Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Stefan Zweig (1881-1942) war ein österreichischer Schriftsteller. 1934 flüchtete er vor den Nationalsozialisten. Über die Stationen New York, Argentinien und Paraguay gelangte er im Jahr 1940 schließlich nach Brasilien. In der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 nahm sich Stefan Zweig in Petrópolis bei Rio de Janeiro das Leben. Depressive Zustände begleiteten ihn seit Jahren. Seine Frau Lotte folgte Zweig in den Tod. In seinem Abschiedsbrief hatte Zweig geschrieben, er werde "aus freiem Willen und mit klaren Sinnen" aus dem Leben scheiden. Die Zerstörung seiner "geistigen Heimat Europa" hatte ihn für sein Empfinden entwurzelt, seine Kräfte seien "durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft". Stefan Zweig wurde ein Symbol für die Intellektuellen im 20. Jahrhundert auf der Flucht vor der Gewaltherrschaft. In diesem Sinne wurde in seinem letzten Wohnhaus in Petrópolis die Casa Stefan Zweig eingerichtet, ein Museum, das nicht nur die Erinnerung an sein Werk bewahren soll.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 269
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Alle Bewegung auf Erden beruht im wesentlichen auf zwei Erfindungen des menschlichen Geistes: die Bewegung im Raume auf der Erfindung des rollenden, seine Achse heiß umschwingenden Rades, die geistige Bewegung auf der Entdeckung der Schrift. Jener namenlose Mensch, der irgendwo und irgendwann als erster das harte Holz rund zur Felge bog, hat die ganze Menschheit die Ferne zwischen Ländern und Völkern überwinden gelehrt. Verbindung war durch den Wagen mit einmal möglich, wandernde Fracht, kenntnisschaffende Reise, aufgehoben der begrenzende Wille der Natur, der bestimmten Früchten, Erzen, Steinen und Produkten eine enge klimatische Heimat zuwies. Jedes Land lebte nicht mehr allein, sondern in Beziehung zur ganzen Welt; Orient und Okzident, Süd und Nord, Ost und West waren durch das neuersonnene Vehikel einander nahegebracht. Und genau wie das Rad in allen seinen technisch gesteigerten Formen – unter der Lokomotive rollend, das Automobil vorwärtsschnellend, im Propeller umschwingend – die Schwerkraft des Raumes, so überwindet die Schrift, gleichfalls längst fortgeschritten von der beschriebenen Rolle, vom Einblatt zum Buch, die tragische Erlebnis- und Erfahrungsbegrenztheit der irdischen Einzelseele: durch das Buch ist keiner mehr ganz mit sich allein in sein eigenes Blickfeld eingemauert, sondern kann teilhaft werden alles gegenwärtigen und gewesenen Geschehens, des ganzen Denkens und Fühlens der ganzen Menschheit. Alle oder fast alle geistige Bewegung unserer geistigen Welt ist heute auf das Buch gegründet, und jene einverständliche, über das Materielle erhobene Lebensgestaltung, die wir Kultur nennen, wäre undenkbar ohne seine Gegenwart. Diese seelenausweitende, diese weltaufbauende Gewalt des Buches in unserem privaten und persönlichen Leben, sie wird uns eigentlich höchst selten bewußt und fast immer nur in ausgesparten Augenblicken. Denn das Buch ist längst zu selbstverständlich innerhalb unseres Tagwerkes, als daß wir das jedesmal Neu-Wunderbare seines Wesens neu und neu dankbar bemerkten. So wie wir uns gar nicht besinnen, daß wir bei jedem Atemzug Sauerstoff in uns ziehen und unser Blut durch diese unsichtbare Nahrung geheimnisvolle chemische Erfrischung erfährt, so merken wir kaum, daß wir unablässig durch das lesende Auge seelischen Stoff empfangen und damit unseren geistigen Organismus auffrischen oder ermüden. Lesen ist für uns Söhne und Enkel von Jahrhunderten der Schrift eine beinahe schon körperliche Funktion, ein Automatismus geworden, und das Buch, weil es uns seit der ersten Schulklasse nah der Hand bleibt, längst ein dermaßen selbstverständlich Mit-uns-Seiendes, Um-uns-Seiendes, daß wir zu einem Buche meist so lässig gleichgültig greifen wie zu unserem Rock, zu unserem Handschuh, zu einer Zigarette, zu irgendeinem dieser serienhaft produzierten Massenfabrikate. Immer hebt ja das leicht Erreichbare eines Wertes die Ehrfurcht vor ihm auf, und nur in den wahrhaft produktiven, in den nachdenklichen und von innen her betrachtenden Augenblicken unseres Daseins verwandelt sich das Gewohnte und Gewöhnliche wieder ins Wunderbare zurück. Einzig in solchen besinnenden Stunden werden wir dann der magischen und seelenbewegenden Kraft ehrfürchtig gewahr, die vom Buche in unser Leben übergeht und es uns so wichtig macht, daß wir heute im zwanzigsten Jahrhundert unsere innere Existenz nicht mehr denken können ohne das Wunder seiner Gegenwart.
