er spekulierte darauf, dass mein Blut ihn umbrachte. Es tat mir unendlich weh, ihn so zu sehen.

„ Cameron, lass mich los.“ Ich streichelte seine Hand, die mich festhielt. Ich brachte es nicht übers Herz, mich einfach loszureißen oder ihn wegzustoßen.

„ Du bist es mir schuldig!“, krächzte Cameron ohne seinen Griff zu lockern. „Als ich mit Caleb brach, habe ich das nicht nur für Rick getan. Ohne dich wäre das alles nicht geschehen!“

Eine Faust rammte sich in meinen Magen. Ich hatte geahnt, dass er irgendwann mich dafür verantwortlich machte. Trotzdem war ich so naiv gewesen, zu hoffen, dass alles wieder gut werden würde. Dass der Tag, an dem Cameron mir die Schuld gab, niemals kommen würde.

„ Lass sie los!“ Johnny stand plötzlich hinter mir.

Cameron ignorierte ihn und zerrte meinen Arm näher an seinen Mund heran. Johnny packte ihn an der Gurgel, doch Cameron ließ nicht locker. Ich sah in Camerons traurige Augen und entdeckte ein Funkeln darin. Aber es war nicht das fröhliche Leuchten, das ich vermisst hatte. Es war ein grimmiges Funkeln voll Entschlossenheit und Selbstzerstörung. Cameron wollte mein Blut. Er wollte den Tod. Und wenn Johnny ihn erwürgte, war ihm das ebenso recht. Cameron hatte sich selbst längst aufgegeben.

Aber ich nicht! Ich hatte Cameron nicht aufgegeben! Und das würde ich auch nicht tun. Niemals!

„ Ich bin deine Alpha“, knurrte ich. „Ich werde nicht zulassen, dass du dich selbst umbringst. Ich befehle dir als deine Alpha: Lass mich los!“

Sofort löste sich Camerons Griff um meinen Arm. Im gleichen Moment erstarb das Funkeln in seinen Augen.

„ Cameron wollte mir nichts tun“, sagte ich zu Johnny.

„ Ich weiß.“ Johnny gab Camerons Kehle wieder frei. Dann riss er sich seinen linken Ärmel hoch und drückte seinen Arm an Camerons Mund. „Du suizidaler Trottel wirst jetzt so viel von mir trinken, bis du dir diese schwachsinnigen Experimente aus dem Kopf geschlagen hast.“

Als Cameron nicht sofort zubiss, presste Johnny seinen eigenen Arm mit sanfter Gewalt gegen Camerons Fangzähne. Sobald der erste Blutstropfen hervorquoll, begann Cameron zu saugen. Johnny wurde während dieser seltsamen Blutspende zunehmend blasser. Schließlich zwang er Camerons Kiefer wieder auseinander und zog seinen Arm zurück, blieb aber noch neben mir sitzen, ob nun aus Erschöpfung oder weil er abwarten wollte, was sein Blut bewirkte.

Cameron lag still auf dem Rücken. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn waren verschwunden, aber ich fürchtete, dass seine Schmerzen schon bald wiederkehren würden. Ich blinzelte meine Tränen weg und schlang die Arme um die Knie. Johnny war am Rand seiner Kräfte. Das würde nicht mehr lange gut gehen. Diesmal hatte Johnny sogar noch mehr Blut als sonst gegeben.

Es war erstaunlich, dass Johnny es überhaupt tat, auch wenn es aus Freundschaft für Rick war. Jahrhunderte lang waren Gestaltwandler von Strangorren wie Zuchtvieh als Nahrungsquelle gehalten worden. Dafür hassten Gestaltwandler die blutsaugenden Dämonen. So wie auch die meisten anderen magischen Wesen Strangorren hassten. Es gab einen guten Grund, weshalb Strangorren fast ausgetrottet worden waren. Sie saugten nicht nur Blut wie Vampire. Sie saugten auch die Magie ihrer Opfer aus. Aber Strangorren hatten nun mal keine Wahl, sie mussten das tun. Vampire konnten sich auch von Menschen nähren, sie taten dies sogar viel lieber, denn Menschenblut schmeckte besser, auch wenn es nicht so viel Kraft spendete. Ein bisschen wie Junk-Food. Und solange Menschen der gemeinsame Feind aller magischer Wesen waren, bevorzugten die meisten Vampire auch aus rein politischen Überlegungen Menschen-Blut. Doch für Strangorren war das kein gangbarer Weg. Sie brauchten das Blut anderer magischer Wesen, um überleben zu können.

Da kam Fanny zurück und sah fassungslos zu Johnny. „Du hast ihm schon wieder von deinem Blut gegeben?“ Dann bedachte sie mich mit einem Strahlen als wäre ich für dieses Wunder verantwortlich.

„ Alles klar hier drinnen?“ Rick betrat hinter Fanny den Raum.

„ Alles bestens“, brummte Johnny während er aufstand und sich an Rick vorbei durch die Tür schlängelte.

Rick sah mich an und zog die rechte Augenbraue nach oben. >Johnny lügt genauso schlecht wie du. Erzähl mir, was geschehen ist.<

>Nicht jetzt<, wich ich aus.

Ich nahm Rick bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Es war zwar feige, Fanny mit Cameron da drinnen allein zu lassen, aber es war auch keine gute Idee neben Cameron sitzen zu bleiben und ihn mit meiner Anwesenheit zu quälen. Vorerst war die Gefahr gebannt. Cameron würde sich vermutlich wieder schlafend stellen, aber er würde seiner Mutter nicht das Herz brechen, indem er seinen Selbstmordgedanken vor ihren Augen nachgab.

