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Ein Wirbelsturm hat die kleine Dorothy und ihren Hund Toto weit von zu Hause fortgeweht. Nun machen sie sich auf den Weg zum Zauberer von Oz, damit er ihnen hilft, zurück nach Kansas zu kommen. Die Vogelscheuche, der ängstliche Löwe und der Blechmann werden zu ihren Gefährten, denn auch sie erhoffen sich vom Zauberer, was sie sich jeweils am meisten wünschen: Verstand, Mut und ein Herz. – »Der Zauberer von Oz« erschien im Jahr 1900; seither sind zahllose Kinder mit dieser Märchengeschichte aufgewachsen.
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Seitenzahl: 196
Lymann Frank Baum
Aus dem Englischen von Felix Mayer
Anaconda
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Titel der englischen Originalausgabe: The Wonderful Wizard of Oz(Chicago: George M. Hill 1900). Die Übertragung von Felix Mayererschien erstmals 2012 im Anaconda Verlag. Sie folgt der AusgabeThe Wonderful World of Oz. The Wizard of Oz, The Emerald City of Oz,Glinda of Oz in der Reihe »Penguin Classics«, New York 1998.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2024 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagmotive: Adobe Stock / naddya (Hut), matiasdelcarmine(Smaragdstadt); Shutterstock / Roberto Castillo (Ornamentik)
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
Satz und Layout: Intermedia – Lemke e. K., Heiligenhaus
ISBN978-3-641-33044-6V001
www.anacondaverlag.de
Inhalt
Erstes KapitelDer Wirbelsturm
Zweites KapitelBeratung mit den Munchkins
Drittes KapitelWie Dorothy die Vogelscheuche befreite
Viertes KapitelDie Straße durch den Wald
Fünftes KapitelDer Blechmann wird erlöst
Sechstes KapitelDer feige Löwe
Siebtes KapitelDie Reise zum Großen Oz
Achtes KapitelDas Feld mit den tödlichen Mohnblumen
Neuntes KapitelDie Königin der Feldmäuse
Zehntes KapitelDer Wächter der Tore
Elftes KapitelDie wunderbare Smaragdene Stadt von Oz
Zwölftes KapitelAuf der Suche nach der bösen Hexe
Dreizehntes KapitelWie die vier Gefährten wieder zusammenfanden
Vierzehntes KapitelDie geflügelten Affen
Fünfzehntes KapitelDie Entdeckung des Schrecklichen Oz
Sechzehntes KapitelDie Zauberkünste des Großen Scharlatans
Siebzehntes KapitelWie der Ballon aufstieg
Achtzehntes KapitelNach Süden
Neunzehntes KapitelDer Angriff der Kampfbäume
Zwanzigstes KapitelDas zierliche Porzellanland
Einundzwanzigstes KapitelDer Löwe wird König der Tiere
Zweiundzwanzigstes KapitelIm Land der Quaddlinge
Dreiundzwanzigstes KapitelDie gute Hexe erfüllt Dorothys Wunsch
Vierundzwanzigstes KapitelWieder zu Hause
Erstes Kapitel
Der Wirbelsturm
Dorothy lebte mit ihrem Onkel Henry, der ein Farmer war, und Tante Em, der Frau von Onkel Henry, mitten in der weiten Prärie von Kansas. Ihr Haus war klein, denn man hatte das Bauholz erst über viele Meilen mit Fuhrwerken herbeischaffen müssen. Es hatte vier Wände, einen Fußboden und ein Dach, und es bestand aus nur einem Raum. In diesem Raum befanden sich ein verrosteter Herd, ein Geschirrschrank, ein Tisch, drei oder vier Stühle und die Betten. Das große Bett von Onkel Henry und Tante Em stand in der einen Ecke, das kleine Bett von Dorothy in der anderen. Das Haus hatte keinen Dachboden und auch keinen Keller – außer einem engen Loch, das in den Erdboden gegraben war, dem sogenannten Sturmkeller, wo die kleine Familie Schutz suchte, wenn einer jener tobenden Wirbelstürme aufkam, die so heftig waren, dass sie jedes Haus zerstörten, das in ihrer Bahn lag. In diesen Keller gelangte man durch eine Falltür in der Mitte des Fußbodens, von der aus eine Leiter in das enge, dunkle Loch hinabführte.
Wenn Dorothy vor der Haustür stand und sich umblickte, sah sie überall nur die endlose graue Prärie. Weder Bäume noch Häuser stachen hervor aus der flachen Landschaft, die sich weithin erstreckte und auf allen Seiten an den Rand des Himmels stieß. Die Sonne hatte die Äcker zu einer einzigen grauen Masse festgebacken, durch die dünne Risse verliefen. Nicht einmal das Gras war grün, denn die Sonne hatte die Spitzen der langen Halme verbrannt, bis sie dasselbe Grau angenommen hatten, das überall zu sehen war. Früher war das Haus noch gestrichen gewesen, aber die Farbe war in der Sonne aufgeplatzt und der Regen hatte sie abgewaschen, und jetzt war das Haus so matt und grau wie alles andere.
Als Tante Em sich an diesem Ort niedergelassen hatte, war sie eine hübsche junge Frau gewesen. Aber die Sonne und der Wind hatten auch sie verändert. Sie hatten ihren Augen den Glanz geraubt und sie nüchtern und grau werden lassen. Ihren Wangen und Lippen hatten sie das Rot genommen, sodass auch diese grau geworden waren. Jetzt war Tante Em hager und ausgezehrt und lächelte nicht mehr. Dorothy war als ein Waisenkind zu ihr gekommen, und anfangs war Tante Em jedes Mal erschrocken, wenn sie Dorothys fröhliches Lachen hörte, hatte aufgeschrien und die Hände gegen die Brust gedrückt, und noch heute fragte sie sich, wie es möglich war, dass dieses kleine Mädchen so viel lachte.
Onkel Henry lachte niemals. Er arbeitete unermüdlich von morgens bis abends, und Freude kannte er nicht. Er war ebenfalls grau, von dem langen Bart bis zu den klobigen Stiefeln, sah ernst und streng aus und sprach nur selten.
Es war Toto, der Dorothy zum Lachen brachte und sie davor bewahrte, so grau wie ihre Umgebung zu werden. Toto war nicht grau. Er war ein kleiner schwarzer Hund mit langem, seidigem Fell und schwarzen Knopfaugen, die zu beiden Seiten seines niedlichen Näschens fröhlich leuchteten. Toto spielte den ganzen Tag lang und Dorothy, die ihn sehr lieb hatte, spielte mit ihm.
An diesem Tag aber spielten sie nicht. Onkel Henry saß auf der Stufe vor der Haustür und sah besorgt zum Himmel hinauf, der noch grauer war als sonst. Dorothy stand neben ihm, hielt Toto auf dem Arm und sah ebenfalls zum Himmel hinauf. Tante Em machte den Abwasch.
Zuerst hörten sie, wie im Norden leise der Wind heulte, und sahen, wie das hohe Gras unter den ersten Böen des nahenden Sturms wellenförmig wogte. Dann kam von Süden her ein sausendes Pfeifen durch die Luft, und als sie sich umdrehten, sahen sie, dass auch aus dieser Richtung kleine Wellen durch das Gras auf sie zuliefen.
Plötzlich stand Onkel Henry auf.
»Em, da ist ein Tornado im Anzug!«, rief er seiner Frau zu. »Ich kümmere mich um das Vieh.« Dann lief er hinüber zu den Schuppen, in denen die Kühe und die Pferde untergebracht waren.
Tante Em unterbrach ihre Arbeit und kam zur Tür. Mit einem Blick erkannte sie, welche Gefahr ihnen drohte.
»Schnell, Dorothy!«, rief sie. »Hinunter in den Keller!«
Toto sprang von Dorothys Arm und versteckte sich unter dem Bett, und Dorothy lief ihm hinterher, um ihn wieder einzufangen. Tante Em, die entsetzliche Angst hatte, öffnete hastig die Falltür im Fußboden und stieg die Leiter in das enge, dunkle Loch hinunter. Dorothy bekam Toto schließlich zu fassen und wollte ihrer Tante folgen. Doch als sie auf halbem Weg zur Falltür war, heulte der Wind laut auf und das Haus erbebte so heftig, dass sie den Halt verlor und mit einem Mal auf dem Boden saß.
Dann geschah etwas Seltsames.
Das Haus drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse und erhob sich langsam in die Luft. Dorothy kam es vor, als stiege sie in einem Ballon nach oben.
Die Winde aus dem Norden und aus dem Süden trafen dort zusammen, wo das Haus stand, und dadurch lag es genau in der Mitte des Tornados. Im Zentrum eines Tornados ist die Luft für gewöhnlich ruhig, aber durch den großen Druck der Winde von allen Seiten stieg das Haus höher und höher hinauf, bis es auf der Spitze des Tornados saß. Dort blieb es dann und wurde Meile um Meile fortgetragen, als wäre es so leicht wie eine Feder.
Um Dorothy herum war es stockfinster und der Wind heulte ganz fürchterlich, aber sie fand es nicht unangenehm, so dahinzugleiten. Nachdem das Haus sich anfangs ein paar Mal gedreht hatte und dann noch einmal heftig ins Schwanken geraten war, wurde Dorothy jetzt sanft geschaukelt, wie ein Baby in der Wiege.
Toto gefiel das überhaupt nicht. Er rannte kreuz und quer durch den Raum und bellte wie verrückt. Dorothy aber blieb ganz ruhig auf dem Boden sitzen und wartete ab, was passieren würde.
Einmal kam Toto zu nah an die offene Luke im Boden und fiel hindurch, und Dorothy glaubte schon, er wäre abgestürzt. Aber kurz darauf sah sie, wie eines seiner Ohren aus der Öffnung hervorragte; der gewaltige Luftdruck hielt ihn oben, sodass er nicht in die Tiefe fiel. Sie kroch zur Luke, packte Toto am Ohr und zog ihn wieder herein. Dann schloss sie die Türklappe, damit so etwas nicht noch einmal geschehen konnte.
Stunde um Stunde verging und allmählich überwand Dorothy den ersten Schrecken. Aber sie fühlte sich sehr einsam und um sie herum heulte der Wind so laut, dass sie beinahe taub wurde. Zuerst hatte sie sich noch gefragt, ob sie wohl in Stücke geschmettert würde, wenn das Haus wieder auf die Erde fiel, aber als dann die Stunden vergingen und nichts Schlimmes geschah, machte sie sich keine Sorgen mehr und beschloss, in Ruhe abzuwarten, was die Zukunft bringen würde. Schließlich kroch sie über den schwankenden Boden zu ihrem Bett und legte sich hinein, und Toto kam ihr nach und legte sich neben sie.
Obwohl das Haus schwankte und der Wind heulte, schloss Dorothy schon bald die Augen und fiel in tiefen Schlaf.
Zweites Kapitel
Beratung mit den Munchkins
Dorothy wurde durch einen Ruck geweckt, so plötzlich und so heftig, dass ihr vielleicht etwas passiert wäre, wenn sie nicht in ihrem weichen Bett gelegen hätte. So aber schreckte sie nach dem Stoß nur kurz hoch und fragte sich, was wohl geschehen war. Toto fuhr ihr mit seinem feuchten Näschen über das Gesicht und winselte ängstlich. Sie richtete sich auf und stellte fest, dass das Haus sich nicht mehr bewegte. Auch dunkel war es nicht mehr, denn helles Sonnenlicht fiel durch das Fenster und durchflutete den kleinen Raum. Eilig sprang sie auf, lief, gefolgt von Toto, zur Tür und öffnete sie.
Als sie sich umsah, entfuhr ihr ein Ausruf des Erstaunens, und bei dem faszinierenden Anblick, der sich ihr bot, wurden ihre Augen größer und größer.
Das Land, in dem der Tornado das Haus abgesetzt hatte – ganz sanft, zumindest für einen Wirbelsturm –, war atemberaubend schön. Überall gab es liebliche grüne Wiesen, auf denen mächtige Bäume mit üppigen, köstlichen Früchten standen. Zu allen Seiten lagen farbenprächtige Blumenbeete, und in den Bäumen und Büschen zwitscherten und flatterten wunderliche Vögel mit glänzendem Gefieder. Etwas entfernt rauschte zwischen grünen Ufern ein glitzernder Bach, dessen Murmeln für ein kleines Mädchen, das so lange in der dürren, grauen Prärie gelebt hatte, äußerst wohltuend war.
Während Dorothy diese fremdartige und herrliche Welt neugierig betrachtete, bemerkte sie, wie eine Gruppe von Leuten auf sie zukam. So seltsame Menschen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie waren nicht so groß wie die Erwachsenen, die Dorothy kannte, aber auch nicht besonders klein. Sie schienen ungefähr so groß zu sein wie Dorothy selbst, die für ihr Alter schon recht hochgewachsen war, wirkten ihrem Aussehen nach aber deutlich älter.
Es waren drei Männer und eine Frau, und alle waren sie merkwürdig gekleidet. Sie trugen runde Hüte, die etwa dreißig Zentimeter hoch waren und oben spitz zuliefen und an deren Krempen kleine Glöckchen hingen, die beim Gehen lieblich klingelten. Die Hüte der Männer waren blau. Der Hut der kleinen Frau war weiß und sie trug ein weißes Kleid, das ihr in Falten von den Schultern fiel und über und über mit kleinen Sternen besetzt war, die in der Sonne glitzerten wie Diamanten. Die Kleidung der Männer war von demselben Blau wie das ihrer Hüte und sie trugen blitzblank polierte Stiefel mit langen blauen Stulpen. Dorothy schätzte, dass die Männer etwa so alt waren wie Onkel Henry, denn zwei von ihnen hatten einen Bart. Die kleine Frau hingegen war zweifellos viel älter: Ihr Gesicht war von Falten durchzogen, ihr Haar schon fast weiß, und beim Gehen wirkte sie ganz steif.
Die vier näherten sich dem Haus, wo Dorothy noch immer in der Tür stand, blieben dann aber stehen und tuschelten miteinander, als trauten sie sich nicht weiterzugehen. Doch dann kam die kleine alte Frau auf Dorothy zu, verbeugte sich tief und sagte mit sanfter Stimme:
»Willkommen, hochehrwürdige Zauberin, im Land der Munchkins. Wir sind dir zutiefst dankbar, dass du die böse Hexe des Ostens umgebracht und unser Volk aus ihrer Knechtschaft befreit hast.«
Dorothy wunderte sich über diese Worte. Was meinte die kleine Frau bloß? Warum nannte sie sie eine Zauberin und sagte, sie habe die böse Hexe des Ostens umgebracht? Dorothy war ein argloses, unschuldiges Mädchen, das ein Wirbelsturm viele Meilen von zu Hause fortgetragen hatte, und sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie jemanden umgebracht.
Aber weil die kleine Frau offensichtlich auf eine Antwort wartete, sagte Dorothy zögernd:
»Das ist sehr freundlich von dir, aber hier muss ein Missverständnis vorliegen. Ich habe niemanden umgebracht.«
»Dann war es eben dein Haus«, entgegnete die kleine alte Frau lachend, »und letztlich ist es ja auch egal. Sieh doch«, fügte sie hinzu und deutete auf eine Ecke des Hauses, »da unter dem Balken stehen noch ihre Schuhspitzen hervor.« Dorothy sah hin und schrie vor Schreck kurz auf. Tatsächlich, unter dem Ende des dicken Balkens, auf dem das Haus ruhte, standen zwei Füße hervor, die in spitzen silbernen Schuhen steckten.
»Um Gottes Willen!«, rief Dorothy und rang vor Entsetzen die Hände. »Das Haus muss auf sie gestürzt sein. Was sollen wir jetzt bloß tun?«
»Wir brauchen gar nichts zu tun«, sagte die kleine Frau in aller Ruhe.
»Aber wer war sie denn?«, fragte Dorothy.
»Sie war, wie gesagt, die böse Hexe des Ostens«, antwortete die kleine Frau. »Sie hat die Munchkins viele Jahre lang in ihrer Knechtschaft gehalten und sie Tag und Nacht wie Sklaven schuften lassen. Jetzt aber sind sie alle befreit und danken dir für deine Gunst.«
»Und wer sind die Munchkins?«, wollte Dorothy wissen. »Das Volk, das hier in diesem Land lebt, im Osten, wo die böse Hexe herrschte.«
»Bist du eine Munchkin?«
»Nein, ich bin eine Freundin der Munchkins, obwohl ich im Norden lebe. Als sie sahen, dass die Hexe des Ostens tot war, schickten sie einen Eilboten zu mir und ich kam sofort hierher. Ich bin die Hexe des Nordens.«
»Ach du liebe Zeit!«, rief Dorothy. »Du bist eine echte Hexe?«
»Ja, das bin ich«, antwortete die kleine Frau. »Aber ich bin eine gute Hexe und die Leute mögen mich. Ich habe allerdings nicht so viel Macht wie die böse Hexe, die hier herrschte, sonst hätte ich die Munchkins selbst befreit.«
»Ich dachte immer, alle Hexen seien böse«, sagte Dorothy, der ein bisschen bange war, weil sie es mit einer echten Hexe zu tun hatte.
»O nein, das ist ein großer Irrtum. Im ganzen Land von Oz gab es nur vier Hexen, und zwei von ihnen, nämlich die aus dem Norden und die aus dem Süden, sind gute Hexen. Ich weiß das ganz sicher, denn ich bin selbst eine von ihnen, also kann ich mich nicht täuschen. Die beiden, die im Osten und im Westen leben, sind wirklich böse Hexen; aber jetzt, da du eine von ihnen umgebracht hast, gibt es im ganzen Land von Oz nur noch eine böse Hexe – und zwar die, die im Westen lebt.«
»Aber Tante Em hat gesagt«, entgegnete Dorothy, nachdem sie kurz überlegt hatte, »dass es keine Hexen mehr gibt, schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr.«
»Wer ist Tante Em?«, fragte die kleine alte Frau.
»Meine Tante, und sie wohnt in Kansas, da wo ich herkomme.«
Die Hexe des Nordens neigte den Kopf, blickte zu Boden und schien einen Moment lang nachzudenken. Dann sah sie wieder auf und sagte:
»Ich weiß nicht, wo Kansas liegt, denn ich habe noch nie von diesem Land gehört. Ist es denn ein zivilisiertes Land?«
»O ja!«, antwortete Dorothy.
»Dann ist das der Grund, denn soweit ich weiß, gibt es in den zivilisierten Ländern keine Hexen mehr und auch keine Zauberer, Zauberinnen oder Magier. Das Land von Oz dagegen wurde nie zivilisiert, denn wir sind abgeschnitten vom Rest der Welt. Deshalb gibt es bei uns noch Hexen und Zauberer.«
»Und wer sind diese Zauberer?«, fragte Dorothy.
»Der Große Zauberer ist Oz selbst«, sagte die Hexe und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Er hat mehr Macht als wir alle zusammen. Er lebt in der Smaragdenen Stadt.«
Dorothy wollte noch etwas fragen, aber auf einmal schrien die Munchkins, die bis jetzt schweigend dagestanden hatten, laut auf und zeigten auf das Eck des Hauses, unter dem die böse Hexe gelegen hatte.
»Was ist denn da los?«, fragte die kleine alte Frau. Dann sah sie selbst hin und fing an zu lachen. Die Füße der toten Hexe waren verschwunden, und das Einzige, was von ihr geblieben war, waren ihre silbernen Schuhe.
»Sie war schon so alt«, erklärte die Hexe des Nordens, »dass sie in der Sonne im Handumdrehen vertrocknet ist. Nun ist es also vorbei mit ihr. Aber ihre silbernen Schuhe gehören jetzt dir, also sollst du sie auch tragen.« Sie beugte sich hinunter, hob die Schuhe auf, schüttelte den Schmutz von ihnen ab und gab sie Dorothy.
»Auf diese silbernen Schuhe war die Hexe des Ostens sehr stolz«, sagte einer der Munchkins. »Ihnen wohnt eine magische Kraft inne, aber wir wissen nicht, worin sie genau besteht.«
Dorothy brachte die Schuhe ins Haus und stellte sie auf den Tisch. Dann ging sie wieder hinaus zu den Munchkins und sagte:
»Ich will zurück zu meiner Tante und zu meinem Onkel. Sie machen sich bestimmt schon Sorgen um mich. Könnt ihr mir helfen, wieder nach Hause zu kommen?«
Die Munchkins und die Hexe sahen erst einander an, dann sahen sie Dorothy an, und dann schüttelten sie den Kopf.
»Im Osten, nicht weit von hier«, sagte einer der Munchkins, »liegt eine große Wüste, und es ist unmöglich, sie lebend zu durchqueren.«
»Im Süden ist es genauso«, sagte ein anderer, »ich war dort und habe es selbst gesehen. Im Süden liegt das Land der Quaddlinge.«
»Ich habe gehört«, sagte der dritte, »dass es auch im Westen so ist. Außerdem herrscht dort, im Land der Winkies, die böse Hexe des Westens, und wenn du ihr über den Weg läufst, macht sie dich zu ihrer Sklavin.«
»Meine Heimat ist der Norden«, sagte die alte Frau, »und auch dieses Land grenzt an die unendliche Wüste, die das ganze Land von Oz umgibt. Ich fürchte, meine Liebe, du wirst bei uns bleiben müssen.«
Als Dorothy das hörte, fing sie an zu weinen, weil sie sich unter all diesen fremden Leuten so einsam fühlte. Ihre Tränen schienen auch die gutherzigen Munchkins zu betrüben, die unverzüglich ihre Taschentücher zückten und ebenfalls zu schluchzen anfingen. Die kleine alte Frau aber nahm ihren Hut ab, balancierte ihn verkehrt herum auf der Spitze ihrer Nase und zählte dabei mit feierlicher Stimme »Eins, zwei, drei«. Da verwandelte sich der Hut plötzlich in eine Schiefertafel, auf der in großer weißer Kreideschrift stand:
DOROTHYSOLLZURSMARAGDENENSTADTGEHEN.
Die kleine alte Frau nahm die Tafel von ihrer Nase, und als sie die Worte darauf gelesen hatte, fragte sie Dorothy:
»Heißt du Dorothy, mein Liebes?«
»Ja«, antwortete Dorothy, indem sie aufsah und sich ihre Tränen wegwischte.
»Dann musst du zur Smaragdenen Stadt gehen. Vielleicht kann Oz dir helfen.«
»Wo ist denn diese Stadt?«, fragte Dorothy.
»Sie liegt genau in der Mitte des Landes, und ihr Herrscher ist Oz, der große Zauberer, von dem ich dir erzählt habe.«
»Ist er ein guter Mensch?«, fragte Dorothy vorsichtig.
»Er ist ein guter Zauberer. Ob er ein Mensch ist, weiß ich nicht, denn ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Wie komme ich zu ihm?«, wollte Dorothy wissen.
»Du musst zu Fuß gehen. Es ist ein langer Weg, und er führt durch Gegenden, die mal einladend und mal finster und schrecklich sind. Aber ich werde all meine Zauberkünste aufbringen, um dich vor Unheil zu bewahren.«
»Kannst du denn nicht mit mir kommen?«, fragte Dorothy flehend. Die kleine alte Frau erschien ihr nunmehr als ihre einzige Freundin.
»Nein, das kann ich nicht. Aber ich werde dir einen Kuss geben, und niemand wird es wagen, einem Mädchen etwas anzutun, das einen Kuss von der Hexe des Nordens bekommen hat.«
Sie kam ganz nah an Dorothy heran und küsste sie sanft auf die Stirn. Wie Dorothy bald darauf feststellte, hatten ihre Lippen dort ein rundes, leuchtendes Mal hinterlassen. »Die Straße, die zur Smaragdenen Stadt führt, ist mit gelben Steinen gepflastert«, sagte die Hexe. »Du kannst sie also nicht verfehlen. Wenn du Oz gegenüberstehst, dann habe keine Angst vor ihm. Erzähle ihm einfach, was dir widerfahren ist, und bitte ihn, dir zu helfen. Und nun leb wohl, mein Liebes.«
Die drei Munchkins verbeugten sich tief, wünschten Dorothy eine gute Reise und gingen zwischen den Bäumen hindurch davon. Die Hexe nickte Dorothy aufmunternd zu, drehte sich auf dem linken Absatz dreimal um sich selbst und war im nächsten Augenblick verschwunden, sehr zur Überraschung des kleinen Toto, der ihr erst hinterherkläffte, als sie schon verschwunden war, während er zuvor, als sie noch neben ihm stand, nicht einmal zu knurren gewagt hatte.
Dorothy aber, die ja wusste, dass die kleine Frau eine Hexe war, hatte damit gerechnet, dass sie auf genau diese Weise verschwinden würde, und war nicht im Geringsten davon überrascht.
Drittes Kapitel
Wie Dorothy die Vogelscheuche befreite
Als Dorothy wieder allein war, bekam sie allmählich Hunger. Also ging sie zum Schrank, schnitt sich ein paar Scheiben Brot ab und bestrich sie mit Butter. Sie gab Toto auch etwas davon und nahm dann einen Eimer aus dem Regal, trug ihn zu dem kleinen Bach und füllte ihn mit klarem, frischem Wasser. Toto lief zu den Bäumen hinüber und bellte die Vögel an, die dort saßen. Als Dorothy ihn zurückholen wollte, entdeckte sie, dass von den Ästen Früchte herabhingen. Sie sahen so lecker aus, dass sie einige davon pflückte, denn sie fand, sie waren genau das, was ihrem Frühstück noch fehlte.
Dann ging sie zurück ins Haus, und nachdem sie und Toto reichlich von dem kühlen, klaren Wasser getrunken hatten, begann sie mit den Vorbereitungen für ihre Reise zur Smaragdenen Stadt.
Dorothy besaß nur noch ein anderes Kleid, das aber zum Glück frisch gewaschen war und an einem Haken neben ihrem Bett hing. Es war aus Baumwolle und blau-weiß kariert, und obwohl das Blau vom vielen Waschen schon ein wenig ausgeblichen war, war das Kleid immer noch hübsch anzusehen. Dorothy wusch sich gründlich, zog das saubere Baumwollkleid an und band sich ihre rosa Sonnenhaube um. Sie holte einen kleinen Korb, legte das Brot aus dem Küchenschrank hinein und bedeckte es mit einem weißen Tuch. Dann sah sie hinab auf ihre Füße und bemerkte, wie alt und ausgetreten ihre Schuhe waren.
»Toto«, sagte sie, »ich glaube, die sind für eine lange Reise nicht mehr zu gebrauchen.« Toto sah mit seinen kleinen schwarzen Augen zu ihr auf und wedelte mit dem Schwanz, um zu zeigen, dass er verstand, wovon sie sprach.
Da entdeckte Dorothy auf dem Tisch die silbernen Schuhe, die der Hexe des Ostens gehört hatten.
»Ob sie mir wohl passen?«, sagte sie zu Toto. »Sie nutzen sich bestimmt nicht ab, also wären sie genau das Richtige für einen langen Fußmarsch.«
Sie zog ihre alten Lederschuhe aus und probierte die silbernen an. Sie passten ihr, als wären sie eigens für sie gemacht.
Dann nahm sie ihren Korb.
»Los, Toto«, sagte sie, »lass uns in die Smaragdene Stadt gehen und den Großen Zauberer von Oz fragen, wie wir zurück nach Kansas kommen.«
Sie schloss die Tür, sperrte ab und steckte den Schlüssel sorgfältig in die Tasche ihres Kleides. Dann begab sie sich auf ihre Reise, zusammen mit Toto, der brav hinter ihr herlief.