Solche Augenblicke sind selten, aber eben, weil sie selten sind, bleibt dann der einzelne lange und oft über Jahre hinaus erinnerlich. So weiß ich noch genau den Tag, den Ort und die Stunde, wo mir in entscheidender Weise aufging, in wie tiefer und schöpferischer Art unsere innere private Welt mit jener anderen sichtbaren und zugleich unsichtbaren der Bücher verflochten ist. Ich glaube, diesen geistigen Erkenntnismoment ohne Unbescheidenheit erzählen zu dürfen, denn obschon persönlich, reicht diese Erlebnis- und Erkenntnisminute weit über meine zufällige Person hinaus. Ich war damals etwa sechsundzwanzig Jahre alt, hatte selbst schon Bücher geschrieben, wußte also schon einigermaßen um die geheimnisvolle Verwandlung, die irgendein dumpf Vorgestelltes, ein Traum, eine Phantasie erfährt, und die vielen Phasen, die sie durchschreiten muß, bis sie sich dank der merkwürdigen Verdichtungen und Sublimierungen endlich in ein solches kartoniertes Rechteck verwandelt, das wir Buch nennen, in ein solches Wesen, das verkäuflich, preisgestempelt und scheinbar willenlos wie eine Ware im Schauladen hinter Glas liegt, und gleichzeitig doch wach, beseelt jedes einzelne Exemplar, obwohl käuflich, doch sich gehörig, und zugleich dem anderen, der es neugierig anblättern will, und noch stärker dem, der es liest, und schließlich ganz und eigentlich jenem letzten, der es nicht nur liest, sondern auch genießt. Ich hatte also schon selbst etwas erfahren von diesem unbeschreibbaren Prozeß der Transfusion, wo gewissermaßen Tropfen der eigenen Substanz übergeführt werden in fremde Adern, Schicksal in Schicksal, Gefühl in Gefühl, Geist in Geist: aber doch, die volle Magie, die Weite und Vehemenz der Wesenswirkung des Gedruckten, sie war mir noch nicht bewußt geworden, ich hatte nur vage um sie herumgesonnen und sie nicht ganz und entscheidend zu Ende gedacht. Dies geschah mir nun an jenem Tag, in jener Stunde, die ich erzählen will.
Ich reiste damals auf einem Schiff, es war ein italienisches, im Mittelmeer, von Genua nach Neapel, von Neapel nach Tunis und von dort nach Algier. Es sollte tagelang dauern, und das Schiff war fast leer. So kam es, daß ich oftmals mit einem jungen Italiener von der Mannschaft sprach, der, eine Art Unterkellner des eigentlichen Stewards, die Kabinen fegte, das Verdeck schrubbte und allerhand ähnliche Dienstleistungen zu leisten verpflichtet war, die innerhalb der menschlichen Rangordnung als untergeordnete gelten. Es war eine rechte Lust, ihn anzusehen, diesen prächtigen, braunen, schwarzäugigen Burschen, dem die Zähne blank aus den Lippen leuchteten, wenn er lachte. Und er lachte gern, er liebte sein singendes flinkes Italienisch und vergaß nie, diese Musik mit lebendigen Gestikulationen zu begleiten. Mit einem mimischen Genie fing er die Gesten jedes Menschen auf und gab sie karikaturistisch wieder, den Kapitän, wie er zahnlos redete, den alten Engländer, wie er steif, mit vorgeschobener linker Schulter, über das Verdeck ging, den Koch, wie er würdevoll nach dem Dinner vor den Passagieren stolzierte und den Leuten kennerisch auf die von ihm gefüllten Bäuche sah. Heiter war es, mit dem braunen Wildling zu plaudern, denn dieser Bursch mit der blanken Stirn und den tätowierten Armen, der, wie er mir erzählte, auf den Liparischen Inseln – seiner Heimat – jahrelang Schafe gehütet hatte, besaß die gutmütige Zutraulichkeit eines jungen Tieres. Er spürte gleich, daß ich ihn gern hatte und mit niemand anderem auf dem Schiff lieber sprach als mit ihm. So erzählte er mir alles, was er von sich wußte, frank und frei, und wir waren nach zwei Tagen auf irgendeine Weise schon etwas wie Freunde oder Kameraden.
Da plötzlich baute sich über Nacht zwischen mir und ihm eine unsichtbare Wand. Wir waren in Neapel gelandet, das Schiff hatte Kohle, Passagiere, Gemüse und Post, seine übliche Hafennahrung, eingenommen und machte sich neuerdings auf den Weg. Schon duckte sich wieder der stolze Posilip zu einem kleinen Hügelchen, und die Wolken über dem Vesuv kringelten sich klein wie blasser Zigarettenrauch, da schob er plötzlich scharf an mich heran, das Lachen breit über den Zähnen, zeigte mir stolz einen zerknitterten Brief, den er soeben empfangen, und bat mich, ihm den Brief vorzulesen.
Ich verstand zuerst nicht gleich. Ich meinte, Giovanni habe einen Brief in einer fremden Sprache erhalten, französisch oder deutsch, wahrscheinlich von einem Mädchen – ich verstand, daß dieser Bursch den Mädchen gefallen mußte –, und nun wollte er wahrscheinlich, daß ich ihm die Botschaft ins Italienische übersetze. Aber nein, der Brief war italienisch. Was wollte er also? Daß ich ihn lesen sollte? Nein, wiederholte er wieder und beinahe heftig, vorlesen sollte ich ihm den Brief, vorlesen. Und plötzlich war mir alles klar: dieser bildhübsche, kluge, mit natürlichem Takt und einer wirklichen Grazie begabte Bursche gehörte zu jenen statistisch festgestellten sieben oder acht Prozent seiner Nation, die nicht lesen konnten. Er war ein Analphabet. Und ich konnte mich im Augenblick nicht erinnern, jemals mit einem dieses aussterbenden Geschlechts in Europa gesprochen zu haben. Dieser Giovanni war der erste des Lesens nicht kundige Europäer, dem ich begegnete, und ich sah ihn wahrscheinlich verwundert an, nicht mehr als Freund, nicht mehr als Kamerad, sondern als Kuriosum. Aber dann las ich ihm natürlich seinen Brief vor, einen Brief, den irgendeine Näherin Maria oder Carolina geschrieben hatte und in dem eben das stand, was in allen Ländern, allen Sprachen junge Mädchen jungen Burschen schreiben. Er blickte mir scharf auf den Mund, während ich las, und ich merkte die Anspannung, jedes Wort zu behalten. Über seinen Augenbrauen buckelte sich die Haut, so quälte ihm die Anstrengung des Zuhörens, des Genau-behalten-Wollens das Gesicht zusammen. Ich las den Brief zweimal vor, langsam, deutlich, er horchte jedes Wort in sich hinein, wurde immer mehr zufrieden, bekam strahlende Augen, der Mund blühte breit auf wie eine rote Rose im Sommer. Dann kam von der Reling her ein Schiffsoffizier, und er paschte rasch weg.
Das war alles, der ganze Anlaß. Aber das eigentliche Erlebnis, nun erst begann es in mir. Ich legte mich hin in einen Liegestuhl, sah hinauf in die weiche Nacht. Die merkwürdige Entdeckung ließ mir keine Ruhe. Ich hatte zum erstenmal einen Analphabeten gesehen, einen europäischen Menschen dazu, den ich klug wußte und mit dem ich wie mit einem Kameraden gesprochen hatte, und nun beschäftigte, ja quälte mich das Phänomen, wie sich die Welt in einem solchen der Schrift verrammelten Gehirn spiegeln möge. Ich versuchte mir die Situation auszudenken, wie das sein mußte, nicht lesen zu können; ich versuchte, mich in diesen Menschen hineinzudenken. Er nimmt eine Zeitung und versteht sie nicht. Er nimmt ein Buch, und es liegt ihm in der Hand, etwas leichter als Holz oder Eisen, viereckig, kantig, ein farbiges zweckloses Ding, und er legt es wieder weg, er weiß nicht, was damit anfangen. Er bleibt vor einer Buchhandlung stehen, und diese schönen, gelben, grünen, roten, weißen, rechteckigen Dinge mit ihren goldgepreßten Rücken sind für ihn gemalte Früchte oder verschlossene Parfümflaschen, hinter deren Glas man den Duft nicht spüren kann. Man nennt vor ihm die heiligen Namen Goethe, Dante, Shelley, und sie sagen ihm nichts, bleiben tote Silben, leerer, sinnloser Schall. Er ahnt nichts, der Arme, von den großen Entzückungen, die plötzlich aus einer einzigen Buchzeile brechen können wie der silberne Mond aus dem toten Gewölk, er kennt nicht die tiefen Erschütterungen, mit denen ein geschildertes Schicksal plötzlich in einem selbst zu leben beginnt. Er lebt völlig in sich vermauert, weil er das Buch nicht kennt, ein dumpfes troglodytisches Dasein, und – so fragte ich mich – wie erträgt man dieses Leben, abgespalten von der Beziehung zum Ganzen, ohne zu ersticken, ohne zu verarmen? Wie erträgt man es, nichts anderes zu kennen als das, was bloß das Auge, das Ohr zufällig faßt, wie kann man atmen ohne die Weltluft, die aus den Büchern strömt? Immer intensiver versuchte ich, mir die Situation des Nicht-lesen-Könnenden, des von der geistigen Welt Ausgesperrten vorzustellen, ich bemühte mich, seine Lebensform mir so künstlich aufzubauen, wie etwa ein Gelehrter aus den Resten eines Pfahlbaues sich die Existenz eines Brachyzephalen oder eines Steinzeitmenschen zu rekonstruieren sucht. Doch ich konnte mich nicht zurückschrauben in das Gehirn eines Menschen, in eine Denkweise eines Europäers, der nie ein Buch gelesen, ich konnte es so wenig, wie ein Tauber sich eine Vorstellung von Musik aus Beschreibungen erzaubern kann.