Draußen vorm Sägewerk herrschte Aufbruchsstimmung. Ricks Männer waren hungrig. Genauso wie Rick, der seit kurzem ebenfalls Blut brauchte. Auch das war meine Schuld, denn Ricks neu erwachter Bluthunger war eine unliebsame Nebenwirkung unseres Blutsbundes – zu dem ich ihn mehr oder weniger gezwungen hatte.

Unsere Strangorren teilten sich in zwei Schichten ein, damit immer einige als Schutz im Lager waren, während die anderen sich Blut besorgten. Rick ließ mich nicht gern alleine, aber irgendwann musste er seinen Hunger stillen. Während wir uns verabschiedeten, schärfte Rick mir mehrmals ein, keine Dummheiten zu machen. Ich versprach es (wohl wissend, dass Dummheiten machen ein dehnbarer Begriff war) – unter der Bedingung, dass er nicht unnötig sein Leben riskierte. Am liebsten wäre ich mitgekommen, aber das wollte Rick nicht. Während ich ihm hinterher sah, griff eine kalte Hand nach meinem Herz. Meine Angst, ihn zu verlieren, war größer als jemals zuvor.

Drei Strangorren waren als Beschützer zurückgeblieben. Braggard, Rajko und Durago. Braggard war bei seiner Frau Fanny im Inneren des Sägewerks und kümmerte sich um Cameron. Rajko saß draußen etwas abseits mit Maakra. Die beiden hielten heimlich Händchen. Irgendwie süß, dass der ungehobelte Strangorr in Maakras Nähe zum schüchternen Teenager wurde. Rajko hatte sich unmittelbar nach Braggards Familie unserer Revolte gegen Caleb angeschlossen. Allem Anschein nach hatte er es für Maakra getan und dafür sogar mit seinem Vater gebrochen. So viel Romantik und Herz hätte ich dem einfältig wirkenden Muskelprotz gar nicht zugetraut. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Durago, der dritte Strangorr, der zu unserem Schutz geblieben war, hatte sich zu Johnny und Robin gesetzt. Auch Josh Kastor, Alecs Vampir-Freund, war unmittelbar nach Einbruch der Dämmerung dazugekommen und hatte sich zu den dreien gesellt. Erstaunlich genug, denn Strangorren, Gestaltwandler und Vampire waren eigentlich Todfeinde. Noch mehr erstaunte mich allerdings, dass Alec nirgends zu sehen war.

„Wo ist Alec?“, fragte ich.

„ Da hinten – wo der Lärm herkommt“, antwortete Durago.

„ Kisha ist bei ihm. Sie streiten“, erklärte Josh netterweise für jemanden, der kein Supergehör besaß. „Es geht um dich“, fügte er hinzu und warf mir einen seltsamen Blick zu.

Ein derber Fluch entfuhr mir. Ich hatte jetzt keine Nerven für diese Spielchen. Wenn es um mich ging, dann sollten sie es gefälligst ausdiskutieren, wenn ich dabei war. Mit großen Schritten lief ich in die Richtung, in die Durago gedeutet hatte. Schon von weitem hörte ich, dass es ein heftiger Streit war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wieso sie sich meinetwegen derart in die Haare geraten konnten. Wahrscheinlich hatte Josh das falsch verstanden und es ging nur indirekt um mich. Vermutlich beharrte Kisha darauf, dass Alec in Sicherheit bleiben sollte anstatt meinetwegen weiterhin bei einer Horde von Dämonen zu bleiben, für die sein Blut ein ganz besonderer Leckerbissen war. Kisha hatte mir versprochen, Alec zu beschützen solange seine magischen Kräfte noch nicht wiederhergestellt waren. Bestimmt gab sie das als Grund für ihre Besorgnis an.

Sollte mir recht sein. Auch ich wollte Alec aus der Schusslinie haben und möglichst weit weg von bluttrinkenden Dämonen, die ihn nur wenige Tage zuvor beinahe umgebracht hätten. Ich war mit Kisha völlig einer Meinung und bereitete mich innerlich darauf vor, mit ihr zusammen eine weibliche Front gegen ein verblendetes männliches Ego zu eröffnen. Wenn ich schon ausnahmsweise mal weibliche Unterstützung hatte, könnte ich die Gelegenheit auch gleich dazu nutzen, um Alec vorsorglich den Kopf abzureißen, falls er tatsächlich bereit war, meinetwegen Chaos-Magie einzusetzen. Entschlossen beschleunigte ich meinen Schritt und nach wenigen Metern war ich so nahe, dass aus dem Stimmengewirr verständliche Worte wurden.

„ Verliebt?“, höhnte Kisha. „Du hast dich doch erst in Fate verliebt, nachdem sie etwas mit Rick angefangen hatte. Erst dann, als du dir sicher warst, dass du sie nicht haben kannst.“

„ Du weißt nichts über Fate und mich. Ich war für sie da, als Rick sie verlassen hat. Beide Male. Das erste Mal wollte sie es nicht glauben. Doch beim zweiten Mal war Fate fast so weit, zu erkennen, dass sie zu mir gehört. Nur ihre Schuldgefühle haben sie davon abgehalten, mit mir glücklich zu werden – und das hat Rick sich prompt zunutze gemacht, um sie mit diesem beschissenen Blutsbund an sich zu ketten. Aber das wird nicht funktionieren, denn das nächste Mal, wenn er Fate verlässt ...“

„ Es gibt kein nächstes Mal!“, rief ich dazwischen und lief zu Alec. Mit beiden Händen schubste ich ihn rückwärts gegen den Felsen. „Rick wird mich nicht verlassen! Nie mehr! Was fällt dir überhaupt ein, so einen Mist zu reden!“ Aufgebracht wollte ich ihn erneut schubsen, als könnte ihm das diesen Unsinn aus dem Kopf treiben, doch Alec packte meine Handgelenke.

„ Es wird ein nächstes Mal geben“, erwiderte Alec, „weil er sich mit Freuden in Gefahr begibt. Weil Rick lieber mit seinen Männern auf Beutezug durch die Gegend streift, als bei dir zu sein. Siehst du es denn nicht, Fate? Rick ist nicht mehr der nette edle Magier, der den Schwachen hilft. Er ist nicht das, in was du dich verliebt hast. Rick ist ein Monster, das anderen ihr Blut aussaugt und ihre Kräfte stiehlt.“

„ Es geht nicht darum, was Rick ist“, warf Kisha ein. „Es geht darum, was Fate für dich ist, Alec. Du benutzt sie, um dich selbst zu bestrafen.“

Alec und ich starrten Kisha gleichermaßen entsetzt an.

„ Es ist dein Selbsthass, der dich antreibt“, sprach Kisha unbeirrt weiter. „Sich ausgerechnet in Fate zu verlieben ist geradezu perfekt, um dich selbst zu quälen – weil Fate die einzige ist, die deine vermaledeite Schwester Susan durchschaut hat. Und auch dich. Wenn du in Fates Nähe bist, dann lässt du Susan und deine Hassliebe zu ihr wiederauferstehen. Nein, falsch, du hast sie nie gehen lassen. Du hast Susan getötet, aber sie ist noch immer in dir, und du gibst dir große Mühe, sie keine einzige Sekunde lang zu vergessen, damit du nicht glücklich sein kannst. Genau deswegen redest du dir ein, ausgerechnet in Fate verliebt zu sein.“ Kisha wandte sich an mich. „Alec hat dich so oft gerettet, dass Ricks Dankbarkeit längst seinen Hass besiegt hätte. Würde Alec sich nicht darauf versteifen, in dich verliebt zu sein, wäre er Ricks Freund geworden. Doch Alec bevorzugt es, gehasst zu werden. Vorzugsweise von jemandem, der stark genug ist, um ihn zu töten. Gehasst und einsam. Das ist seine selbstauferlegte Bestrafung, weil er seine Schwester getötet hat.“

„ Netter Monolog“, mischte sich plötzlich eine andere Stimme ein. Es war Lenny. „Aber das Offensichtliche hast du vergessen, Kisha. Wenn Rick getötet wird – und die Chancen dafür sind dank meiner holden Schwester Daretree momentan ziemlich hoch –, dann könnte Alec tatsächlich mit Fate glücklich werden. Das ist es, was Alec gemeint hat: Wenn Rick seine heiß geliebte Fate das nächste Mal verlässt, wird es endgültig sein.“

„ Seid ihr alle krank im Kopf?!“, schrie ich. „Wie könnte ihr über Ricks Tod reden, als sei das eine Option an der Börse?“

„ Weil es für Alec genau das ist“, antwortete Lenny. „Eine Option. Sogar eine verdammt gute Option.“

„ Nein, ist es nicht“, widersprach Kisha. „Es ist keine Option, denn Ricks Tod wird auch Fate umbringen. Sie haben einen Blutsbund. Wenn Rick stirbt, wird Fate das nicht überleben. Alec wird sie nur als Leiche kriegen.“

„ Als ob Alec sie jemals sterben lassen würde“, warf Lenny ein. „Er liebt Fate und du weißt das.“

„Scher dich zum Teufel!“, fauchte Kisha. „Das alles geht dich überhaupt nichts an.“

„ Du gehst mich sehr wohl etwas an“, protestierte Lenny. „Was muss ich denn noch tun, damit du mir ...“

„ Nimm deinen fetten Psycho-Bruder und verschwinde! Das kannst du tun!“

„ Du bist so verdammt selbstgefällig“, rief Alec, der endlich seine Sprache wieder gefunden hatte. „Lenny hat uns allen den Hintern gerettet. Auch dir! Weißt du, Kisha, vielleicht hast du recht, vielleicht will ich mich selbst betrafen. Aber zumindest bestrafe ich niemand anderen für etwas, was er gar nicht getan hat. Es ist nicht Lennys Schuld, dass du dein Auge verloren hast. Streng genommen kann noch nicht einmal Pax etwas dafür. Du weißt, dass Daretree ihn nur als Werkzeug benutzt hat. Daretree zu hassen, das ist Okay, denn sie hat Schreckliches mit dir gemacht. Aber warum muss auch Lenny dafür büßen? Buße für etwas, das er nicht getan hat. Ist das deine Vorstellung von Gerechtigkeit?“

Kisha sah Alec an, als wollte sie ihm die Gurgel rausreißen und instinktiv stellte ich mich schützend vor Alec.

„ Okay, liebe Kinder – das war genug für einen Abend!“ Josh kam hinzu. Robin war dicht hinter ihm. „Wir werden uns jetzt alle eine kleine Auszeit gönnen.“ Josh legte Alec einen Arm um die Schulter und zog ihn mit sich. „Alec und ich werden oben auf den Klippen ein bisschen Klettern üben und Robin hat noch ein paar unglaubliche unwichtige Dinge mit Lenny zu klären.“

Während Josh mit sanfter Gewalt Alec nach schräg links zu den aufragenden Klippen drängte, ging Robin zielstrebig auf Lenny zu und zerrte ihn zurück Richtung Sägewerk.

Kisha war dann wohl meine Aufgabe. Großartig, ganz großartig. Hatten die Jungs nicht kapiert, worüber sich Kisha gerade aufgeregt hatte? Unsensibles Männerpack! Vermutlich hatten sie einfach nur Angst vor Kisha und sie daher großzügig mir überlassen. Oder war das wieder so ein Geschlechterding? Mist!

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Zumindest war die geographische Richtung klar, da die Jungs Richtung Sägewerk und Steilklippen gezogen waren. Für uns Mädels blieb nur der Gang zum Strand übrig.

Mit möglichst ausdrucksloser Miene sah ich Kisha an und enthielt mich jeden weiteren Kommentars. Normalerweise lockert das bei Frauen die Zunge und sie sagten irgendetwas, worauf ich reagieren konnte. Dummerweise schien Kisha eine ähnliche Strategie wie ich selbst zu verfolgen: Mund halten und abwarten. Schweigen breitete sich aus.

Zur Hölle damit! Wir hatten echt andere Probleme, als diesen Vergangenheits-Soap. Andererseits war die Ursache des Streits nahe liegend. Daretree war unser Hauptproblem und zugleich der gemeinsame Nenner für dieses emotionale Höllenfeuer. Sie hatte Kishas Auge auf dem Gewissen und egal wie das gelaufen war und wer wen benutzt hatte, Lenny und Pax waren Daretrees Geschwister. Und genau wegen dieser verfahrenen Familiengeschichte hatte Lenny uns geholfen.

Verdammt! Ich wusste immer noch nicht, was ich zu Kisha sagen sollte. Aber weiterhin hier rumzustehen und sich anzuschweigen, machte die Sache nicht besser. Vielleicht fiel mir auf dem Weg zum Strand was ein. Oder auch nicht. Reden wurde sowieso überschätzt. Schweigend ging ich an Kisha vorbei und bedeutete ihr, mir runter zu den Klippen zu folgen. Erstaunlicherweise trottete sie mir tatsächlich hinterher. Das war immerhin ein Anfang.

Seufzend ging ich voraus Richtung Meer. Ich vermied die Stelle, wo Rick und ich über einander hergefallen waren, das wäre mir irgendwie schräg vorgekommen. Stattdessen wählte ich einen kleinen Umweg. Ich schielte immer wieder zu Kisha. Sie blieb dicht hinter mir. Zwar wortlos und schlecht gelaunt, aber immerhin kam sie mit. Je länger unser Fußmarsch dauerte, umso entspannter wurde ihre Miene. Ich beschloss, den kleinen Umweg etwas größer zu machen. Als Kisha sich dann endlich so weit beruhigt hatte, dass sie nicht mehr hinter mir her stapfte, sondern sich dicht neben hielt, kraxelte ich nach oben auf einen Felsvorsprung, an dem sich die Wellen brachen. Die Sonne war zwar schon lange hinterm Horizont verschwunden, aber die hereinbrechende Nacht war durch ein letztes Schimmern des Abendrots und den Schein des Vollmondes erhellt. Alles war angenehm gedämpft und in sanfte Farben gehüllt. Irgendwie fand ich es leichter mit Kisha zu reden, wenn wir nicht dem grellen Tageslicht ausgesetzt waren.

Mit einem Seufzer ließ ich mich auf dem Steinboden nieder. Kisha folgte meinem Beispiel. Wir saßen nebeneinander und starrten auf die aufgewühlte See. Noch immer Schweigen zwischen uns. Aber es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Irgendwie fühlte sich das sogar richtig gut an.

Oder ging das nur mir so? Nun wurde mir doch ein wenig mulmig und ich blickte zu Kisha.

„ Fragst du dich, ob ich dich jetzt hasse?“, kommentierte sie meinen Blick.

„ Ähm ... Na ja, so was in der Art“, gab ich zu.

„ Die Antwort ist nein. Kein Mann sollte eine Frauenfreundschaft zerstören können.“

„ Wir sind Freundinnen?“, freute ich mich. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Zumindest nicht gerade jetzt nach diesem Streit.

Kisha drehte sich zu mir und beäugte mich amüsiert. „Ich würde sagen, wir sind sogar die allerbesten Freundinnen, die wir haben. Oder ziehst du mir Maakra etwa vor?“

Diese Vorstellung brachte mich zum Lächeln. Kisha hatte Recht. Wir lebten in einer Männerwelt. Und die einzigen beiden anderen Frauen, Maakra und Fanny, kamen als Freundinnen nicht in Frage. Sie waren für mich das, was für Kisha ihre kleinen Streuner waren, denen sie unter den Bahnhofsgleisen Schutz gewährte.

„ Allerbeste Freundinnen“, murmelte ich. Ich fragte mich, wann es dazu gekommen war. Unsere erste Begegnung war ziemlich feindselig verlaufen. „Dann waren die Fesseln damals so eine Art Freundschaftsarmbändchen?“, spottete ich.

„ Ja“, antwortete Kisha ohne auf meinen scherzhaften Tonfall einzugehen. „Hätte ich dich nicht als meine zukünftige beste Freundin erkannt, hätte ich dich sofort getötet.“

„ Du hast Robin also nur getestet“, stellte ich fest. Irgendwie beruhigend, dass ich nicht die einzige war, mit der man ständig solche dämlichen Tests durchführte. Manchmal hatte ich das Gefühl, das ganze Leben war ein einziger beschissener Test. Oder vielmehr das Überleben.

„ Es wurde Zeit, dass Robin endlich erwachsen wird und mir die Stirn bietet.“ Kisha nahm einen kleinen Stein und warf ihn ins Wasser. Dann änderte sie ihre Sitzposition so, dass sie mich direkt ansehen konnte ohne sich den Hals zu verrenken. „Ich weiß, dass der Beginn unserer Freundschaft etwas holprig war“, sprach sie weiter. „Aber wir haben uns von Anfang an respektiert. Du hattest keine Angst, weder vor mir noch vor meinem vernarbten Gesicht. Und was Alec betrifft: Ja, ich finde es schade, dass er auf dich fixiert ist.“

„ Aber du bist nicht in ihn verliebt?“, vergewisserte ich mich vorsichtig.

„ Nein.“ Ein sehr knappes Nein. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Aber es war kein freundliches Lächeln.

„ Benutzt du Alec, um Lenny weh zu tun?“, spekulierte ich.

„ Ja, das tue ich“, gab sie freimütig zu. „Ziemlich offensichtlich, oder? Funktioniert trotzdem. Und außerdem ...“ Sie gab ein bitteres Lachen von sich. „Weißt du, es ist verdammt lange her, dass ich mit einem Mann zusammen war. Das da“, sie zeigte auf ihre leere Augenhöhle, „schreckt die meisten ab. Aber Alec scheint es gar nicht zu bemerken“, fügte sie leise hinzu und wandte den Blick aufs offene Meer. „Soll ich dir ein offenes Geheimnis verraten? Alec ist der erste Mann, den ich nackt gesehen und mit meinen Händen an all den intimen Stellen berührt habe, seit ...“ Sie brach ab.

„ Seit Lenny?“, riet ich.

„ Ich hatte keine Hintergedanken als ich Alecs Wunden versorgt habe“, stellte Kisha klar. „Dein blonder Freund ist zwar ein hübsches, drahtiges Kerlchen, aber um ehrlich zu sein, hat es mich einiges an Überwindung gekostet, ihn überall anzufassen. Wärst du dazu in der Lage gewesen, dann hätte ich dir diese Arbeit mit Freuden überlassen. Alecs von Strangorren-Bissen zerfleischter Körper war wirklich kein schöner Anblick. Ganz zu schweigen von dem Gestank. Blut, Dreck und Pisse ... Da kamen bei mir ziemlich üble Erinnerungen hoch.“ Kisha atmete tief durch. „Aber als Alec erwachte und erfuhr, dass ich ihn versorgt hatte, seinen nackten Körper an so ziemlich jeder Stelle mit dem Heiltrank eingerieben hatte, da sah er mich an. Mich. Nicht diesen Krater in meinem Gesicht. Er hat mich angesehen. Ohne Abscheu. Ohne Mitleid. Stattdessen voll Respekt. Vielleicht sogar mit Zuneigung, weil ich dir geholfen habe ... Es ist lange her, dass ein Mann mich so angesehen hat.

„Was ist mit Lenny?“

„ Lenny ...“, murmelte sie. Ihre Züge verhärteten sich, als sie seinen Namen aussprach.

„ Magst du ihn immer noch?“, fragte ich vorsichtig.

„ Ich will ihm wehtun! Das hast du ganz richtig erkannt.“

„ Das eine schließt das andere nicht aus.“

„ Lenny war damals der Grund, dass ich mich Daretree angeschlossen habe.“

„ Und du bist der Grund, dass er sich von Daretree losgesagt hat. Du bist der Grund, dass Lenny sein Leben riskiert hat und noch immer hier ist.“

„ Lenny spielt den Samariter für das fette Ungeheuer, das mir mein Auge rausgerissen hat. Er liebt diese kranke Missgeburt. Ich hingegen hasse Pax. Ich hasse ihn! Und wenn er tausendmal nichts dafür kann. Ich hasse ihn trotzdem! Und deswegen kann ich niemals mit Lenny zusammen sein: Denn wo Lenny ist, da ist auch Pax.“

„ Pax ist sein Bruder. Lenny hat keine Wahl. Würde er seinen Bruder bei Daretree lassen, würde sie Pax wieder dazu benutzen, anderen wehzutun.“

„ Lenny hat die Wahl“, widersprach Kisha, „die hatte er immer. Glaubst du etwa, Lenny macht das, weil er ein so großes Herz hat? Vergiss es! Sich um seinen schwachsinnigen Brutalo-Bruder zu kümmern, ist genau Lennys Ding. Aber ich habe keine Lust, als die entstellte Freundin in sein Gruselkabinett einzutreten!“

„ Gruselkabinett? Geht es darum?“

Kisha überlegte kurz. „Ja, vielleicht ist das der springende Punkt. In Lennys Nähe fühle ich mich wie das entstellte Monster, zu dem mich Daretree gemacht hat. Doch wenn ich mit dir und Alec zusammen bin, dann vergesse ich, wie mein Spiegelbild aussieht.“

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Also hielt ich den Mund und sah sie an. Der Vollmond spendete genug Licht, um Kishas zarte Gesichtszüge zu erkennen: Fein geschnitten, geradezu edel, und mittendrin der zerfurchte Krater rund um ihr zerstörtes Auge. Das alles war Kisha, gehörte zu ihr und ihrer Geschichte. Für mich sah sie wunderschön aus.

Kisha schlang die Arme um sich als wäre ihr kalt. Auf einmal verstand ich. Alec war der erste Mann, den Kisha seit Lenny berührt hatte. Aber es war sogar noch viel schlimmer: Seit Lenny kannte Kisha keine Zärtlichkeit mehr. Kisha hatte zwar ihre Schar von Kindern, aber das waren ihre Schützlinge, die sie umsorgte. Das war etwas anderes. Es ging nicht darum, dass Kisha seit Lenny keinen Mann mehr an sich heran gelassen hatte. Kisha hatte nichts und niemanden mehr an sich herangelassen. Was Kisha so schmerzlich vermisste war eine liebevolle Berührung. Eine tröstende Umarmung, wenn die Einsamkeit erdrückend wurde. Doch wer sollte das bei Kisha tun? Selbst mit Robin und Tozzo, ihren engsten Vertrauten, wahrte sie körperliche Distanz. Ansonsten waren Kämpfe und Schläge der einzige Körperkontakt, seit Pax ihr das Auge herausgerissen hatte.

Bevor ich Rick begegnet war, hatte ich viele lange Jahre als eigenbrötlerischer Single gelebt. Niemand hatte mich berührt. Außer wenn ich mir mit Blutspenden Geld verdienen musste und sie Nadeln in mich hinein gestochen hatten. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Haut verhungerte, weil sie keine Zärtlichkeit bekam.

Vorsichtig rutschte ich näher zu Kisha und berührte fragend mit dem Handrücken ihren Arm, den sie fest um die Knie geschlungen hatte. Erst zuckte sie zusammen, doch dann seufzte sie wie ein kleines Kind. Ich legte meine Hand auf ihren Rücken und streichelte sie. Ich hatte das noch nie bei einer Frau gemacht. Aber ich hatte auch noch nie eine beste Freundin wie Kisha gehabt.

„ Wenn du das irgendjemand erzählst, bringe ich dich um“, flüsterte Kisha mit erstickter Stimme.

„ Ich weiß.“ Ich zog sie an mich und nahm sie in den Arm. Sie schmiegte ihre Wange an die kleine Kuhle zwischen meinem Hals und Schultern. Ich streichelte sie weiter, über ihren Rücken, Kopf und ihre wunderschönen Haare. Ich fühlte ihre Wärme und konnte spüren wie sie lächelte. Es war ein gutes Gefühl. Ich atmete den Salzgeruch der Wellen ein und schloss die Augen.

Plötzlich spürte ich, wie sich Kishas Körper versteifte. „Nicht bewegen!“, zischte sie.

Alarmiert riss ich die Augen auf. Ich konnte nichts Bedrohliches entdecken. Nicht in meinem Sichtfeld. Kishas Kopf jedoch lag noch immer in meiner Halsbeuge, sie konnte aus den Augenwinkeln sehen, was hinter mir war. Ganz offensichtlich gefiel ihr der Anblick nicht.

„ Was ist ...?“, flüsterte ich.

„Still!“, fiel sie mir ins Wort.

Ich schluckte. Und dann spürte ich etwas. Wärme. Als würde sich von hinten eine Heizung nähern. Oder etwas sehr großes Warmes. Kisha presste sich fester an mich. Ihre Finger hielten mich fest wie ein Schraubstock, als wollte sie mich daran hindern, mich zu bewegen.

Da teilte sich die seltsame Wärme hinter mir. Ein Teil bewegte sich schräg nach rechts, zu der Seite, an der Kisha lehnte. Ein anderer Teil bewegte sich nach links, schlich sich um mich herum. Erst jetzt bemerkte ich, wie dunkel es geworden war. Ich schielte nach links und sah eine schemenhafte Gestalt. Kaum zu erkennen, nicht mehr als ein Umriss. Ein verdammt großer Umriss. Wie eine langgezogene überdimensionale Katze mit zu vielen Beinen. Ich zählte elf – aber das konnte nicht stimmen, oder? Elf Beine machten keinen Sinn, es gab kein Tier mit einer ungeraden Anzahl von Beinen. Was zur Hölle war das?

Wie um mir zu antworten, hob das Ding den Kopf und riss das Maul auf. Zähne blitzten. Gleichzeitig schnellte der vordere Teil des Körpers in die Höhe. Krallen schossen auf mich zu. Instinktiv warf ich mich auf Kisha. Scharfe Klauen rissen meinen Rücken auf. Der Schmerz brannte zwischen meinen Schultern. Ich schrie und drückte reflexartig den Rücken durch. Vor mir erschien ein zweites Maul. Heißer, stinkender Atmen blies mir ins Gesicht. Zähne kamen näher, um meinen Kopf abzubeißen.

Das war‘s, dachte ich und schloss die Augen.

Ein Zischen vor mir. Ein wütendes Fauchen hinter mir. Brandgeruch.

„ Runter!“, befahl eine Stimme. „Drückt euch auf den Boden!“

Ich tat es, presste meine Körper auf Kisha. Hinter mir kreischende Schreie. Als würde man ein Baby abschlachten. Das Geräusch tat in den Ohren weh und überdeckte einen Moment lang den Schmerz in meinem Rücken.

Dann war es vorbei. Leises Wimmern und keuchender Atem eines Mannes. Ich blickte auf. Durago stand breitbeinig zwischen zwei versengten Kadavern. Die eine Tierleiche war völlig verkohlt und regungslos. Der andere Körper war nur angesengt und als katzenartiges Wesen erkennbar. Mit elf Beinen. Elf Beine mit verdammt scharfen Krallen. Es lebte noch, röchelte und schlug hilflos mit seinen scharfen Pranken ins Leere.

Kisha bewegte sich unter mir. Sie hielt sich den Kopf, an ihrer Schläfe eine Platzwunde. Als ich mich auf sie geworfen hatte, musste sie ziemlich hart auf den Felsboden geknallt sein. Ich erinnerte mich an meinen Rücken. Er tat erstaunlich wenig weh, die höllischen Schmerzen von gerade eben fast schon wieder verschwunden. Schock? Ich rappelte mich auf und betrachtete meine Hände: Leichter Tremor. Mir war kalt. Ja, ganz eindeutig Schock-Zustand, konstatierte der nüchterne Teil von mir.

Alles gut, nichts war passiert, nichts schlimmes, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Ich war am Leben. Kisha hatte nur eine Beule. Alles gut.

Während Kisha sich unter mir herauswand, blieb ich auf meinem Hintern sitzen. Ich fühlte mich zu wacklig, um aufzustehen. Ich sah zu Durago. „Danke“, hauchte ich.

„ Rick wird mir den Arsch aufreißen“, war seine Antwort. „Schon wieder Blutgeruch. Verdammte Scheiße! Und jetzt auch noch von euch beiden. Kisha riecht auch nicht gerade normal. Fuck!“ Durago ging zu dem zuckenden Tierkörper und ließ sich auf die Knie fallen. Er packte das halbtote Wesen von hinten am Hals und drückte den schnappenden Kiefer zu Boden. Dann biss er in den Nacken des Tieres und begann zu saugen.

Da verstand ich. Diesmal befürchtete Durago nicht, der Geruch meines Blutes könnte uns verraten. Er hatte viel dringlichere Probleme. Der Blutgeruch nagte an seiner Selbstbeherrschung. Durago war erst in der zweiten Schicht, hatte also noch nichts getrunken und war offensichtlich ziemlich hungrig. Fasziniert beobachtete ich, wie er sich von dem Tier nährte. Ich hatte Strangorren noch nie trinken sehen. Rick hatte zwar mein Blut gekostet – und ich das von ihm. Aber das war anders gewesen. Ein erotischer Biss während des Liebesspiels. Wild und erregend. Wir hatten nicht viel von dem anderen genommen. Es war um den Nervenkitzel gegangen, Adrenalin und Lust.

Durago hingegen brauchte das Blut, um seinen Hunger zu bekämpfen und die Kontrolle zu behalten. Er verzog das Gesicht, es schien ihm nicht besonders zu schmecken. Trotzdem trank er weiter von dem seltsamen Tier.

Kisha rappelte sich auf und half mir auf die Beine. Ich vergewisserte mich mit prüfendem Blick, ob es ihr gut ging. Aus Erfahrung wusste ich, dass Kopfwunden meist schlimmer aussahen als sie tatsächlich waren. Kisha hatte scheinbar nur ein Kratzer, es blutete nicht besonders stark und sie schien auch keine großen Schmerzen zu haben.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Durago. Er nahm noch einen letzten Schluck von dem zuckenden Tier, schüttelte sich und spuckte aus. Dann zog er ein Messer hervor und schlitzte er dem Tier mit einer schnellen Bewegung die Kehle auf. Laut fluchend stand er auf und spuckte nochmal auf den Boden.

„ Nachtsicc“, erklärte Durago. „Widerliches Dreckszeug. Schmeckt wie Jauche.“ Er wandte sich von dem Kadaver ab, ging auf mich zu und drehte mich um. „Rick wird mich umbringen“, knurrte er während er meinen Rücken untersuchte.

„ Es tut nicht besonders weh“, beruhigte ich ihn. „Es scheint auch nur ganz wenig zu bluten, das hört bestimmt von alleine wieder auf.“ Ich machte mich von ihm los. „Ohne dich wäre ich jetzt tot. Du hast uns gerettet. Ich danke ...“

„ Ich hab versagt!“, fiel Durago mir ins Wort. „Rick hat mir nur eine einzige Aufgabe gegeben: Auf dich zu achten und dich zu beschützen, während er weg ist.“

„ Du bist uns gefolgt?!“, fauchte Kisha. „Du hast uns belauscht?!“ Ihre Wut war greifbar. Von Dankbarkeit keine Spur.

„ Ich habe auf Gefahren gelauscht“, entgegnete Durago. „Das Geplapper von euch hat mich nur abgelenkt.“

Kisha verengte ihre Augen und giftete ihn an: „Wenn du den anderen auch nur ein Sterbenswörtchen von dem erzählst, was du gehört oder gesehen hast ...“

„ Keine Sorge“, fiel ihr Durago ins Wort. „Ich werde ganz sicher nicht rumerzählen, dass ich es versaut habe, weil ich mit sabberndem Maul da saß und dachte, ihr zieht jetzt eine heiße Lesben-Nummer ab.“

„ Du widerlicher Scheißkerl!“ Kisha wollte auf ihn losgehen.

„ Aufhören!“, rief ich.

Ich schaffte es gerade noch, mich zwischen die beiden zu schieben. Kisha rempelte mich an und ich knallte mit meinem aufgekratztem Rücken gegen Durago. Jetzt tat es weh. Mir wurde übel und ich kämpfte mühsam den Brechreiz nieder während ich mich an Duragos Arm festkrallte, um nicht umzukippen. Durago wollte mich hochheben und tragen.

„ Nein, ich kann alleine gehen“, protestierte ich und machte mich von ihm los. „Hat Rick dir befohlen, meinen Leibwächter zu spielen?“

„ Rick sagte, solange er mit den anderen unterwegs ist, bin ich für den Schutz von euch allen verantwortlich.“

Die Sache mit Stellvertreter hatte Rick ziemlich schnell in die Tat umgesetzt.

„ Doch ich habe es nicht geschafft, seine Gefährtin zu schützen“, fügte Durago grimmig hinzu.

Ah ja. Ricks Gefährtin. Vielsagende Formulierung. Für Durago war ich noch lange nicht seine Alpha, sondern lediglich Ricks Gefährtin.

„ Rick weiß, dass ich eine natürliche Begabung dafür habe, in Schwierigkeiten zu geraten“, erwiderte ich. „Er wird mir die Schuld geben. Lass mich raten: Rick hat dir auch gesagt, dass ich es möglichst nicht mitbekommen soll, wenn du den Babysitter für mich spielst. Richtig?“

Durago gab ein vielsagendes Grunzen von sich. Das hieß dann wohl ja. Rick war ein unverbesserlicher Kontroll-Freak und diese Heimlichtuerei machte es nicht besser! Dämlicher Macho. Da standen mir noch etliche Kämpfe bevor. Aber jetzt gab es dringlicheres.

Seufzend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die praktische Schadensbegrenzung. Zuerst musste ich den Blutgeruch loswerden. Im Lager gab es noch mehr hungrige Strangorren. Außerdem konnte es nicht schaden, die Wunden auszuwaschen – auch wenn das Salzwasser höllisch weh tun würde.

„ Ich geh runter zum Wasser und mach mich sauber.“

„Nein, das ist zu gefährlich“, sagte Durago.

„ Verschon mich mit dem Beschützer-Mist“, entgegnete ich schnippisch. „Dafür ist es zu spät.“ Manchmal bohrte ich gern in offenen Wunden. Vor allem, wenn das mein Gegenüber mundtot machte. Ungelenk kraxelte ich an einer flacheren Stelle runter zum Wasser. Trotz meiner bösen Sprüche war ich insgeheim froh, dass Durago und Kisha mich flankierten. Auch wenn mir Durago ein wenig zu dicht auf die Pelle rückte. Als ich unten beim Wasser angekommen war, hatte ich endgültig genug.

„ Ich muss mein Oberteil ausziehen, um das Blut abzuwaschen“, sagte ich zu Durago.

Wortlos zerrte sich Durago sein Shirt über den Kopf und drückte es mir in die Hand.

„ So war das nicht gemeint.“ Ich wollte ihm sein Shirt zurückgeben, doch Kisha hielt mich ab.

„ Dein eigenes ist hin“, sagte Kisha. „Völlig zerfetzt vom Nachtsicc. Also nimm das Teil von Durago.“

„ Und zur Belohnung für ihre Vernunft, bekommt Kisha endlich mal wieder einen nackten Männerkörper zu sehen“, spottete Durago.

„ Du Arsch!“, fauchte Kisha.

„ Wenn du den auch sehen willst, musst du nur Bescheid sagen. Ich stehe dir gern zur Verfügung.“

„ Schluss jetzt!“, rief ich und starrte Durago genervt an. „Wenn du unbedingt Kisha anbaggern willst, dann mach das. Aber nicht jetzt! Los, verschwinde! Ich muss mich waschen.“

Durago reagierte nicht.

„ Ich sagte: verschwinde! Oder glaubst du allen Ernstes, ich mach hier Striptease vor dir.“

„ Rick hat gesagt, ich soll auf dich achten. Rick ist mein Alpha. Was er sagt ist Gesetz.“

„ Wenn Rick rauskriegt, dass du mich angegafft hast während ich nackt im Meer war, was denkst du wohl, was dann passiert? Also hau ab!“

Durago knurrte und versuchte, mich nieder zu starren. Ich hielt seinem Blick stand. Gegen dieses Macho-Dominanz-Gehabe war ich immun! Das sollte Durago eigentlich klar sein, nach allem, was geschehen war.

Kisha schob sich zwischen uns. „Wenn du uns beschützen willst, dann halt uns den Rücken frei“, sagte sie zu Durago. „Von der Landseite aus droht Fate weitaus mehr Gefahr als vom Wasser.“

Wow, so viel diplomatisches Geschick hätte ich Kisha gar nicht zugetraut. Tatsächlich verzog sich Durago. Vorsichtig schälte ich mich aus meinem zerfetzten Shirt und dem nagelneuen BH, den mir Lluh besorgt hatte. Kisha ging neben mir in die Knie und half mir, die Wunden mit meinem Shirt abwaschen. Die Kratzer waren hauptsächlich zwischen den Schulterblättern. Das Salzwasser brannte erwartungsgemäß wie die Hölle. Um mich abzulenken untersuchte ich den BH. Wie durch ein Wunder hatte er es unbeschadet überlebt. Wäre auch echt schade drum gewesen. Lluh hatte ein ausgesprochen hübsches Spitzen-Teilchen ausgesucht. Angesichts meiner schmerzenden Rippen, beschloss ich jedoch, den BH vorerst nicht anzuziehen.

„ Dein Rücken blutet kaum noch“, sagte Kisha und gab mir mein kaputtes Shirt zurück, das sie als Lappen benutzt hatte. „Aber die Wunden sehen trotzdem nicht gut aus.“

„ Ich will gar nicht wissen, was ich mir deswegen wieder von Rick anhören muss“, stöhnte ich und betrachtete bedauernd mein zerfetztes Shirt. Lluh kannte nicht nur meine Vorliebe für Spitzenunterwäsche, sondern auch meinen ansonsten schnörkellosen Kleidungsgeschmack. „Mein kaputtes Oberteil nehm ich besser mit, bloß keine Spuren hinterlassen. Und vielleicht kann Fanny noch irgendwas davon retten, es ist ja nur hinten kaputt. Ich mag das Shirt, es ist um Welten besser als die albernen Rüschen-Blusen, die Fanny sonst für mich auf Lager hat“, grummelte ich. „Man muss nicht immer alles gleich verbrennen, nur weil ein bisschen Blut drauf gekommen ist. Ich spül es nochmal gründlich im Salzwasser, damit es nicht mehr nach Blut riecht.“