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Ein Wirbelsturm hat die kleine Dorothy und ihren Hund Toto weit von zu Hause fortgeweht. Nun machen sie sich auf den Weg zum Zauberer von Oz, damit er ihnen hilft. Die Vogelscheuche, der ängstliche Löwe und der Blechmann werden zu ihren Gefährten, denn auch sie erhoffen sich vom Zauberer, was sie sich jeweils am meisten wünschen: Verstand, Mut und ein Herz. – »Der Zauberer von Oz« erschien im Jahr 1900; seither sind zahllose Kinder mit dieser Märchengeschichte aufgewachsen. Diese Neuübersetzung macht sie zu einem hinreißenden Leseerlebnis.
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Seitenzahl: 196
LYMAN FRANK BAUM
Aus dem Englischen neu übersetztvon Felix Mayer
Vollständige Ausgabemit den Illustrationen vonW. W. Denslow
Titel der englischen Originalausgabe:The Wonderful Wizard of Oz (Chicago: George M. Hill 1900).Die Übertragung von Felix Mayer folgt der AusgabeThe Wonderful World of Oz. The Wizard of Oz,The Emerald City of Oz, Glinda of Oz in der Reihe»Penguin Classics«, New York 1998.Die Illustrationen von William Wallace Denslow (1856-1915)wurden ebenfalls dieser Ausgabe entnommen.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.eISBN 978-3-7306-9057-4Print ISBN [email protected]
I.
Der Wirbelsturm
II.
Beratung mit den Munchkins
III.
Wie Dorothy die Vogelscheuche befreite
IV.
Die Straße durch den Wald
V.
Der Blechmann wird erlöst
VI.
Der feige Löwe
VII.
Die Reise zum Großen Oz
VIII.
Das Feld mit den tödlichen Mohnblumen
IX.
Die Königin der Feldmäuse
X.
Der Wächter der Tore
XI.
Die wunderbare Smaragdene Stadt von Oz
XII.
Auf der Suche nach der bösen Hexe
XIII.
Wie die vier Gefährten wieder zusammenfanden
XIV.
Die geflügelten Affen
XV.
Die Entdeckung des Schrecklichen Oz
XVI.
Die Zauberkünste des Großen Scharlatans
XVII.
Wie der Ballon aufstieg
XVIII.
Nach Süden
XIX.
Der Angriff der Kampfbäume
XX.
Das zierliche Porzellanland
XXI.
Der Löwe wird König der Tiere
XXII.
Im Land der Quaddlinge
XXIII.
Die gute Hexe erfüllt Dorothys Wunsch
XXIV.
Wieder zu Hause
Dorothy lebte mit ihrem Onkel Henry, der ein Farmer war, und Tante Em, der Frau von Onkel Henry, mitten in der weiten Prärie von Kansas. Ihr Haus war klein, denn man hatte das Bauholz erst über viele Meilen mit Fuhrwerken herbeischaffen müssen. Es hatte vier Wände, einen Fußboden und ein Dach, und es bestand aus nur einem Raum. In diesem Raum befanden sich ein verrosteter Herd, ein Geschirrschrank, ein Tisch, drei oder vier Stühle und die Betten. Das große Bett von Onkel Henry und Tante Em stand in der einen Ecke, das kleine Bett von Dorothy in der anderen. Das Haus hatte keinen Dachboden und auch keinen Keller – außer einem engen Loch, das in den Erdboden gegraben war, dem sogenannten Sturmkeller, wo die kleine Familie Schutz suchte, wenn einer jener tobenden Wirbelstürme aufkam, die so heftig waren, dass sie jedes Haus zerstörten, das in ihrer Bahn lag. In diesen Keller gelangte man durch eine Falltür in der Mitte des Fußbodens, von der aus eine Leiter in das enge, dunkle Loch hinabführte.
Wenn Dorothy vor der Haustür stand und sich umblickte, sah sie überall nur die endlose graue Prärie. Weder Bäume noch Häuser stachen hervor aus der flachen Landschaft, die sich weithin erstreckte und auf allen Seiten an den Rand des Himmels stieß. Die Sonne hatte die Äcker zu einer einzigen grauen Masse festgebacken, durch die dünne Risse verliefen. Nicht einmal das Gras war grün, denn die Sonne hatte die Spitzen der langen Halme verbrannt, bis sie dasselbe Grau angenommen hatten, das überall zu sehen war. Früher war das Haus noch gestrichen gewesen, aber die Farbe war in der Sonne aufgeplatzt und der Regen hatte sie abgewaschen, und jetzt war das Haus so matt und grau wie alles andere.
Als Tante Em sich an diesem Ort niedergelassen hatte, war sie eine hübsche junge Frau gewesen. Aber die Sonne und der Wind hatten auch sie verändert. Sie hatten ihren Augen den Glanz geraubt und sie nüchtern und grau werden lassen. Ihren Wangen und Lippen hatten sie das Rot genommen, sodass auch diese grau geworden waren. Jetzt war Tante Em hager und ausgezehrt und lächelte nicht mehr. Dorothy war als ein Waisenkind zu ihr gekommen, und anfangs war Tante Em jedes Mal erschrocken, wenn sie Dorothys fröhliches Lachen hörte, hatte aufgeschrien und die Hände gegen die Brust gedrückt, und noch heute fragte sie sich, wie es möglich war, dass dieses kleine Mädchen so viel lachte.
Onkel Henry lachte niemals. Er arbeitete unermüdlich von morgens bis abends, und Freude kannte er nicht. Er war ebenfalls grau, von dem langen Bart bis zu den klobigen Stiefeln, sah ernst und streng aus und sprach nur selten.
Es war Toto, der Dorothy zum Lachen brachte und sie davor bewahrte, so grau wie ihre Umgebung zu werden. Toto war nicht grau. Er war ein kleiner schwarzer Hund mit langem, seidigem Fell und schwarzen Knopfaugen, die zu beiden Seiten seines niedlichen Näschens fröhlich leuchteten. Toto spielte den ganzen Tag lang und Dorothy, die ihn sehr lieb hatte, spielte mit ihm.
An diesem Tag aber spielten sie nicht. Onkel Henry saß auf der Stufe vor der Haustür und sah besorgt zum Himmel hinauf, der noch grauer war als sonst. Dorothy stand neben ihm, hielt Toto auf dem Arm und sah ebenfalls zum Himmel hinauf. Tante Em machte den Abwasch.
Zuerst hörten sie, wie im Norden leise der Wind heulte, und sahen, wie das hohe Gras unter den ersten Böen des nahenden Sturms wellenförmig wogte. Dann kam von Süden her ein sausendes Pfeifen durch die Luft, und als sie sich umdrehten, sahen sie, dass auch aus dieser Richtung kleine Wellen durch das Gras auf sie zuliefen.
Plötzlich stand Onkel Henry auf.
»Em, da ist ein Tornado im Anzug!«, rief er seiner Frau zu. »Ich kümmere mich um das Vieh.« Dann lief er hinüber zu den Schuppen, in denen die Kühe und die Pferde untergebracht waren.
Tante Em unterbrach ihre Arbeit und kam zur Tür. Mit einem Blick erkannte sie, welche Gefahr ihnen drohte.
»Schnell, Dorothy!«, rief sie. »Hinunter in den Keller!«
Toto sprang von Dorothys Arm und versteckte sich unter dem Bett, und Dorothy lief ihm hinterher, um ihn wieder einzufangen. Tante Em, die entsetzliche Angst hatte, öffnete hastig die Falltür im Fußboden und stieg die Leiter in das enge, dunkle Loch hinunter. Dorothy bekam Toto schließlich zu fassen und wollte ihrer Tante folgen. Doch als sie auf halbem Weg zur Falltür war, heulte der Wind laut auf und das Haus erbebte so heftig, dass sie den Halt verlor und mit einem Mal auf dem Boden saß.
Dann geschah etwas Seltsames.
Das Haus drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und erhob sich langsam in die Luft. Dorothy kam es vor, als stiege sie in einem Ballon nach oben.
Die Winde aus dem Norden und aus dem Süden trafen dort zusammen, wo das Haus stand, und dadurch lag es genau in der Mitte des Tornados. Im Zentrum eines Tornados ist die Luft für gewöhnlich ruhig, aber durch den großen Druck der Winde von allen Seiten stieg das Haus höher und höher hinauf, bis es auf der Spitze des Tornados saß. Dort blieb es dann und wurde Meile um Meile fortgetragen, als wäre es so leicht wie eine Feder.
Um Dorothy herum war es stockfinster und der Wind heulte ganz fürchterlich, aber sie fand es nicht unangenehm, so dahinzugleiten. Nachdem das Haus sich anfangs ein paar Mal gedreht hatte und dann noch einmal heftig ins Schwanken geraten war, wurde Dorothy jetzt sanft geschaukelt, wie ein Baby in der Wiege.
Toto gefiel das überhaupt nicht. Er rannte kreuz und quer durch den Raum und bellte wie verrückt. Dorothy aber blieb ganz ruhig auf dem Boden sitzen und wartete ab, was passieren würde.
Einmal kam Toto zu nah an die offene Luke im Boden und fiel hindurch, und Dorothy glaubte schon, er wäre abgestürzt. Aber kurz darauf sah sie, wie eines seiner Ohren aus der Öffnung hervorragte; der gewaltige Luftdruck hielt ihn oben, sodass er nicht in die Tiefe fiel. Sie kroch zur Luke, packte Toto am Ohr und zog ihn wieder herein. Dann schloss sie die Türklappe, damit so etwas nicht noch einmal geschehen konnte.
Stunde um Stunde verging und allmählich überwand Dorothy den ersten Schrecken. Aber sie fühlte sich sehr einsam und um sie herum heulte der Wind so laut, dass sie beinahe taub wurde. Zuerst hatte sie sich noch gefragt, ob sie wohl in Stücke geschmettert würde, wenn das Haus wieder auf die Erde fiel, aber als dann die Stunden vergingen und nichts Schlimmes geschah, machte sie sich keine Sorgen mehr und beschloss, in Ruhe abzuwarten, was die Zukunft bringen würde. Schließlich kroch sie über den schwankenden Boden zu ihrem Bett und legte sich hinein, und Toto kam ihr nach und legte sich neben sie.
Obwohl das Haus schwankte und der Wind heulte, schloss Dorothy schon bald die Augen und fiel in tiefen Schlaf.
Dorothy wurde durch einen Ruck geweckt, so plötzlich und so heftig, dass ihr vielleicht etwas passiert wäre, wenn sie nicht in ihrem weichen Bett gelegen hätte. So aber schreckte sie nach dem Stoß nur kurz hoch und fragte sich, was wohl geschehen war. Toto fuhr ihr mit seinem feuchten Näschen über das Gesicht und winselte ängstlich. Sie richtete sich auf und stellte fest, dass das Haus sich nicht mehr bewegte. Auch dunkel war es nicht mehr, denn helles Sonnenlicht fiel durch das Fenster und durchflutete den kleinen Raum. Eilig sprang sie auf, lief, gefolgt von Toto, zur Tür und öffnete sie.
Als sie sich umsah, entfuhr ihr ein Ausruf des Erstaunens, und bei dem faszinierenden Anblick, der sich ihr bot, wurden ihre Augen größer und größer.
Das Land, in dem der Tornado das Haus abgesetzt hatte – ganz sanft, zumindest für einen Wirbelsturm –, war atemberaubend schön. Überall gab es liebliche grüne Wiesen, auf denen mächtige Bäume mit üppigen, köstlichen Früchten standen. Zu allen Seiten lagen farbenprächtige Blumenbeete, und in den Bäumen und Büschen zwitscherten und flatterten wunderliche Vögel mit glänzendem Gefieder. Etwas entfernt rauschte zwischen grünen Ufern ein glitzernder Bach, dessen Murmeln für ein kleines Mädchen, das so lange in der dürren, grauen Prärie gelebt hatte, äußerst wohltuend war.
Während Dorothy diese fremdartige und herrliche Welt neugierig betrachtete, bemerkte sie, wie eine Gruppe von Leuten auf sie zukam. So seltsame Menschen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie waren nicht so groß wie die Erwachsenen, die Dorothy kannte, aber auch nicht besonders klein. Sie schienen ungefähr so groß zu sein wie Dorothy selbst, die für ihr Alter schon recht hochgewachsen war, wirkten ihrem Aussehen nach aber deutlich älter.
Es waren drei Männer und eine Frau, und alle waren sie merkwürdig gekleidet. Sie trugen runde Hüte, die etwa dreißig Zentimeter hoch waren und oben spitz zuliefen und an deren Krempen kleine Glöckchen hingen, die beim Gehen lieblich klingelten. Die Hüte der Männer waren blau. Der Hut der kleinen Frau war weiß und sie trug ein weißes Kleid, das ihr in Falten von den Schultern fiel und über und über mit kleinen Sternen besetzt war, die in der Sonne glitzerten wie Diamanten. Die Kleidung der Männer war von demselben Blau wie das ihrer Hüte und sie trugen blitzblank polierte Stiefel mit langen blauen Stulpen. Dorothy schätzte, dass die Männer etwa so alt waren wie Onkel Henry, denn zwei von ihnen hatten einen Bart. Die kleine Frau hingegen war zweifellos viel älter: Ihr Gesicht war von Falten durchzogen, ihr Haar schon fast weiß, und beim Gehen wirkte sie ganz steif.
Die vier näherten sich dem Haus, wo Dorothy noch immer in der Tür stand, blieben dann aber stehen und tuschelten miteinander, als trauten sie sich nicht weiterzugehen. Doch dann kam die kleine alte Frau auf Dorothy zu, verbeugte sich tief und sagte mit sanfter Stimme:
»Willkommen, hochehrwürdige Zauberin, im Land der Munchkins. Wir sind dir zutiefst dankbar, dass du die böse Hexe des Ostens umgebracht und unser Volk aus ihrer Knechtschaft befreit hast.«
Dorothy wunderte sich über diese Worte. Was meinte die kleine Frau bloß? Warum nannte sie sie eine Zauberin und sagte, sie habe die böse Hexe des Ostens umgebracht? Dorothy war ein argloses, unschuldiges Mädchen, das ein Wirbelsturm viele Meilen von zu Hause fortgetragen hatte, und sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie jemanden umgebracht.
Aber weil die kleine Frau offensichtlich auf eine Antwort wartete, sagte Dorothy zögernd:
»Das ist sehr freundlich von dir, aber hier muss ein Missverständnis vorliegen. Ich habe niemanden umgebracht.« »Dann war es eben dein Haus«, entgegnete die kleine alte Frau lachend, »und letztlich ist es ja auch egal. Sieh doch«, fügte sie hinzu und deutete auf eine Ecke des Hauses, »da unter dem Balken stehen noch ihre Schuhspitzen hervor.« Dorothy sah hin und schrie vor Schreck kurz auf. Tatsächlich, unter dem Ende des dicken Balkens, auf dem das Haus ruhte, standen zwei Füße hervor, die in spitzen silbernen Schuhen steckten.
»Um Gottes Willen!«, rief Dorothy und rang vor Entsetzen die Hände. »Das Haus muss auf sie gestürzt sein. Was sollen wir jetzt bloß tun?«
»Wir brauchen gar nichts zu tun«, sagte die kleine Frau in aller Ruhe.
»Aber wer war sie denn?«, fragte Dorothy.
»Sie war, wie gesagt, die böse Hexe des Ostens«, antwortete die kleine Frau. »Sie hat die Munchkins viele Jahre lang in ihrer Knechtschaft gehalten und sie Tag und Nacht wie Sklaven schuften lassen. Jetzt aber sind sie alle befreit und danken dir für deine Gunst.«
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