Aber da ich ihn innerlich nicht verstand, den Analphabeten, versuchte ich nun, zur Denkhilfe mir mein eigenes Leben ohne Bücher vorzustellen. Ich versuchte also zuerst einmal, aus meinem Lebenskreis all das für eine Stunde wegzudenken, was ich von schriftlicher Übermittlung, vor allem von Büchern empfangen hatte. Aber schon dies gelang mir nicht. Denn das, was ich als mein Ich empfand, es löste sich gleichsam vollkommen auf, wenn ich versuchte, ihm zu nehmen, was ich an Wissen, an Erfahrung, an Gefühlskraft über mein Eigenerleben hinaus an Weltgefühl und Selbstgefühl von Büchern und Bildung empfangen hatte. An welches Ding, an welchen Gegenstand ich zu denken versuchte, überall banden sich Erinnerungen und Erfahrungen, die ich Büchern verdankte, und jedes einzelne Wort löste unzählige Assoziationen aus an ein Gelesenes oder Gelerntes. Wenn ich mich zum Beispiel erinnerte, daß ich jetzt nach Algier und Tunis fuhr, so schossen schon blitzartig, ohne daß ich es wollte, hundert Assoziationen sich kristallisch an das Wort »Algier« an – Karthago, der Baalsdienst, ›Salammbô‹, jene Szenen aus dem Livius, da Punier und Römer, Scipio und Hannibal einander bei Zama begegnen, und gleichzeitig dieselbe Szene in dem dramatischen Fragment von Grillparzer; ein Gemälde von Delacroix fuhr farbig dazwischen und eine Landschaftsschilderung Flauberts. Daß Cervantes bei dem Sturm auf Algier unter Kaiser Karl V. verwundet worden war, und tausend andere Einzelheiten, sie waren mit dem Aussprechen oder dem Bloßdenken der Worte Algier und Tunis magisch lebendig; zwei Jahrtausende Kämpfe und Geschichte im Mittelalter und unzählige andere Bindungen drängten sich aus dem Gedächtnis, all das seit meinen Kindertagen Gelesene und Gelernte bereicherte dieses eine hingeträumte Wort. Und ich verstand, daß die Gabe oder die Gnade, weiträumig zu denken und in vielen Verbindungen, daß diese herrliche und einzig richtige Art, gleichsam von vielen Flächen her die Welt anzuschauen, nur dem zuteil wird, der über seine eigene Erfahrung hinaus die in den Büchern aufbewahrte aus vielen Ländern, Menschen und Zeiten einmal in sich aufgenommen hat, und war erschüttert, wie eng jeder die Welt empfinden muß, der sich dem Buch versagt. Aber auch, daß ich all dies durchdachte, daß ich so vehement fühlen konnte, was diesem armen Giovanni fehlte an gesteigerter Weltlust, diese Gabe, erschüttert werden zu können von einem fremden, zufälligen Schicksal, dankte ich dies nicht der Beschäftigung mit dem Dichterischen? Denn wenn wir lesen, was tun wir anders, als fremde Menschen von innen heraus mitzuleben, mit ihren Augen zu schauen, mit ihrem Hirn zu denken? Und nun erinnerte ich mich immer lebhafter und erkenntlicher aus diesem einen belebten und dankbaren Augenblick an die unzähligen Beglückungen, die ich von Büchern empfangen; ein Beispiel nach dem anderen reihte sich innen, wie oben im Himmel Stern an Stern, ich besann mich auf einzelne, die mein Leben aus der Enge der Unwissenheit erweitert, mir die Werte gestuft hatten und dem Knaben schon Erregungen und Erfahrungen gegeben, die mächtiger waren als sein damals noch schmaler und unreifer Leib. Darum, jetzt verstand ich's, hatte sich auch so übermächtig dem Kinde die Seele gespannt, wenn es Plutarch las oder die Seeabenteuer des Midshipman oder die Jagden Lederstrumpfs, denn eine wildere und heißere Welt brach damals in die bürgerlichen Wohnungswände und riß gleichzeitig aus ihnen heraus: zum erstenmal aus Büchern hatte ich die Weite, die unausmeßbare, unserer Welt geahnt und die Lust, mich an sie zu verlieren. Einen Großteil all unserer Spannungen, jenes Über-uns-hinaus-Begehrens, diesen besten Teil unseres Wesens, all diesen heiligen Durst, ihn danken wir dem Salz der Bücher, das uns zwingt, immer wieder neues Erlebnis in uns einzutrinken. Ich erinnerte mich an wichtige Entscheidungen, die mir von Büchern kamen, an Begegnungen mit längst abgestorbenen Dichtern, die mir wichtiger waren als manche mit Freunden und Frauen, an Liebesnächte mit Büchern, wo man wie in jenen anderen den Schlaf selig im Genuß versäumte; und je mehr ich nachdachte, um so mehr erkannte ich, daß unsere geistige Welt aus Millionen Monaden einzelner Eindrücke besteht, deren geringste Zahl nur aus Geschautem und Erfahrenem stammt – alles andere aber, die wesentliche verflochtene Masse, sie danken wir Büchern, dem Gelesenen, dem Übermittelten, dem Erlernten.
Es war wunderbar, all dem nachzusinnen. Langvergessene Beglückungen, die ich durch Bücher erfahren, fielen mir wieder ein, eine erinnerte mich an die andere, und so wie in dem nachtsamtenen Himmel über mir, wenn ich versuchte, die Sterne zu zählen, immer neue und unbemerkte auftauchten und mir das Zählen verwirrten, so wurde ich auch bei dieser Tiefschau in die innere Sphäre gewahr, daß auch dieser unser anderer Sternenhimmel überleuchtet ist von unerrechenbar vielen einzelnen Lichtflammen und daß wir durch das Genießenkönnen des Geistigen noch ein zweites Weltall haben, das um uns leuchtend kreist, gleichfalls von geheimer Musik erfüllt. Nie war ich den Büchern so nah gewesen wie in dieser Stunde, da ich keines in Händen hielt und nur an sie dachte, aber mit der gesammelten Erkenntlichkeit einer aufgetanen Seele. An dem kleinen Erlebnis mit dem Analphabeten, diesem armen Eunuchen des Geistes, der, ebenso gestaltet wie wir, infolge dieses einen Defektes nicht vermochte, liebend und schöpferisch in die höhere Welt einzudringen, empfand ich die ganze Magie des Buches, in dem jedem Wissenden das Universum täglich offen aufgeschlagen ist.
Wer aber einmal so den Wert des Geschriebenen, Gedruckten, der geistigen Sprachübermittlung in seiner ganzen unausmeßbaren Weite erlebt, ob an einem einzelnen Buch, ob an ihrem Gesamtdasein, der lächelt dann mitleidig über die Kleinmütigkeit, die heute so viele und selbst Kluge ergreift. Die Zeit des Buches sei zu Ende, die Technik habe jetzt das Wort, so klagen sie, das Grammophon, der Kinematograph, das Radio als raffiniertere und bequemere Übermittlungsleiter des Wortes und des Gedankens begännen schon das Buch zu verdrängen, und bald würde seine kulturhistorische Mission der Vergangenheit angehören. Aber wie eng ist das gesehen, wie kurz gedacht! Denn wo wäre jemals der Technik ein Wunderbares gelungen, das jenes tausendjahralte des Buches überträfe, ja auch nur erreichte! Kein Explosivmittel hat die Chemie entdeckt, das so weitreichend und welterschütternd wirkte, keine Stahlplatte, keinen Eisenzement hat sie gehämmert, der an Beständigkeit diese kleinen Bündel bedruckten Papiers überdauerte. Noch hat keine elektrische Lichtquelle solche Erleuchtung geschaffen, wie sie von manchem dünnen Bändchen ausgeht, noch immer ist kein künstlicher Kraftstrom jenem vergleichbar, der die Seele bei der Berührung mit dem gedruckten Wort erfüllt. Alterslos und unzerstörbar, unveränderlich in den Zeiten, komprimierteste Kraft in winzigster und wandelhaftester Form, hat das Buch nichts von der Technik zu fürchten, denn sie selbst, wie anders erlernt und verbessert sie sich denn aus Büchern? Überall, nicht nur in unserem eigenen Leben, ist das Buch Alpha und Omega alles Wissens und jeder Wissenschaft Anfang. Und je inniger man mit Büchern lebt, desto tiefer erlebt man die Gesamtheit des Lebens, denn wunderbar vervielfacht, nicht nur mit dem eigenen Auge, sondern mit dem Seelenblick Unzähliger sieht und durchdringt dank ihrer herrlichen Hilfe der Liebende die Welt.
Welche Goetheausgabe, fragt sich mancher, soll ich mir wünschen, soll ich mir wählen? Einstmals, eigentlich ein halbes Jahrhundert lang waren die Auswahlausgaben am meisten begehrt, denn die frühere Generation sah in Goethe immer und einzig nur den Dichter und betrachtete seine naturwissenschaftlichen, seine philosophischen und geologischen Studien nur als lästige Schrulle des alternden Mannes, und erst das letzte Jahrzehnt hat eigentlich den Deutschen wieder die Ganzheit Goethes, diese einzige Summe von Leben, Tätigkeit und Werk gegenständlich gemacht. Die großen Biographien von Bielschowsky, Gundolf, Chamberlain, Emil Ludwig ließen mit einemmal so eine einzige Erscheinung als einen Kosmos betrachten, als durchaus organische Einheit, innerhalb der jede individuelle Betätigung ebenso naturnotwendig und gesetzhaft sich offenbarte als die bloß dichterische Produktion. So verwandelte sich mit zunehmender Erkenntnis des geistigen Umfangs auch die zunehmende Neigung, den ganzen Goethe zu besitzen, und eine Reihe von Ausgaben der letzten Jahre bieten die gleiche Erscheinung in den verschiedenartigsten Formen dar.
Welche nun ist die richtige, in welcher ist der wahre, der vollkommene Goethe am reinsten, übersichtlichsten und einheitlichsten erkennbar? Die Musterausgabe muß natürlich die sogenannte Sophienausgabe der Großherzogin von Weimar bleiben, die nicht nur alle Texte, Fassungen und Versionen gleichzeitig mit den Briefen und Urkunden bringt, sondern auch jede Wortdifferenz zwischen handschriftlicher Vorlage und Druck in den Anmerkungen sorglich festhält. Zwei Geschlechter von Goethe-Philologen haben daran ein Vierteljahrhundert gearbeitet und erst im Kriege den Schlußstein des weitausladenden Gebäudes gesetzt, eines Baues, wie ihn in Schönheit des Gegenstandes, in Fleiß und Sauberkeit der Ausführung kaum irgendeine andere Nation auch nur annähernd vergleichbar hat. Sicherlich wäre also die Sophienausgabe von den richtigen die richtigste, aber sie ist eben durch ihren Umfang den Meisten unerreichbar, denn sie umfaßt nicht weniger als 154 große Bände, füllt also für sich allein schon einen ganzen Bücherschrank und ist überdies bereits längst vergriffen, nur selten im Antiquariat vollständig und dann nur zu einem Phantasiepreis aufzutreiben. Ihr zur Seite trat die Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe des Insel-Verlags, die einerseits die Vollständigkeit der Sophienausgabe erhalten, aber andererseits ihren Hauptmangel für den Gebrauch, nämlich die Unhandlichkeit glücklich beseitigen wollte. Sie verzichtet auf Anmerkungen, Einleitungen, Zeitbestimmungen und bringt nur den vollständigen, revidierten Text von sämtlichen Goetheschriften, mit Ausnahme der Briefe und Gespräche (die sich jetzt in gleicher Ausstattung frei anschließen). Durch die Anwendung des englischen Dünndruckpapiers ist es gelungen, das ganze gigantische Werk in 16 weichgebundenen Bänden zusammenzudrängen. Im Bücherschrank nimmt diese wundervolle Ausgabe kaum eine Reihe ein, und jeder einzelne Band ist ausgezeichnet geeignet, auf die Reise oder bei einem Spaziergang in der Tasche mitgenommen zu werden: so ist sie die richtige Ausgabe, um Goethe mit sich zu haben und doch ganz zu haben, während die Sophienausgabe die typische für öffentliche oder private Bibliotheken, für den Forscher und Ergründer darstellt. Eine dritte Ausgabe wiederum, die Propyläen-Ausgabe, ließ ein anderes Prinzip vorwalten, das zwar Goethe selbst einmal streng verpönt hatte, das aber doch einen unvergleichlichen psychologischen Reiz ausübt, nämlich die chronologische Anordnung. In dieser Ausgabe sind die einzelnen Werke nicht in Gruppen zusammengestellt, sondern nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung, und stärker als in jeder andern spürt man da nicht nur das Sein der Goetheschen Produktion, sondern auch das allmähliche Werden. Auch sie ist eine richtige Goetheausgabe, so verschieden sie von den anderen ist, und eigentlich hätte man Neigung, diese drei vorbildlichen Ausgaben, die gleichsam die Forschung, die Lektüre und seine Lebensentwicklung vorstellen, alle drei zu besitzen, was aber heute in der Zeit der Buchteuerung und der Wohnungsnot für einen Privaten einen wohl kaum erfüllbaren Wunsch bedeutet.
Nun kommt noch in schwerster deutscher Stunde eine vierte in ihrer Art mustergültige Ausgabe, bei Ullstein dazu, wiederum eine vollständige, aber wiederum eine nach einem anderen Prinzip geordnete. Sie übernimmt die chronologische Anordnung der Propyläen-Ausgabe, aber übernimmt sie doch nur innerhalb der einzelnen Gruppen. Sie bringt nicht wie in jener einzig die Zeit der Entstehung berücksichtigenden, Tagebuchblätter und Gedichte mit Dramen vermengt, sondern stellt erst innerhalb jeder einzelnen Gruppe im Drama, der Lyrik, Epik die einzelnen Werke in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge dar. Sie läßt ebenso wie die Insel-Ausgabe die textkritischen Anmerkungen und Urformen der Handschriften weg, fügt aber ein neues Element bei, nämlich Einleitungen für jeden Band, und diese Einführungen sind vielfach von hohem Reiz. Es wurden so ziemlich die besten Dichter des gegenwärtigen Deutschland, die ersten Philosophen und Essayisten gewonnen, je einen Band mit einer Übersicht einzuführen: den Einklang gibt Gerhart Hauptmann, der gleichzeitig bescheidene und bedeutende Worte voranstellt, die zwar das Problem Goethes nicht formulieren wollen, aber gewissermaßen eine Heiligsprechung, eine ehrfürchtige Begrenzung des Namens bedeuten. Die eigentliche Gesamteinführung ist Georg Simmels Aufsatz ›Die Werte des Goetheschen Lebens‹ anvertraut, der sachlich, allzu sachlich die philosophischen Probleme erläutert und ihnen durch geistige Zusammenfassung höchsten Rang gibt. Bedeutend ist dann noch der unvergeßliche Aufsatz Hugo von Hofmannsthals, der den ›West-Östlichen Diwan‹, die subtilen Studien Hermann Bahrs, Hermann Hesses und Jakob Wassermanns die einzelne Prosabände einleiten, während die Aufsätze Eulenbergs und Cäsar Flaischlens für Lyrik und jene von Ernst Hardt über die Dramen nicht ganz an die Tiefe des Gegenstandes herankommen. Aber doch geben alle diese kurzen Vorklänge manchem Leser eine willkommene Einführung in die dichterische Sphäre und werden so sicherlich jenen, die nicht selbst ununterbrochen mit dem Goetheschen Problem als dem Zentralgestirn der deutschen Dichtung beschäftigt sind, vielfache Anregung geben. Bisher sind zwölf Bände dieser auch äußerlich handlichen und durchaus empfehlenswerten Ausgabe bei Ullstein erschienen, die das dichterische Werk schon ganz umschließen, und denen die nächsten acht Bände über Naturwissenschaft, Philosophie und Geologie bald nachfolgen sollen. Mit verdoppelter Bewunderung muß man auf diese Leistung hinweisen, da sie inmitten der schwersten und schwierigsten Verhältnisse entstanden ist und zu verhältnismäßig erschwinglichem Preise die Möglichkeit gibt, den ganzen Goethe zu genießen und sich zu gewinnen.
Für welche der einzelnen Ausgaben sich der einzelne entscheidet, welche er als die richtige empfinden wird, ist nun jedem anheimgestellt. Alle enthalten sie die ganze unübersehbare Fülle Goethes, und jede wird die richtige, sobald der einzelne daraus die Wesenheit des Gewaltigen ahnend, genießend, forschend und durchdringend für sich selbst gewinnt. Jede enthält das Ganze, jedem ist darin die unendliche Fülle gegeben, jeder vermag sich nun in persönlicher Wahl daraus sein zeitlich Teil anzueignen. Seinen richtigen Goethe, denn er ist so groß, der Gewaltige, daß wir immer nur eine Spur seiner Ganzheit für uns zu fassen vermögen.
Zum 28. August 1916
Ins furchtbar Gemeinsame verkettet, ist dem einzelnen für weniges jetzt die Seele ganz frei; der innere Tag, fast jedem ist er genommen vom äußeren Zwang, das gewohnte Tun dem liebsten Wunsch entfremdet und selbst dem Gefühl der reine Ausdruck verwehrt. Freude aus sich hochschweben zu lassen, wie geht es heute an, da der Blick sich umflort an der nahen Tragik einer selbstmörderischen Welt, und der Zorn wiederum, ihm ist das Wort verweigert und der Erbitterung die Sprache erwürgt. Gefangen im stählernen Netz der Zeit sind die Gefühle. In allem ist die Seele behindert und beschränkt, und nur einer Regung vermag sie sich freizuhalten, aber der besten vielleicht: der Dankbarkeit. Wenn jetzt zwischen den gepreßten Stunden eine noch klar und rein herüberglänzt in das Chaos des Geschehens, ihr dankbar zu sein, ist noch verstattet, und sie, die seltene, zu genießen, wird Pflicht und Rettung zugleich.
Solche, jetzt siebenfach kostbare Stunden danke ich einem kleinen Buch, das kürzlich den Weg zu mir gefunden hat und das ich seitdem noch nicht aus meinem Leben ließ. Immer ist es bei mir, denn seine zwei biegsamen Lederbändchen, die auf Dünndruckpapier anderthalbtausend Seiten ohne Zwang zusammenpressen, schmiegen sich leicht der Tasche ein; immer sind sie da, wenn der Wunsch nach ihnen greift, in der Straßenbahn oder auf einem Spaziergang, immer und überall fügen sie sich leicht der tastenden Hand und schlagen sich spendend auf vor dem inneren Blick. Dem ich diese treuen Begleiter im Letzten danke, ihn, der diese wunderbare, ganz einzig handliche Ausgabe der deutschen Klassiker durch seine Initiative und Generosität schuf, ihn findet freilich mein Dank nicht mehr; Alfred Walter Heymel, den Begründer der Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker, hat der Tod in Flandern vom Sattel gehoben, und auch er, dessen Werk in dieser neuen Form ich in diesen Tagen wie zum erstenmal genieße, auch er, Goethe, ist irdischem Danke entrückt. Der Anlaß ist ins allgemeine zurückgefallen, und so dankt in mir das Gefühl nur dem eigenen Erlebnis.
Nun habe ich's schon gesagt, daß ich der Neuausgabe von Goethes Gedichten in dieser entzückenden Taschenform seltene und nun siebenfach seltene Freude schulde, aber keineswegs möchte ich's vordringlich als sonderliche und persönliche Entdeckung rühmen, daß Goethesche Gedichte, wann immer sie wieder einem sich auftun, unendliche Tröstung schaffen, noch mich vermessen, von ihnen etwas Neues und Bedeutsames rühmen zu können. Sie anzupreisen, Goethes Gedichte, tut wahrlich nicht not, dann wer kennt sie nicht? Im flüchtigsten Wort des Gespräches eines jeden von uns ist viel von ihnen geheimnisvoll unbewußt als geprägtes Wort lebendig, Sprichwort und Rede sind getränkt von ihrem Saft, Schrift und Satzbild trächtig von ihren lebendigen Kräften. Mit dem Buchstaben, mit dem Alphabet fast schon lernt der Deutsche sie sich ein, denn schon aus der viereckigen Fibel, die man noch mit kleinen Händen vor dem ungeübten Blick hob, buchstabierte man sich die ersten heraus, das ›Heideröslein‹ etwa oder ›Gefunden‹. Aufsteigend in der Schule, ist man anderen Versen dann vertraut geworden, hat manche selbst vor dem Katheder unsicher und als etwas unwillig Gelerntes gestammelt, hat diese Balladen später vielleicht, getragen vom flügelnden Schlag der Stimme Kainzens, in sich eingeklungen, andere wieder – und von Jahr zu Jahr andere – sich selbst entdeckt beim Schein einer abendlichen Leuchte oder auf einem Gang übers Feld. So allgemein bekannt und vertraut sind sie dem Deutschen Goethes Gedichte, daß der Begriff der Bildung fast bestimmt ist und gebunden an ihre Kenntnis – und doch, und doch, wie konnte es geschehen, daß sie mir diesmal neu wurden, ohne mir je fremd gewesen zu sein, daß ich sie wieder las in dieser Ausgabe wie zum erstenmal und ihnen dankte wie vielleicht nie zuvor? Was hat sie, die immer schon Seelenhaften, nun so seltsam neubeseelt, daß ihr altgewohnter Besitz sich nochmals zurückverwandeln konnte in ein wie erstes Erleben?
Nur ein Geringes ist in dieser neuen Gesamtausgabe anders als in allen bisherigen, nichts ist verwandelt in Gewicht und Gehalt, nur die Form ist leicht gewandelt und – da der Sinn an Formen hängt – mit ihr auch der innere Sinn. Eine kleine Verschiebung, eine anscheinend ganz unbeträchtliche, eine philologische Umstellung ist vorgenommen, aber so wie im Kaleidoskop ein kleiner Ruck genügt, um das farbige Glasmosaik in ein ganz neues Ornament zusammenrieseln zu lassen, so hat hier in dieser neuen Anordnung der kleine Ruck einer liebevoll gewandten Hand den Sinn des Ganzen wesenhaft verwandelt. