Im Schatten von Druwenarr - Daryll Fate - E-Book

Im Schatten von Druwenarr E-Book

Daryll Fate

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte von zwei jungen Magiern, Neve und Bryan, die gerade erst herausfinden, welche ungeahnten Kräfte in ihnen schlummern. Doch es ist auch die Geschichte von Alec und Susan, die zwischen Hass, Verzweiflung und Machtgier gefangen sind. Als diese vier Zauberer aufeinander treffen, beginnt ein Abenteuer, das alles verändert: Ihr Leben, ihre Magie und ihre Herzen.
Ich könnte jetzt noch von Rick und dem kleinen idealistischen Kreis am Rande der Legalität erzählen, der sich um Zauberneulinge kümmert. Oder auch von der perversen Besessenheit eines sehr einsamen Menschen. Doch ich will nicht zuviel verraten. Entdeckt es selbst.


„Im Schatten von Druwenarr“ ist ein romantischer Fantasy-Thriller vor der Kulisse unserer scheinbar normalen Realität. Es geht um Liebe, die Verlockungen der Macht und wie unterschiedlich das Leben eines Außenseiters sein kann.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Daryll Fate

Im Schatten von Druwenarr

Dieses Buch ist für Euch: Träumer, Idealisten und heimliche Magier.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

IM SCHATTEN VON DRUWENARR

 

 

 

Erster Teil

– 1 –

Kleine Finger hatten eine Blume in die schmierige Staubschicht des Zugfensters gemalt. Unbeholfen und nicht besonders hübsch. Trotzdem war es noch das Netteste, was sie bislang auf ihrem Ausflug entdeckt hatte. Sie ließ ihren Blick verschwimmen und sah durch die blassen Konturen hindurch nach draußen.

Braune Felder, reizlose Landschaft. Ein verrostetes Fahrrad am Wegrand. Mehrere hundert Meter weiter folgte ein flacher Schuppen. Eine Fabrikhalle und ein Müllberg. Dicht daneben ein Autofriedhof. Dann eine lange Mauer, auf der sich unbegabte Sprayer ausgetobt hatten. Ihnen war es wohl mehr um den Spaß als um die Optik gegangen. In einigem Abstand ein Reihenwohnhaus. Ein weiteres folgte, ebenso hässlich wie das erste, man konnte sie lediglich an der Farbe unterscheiden. Rosa statt hellgrün. Langsam füllte sich die fade Einöde mit Gebäuden. Immer mehr davon, wie ein hässlicher Ausschlag breiteten sie sich aus, überwucherten den Horizont. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Geschätzte Ankunftszeit: Jetzt.

Der Rhythmus der Räder wurde langsamer und der schale Geruch von verschmortem Plastik stieg in ihre Nase. Der Bahnhof kam in Sicht. Sie erhob sich von ihrem Platz und ging Richtung Ausgang. Der Zug stoppte mit kreischenden Bremsen. Passend zu dem heruntergekommenen Wagon war die manuelle Tür halb verrostet und ließ sich nur mit Gewalt öffnen. Niemand sonst wollte aussteigen. Gut möglich, dass sie der einzige Fahrgast in diesem fahrenden Schrotthaufen gewesen war.

Kaum hatte sie den Zug verlassen, ertönte ein schriller Pfiff und die Tür knallte wieder zu.

In der Bahnhofshalle war die Luft noch übler als im Zug, getränkt vom Gestank nach Urin und altem Fett. Die Haltestation war nicht mehr als eine kleine Ansammlung von Gleisen, gespickt mit einem Fahrkartenautomaten, einem winzigen Zeitungsstand und einer Imbissbude. Zwei Männer aßen Pommes und Hot Dogs. Eine leere und zwei volle Bierflaschen standen daneben. Neugierig sahen die Männer in ihre Richtung. Einer grinste ihr mit nikotinverfärbten Zähnen zu. Eine derartige Ansammlung von Klischees hatte sie selten erlebt – und sie hatte schon eine ganze Menge Klischees gesehen. Hastig verließ sie den Bahnhof und wäre beim Ausgang fast in eine benutzte Spritze getreten.

Schöne neue Welt.

Draußen angelangt schnupperte sie prüfend. Sie roch Straße und Dreck, aber der Gestank nach Fäkalien und ranzigem Essen war verschwunden. Sie atmete tief ein. Endlich Luft, die auch Sauerstoff enthielt.

Sie kramte den Prospekt aus ihrer Jackentasche und suchte den kleinen Stadtplan darin. Nicht einmal auf den retuschierten Panoramafotos sah Cartween besonders hübsch aus. Wie war sie nur auf die absurde Idee gekommen, hierher zu fahren? Egal. Nun war sie hier, also würde sie auch pflichtschuldig die Sehenswürdigkeiten abklappern. Nach einigen Minuten hatte Neve das Zentrum erreicht – beziehungsweise das, was großspurig als City bezeichnet wurde. Es war lächerlich klein. Eigentlich eher ein Dorf als eine Stadt. Oder kam ihr das nur so vor? Im Vergleich zu Aston wirkten wahrscheinlich die meisten Städte winzig. Viel zu sehen gab es auf jeden Fall nicht. Die vereinzelten Passanten waren mit sich selbst beschäftigt und schienen durch sie hindurch zu sehen. Immer wieder musste Neve ausweichen, um nicht angerempelt zu werden. Unfreundliches Volk. Erneut bereute sie es, hierher gefahren zu sein. Alles nur wegen dieses nichts sagenden Prospektes in ihrem Briefkasten? Sie hätte sich lieber zu Hause mit einem Buch verkriechen sollen, bei leiser Musik und einer heißen Tasse Tee. Das wäre jetzt genau das Richtige, um die eisige Kälte aus ihren Fingern zu vertreiben.

Suchend hielt sie nach einem Cafe Ausschau, in dem sie sich aufwärmen konnte. Vergeblich. Fröstelnd ging sie die Straße entlang. Zwei Querstraßen weiter kam sie an einem alten Haus vorbei. Es sah beinahe genauso aus wie die anderen Gebäude in Cartween – und doch war es anders. Fremdartig. Schwer zu sagen weshalb. Ihre Neugier war geweckt und die Kälte vergessen. Sie ging näher. Eine Papptafel lud zu Besichtigungen ein, es kostete noch nicht einmal Eintritt. Angeblich stand es unter Denkmalschutz, weitere Informationen gab es nicht.

Plötzlich hörte Neve eine Stimme hinter sich. Erschrocken drehte sie sich um. Ein Mann lächelte sie freundlich an. Neben ihm stand eine auffällig attraktive Frau. Die beiden stellten sich als Alec und Susan vor, drängten ihr das „du“ auf und verwickelten sie in ein Gespräch. Neve war völlig überrumpelt von diesem Annäherungsversuch. Ihre Antworten kamen mechanisch, abweisend. Doch der blonde Mann schien es nicht zu bemerken. Sie konnte Smalltalk nicht leiden. Wäre der Typ alleine gewesen, hätte sie es wahrscheinlich als plumpe Anmache gedeutet. Ein Pärchen hingegen sollte eigentlich harmlos sein.

Sie seufzte innerlich auf und ermahnte sich zu lächeln, schließlich hatte sie erst gestern – mal wieder – den Entschluss gefasst, kontaktfreudiger zu werden. Die zwei waren ungefähr in ihrem Alter und sahen einander sehr ähnlich. Sie wirkten wie aus einer Reklame für Babynahrung. Hübsch, blond, blauäugig und ein immerwährendes Lächeln. Neve ließ das aufdringliche Pärchen reden. Sie hatte keine Lust auf Gesellschaft und wollte eigentlich nur in Frieden gelassen werden. Andererseits wollte sie sich nicht wieder vorwerfen lassen müssen, eigenbrötlerisch zu sein. Sie gehörte nicht zu denjenigen, die schnell Anschluss fanden. Das Gegenteil war der Fall. Ein wenig zwischenmenschliche Kommunikation war bestimmt gut für sie. Gerade deshalb sollte sich eigentlich über die Aufmerksamkeit der beiden freuen.

Eigentlich.

Aber sie freute sich nicht.

Ganz und gar nicht. Dieses ständige Lächeln zerrte an ihren Nerven. Der Mann zwinkerte ihr zu und kam sich offenbar unwerfend charmant vor. War er auch, gestand sich Neve ein, zumindest objektiv betrachtet. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Frauen bei seinem Lächeln reihenweise dahin schmolzen. Seltsam, dass es seine Begleiterin nicht störte. Wie sehr doch der erste Eindruck täuschen konnte. Sie hätte schwören können, dass die zwei zusammen gehörten. Aber wieso flirtete der Typ dann so unverhohlen mit ihr? Vielleicht war sie auch paranoid, wahrscheinlich war es nur seine gewohnte Art mit Frauen umzugehen.

Alles in allem waren diese Fremden einfach zu schön um wahr zu sein. Künstlich. Die aufgesetzte Fröhlichkeit ging ihr mehr und mehr auf die Nerven. Warum ließ dieses Vorzeige-Traumpaar sie nicht endlich in Frieden und scherte sich zum Teufel?

Ja, es war unfair, sie wollten sicherlich nur nett sein.

Na und? Hatte sie nicht trotzdem das Recht, die beiden unerträglich zu finden?

Draußen war Stimmengemurmel zu hören. Bryan sah durch das geschlossene Fenster hinab zum Hauseingang. Sie waren zurückgekommen. Eine Frau stand neben ihnen. Kleiner als Susan. Brünett. Mehr konnte er nicht erkennen, sie stand mit dem Rücken zum Fenster. Eine Komplizin? Im ersten Moment wollte Bryan weglaufen und sich wieder verstecken. Doch dann entschied er, das Szenario zunächst weiter zu beobachten.

Alec und Susan zeigten ein auffälliges Interesse an der unbekannten Frau. Alec hatte sein strahlendstes Lächeln aufgesetzt, aber die Fremde schien unbeeindruckt zu sein. Bryan wünschte, er könnte die Worte verstehen. Aus dem unverständlichen Gemurmel wurde er nicht schlau. Insgesamt wirkte die kleine Brünette, als wäre ihr die ganze Unterhaltung unangenehm. Schließlich entfernte sie sich mit eiligen Schritten. Alec und Susan blieben noch eine Weile vor dem Haus stehen und gingen dann Arm in Arm weiter. Sie verfolgten die Frau nicht, sie hatte eine andere Richtung eingeschlagen.

Bryan wandte sich ab. Er hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Vermutlich gar nichts. Vielleicht hatte die Brünette nur nach dem Weg gefragt. Oder auch nicht. Es spielte keine Rolle. Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Vielleicht war es seine einzige Chance, er durfte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Alec und Susan glaubten offenbar, dass er noch in seinem Käfig war, sonst hätten sie sofort nach ihm gesehen. Dadurch gewann er einen kleinen Vorsprung. Am sichersten wäre es gewesen, sich wieder zu verstecken. Aber er wollte weiter am Fenster arbeiten, er hatte es fast geschafft. Wenn sie erst wieder im Haus waren und seine Flucht entdeckten, hatte er vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu. Weglaufen und verkriechen konnte er sich immer noch.

„Jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt, nur weil ausnahmsweise mal eine Frau nicht auf deinen unglaublichen Charme reingefallen ist. Sie hat nun mal einen dringenden Termin“, sagte Susan spöttisch.

„Abgesehen davon, dass ich mich natürlich freue, zu deiner Belustigung beizutragen – du hattest bei Bryan auch nicht mehr Erfolg“, entgegnete Alec gekränkt.

„Es ist doch egal, ob sie mit uns zusammen ins Haus geht.“ Susan klang versöhnlich. „Wichtig ist doch nur, dass sie überhaupt rein geht. Und das wird sie. Früher oder später, dafür haben wir gesorgt.“

Alec schwieg, er dachte über Bryan und Neve nach. Ob das dazugehörte, diese abweisende Art? Zumindest in diesem Punkt waren die beiden ihm und Susan ähnlich. Eigentlich war er sogar sehr froh, dass weder Bryan noch Neve für Schmeicheleien empfänglich waren und sich nicht auf jeden Flirt einließen. Sprach das nicht für seine Vermutung? Vielleicht behielt er doch recht, vielleicht logen die Bücher. Hoffentlich. Er hatte Angst ihm könnte alles entgleiten, sie könnte ihm entgleiten. Doch wenn er Recht behielt, dann hatte es sich wenigstens gelohnt.

Und wenn nicht? Zwischen seine Augenbrauen trat eine tiefe Falte.

„Komm, lass uns noch ein wenig in die Stadt gehen“, sagte Susan aufmunternd. „Wir brauchen neue Vorräte und es wird einige Zeit dauern, bis Neve zurückkommt.“ Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Außerdem ... kränkt es dein Ego wirklich so sehr, von ihr einen Korb bekommen zu haben?“ fragte Susan und klimperte neckisch mit den Wimpern.

„Los, komm her.“ Alec küsste sie lachend.

Perplex stand Bryan vor dem geöffneten Fenster. Seine Hand stieß auf Widerstand, ein leichtes Kribbeln ging durch seine Finger, als würde er einen elektrischen Zaun berühren. War er eingesperrt wie ein dummes Rindvieh? Nein, nicht auch noch das. Erneut versuchte er, seine Hand nach draußen zu strecken. Wieder durchfuhr das Zucken seine Hand. Er drückte stärker dagegen. Es brannte, seine Hand schlotterte unkontrolliert. Ein unangenehmes Pochen zog sich durch seinen Arm, kroch höher, bis hinauf in seine rechte Schulter. Er biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die unsichtbare Barriere. Erfolglos. Das geöffnete Fenster war wie von einer unsichtbaren Mauer verriegelt.

Nein!

Nein, verdammt noch mal!

Er holte Anlauf und rannte auf das geöffnete Fenster zu.

Ein Blitz zuckte durch seinen Körper, in seinem Kopf grelles weises Licht, in seiner Brust ein hartes Stechen. Er bekam keine Luft mehr. Eine unsichtbare Kraft schleuderte ihn zurück. Er flog durch die Luft, ruderte hilflos mit den Armen und überschlug sich. Dann krachte er auf den harten Holzboden.

Benommen und mit schmerzenden Gliedern richtete er sich wieder auf. Frustriert sah er zu dem geöffneten Fenster hoch. Wenn er wenigstens nicht so ein mickriger Winzling wäre. Den Besen gegen das Fenster zu lehnen war die reinste Mammutarbeit gewesen. Er war daran nach oben geklettert – an einem Besenstiel! Wie er das geschafft hatte, war ihm im Nachhinein ein Rätsel. Das nannte man wohl Mut der Verzweiflung. Er hatte es sogar geschafft den rostigen Riegel zu öffnen. Und die ganze Zeit hatte er versucht, nicht daran zu denken, wie er die Häuserfront hinunter klettern sollte. Doch das waren sowieso völlig überflüssige Sorgen gewesen, wie sich nun herausgestellt hatte. Er würde hier nicht raus kommen. Niemals. Alles war versperrt.

Scheiße!

Er zog die Knie an und vergrub das Gesicht in seinen Händen, schluckte schwer und schloss für einen Moment die Augen. Der fehlende Schlaf machte sich bemerkbar. Er hatte nicht gewagt zu schlafen, hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, um zu diesem verfluchten Fenster hochzukommen – nur um festzustellen, dass ihn das keinen Millimeter weiterbrachte.

Er rieb sich den Hinterkopf und spürte eine leichte Schwellung. Tastend stellte er fest, dass die Beule an seinem Kopf größer wurde. Ihm war schwindlig von dem Sturz. Er blieb auf dem Boden sitzen, um einen Moment lang ausruhen. Dann würde er weitermachen, er würde nicht aufgeben. „Ich werde es schaffen. Ich muss es ich schaffen“, machte er sich selbst Mut

Er hatte wieder angefangen, Selbstgespräche zu führen. Er wusste nicht, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Seine Augenlider wurden immer schwerer. „Nicht einschlafen. Ich darf jetzt nicht einschlafen“, murmelte er.

Nachdem sich Neve mit eiligen Schritten zwei Häuserblocks weit entfernt hatte, wurde sie langsamer. So weit war es also gekommen, jetzt fing sie schon mit schäbigen Ausreden an. Und dann noch so etwas Einfallsloses. Sie bezweifelte, dass sie ihr geglaubt hatten. Es war aber auch egal, sollten diese Hochglanz-Models sie ruhig für unhöflich halten.

Sie wollte zwar in das Haus – unbedingt sogar –, aber nicht mit den Zweien.

Wahrscheinlich hatte ihre Freundin Laura Recht, sie war tatsächlich seltsam.

Sie überlegte, was sie jetzt tun sollte. Vielleicht einfach wieder nach Hause fahren. Sie war durchgefroren und die Stadt war ebenso hässlich wie langweilig. Bis auf dieses alte Haus ... Und wenn sie schon mal hier war ... Eine Besichtigung hätte die Zugfahrt zumindest ein bisschen gerechtfertigt. Das Gebäude war faszinierend, auch wenn sie immer noch nicht sagen konnte, weshalb eigentlich. Sie spürte nur, dass sie dorthin wollte ... sollte.

Das blonde Doppelpack war bestimmt alleine hinein gegangen. Wie lange wird man wohl brauchen, um so ein Haus zu besichtigen? Es war nicht besonders groß und die zwei wirkten nicht wie ausdauernde Museumsbesucher. Also schätzungsweise eine halbe Stunde, vielleicht auch 45 Minuten. Genug Zeit, um sich in einem Cafe aufzuwärmen – falls sie eines fand. Die restliche Zeit würde sie sich in einem Buchladen vertreiben. Sie sah sie auf die Uhr. Jetzt war es kurz vor drei Uhr. Viertel vor vier war ein guter Zeitpunkt.

Zwanzig Minuten vor vier Uhr betrat sie das Haus. Am Eingang gab es keine Kasse, der Eintritt war tatsächlich umsonst. Nicht mal um Spenden wurde gebeten. Eher ungewöhnlich. Auf dem Schild standen keine Öffnungszeiten. Nun, sie würde es schon merken, wenn man sie raus warf.

Anscheinend war sie die einzige Besucherin. Auch sonst war niemand zu sehen. Seltsam. Vielleicht war die Aufsicht kurz auf der Toilette. Oder im nächsten Stockwerk.

Sie berührte das dunkle Holz der Wände und sog den Geruch des Gebäudes in sich auf. Es roch nicht wie sonst in alten Häusern; nicht nach Staub, Moder oder Asche, auch nicht nach konstant klimatisierter Luft wie im Museum. Stattdessen roch es nach Wald. Als wäre das Holz nach all den Jahren noch lebendig. Aber da war noch etwas Anderes, Fremdartiges. Vielleicht war es gar nicht das Holz, das diesen schweren Duft ausströmte. Sie stieg die ächzende Treppe hinauf. Was genau konnte man eigentlich in dem Haus besichtigen? Fast alle Räume waren verschlossen und in den wenigen zugänglichen Zimmern standen nur vereinzelt Möbel, die zwar alt, aber nicht besonders sehenswert waren. Auffällig war lediglich die Bauweise des Hauses. Die Häuserfront war aus Sandstein, doch innen waren alle Wände, Decken und Böden mit dunklem Eichenholz ausgekleidet. Es wirkte düster. Die schmalen Fenster verstärkten diesen Eindruck. Es gab insgesamt drei Stockwerke. Oben angekommen stellte sie fest, dass sie tatsächlich der einzige Besucher im Haus war. Fast ein wenig unheimlich. Aber auch schön. Sie war gern alleine.

Sie reckte den Hals und schnupperte prüfend. Der Geruch schien stärker zu werden.

Auf einmal hörte Neve ein Geräusch. Ihre Schultern verkrampften sich. Sie hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Es war eine Stimme, eine Männerstimme. Ganz leise, ein kaum wahrnehmbares Flüstern. Sie wand den Kopf und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Von rechts, eindeutig von rechts. Sie folgte dem Klang bis zu einer schmucklosen Tür. Prüfend drückte sie die Klinke nach unten. Die Tür war unverschlossen. Dahinter schmale Holzstufen. Gab es noch ein Stockwerk oder ging es dort zum Dachboden des Hauses? Wieder hörte sie die Stimme, unartikulierte Laute, ein wenig verzweifelt. Vielleicht brauchte jemand Hilfe. Rasch eilte sie die halb zerfallenen Stufen nach oben.

– 2 –

Auf dem Dachboden war es noch dunkler als im restlichen Haus. Schmutzig, die Luft roch staubig. Vereinzelt lagen Gegenstände auf dem Boden. Ein Besen lehnte gegen ein halb geöffnetes Fenster. Gegenüber der Tür ein schmaler Kaminschacht aus Stein. Der restliche Raum war verwinkelt. Die Holzverkleidung der Wände zeigte überall Risse. Unzählige Spinnweben schimmerten im fahlen Licht.

Dann sah sie ihn. Eine puppenartige Gestalt, gerade so groß wie ein junges Kätzchen. Der kleine Mann saß zusammengekauert in einer Ecke, den Kopf zwischen den Knien, die Arme um die Beine geschlungen. Vom Kopf konnte man nur die kurzen dunklen Haare sehen. Die Puppe wirkte täuschend echt, lebendig. Warum versteckte man sie hier oben? Sie war viel interessanter als alles, was sie bislang in dem Haus entdeckt hatte. Neugierig ging Neve darauf zu.

Seltsame Puppe, für ein Kinderspielzeug war sie viel zu fein gearbeitet. Aber wenn es kein Spielzeug war, was war es dann? Ein Roboter, eine neue Erfindung? Was hatte ein so perfekter Roboter in einem alten Haus zu suchen? Gehörte es einem verrückten Wissenschaftler – oder ging ihre Phantasie mal wieder mit ihr durch? Interessiert beäugte Neve die Figur. Redete oder schlief das Ding? Wofür baute man einen Roboter, der schlafen konnte? Ein unruhiger Schlaf – falls es Schlaf war. Immer wieder zuckten die Glieder und der kleine Mann stammelte zusammenhanglose Worte. Vielleicht war es defekt? Sie senkte ihren Kopf, um das kleine technologische Wunderwerk aus der Nähe zu betrachten. Eine Diele knarrte unter ihrem Gewicht.

Die Puppe sprang auf.

Neve zuckte zurück und starrte das kleine Männlein an. Jetzt, da er aufrecht vor ihr stand, konnte sie erkennen, dass er trotz seiner Größe kräftig wirkte. Er war wie jeder andere Mensch proportioniert, nur eben viel kleiner. Er wirkte verwirrt, zugleich war sein Gesichtsausdruck aggressiv und abweisend.

Das war keine Puppe. Auch kein Roboter. Das Ding war lebendig!

„Hau ab!“, rief er.

„Aber ...“, stammelte Neve.

„Raus!“, schrie er aufgebracht.

Neve drehte sich um und stolperte die Treppe hinunter. Doch kaum hatte sie die Tür zum Dachboden hinter sich gelassen hatte, hielt sie inne.

Was zur Hölle war das? Wieso hatte sie auf ihn gehört, wieso war sie weggerannt? Was war das für ein Mensch? War es überhaupt ein Mensch? Oder war sie einfach verrückt geworden und hatte Halluzinationen? Träumte sie?

Dann drang ihr wieder dieser Geruch in die Nase. Diesmal stärker. Es musste ganz in der Nähe sein.

Bryan spürte Panik in sich aufsteigen. Er hätte niemals einschlafen dürfen. Warum hatte er sie nicht gehört? Warum war sie überhaupt hierher gekommen? Waren Alec und Susan hier? Gehörte die Fremde zu ihnen? War es die gleiche Frau wie vor dem Fenster? Die Brünette? Eine Verbündete oder ein neues Opfer? Egal. In jedem Fall bedeutete es, dass Alec und Susan ganz in der Nähe sein mussten.

Er musste sich verstecken. Wenn sie ihn einfingen, wäre alles umsonst gewesen. Er sah die Stufen hinunter. Die Frau hatte die Tür hinter sich offen gelassen. Halleluja! Sein Herz machte einen Sprung – der Weg zur Haustür war endlich frei. Plötzlich drang ein vertrauter Geruch in seine Nase. Erschrocken sprang er auf und lief der Frau hinterher.

Der Geruch war süß, hypnotisierend. Neve musste unbedingt wissen, woher er kam, was die Quelle dieses köstlichen Duftes war. Was interessierte sie der kleine Mann. Nichts war wichtig außer diesem faszinierenden Geruch. Er schmeichelte ihrer Nase, umhüllte sie und nahm sie gefangen, zwang sie in einen benachbarten Raum zu gehen. Dort war er noch stärker, er kam von einer Schale, die auf einem kleinen Holztisch aufgestellt war. Sie trat näher. In der Schale lagen kleine bunte Kugeln. Leuchtendes Rot, helles Beige und sattes Braun. Sie griff danach, nahm eine der Schokoladenbraunen. Sie roch daran. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Der Geruch war süß und zugleich leicht herb, wie Weihnachtsgebäck. Lebkuchen. Lebkuchen mit Marzipan. Maroni. Mohnkuchen. Pflaumenmus mit Zimt. Sie musste einfach wissen, wie es schmeckte. Sie leckte sich die Lippen und steckte sich die kleine weiche Kugel in den Mund. Die Oberfläche war glatt wie ein Schokoladenüberzug, schmeckte auch so. Milchschokolade. Darunter etwas Fruchtiges. Und etwas Herbes. Lakritze? Sie biss auf die Kugel und zerdrückte den Inhalt mit der Zunge. Der Kern war weich, viel weicher als Lakritze. Es wurde in ihrem Mund sofort flüssig. Marzipan, Pflaume, Mohn, Anis und Zimt. Und dann breitete sich ein regelrechtes Feuerwerk in ihrem Mund aus. Bunt, laut, berauschend ...

„Nein! Spuck es aus!“, rief jemand hinter ihr.

Plötzlich drehte sich alles um sie herum, schneller und immer schneller. Sie bekam Angst, panische Angst, öffnete den Mund, um zu schreien, doch es kam kein Laut hervor. Dann wurde es dunkel.

Hilflos beobachtete Bryan, wie sie innerhalb weniger Sekunden kleiner wurde. Sie taumelte, ihre Augenlider flatterten. Dann wurde ihr Gesicht schlaff und ihre Beine knickten ein. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie zu Boden. Bryan rannte zu dem leblosen Frauenkörper.

Verdammt, wäre er nur ein bisschen schneller gewesen, hätte er es vielleicht verhindern können. Wenn er sie nicht angeschrieen, sondern ihr alles ruhig erklärt hätte, wäre das vielleicht nicht passiert. Vielleicht. Oder doch? Das spielte keine Rolle mehr. Es war zu spät. Nun war sie ebenso winzig wie er.

Leise fluchend tastete er nach ihrem Puls. Kräftig und regelmäßig. Gut, eine Sorge weniger. Er fühlte sich für sie verantwortlich, er konnte sie nicht zurücklassen, er musste sie wegbringen. Er hatte keine Ahnung, wann Alec und Susan zurückkommen würden.

Vorsichtig hob er sie vom Boden hoch, einen Arm unter ihre Kniekehlen, mit der anderen hielt er ihren Rücken. Sie war schlank. Ihr Gesicht schmal und blass, hohe Wangenknochen, ein kleines Grübchen am Kinn. Hübsches Gesicht, nicht nur das Gesicht ...

Er schüttelte den Kopf. Schlechtes Timing. Er richtete den Blick wieder geradeaus. Ohne nachzudenken hatte er sich zum Dachboden gewandt. War das klug? Er blieb stehen und ging seine Möglichkeiten durch.

Nach unten?

Auch wenn die Frau nicht besonders schwer war, würde er die Treppen bis zur Haustür mit der Bewusstlosen niemals überwinden können. Wenn er Pech hatte, war der Hauseingang ebenso abgesichert wie das Fenster.

Also nach oben?

Aber zu seinem Versteck auf dem Dachboden mussten sie ebenfalls über Stufen klettern. Alleine kein Problem, aber die Frau müsste er hinter sich herschleifen und er hatte Angst, ihr dabei weh zu tun. Und sollten Alec und Susan sie auf dem Weg zum Dachboden überraschen, würde er mit ihr nicht schnell genug sein.

Was also tun?

Scheiße, er war einfach zu müde für Geistesblitze.

Wieder sah er in ihr Gesicht. Ihr Mund zuckte. Vielleicht erwachte sie bald wieder, dann wären die Stufen kein Problem mehr – zumindest kein so großes. Er selbst war damals nur einige Minuten ohnmächtig gewesen, sofern er seiner Armbanduhr trauen konnte. Er hoffte, dass es bei ihr nicht länger dauerte.

Damals – das war erst drei Tage her. Drei Tage, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten.

Suchend blickte er sich um, entdeckte schließlich eine Nische und trug die Frau dorthin. Das musste genügen. Wenn die Kleine erst wach war, konnten sie dafür umso schneller verschwinden.

Vorsichtig legte er sie zu Boden, setzte sich daneben und wartete. Eine halbe Ewigkeit verging. Geduld war nicht seine Stärke.

Immer wieder blickte er nervös auf seine Uhr. Sie sollte schon längst wach sein, warum dauerte das so lange? Er betrachtet den leblosen Körper neben sich. Sie trug dicke Kleidung, ein schwarzer Schal war zweimal um ihren Hals gewickelt. Kastanienbraunes langes Haar umrahmte ihr blasses Gesicht. Er fragte sich, ob alle bewusstlosen Frauen so zerbrechlich wirkten.

Der Boden war hart und schmutzig. Sie begann zu zittern. Vielleicht war ihr kalt oder sie hatte Schmerzen. Eine Decke wäre gut gewesen oder zumindest eine weiche Unterlage für ihren Kopf. Seine Jacke lag noch oben. Bei dem Versuch das Fenster zu öffnen, war ihm warm geworden und er hatte sie ausgezogen. Er zögerte, dann hob er ihren Kopf vorsichtig hoch und schob sein Bein als Kissen darunter. Wieder sah er sie an, ließ seinen Blick über die Konturen ihres Gesichts wandern, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Haut war zart, ein dünner Lichtstrahl malte glänzende Flecken auf ihr braunes Haar. Sie roch gut, als hätte sie gerade gebadet. Make-up oder Haarstyling konnte er jedoch nicht entdecken. Ihre Kleidung war eher schlicht. Alles deutete darauf hin, dass sie wenig Wert auf ihr Äußeres legte. Trotzdem hatte er das Gefühl, sie würde überall auffallen. Ihm zumindest würde sie auffallen ...

Er blickte auf die Uhr. Wenn es noch länger dauerte, musste er sie in sein Versteck transportieren. Dann würde sie eben ein paar blaue Flecken kriegen. Aber wenn sie nun einen ganzen Tag nicht erwachte ...? Wieso dauerte es bei ihr so lange? Oder war er selbst auch einen kompletten Tag lang bewusstlos gewesen? Womöglich hatte er sich geirrt und beim Blick auf die Armbanduhr fälschlicherweise gedacht, es wären nur wenige Minuten gewesen, obgleich es tatsächlich 24 Stunden und wenige Minuten gewesen waren. Ein ganzer Tag ... Bis dahin würden Alec und Susan sicher zurückkommen. Verdammt!

Ein leises Stöhnen unterbrach seine Gedanken.

Neves Schädel dröhnte. Sie wollte den Kopf heben, doch ihre Muskeln verweigerten sich den willentlichen Befehlen. Nur ihr Herz schlug ununterbrochen; schnell, viel schneller, als sie es in Erinnerung hatte. Sie gab sich einen Moment Zeit, wartete bis das dumpfe Pochen hinter ihren Augen nachließ. Schließlich gelang es ihr, die Augenlider einen Spalt weit auseinander zu zwingen. Um sie herum verschwommene Umrisse. Dunkel.

Wo war sie? Nicht in ihrem Bett. Nein, dort roch es anders ...

Sie versuchte sich zu orientieren. Sie lag auf dem Boden. Träumte sie? War sie eingeschlafen? Wo ...? Was war zuletzt geschehen? Ihr Kopf ruhte auf einer leichten Erhöhung. Ein Kissen? Es war weicher als der Boden, doch die Kissenfüllung war hart und warm. Ein warmes Kissen ...? Angestrengt konzentrierte sie sich auf die Form.

Ein Bein? Neve wollte sich aufrichten, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Nur mit äußerster Anstrengung schaffte sie es, wenigstens ihren Kopf zu drehen. Blinzelnd sah sie nach oben, langsam wurden die Konturen klarer. Da war ein Mann. Er kam ihr bekannt vor. Er lächelte sie an, wirkte freundlich. Sollte sie zurück lächeln? Woher kannte sie den Mann? Wieder versuchte sie sich zu erinnern. Die Zugfahrt, hässliche Stadt. Und dann das blonde Pärchen vor dem alten Haus. Wieder musterte sie das Gesicht über sich. Ja, der Mann war ihr in dem Haus begegnet. Irgendetwas Seltsames war dort passiert. Auch dieser Mann war merkwürdig ... ganz und gar falsch ... Tausend Bilder wirbelten durch ihren Kopf, ein bunter Haufen kleiner Mosaiksteine. Haus. Dachboden. Mann. Er hatte ihr etwas zugerufen ...

Plötzlich erinnerte sie sich wieder. An alles. Auch an diesen Mann. Der kleine Mann vom Dachboden!

Ja, jetzt erkannte sie ihn ganz deutlich. Aber er war gar nicht klein. Es war sein Bein auf dem sie lag. Wieso war er auf einmal so groß? Genauso groß wie sie selbst?

Nein, nein, das alles konnte gar nicht sein. Es machte keinen Sinn. Kleine Männer, die groß waren. Er war doch nur eine Puppe ... War das einer ihrer verrückten Träume? Ein Traum ..., ja, ein Traum war die einzig logische Erklärung.

„Ruhig, ganz ruhig.“ Der Mann hielt Neve an der Schulter fest. Seine Berührung war so vorsichtig, als habe er Angst, sie könnte zerbrechen. Neve entspannte sich wieder, alles war so unwirklich, wie durch einen Nebelschleier. Ganz sicher war das ein Traum – und irgendwann würde sie wieder aufwachen.

„Es tut mir leid, was passiert ist.“, sagte der Mann. „Ich hätte dich warnen müssen. Ich hätte es verhindern müssen. Ich wusste nicht, ob sie dir das Gleiche wie mir antun wollen. Aber ich hätte es mir denken können.“ Er schien mehr mit sich selbst als mit ihr zu sprechen.

Wovon redete er? Wer war dieser Mann eigentlich, außer, dass er eine Puppe war? Andererseits war es müßig über die Logik eines Traumes nachzudenken, oder?

Es begann in ihrem Kopf zu arbeiten, von ganz weit her kam ein Warnsignal, ein hoher, schriller Ton.

Vielleicht war das doch kein Traum?

Sie versuchte sich zu erinnern, was passiert war, versuchte ihre Gedanken zu ordnen, überhaupt wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Sie blickte sich um. Riesige dunkle Wände, der Raum unendlich hoch. Ein dünner Lichtstrahl fiel durch einen überdimensionalen Spalt. Wo war sie hier? Ihr Körper kribbelte. Ihre Füße waren kalt. Probeweise wackelte sie mit den Zehen. Erstaunt stellte sie fest, dass ihre Muskeln ihr wieder gehorchten. Ein schaler Geschmack in ihrem Mund. Staub kitzelte in ihrer Nase. Ein dumpfes Pochen an ihrem Hinterkopf. Vorsichtig tastete sie danach. Eine Beule, rund wie ein Ei. Der Druck ihrer Finger erzeugte einen stechenden Schmerz.

Verdammt! Das war kein Traum. Das war die verfluchte Wirklichkeit!

Unwillkürlich sprang sie auf. Kleine grelle Punkte tanzten vor ihren Augen. Sie ignorierte sie, hastete auf den hellen Spalt vor ihr zu. Sie wollte nur noch weg. Raus, ans Licht.

Kaum hatte sie die Dunkelheit der Nische verlassen, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Ein Stuhl so groß wie ein Schrank. Ein Fenster in unerreichbarer Höhe. Stufen wie für Riesen gemacht. Eine beklemmende Erkenntnis ergriff von ihr Besitz. Nicht der Mann war auf einmal groß. Sie selbst war kleiner geworden! Genauso klein wie er, so klein wie dieser Winzling auf dem Dachboden.

Nein, das war Unsinn, das konnte nicht sein. Es musste dafür eine logische Erklärung geben!

Ein Alptraum? Sie ballte die Fäuste, grub ihre Fingernägel in den Handballen. Es tat weh. Kein Traum. Oder ein sehr realistisch wirkender Traum? Drogen? Gift?

Waren die Kugeln giftig gewesen? Dieses süße Zeug ... Warum hatte sie es gegessen? Vielleicht hatte sie Halluzinationen oder das Ganze war ein krankes Experiment. Von wem? Wieso?

Und wenn nicht? Was, wenn das hier alles real war? Wenn sie tatsächlich so klein war?

Der Mann näherte sich von hinten. Sie spürte ihn kommen, drehte sich gehetzt zu ihm um. War das sein Werk, hatte er sie klein gemacht?

Das war es. Er hatte sie gesehen und dann auf seine Größe geschrumpft. Damit er ihr überlegen war, sie gefangen nehmen konnte, damit sie keine Gefahr mehr war. Ja, dieser Gedanke war logisch. Aber er fühlte sich irgendwie nicht richtig an ... Etwas passte trotzdem nicht zusammen.

Egal, sie wollte nur weg. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte sie los. Der Mann verfolgte sie, Neve hörte sein Fluchen. Sie warf einen ängstlichen Blick über die Schulter. Der Mann kam immer näher. Und dann hatte er sie auch schon eingeholt. Er packte sie am Arm. Sie schlug um sich, trat nach ihm. Doch kaum hatte sie eine Hand frei bekommen, hatte er bereits das andere Handgelenk umklammert. Sie spürte wie Tränen der Wut und Hilflosigkeit in ihre Augen sprangen. Sie schrie. Er presste seine Hand auf ihren Mund. Sie wand ihren Kopf, kratzte und biss. Er gab ihren Mund frei und packte stattdessen ihren freien Arm. Sie drehte ihr Handgelenk, aber es half nichts. Sie wollte wieder nach ihm beißen, da zerrte er sie nach vorne, so dass sie gegen seine Brust knallte. Er presste sie an sich und klemmte ihre Arme zwischen seinen und ihren Körper. Panik stieg in Neve auf, sie war seine Gefangene, war ihm ausgeliefert. Er sagte etwas, redete auf sie ein. Sie hörte nicht zu, ignorierte es, stemmte ihre Arme gegen ihn. Er lockerte seinen Griff, gab ihren Oberkörper frei. Doch bevor sie wegrennen konnte, hatte er wieder ihre Handgelenke umfasst. Neve wand und drehte die Arme, doch er hielt sie fest. Da erinnerte sie sich an ihre Beine und versetzte ihm mit aller Kraft einen Tritt gegen das Schienbein. Er schrie auf und im gleichen Moment lockerte sich sein Griff. Neve erkannte ihre Chance, entriss ihm ihre Hände und kratzte ihm quer über das Gesicht.

Bryan war von ihrem Ausbruch ebenso überrascht wie verärgert. Er hatte zwar damit gerechnet, dass sie panisch reagieren, vielleicht hysterisch schreien würde, aber nicht mit diesem verbissenen Kampf. Es war jetzt einfach keine Zeit für diesen Unsinn, er musste sie zur Vernunft bringen. Er packte sie und schüttelte sie heftig.

„Jetzt hör doch endlich auf! Ich will dir nicht wehtun, ich will dir helfen. Du kannst nicht blindlings durch das Haus irren. Das ist zu gefährlich.“

Die Frau hielt inne. Minutenlang starrten sie sich an. Bryan wusste nicht, was er tun sollte. Falls sie nicht nachgab, musste er sie eben mit roher Gewalt in Sicherheit bringen. Er startete einen letzten Überredungsversuch.

„Wenn du versprichst, nicht zu fliehen und endlich aufhörst, um dich zu schlagen, werde ich dich loslassen und dir alles erzählen“, bot er an. Seine Stimme klang ruhig, doch das täuschte. Er war kurz davor, sie einfach über die Schulter zu werfen und gegen ihren Willen weg zu schleppen.

Neve zögerte, wusste nicht, was sie von diesem Angebot halten sollte. Misstrauisch taxierte sie ihn von oben bis unten. Sie standen sich genau gegenüber, er hielt noch immer ihre Arme mit festem Griff umschlossen. Um ihm in die Augen zu sehen, musste sie den Kopf in den Nacken legen. Athletisch gebaut, breitschultrig. Sein ganzer Körper schien nur aus Muskeln zu bestehen. Der Typ schien eine ganze Menge Zeit im Sportstudio zu verbringen. Oder er war von Berufs wegen ein Schläger. Mit Gewalt würde sie auf jeden Fall nicht weiterkommen, er war eindeutig stärker. Und leider auch schneller. Ein zweites Mal konnte sie ihn wahrscheinlich nicht überraschen. Ihre Nägel hatten seine Wange erwischt, aus den Kratzern traten dicke Blutstropfen. Sie sah in seine Augen, versuchte abzuschätzen, ob sie ihm vertrauen konnte. Schweigend erwiderte er ihren Blick.

„In Ordnung, ich verspreche es“, sagte sie schließlich. Als ob sie ein Wahl hätte.

„Gut. Ich lasse dich jetzt los. Aber du weißt, dass ich dich jederzeit wieder einholen kann, wenn du wegrennst“, warnte er.

„Schon gut“, entgegnete sie ärgerlich. Albernes Machogehabe. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, ein Mann zu sein – oder zumindest ein paar Zentimeter größer. Würde er ihr jetzt erklären, dass sie seine Gefangene war, dass er hinter all dem steckte? Angestrengt überlegte sie, was sie tun sollte.

„Wir müssen von hier verschwinden, ich erzähle dir alles unterwegs. Ich kenne ein Versteck ...“

„Ich gehe nirgendwohin“, unterbrach ihn Neve und vergrub scheinbar trotzig ihre Hände in den Jackentaschen. Verstohlen tastete sie das Innenfutter ab. Sie war sich sicher, ihr Taschenmesser eingesteckt zu haben.

„Wir müssen hier weg. Sie werden bald zurückkommen und ...“

„Bevor ich nicht weiß, was hier los ist, bewege ich mich keinen einzigen Schritt.“ Endlich stießen ihre Finger auf die glatte Plastikverkleidung des Messers. Sie trat ein wenig zurück, damit ihre Hände im Schatten waren.

Bryan überlegte, ob er sie überwältigen sollte. Das wäre vielleicht das Einfachste. Diese Diskussion führte zu nichts. Er ging auf sie zu und hob den rechten Arm, um nach ihr zu greifen.

„Wage es nicht mich anzufassen, daran wirst du keinen Spaß haben“, fauchte sie.

Unvermittelt hielt sie ihm die Klinge eines Taschenmessers vors Gesicht und fuchtelte damit drohend unter seiner Nase herum. Sie hatte ihren Körper leicht nach vorne gebeugt und sah aus wie ein in die Enge getriebenes Tier. Bryan stockte. Vielleicht war das mit dem Überwältigen doch keine so gute Idee. Er hatte nichts, womit er sie fesseln konnte. Er könnte sie höchstens bewusstlos schlagen ... Manchmal wäre ein bisschen mehr Gewaltbereitschaft wirklich nützlich. Er seufzte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es weiterhin auf die sanfte Tour zu versuchen.

„Das ist doch lächerlich.“, sagte er bemüht geduldig. „Ich bin auf deiner Seite. Was glaubst du, warum ich genauso klein bin wie du? Meinst du, es macht mir Spaß, als Zwerg durch die Gegend zu laufen?“

„Und wer sagt mir, dass du nicht tatsächlich ein Zwerg bist? Wer sagt mir, dass nicht du derjenige bist, der mich klein gemacht hat? Ich sehe hier sonst niemanden.“

„Noch nicht“, entgegnete er gereizt.

„Ich gehe nicht mit einem Wildfremden in ein angebliches Versteck“, beharrte sie und stocherte mit dem Messer in seine Richtung. „Für wie naiv hältst du mich eigentlich?“

Bryans Geduldsfaden drohte zu reißen. Schlafend hatte sie so friedlich und harmlos ausgesehen. Wenn er gewusst hätte, was ihn da erwartete, hätte er versucht, sie die Treppe hoch zu schaffen, solange sie noch bewusstlos war. Bryans Bein schmerzte von ihrem Tritt und wahrscheinlich würde er zahllose blaue Flecken von ihren Fäusten bekommen. Da versuchte man ritterlich zu sein und einer Frau zu helfen – und was hatte man dann davon?

Scheiß Spiel!

Solange die Frau dachte, er würde hinter allem stecken, würde sie ihm niemals folgen. Womöglich kam sie sogar auf den Gedanken, Alec und Susan könnten ihr helfen. Aber vermutlich hätte er sich in ihrer Lage genauso verhalten. Mit seinen Bartstoppeln und dem dreckigen Hemd sah er wirklich nicht besonders Vertrauen erweckend aus. Seufzend gab Bryan auf. Streiten brachte sie auf jeden Fall nicht weiter. Entweder er begann jetzt eine Endlosdiskussion mit ihr oder er ließ sie einfach stehen und brachte sich eben alleine in Sicherheit. Letzteres war zweifellos die klügere Option. Offenbar war er nicht besonders klug.

„Also gut“, sagte er resigniert. „Ich werde dir eine Kurzversion von diesem ganzen Schlammassel geben. Aber lass uns wenigstens wieder in die Nische gehen, damit wir nicht mitten auf dem Präsentierteller sind. Ich heiße Bryan.“

„Neve“, entgegnete sie ebenso knapp wie unfreundlich.

Neve folgte ihm nur widerwillig. Aus der Nische würde sie schnell wieder herauskommen, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Außerdem war sie bewaffnet. Vielleicht sagte er auch die Wahrheit und es war tatsächlich besser, sich zu verstecken. Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte. Ein Teil von ihr wollte ihm glauben, auch wenn sie sich nicht sicher war, weshalb. Andererseits ... hätte sie nicht ihr Messer gezogen, dann hätte er sie längst überwältigt. Aber warum hatte er gewartet, bis sie wach wurde und sie nicht vorher gefesselt oder eingesperrt? Das alles passte nicht zusammen. Außer er war ein perverser Psychopath, der gerne mit seinen Opfern spielte.

Bryan ging voraus und Neve bemerkte, dass er leicht humpelte.

„War ich das?“

„Für deine mickrige Statur hast du ziemlich viel Kraft“, antwortete er lakonisch. Sie hatten die Nische erreicht und er blickte sie ärgerlich an. „Und jetzt stecke endlich das Messer weg – du wirst dich noch selbst damit verletzten.“

Neve schwieg, umklammerte ihre Waffe noch ein wenig fester und hielt sie abwehrbereit vor sich. Mit einer schnellen Handbewegung packte Bryan ihr vorgestrecktes Handgelenk und nahm ihr das Messer ab. Das Ganze ging so schnell, dass Neve sich weder wehren noch protestieren konnte. Sie sah ihn erst überrascht und dann wütend an.

„Gib es mir wieder!“

Wortlos knickte er die Klinge, schob sie in den Schaft zurück und reichte ihr das Messer.

Verblüffung und Unsicherheit verdrängten ihre Wut. Vielleicht sagte er doch die Wahrheit? Vielleicht war das aber auch nur ein Trick, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Ein wirkungsvoller Trick, wie sie widerwillig zugeben musste. Bevor er es sich anders überlegen konnte, nahm sie ihr Messer und steckte es wieder in die Tasche. Sie ließ ihre Hand dort, hielt den glatten Griff fest umklammert. Irgendwie beruhigte sie das.

Misstrauisch musterte Neve das Gesicht des Fremden. Bartstoppeln und Schmutz, die Kratzer auf seiner Wange bluteten immer noch. Es tat ihr beinahe leid, dass sie ihn gekratzt hatte. Was für ein abstruser Gedanke. Da nahm er sie gefangen und sie hatte auch noch Mitleid mit ihm. Er war doch selbst schuld, er hätte sie nicht festhalten sollen. Auffordernd sah sie den Mann an, sie war schon sehr auf seine Erklärung gespannt. Es konnte nicht schaden, sich seine Geschichte anzuhören. Was hatte sie in ihrer jetzigen Situation noch zu verlieren? Falls er sie klein gemacht hatte, war er womöglich auch der einzige, der sie wieder zurückverwandeln konnte.

Verdammt, wie war sie nur hier hineingeraten? Klein gemacht – so etwas gab es doch gar nicht!

„Gestern wurde ich wegen eines Auftrags hierher gerufen“, begann er.

„Was für ein Auftrag?“

„Hör zu, wir haben keine Zeit. Die detaillierte Kaffeekränzchenversion gibt es später.“

Neve hielt seinem Blick stand. Er gab einen genervten Stoßseufzer von sich.

„Okay, ich bin Fotograf und wurde hierher bestellt, um einige Aufnahmen zu machen. Zufrieden? Hinter dem Ganzen stecken die Hausbesitzer, Alec und Susan Pecker – zumindest stellten sie sich unter diesen Namen vor. Du kennst sie, sie haben dich vor dem Haus angesprochen. Als ich ankam, bot mir Susan eine Schale mit Pralinen an. Eigentlich mache ich mir nicht viel aus Süßigkeiten, aber das Zeug roch so gut, dass mir ganz schwummrig wurde. Ohne groß darüber nachzudenken, aß ich davon. Dann wurde mir schwindlig. Ich verlor das Bewusstsein und bin in diesem Pocket-Format wieder aufgewacht. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“

Neve schwieg. Er wirkte ehrlich, aber sie hatte sich schon häufiger getäuscht, was das betraf. Sie konnte es sich nicht leisten, ausgerechnet jetzt blauäugig zu sein. Diese Fotografen-Story mit Alec und Susan – war das nicht reichlich an den Haaren herbeigezogen? Wahrscheinlich hatte er sie vor dem Haus gesehen und erfand jetzt eine passende Geschichte. Andererseits hatte er ihr das Messer wiedergegeben. Und ebenso leicht wie er ihr das Taschenmesser abgenommen hatte, hätte er sie wahrscheinlich auch einfach niederschlagen können, um seinen Willen zu bekommen. Nur, was genau wollte er?

„Warum?“ fragte sie. „Was ist das Ziel des Ganzen?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich das selber nicht. Aber nachdem sie mich in einen Käfig gesperrt hatten, war ich mir ziemlich sicher, dass mir ihr Plan nicht gefallen würde. Glaubst du mir jetzt?“, fragte er ungeduldig. „Können wir endlich zu dem Versteck gehen? Wenn sie zurückkommen, wird es zu spät sein.“

„Wenn sie dich eingesperrt haben – wie konntest du dich dann befreien?“

„Mit Gewalt. Es ist nur ein Holzkäfig.“

„Und warum bist du dann noch hier? Warum bist du nicht einfach aus dem Haus geflohen?“

„Weil die Tür zum Dachboden geschlossen war, zumindest bis du rein kamst.“

„Aber sie war nicht abgeschlossen“, widersprach Neve.

„Hast du es immer noch nicht bemerkt?“, entgegnete er gereizt. „Wir sind ein bisschen kleiner geworden, es ist nicht mehr ganz so einfach an einen Türgriff zu kommen.“

Neve war hin und her gerissen. Eigentlich glaubte sie ihm. Eigentlich ... Vielleicht wollte sie ihm nur glauben, weil ..., weil er ... Sie wusste auch nicht warum. Seiner schönen Augen wegen? Vielleicht. Vielleicht ließ sie sich mal wieder einwickeln.

Nüchtern betrachtet war seine Geschichte nicht schlüssig. Weshalb kümmerte er sich um sie, wenn er selbst ein Gefangener war?

„Ich habe die Tür zum Dachboden nicht zugemacht“, sagte sie lauernd. „Du konntest mir auch bis in diesen Raum folgen. Warum bist du immer noch hier? Du hättest doch längst flüchten können.“ Ja, dachte Neve, warum verschwinden wir nicht einfach durch die Haustür, wenn wir so dringend fliehen müssen.

„Weil ... ich ... ich konnte dich doch nicht einfach hier alleine liegen lassen.“ Er sah ihr erstauntes Gesicht und wandte den Blick ab. „Ich habe es nicht rechtzeitig geschafft, dich zu warnen – und da bin ich doch irgendwie für dich verantwortlich.“ Er klang kleinlaut und starrte zu Boden. „Außerdem, wahrscheinlich hätten wir es sowieso nicht durch die Tür ...“

Mitten im Satz brach er ab. Auch Neve hatte es gehört. Jemand kam ins Haus.

„Verdammt, das haben wir jetzt von dem Gequatsche“, fluchte er.

Neve wollte etwas erwidern, doch Bryan bedeutete ihr, still zu sein, und zog sie tiefer in die Nische.

„Keinen Laut.“

– 3 –

Ausgelassenes Gelächter tönte durch das Haus. Alec und Susan kamen Arm in Arm die Treppe herauf, offensichtlich bestens gelaunt.

„Lass uns zuerst nach Neve sehen. Wenn wir Glück haben, ist sie trotz unserer Trödelei noch bewusstlos“, meinte Alec. „Ansonsten spielen wir eben ein bisschen verstecken.“

Zielstrebig gingen sie nach oben. Doch als sie auf dem Treppenansatz des dritten Stockwerkes angelangt waren, hielt Susan ihren Bruder zurück.

„Was ist das?“ Sie deutete auf die offene Dachbodentür.

Alecs Augen verengten sich. „Los, sieh du nach Bryans Käfig. Ich suche Neve.“

Alec eilte zur Pralinenschale und suchte den Boden des Raumes ab. „Sie ist nicht da“, rief er in die Richtung seiner Schwester.

Susan kehrte vom Dachboden zurück. „Bryan ist aus dem Käfig ausgebrochen.“

„Ganz ruhig. Sie können das Haus nicht verlassen, sie müssen noch hier sein. Lass uns nachdenken. Allzu lange kann Neve noch nicht wach sein. Sie ist wahrscheinlich noch in diesem Stockwerk. Am besten beginnen wir unsere Suche hier. Ich gehe jede Wette ein, dass wir Bryan bei ihr finden.“

Mit angehaltenem Atem hatte Neve das Gespräch belauscht. Der Fremde hatte ihr also die Wahrheit gesagt. Sie hätte ihm sofort glauben sollen. Jetzt war es zu spät. Ihretwegen saßen sie nun in der Falle. Sie griff nach Bryans Arm und formte mit den Lippen eine stumme Entschuldigung. Dann vibrierte der Boden, Neve und Bryan drückten sich tiefer in die Nische. Die Schritte kamen direkt auf sie zu.

„Da sind ja unsere ungezogenen Ausreißer. Wie ich vermutet habe – Bryan hat sich die Kleine geschnappt.“ Alec beugte sich ein wenig nach unten und betrachtete sie selbstgefällig. „Manche Wesen sind einfach zu berechenbar.“

Bryan und Neve sahen erschrocken an zwei riesigen Beinen hoch. Alecs Hände näherten sich. Bryan reagierte schneller, packte Neves Hand und zog sie hinter sich her, heraus aus der Nische.

Alec lächelte überlegen. „Hört doch auf mit dem Unsinn. Ihr könnt uns nicht entkommen.“

Bryan und Neve rannten quer durch das Zimmer. Bryan entdeckte eine Ritze in der Wand, schlüpfte hindurch und zerrte Neve hinter die Holzverkleidung.

Alec folgte ihnen ohne große Eile. Drei riesige Finger schoben sich durch die Ritze und zerrten daran. Mit einem scharfen Knirschen gab das alte Holz nach. Staub, Mörtel und Holzsplitter prasselten herunter. Schützend beugte sich Bryan über Neve. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihn als sich ein spitzer Gegenstand tief in seine linke Schulter bohrte. Wie betäubt brach er zusammen.

„Bryan, was ist ...“, rief Neve erschrocken.

Sie hatte den Satz noch nicht beendet, da wurde sie von Susan hochgehoben. Susan hielt Neve fest um Taille und Brustkorb geklammert. Neve trommelte mit den Fäusten auf die riesige Hand, ihre Beine traten ins Leere.

Alec griff nach Bryan. Er entdeckte den Holzsplitter in der Schulter und zog ihn mit einem Ruck heraus. Die Wunde begann heftig zu bluten.

„Das musste nicht sein.“ Susan sah ihren Bruder ein wenig vorwurfsvoll an. „Wir brauchen ihn noch. Lebend.“

„Er wird schon nicht draufgehen“, entgegnete Alec trocken. „Dafür kann er sich jetzt weniger wehren.“ Während er Bryan nachlässig mit seiner linken Hand festhielt, ging er zu seiner Schwester und betrachtet Neve interessiert.

Plötzlich verzog Susan schmerzhaft das Gesicht. Neve hatte sie gebissen.

„Lass das.“ Susan ließ den Zeigefinger ihrer freien Hand in Neves Gesicht schnellen und drückte ihre Hand enger um den kleinen Körper. Neve schnappte nach Luft, ihr Kopf dröhnte von dem Schlag.

„Lass sie in Frieden!“, schrie Bryan wütend.

Alec sah Bryan von oben herab an. „Womit willst du uns denn drohen?“, fragte er amüsiert. Er wandte sich seiner Schwester zu. „ Siehst du, er scheint schon wieder ganz fit zu sein.“ Dann wurde er nachdenklich. „Wir sollten sie getrennt halten.“

Langsam erholte sich Neve wieder von dem Schlag. Ihr Messer war in der Jackentasche und durch Susans Griff eingeklemmt. Verbissen bohrte sie ihre Finger zwischen die riesige Hand und ihren eigene Körper. Doch es war zu eng, ihre Waffe war unerreichbar. Auf einmal hörte sie Bryan rufen.

„Schau mich an! Sieh mir in die Augen!“, seine Stimme klang fast flehend.

Neve drehte ihren Oberkörper und blickte fragend zu Bryan. Hatte er eine Idee? Sein Gesichtsausdruck war seltsam, sie konnte ihn nicht deuten. Wie gebannt erwiderte sie den Blickkontakt. Seine dunklen Augenringe färbten sich tiefschwarz und bildeten einen scharfen Kontrast zu der grünen Iris. Sein Blick durchdrang sie, ein Schauder breitete sich in ihrem Körper aus. Ihr wurde abwechselnd warm und kalt.

„Lass dich fallen, vertrau mir“, hörte sie Bryans Stimme durch einen Nebelschleier.

Neve war wie hypnotisiert. Sie versank in seinen Augen, tiefer und tiefer. Sie spürte Wärme, Geborgenheit. Die Welt um sie herum wurde immer blasser, unwirklicher. Es fühlte sich leicht an, so wunderbar warm. Dann wurde es heiß, brennend heiß. Auf einmal entglitt ihr alles, sie verlor die Kontrolle, verlor sich selbst, eine fremdartige Macht ergriff von ihrem Körper Besitz.

Dann ein Schmerzensschrei von Alec. Ein Kreischen von Susan. Fast gleichzeitig ließen sie ihre Gefangenen fallen. Neve krachte hart auf den Holzboden. Trotz seiner Verletzung war Bryan schneller, rannte zu Neve, packte sie bei der Hand und zerrte sie hinter sich her. Sie folgte ihm blindlings, vertraute darauf, dass er wusste, was er tat.

Bryan überlegte fieberhaft. Sie mussten aus dem Zimmer raus. Alec und Susan schienen einen Moment orientierungslos zu sein. Alec rannte zu Susan, die sich wimmernd über ihre Hand krümmte. Sie hatten ein wenig Zeit gewonnen, doch Bryan bezweifelte, dass sie es bis nach unten zur Haustür schaffen würden – und die war wahrscheinlich auch nicht mehr offen. Also wieder die Stufen hoch zum Dachboden. Wenn sie es bis zu seinem Versteck schafften, waren sie zumindest kurzfristig in Sicherheit. Er spürte seine Schulter kaum noch, das Adrenalin in seinem Körper unterdrückte jeden Schmerz.

Zusammen mit Neve rannte er quer durch das Zimmer. Nur noch die Treppe zum Dachboden, dann hatten sie das Schlimmste hinter sich. Er kämpfte sich nach oben, die Stufen schienen in seiner Abwesenheit gewachsen zu sein. Er sah sich nach Neve um, wollte ihr nach oben helfen, doch sie war ihm bereits hinterher geklettert. War sie so schnell – oder war er durch seine Verletzung so langsam geworden? Sie mussten weiter, es war keine Zeit für Selbstmitleid.

Als sie endlich die letzte Stufe hinter sich gelassen hatten, rannte er zu einer kleinen Ritze in der Holzverkleidung des Dachbodens. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Neve dicht hinter ihm war. Wenigstens vertraute sie ihm jetzt. An der Ritze angekommen, nahm er sie wieder bei der Hand und zog sie hinein in die Dunkelheit zwischen Holz und Mauerwerk.

Fassungslos sahen Alec und Susan den winzigen Gestalten hinterher. Ihre Handflächen brannten wie Feuer, die Haut hatte dicke Blasen aufgeworfen, an einigen Stellen hatte sich das Fleisch schwarz gefärbt. Der Schmerz trieb Susan Tränen in die Augen, sie sank zu Boden und kauerte sich zusammen. Alec biss die Zähne aufeinander. Seine Hand fühlte sich an wie das Höllenfeuer selbst, doch viel schlimmer war es, Susan leiden zu sehen. Diese verfluchten Ratten. Das würden sie bereuen, bitter bereuen.

Das leise Weinen seiner Schwester drang zu ihm. Ihr zusammengekauerter Körper lag vor ihm auf dem Boden. Er musste ihr helfen, nichts war wichtiger. Zärtlich legte er den Arm um sie, nahm ihre verletzte Hand und besah sich die Wunde. Oh ja, die zwei würden dafür büßen.

Er nahm seine Schwester bei der unverletzten Hand und zog sie vom Boden hoch. „Komm, wir kümmern uns um deine Wunde. Wir haben noch Salbe.“ Sanft küsste er ihr die Tränen von der Wange. „Nur, bitte, hör auf zu weinen. Bitte.“

Sie gingen in einen Nebenraum. Er war voll gestopft mit Büchern, Flaschen, Umzugskisten und seltsamen Werkzeugen. Alec fand die Salbe, bestrich die Wunde seiner Schwester und murmelte dabei die Verse, so wie er sie von seinem Vater gelernt hatte, wie sie ihm sein Vater eingebläut hatte.

„Besser so?“, fragte er leise.

Susan nickte und sah ihn dankbar an. Er wiederholte die Prozedur an seiner eigenen Hand. Endlich wurde er ein wenig ruhiger. „Offenbar hat Bryan doch schon seine Kräfte entdeckt. Aber ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Wir haben doch gründlich geprüft, ob er schon so weit ist. Und er hat auch nicht gezaubert, als wir ihn einsperrten. Oder ...“

„Wir müssen sie zurückholen.“ Susan sah Alec ein wenig ängstlich an.

„Nein, erst müssen wir herausfinden, woher er das konnte – und was er noch alles kann.“

Alec verfiel in Grübeleien. Sie hatten Neve und Bryan hauptsächlich deswegen ausgesucht, weil sie noch ahnungslos waren, noch nichts von ihrer Magie wussten. Ein richtiger Glücksfall. Zumindest hatten sie das angenommen. Es war eine reine Sicherheitsmaßnahme gewesen, sie klein zu zaubern, winzig und hilflos – damit sie keine Schwierigkeiten machen konnten. Und jetzt hatten sie es doch geschafft, sie zu verletzen. Aber entkommen würden sie nicht. Sie würden das Ritual nicht vereiteln, dafür würde er schon sorgen.

„Alec, ich ...“, stammelnd unterbrach Susan die düsteren Gedanken ihres Bruders. „Ich glaube, ich weiß, wie das passieren konnte.“ Schuldbewusst sah sie ihn an. „Ich habe vergessen, das Buch wieder mitzunehmen. Ich glaube, ich habe es auf dem Dachboden liegen lassen.“

„Welches Buch? Warum hast du überhaupt ein Buch nach oben gebracht?“

„Ich ... es tut mir leid. Es ist das Buch von Argendaile.“

Alec erinnerte sich nur allzu gut daran. Die Tränke waren noch das Einfachste. Mit den anderen Übungen hatte ihr Vater sie monatelang gequält. Völlig unwichtige Kunststückchen, aber er hatte sie dazu gezwungen, sie angeschrieen, wie unfähig sie waren, ob sie denn überhaupt Magie besitzen würden. Alec hasste das Buch. Doch Susan hatte es nie losgelassen, immer wieder hatte sie sich daran versucht. Sie war nie besonders gut damit gewesen, aber als sie die Übungen endlich ansatzweise beherrschte, hatte Susan sie andauernd wiederholt, wie eine Besessene, als wollte sie es ihrem Vater beweisen, als könnte er sie noch sehen.

„Vor unserer Abreise wollte ich es wegräumen“, fuhr Susan mit kaum hörbarer Stimme fort. „Doch auf dem Weg zum Bücherschrank hörte ich plötzlich ein Geräusch aus dem Dachboden. Also sah ich erst nach Bryan, kontrollierte die Gitter. Alles schien in Ordnung und ich glaubte, ich hätte es mir nur eingebildet. Dabei muss ich das Buch oben vergessen haben.“ Susan blickte ihren Bruder verunsichert an.

Die Wut kam schlagartig, wie eine heiße Welle rauschte sie durch seinen Körper. Seine Brust wurde eng und seine Muskeln so verkrampft, dass sie zitterten. Am liebsten hätte er geschrieen, um sich geschlagen, irgendetwas zerstört.

Dann sah er die ängstlichen Augen seiner Schwester. Ihr Kopf war leicht nach unten geneigt, halb schuldbewusst und halb demütig. Als warte sie darauf, ihre Bestrafung zu bekommen. Er erschrak. So hatte seine Schwester ihren Vater angesehen, wenn er einen seiner Wutanfälle hatte. Genauso schnell wie sein Zorn gekommen war, verrauchte er wieder. Scham machte sich breit. War es das Erbe seines Vaters, diese Wutanfälle, diese unkontrollierten Gewaltausbrüche? Nein, er würde nicht so werden wie er, diesen Gefallen würde er ihm niemals tun. Ganz besonders nicht, wenn es um Susan ging.

„Es ist in Ordnung.“ Seine Stimme klang ruhig, tröstend. Er konnte Susan nicht böse sein, er wollte ihr nicht böse sein. „Wir haben nicht damit gerechnet, dass er aus dem Käfig kommen würde.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu. „Wir müssen vorsichtig sein. Wir haben damals zwei Monate gebraucht, um den Wärmezauber zu lernen. Trotzdem konnten wir keine derartige Hitze erzeugen – und sie auch noch auf andere übertragen.“ Es war so ungerecht, wieso konnte Bryan so viel, warum hatte er diese Magie geschenkt bekommen? Er brauchte sie doch gar nicht. Ob Neve genauso mächtig war? Sie hatten Neve und Bryan zwar wegen ihrer Kräfte ausgewählt, aber anscheinend besaßen sie sogar noch viel mehr Potential, als sie vermutet hatten. Was für eine Verschwendung. Aber nicht mehr lange.

„Glaubst du, er kann noch mehr?“, fragte Susan mit ängstlicher Stimme.

„Ich weiß es nicht. Für die Tränke hat er keine Zutaten und auch für die meisten anderen Zauber fehlen ihm die Werkzeuge. Aber was den Rest betrifft ... Ich weiß es einfach nicht.“

„Sollten wir sie nicht möglichst rasch suchen und wieder einfangen?“

„Nein“, widersprach Alec nachdenklich. „Bryan lernt schnell, viel zu schnell. Das Buch erschien mir immer harmlos. Selbst wenn ich gewusst hätte, dass er es gefunden hat, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, was er mit einem einfachen Wärmezauber anrichten kann.“

Zumindest verstand er nun, warum sein Vater so sehr auf diese magischen Übungen bestanden hatte. Sie mochten nutzlos erscheinen, doch wenn man sie wirklich beherrschte, sah die Sache ein wenig anders aus. Jetzt, da er darüber nachdachte, wie sehr man die einzelnen Zauber offenbar steigern konnte, erkannte er erstmals, wie gefährlich dieses Buch war.

„Wir müssen einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Wir sollten erst die Ascorren fertig machen, bevor wir sie einfangen. Das hätte ich sofort tun sollen. Ich hätte nicht darauf vertrauen dürfen, dass sie ihre Kräfte noch nicht kennen. Es wird zwar eine Weile dauern, aber das macht nichts. Sie können das Haus nicht verlassen. Da kann ihnen auch das Buch nicht weiterhelfen. Wahrscheinlich werden sie sich erst mal verkriechen und ihre Wunden lecken. Das verschafft uns genügend Zeit.“

„Aber wie sollen wir sie finden? Sie können sich überall verkrochen haben.“ Seine Schwester sah noch immer beunruhigt aus.

„Ganz einfach“, entgegnete Alec. „Wenn die Ratten zu groß für ihr Versteck werden, dann müssen sie rauskommen. Für das Ritual müssen wir sie ohnehin wieder in ihre normale Größe verwandeln. Mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, dass sie unseren Plan vereiteln. Auch wenn es wahrscheinlich nicht so einfach wird, wie wir anfangs dachten.“ Sanft nahm er das Gesicht seiner Schwester in seine Hände und küsste sie. „Gemeinsam schaffen wir das. Wenn wir erst mal das Ritual durchgeführt haben, wird alles anders. Besser.“

„Ja“, hauchte sie. „Alles wird besser werden.“ Sie kuschelte sich an ihn.

Er würde sie beschützen, das hatte er letztendlich immer getan.

Neve klammerte sich an Bryans Hand und rannte ihm hinterher. Doch als er durch den Spalt in der Wand verschwand, zögerte sie kurz. Dann spürte sie, wie er an ihrer Hand zerrte und lief weiter. Kaum hatte sie den dunklen Raum betreten, gab Bryan ihre Hand frei. Schwer atmend fiel er zu Boden. Neve erschrak. Gerade eben noch hatte Bryan sie mit eisernem Griff in Sicherheit gebracht und nun lag ihr Beschützer hilflos vor ihren Füßen.

„Bryan?“, fragte sie zaghaft.

„Ist schon gut. Gleich ... nur eine Minute Pause.“

Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er rollte sich nach rechts, um seine verletzte linke Schulter zu entlasten. Sie sah Schweißtropfen auf seiner Stirn. Er zitterte, seine Bewegungen wirkten fahrig. Er sah schlimm aus. Mit einem Mal wurde Neve bewusst, dass es nun an ihr war, die Führung zu übernehmen. Abrupter Rollentausch. Neves Herz klopfte wie wild. Was sollte sie jetzt tun? Wo waren sie überhaupt? Der Raum war dunkel, nur durch einige Ritzen stahlen sich vereinzelte Lichtstrahlen und malten eigenartige Muster auf den schmutzigen Boden. Dann sah sie sich wieder nach Bryan um. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und nun sah sie, dass sein Gesicht noch heller war als sein ehemals weißes Hemd. Die dunklen Blutflecke auf seiner Schulter wurden immer größer.

„Ist wirklich alles in Ordnung? Was ist mit deiner Schulter?“

„Nichts, nur ein Kratzer.“

„So sieht es aber nicht aus. Lass mich die Wunde anschauen.“

Sie wollte etwas tun, ihm irgendwie helfen. Ohne ihr ewiges Misstrauen wäre es gar nicht so weit gekommen. Sie streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu untersuchen. Bryan wehrte sie ab, hielt sie am Handgelenk fest.

„Lass das, es ist nichts.“ Seine Finger waren eiskalt.

„Ich bin nicht giftig. Ich will mir nur deine Verletzung ansehen. Wenn es wirklich nur ein Kratzer ist, dann werde ich es merken.“

Mit deutlichem Widerwillen ließ Bryan ihre Hand los. „Na gut.“

Neve tastete seinen Puls, er war flach und schnell. Kein gutes Zeichen. Die Wunde konnte sie nicht richtig erkennen, sie lag im Schatten.

„Kannst du dich ein wenig nach hinten bewegen, da ist mehr Licht.“

Bryan fluchte, doch dann tat er ihr den Gefallen. Neve ging um ihn herum und kniete sich hinter ihn. Über der Wunde war sein Hemd zerrissen. Vorsichtig zog sie den blutdurchtränkten Stoff beiseite. Das Loch in Bryans Schulter schien viel größer zu sein als der Riss in seinem Hemd, sie konnte kaum etwas erkennen. Der nasse Stoff warf eigenartige Schatten auf Bryans Haut. Oder waren das womöglich noch tiefere Schnitte in Bryans Fleisch? Mist. So kam sie nicht weiter, er musste das Hemd ausziehen. Der Gedanke, ihn halb entkleidet zu sehen, beunruhigte sie. Weiß der Teufel warum. Das war lächerlich. Für solche Albernheiten war jetzt keine Zeit.

„Ich will mir deine Wunde ansehen. Kannst du bitte dein Hemd ausziehen?“, fragte sie betont nüchtern.

„Es ist wirklich nichts.“

„Jetzt zieh das Hemd aus. Ich habe schon mal einen nackten Männerrücken gesehen.“ Ihre Stimme klang schroffer als beabsichtigt. Warum musste er es auch noch unnötig kompliziert machen.

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

„Na gut, sonst gibst du wahrscheinlich nie Ruhe.“

Aufreizend langsam knöpfte Bryan sein Hemd auf und zog es von seinem linken Arm. Neve versuchte seinen Körper nicht zu beachten, zwang sich, nur die Wunde anzusehen. Sie legte ihre linke Hand auf seinen Oberkörper und drehte seine Schulter ins Licht. Der ganze Rücken war rot verschmiert und aus der Wunde sickerte noch immer Blut. Obwohl sich sein Körper kühl anfühlte, war die Haut um die Wunde heiß. Die Verletzung war zwar nicht sehr breit, doch der Splitter war tief in das Fleisch eingedrungen. Kleine Holzstücke, Schmutz und Stofffasern des Hemdes steckten darin. Immer wieder quoll Blut hervor und verdeckte die Sicht. Neve hatte keine Ahnung, wie man eine solche Wunde versorgen musste. Aber der ganze Dreck und die Holzsplitter waren sicherlich nicht gut. Okay, also zuerst die Wunde säubern, am besten desinfizieren, sonst würde es sich sicherlich entzünden. Verdammt. Wie sollte sie das jemals sauber bekommen? Und viel wichtiger – wie sollte sie das Blut stillen?

„Wir brauchen Wasser und ein Desinfektionsmittel. Wir müssen das verbinden.“ Neve versuchte ihre Stimme ruhig klingen zu lassen.

„Klar, die Hausapotheke ist gleich in der Ecke neben dem silbernen Teeservice.“

„Das ist jetzt wirklich unheimlich hilfreich“, blaffte sie ihn an. Nach dummen Bemerkungen war ihr überhaupt nicht zumute.

„Ich brauche keinen Verband.“

„Doch du brauchst einen Verband. Und ich glaube nicht, dass uns Streitereien weiterbringen.“

Bryan starrte sie einen Moment lang an, als wollte er sie erwürgen. Neve erwiderte seinen Blick – in dem sicheren Bewusstsein, dass sie jetzt die Stärkere war. Auch Bryan schien dies bewusst geworden zu sein, denn er gab endlich nach.

„Wasser ist da drüben“, knurrte er. Er deutete auf eine Plastikflasche. „Aber das mit dem Verband kannst du vergessen. Es sei denn, du willst dein T-Shirt dafür opfern“, fügte er anzüglich hinzu.

„Mir wird schon was einfallen.“

Suchend sah sie sich um. Das fahle Licht erzeugte eine eigenartige Atmosphäre. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich hier befanden. Wände und Boden waren aus Holz. Einige Stein- und Holzbrocken lagen auf dem Boden. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. An einem Ende des Raumes erkannte sie die Umrisse einer Flasche. Ein großer Stofffetzen lag in einer Ecke. Sie zerrte ihn neben Bryan.

„Los leg dich erst mal da drauf, du fühlst dich kalt an.“

„Ich brauch keine Hilfe.“ Bryan zog den linken Ärmel wieder an.

Der Typ machte sie noch wahnsinnig.

„Jetzt hör mir mal gut zu“, begann sie gereizt. „Wir sind momentan offensichtlich aufeinander angewiesen – oder zumindest haben wir einen gemeinsamen Feind. Und dein männlicher Stolz oder was immer dieses Harte-Mann-Getue soll, geht mir ziemlich auf die Nerven. Deine Wunde sieht wirklich nicht gut aus. Wenn du dir nicht von mir helfen lässt, dann wirst du noch mehr Blut verlieren. Und ich glaube nicht, dass es unsere Chancen vergrößert, wenn du zum Invaliden wirst.“

Ihr Gegenüber schwieg verbissen. Sie verdrehte die Augen. Weshalb konnte dieser schwerfällige Schwachkopf nicht einfach tun, was sie ihm sagte. Seine Wunde musste verarztet werden, das war doch nicht so schwer zu erkennen. Trotz oder gerade wegen seiner stoischen Miene vermutete sie, dass er starke Schmerzen hatte – was der Hauptgrund war, dass sie so geduldig blieb. Wie lange brauchte ein männliches Ego, um zuzugeben, dass es im Unrecht war? Neve zählte stumm von zwanzig rückwärts. Als sie bei sieben angelangt war, kam endlich Bewegung in den großen Muskelberg vor ihr und er schob sich auf die Decke.

„Und was willst du jetzt tun?“, fragte er mit demonstrativ genervtem Tonfall.

„Ich werde erst mal Wasser holen“, entgegnete sie mit gespielter Überlegenheit, um ihn nicht merken zu lassen, dass sie tatsächlich keine Ahnung hatte, was sie eigentlich unternehmen sollte. Neve ging zur Plastikflasche. Das zerfledderte Flaschenetikett gab die Füllmenge mit einem halben Liter an, trotzdem reichte ihr das Plastikgefäß bis zu den Schultern. Bryan hatte die Flasche schräg zwischen die Wand und einen Steinbrocken festgeklemmt. Sie war in dieser Lage so weit gekippt, dass der Flaschenhals vollständig mit Wasser gefüllt war. Auf dem Boden direkt unter der Öffnung hatte sich eine kleine Pfütze gebildet.

„Ein Gefäß haben wir leider nicht. Aber wenn du den Verschluss der Flasche ein wenig öffnest, dann kommt das Wasser tropfenweise. Du musst aufpassen, dass du nicht zu weit aufschraubst, sonst kriegst du eine kalte Dusche. Soll ich dir helfen?“

„Nein.“

Wenn er aufstand, würde die Wunde nur umso heftiger bluten. Sie konnte das auch alleine. Selbst ist die Frau. Sie durchwühlte ihre Taschen und fand ein angebrochenes Päckchen Papiertaschentücher. Schon komisch, dass die Sachen, die sie direkt an ihrem Körper trug, genauso geschrumpft waren. Sie blickte sich in dem Raum um. Ein Buch, das fast halb so groß war wie sie selbst. In einer Ecke lagen mehrere Trauben, die für sie nun die Dimension von Wassermelonen hatten. Ein Kräcker, so groß wie eine Familienpizza. Doch nichts womit sie die Verletzung desinfizieren konnte. Das Wasser musste reichen. Hoffentlich war es frisch. Mit einiger Anstrengung schaffte sie es, den Verschluss zu öffnen. Es zischte ein wenig, dann kamen dicke Tropfen aus der Öffnung und fielen zu Boden. Es war noch Kohlensäure darin, so alt konnte es nicht sein. Sie wusch ihre Hände und roch daran. Es war anscheinend frisch. Sie machte eines der Taschentücher nass. Dann drehte sie den Verschluss wieder zu und ging zu Bryan.

„Könntest du ...“

„Schon gut.“ Bryan zog den linken Ärmel wieder aus.

Glücklicherweise hatte die Blutung nachgelassen, es sickerte nur noch ein kleines, aber stetiges Rinnsal hervor. Trotzdem machte sie sich immer noch Sorgen, nicht nur wegen des anhaltenden Blutverlustes. Sie war kein Arzt, sie konnte nicht beurteilen, ob auch Muskeln oder Nerven verletzt waren. Vorsichtig begann sie die Wunde zu reinigen. Einige Splitter und Staubkörner klebten im Fleisch. Schmutz in Wunden war nie gut. Schon jetzt sah es entzündet aus. Andererseits hatte die Blutung gerade erst nachgelassen. Wenn sie jetzt daran herumfummelte, machte sie vielleicht alles noch schlimmer. Blut oder Blutvergiftung. Nach einem kurzen inneren Zwiespalt entschloss sie sich, die Schmutzpartikel aus der Wunde zu entfernen. Sie musste einfach vorsichtig sein und darauf vertrauen, die Blutung damit nicht erneut zu verstärken.

„Das kann jetzt weh tun“, warnte sie.

„Als harter Mann werde ich das schon aushalten“, entgegnete er zynisch.

Sie ignorierte seine Bemerkung und zog die größeren Teile mit den Fingern heraus. Beim ersten Splitter zuckte Bryan. Dann spannte er die Muskeln an und wurde zu einer unbeweglichen Statue. Nur seine verkrampften Fäuste verrieten, dass er Schmerzen hatte. Neve schluckte und zwang sich, nicht darauf zu achten, sich nur auf die Wunde zu konzentrieren. Doch es gelang ihr nicht. Beinahe glaubte sie, Bryans Schmerzen selbst zu spüren.

„Es ist bald vorbei“, sagte sie, weniger um ihn zu trösten als vielmehr um sich selbst Mut zuzusprechen. Nach einer Pause fügte sie hinzu. „Es tut mir leid. Wenn ich dir sofort geglaubt hätte, wäre es wahrscheinlich nicht so weit gekommen.“

„Schon okay“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.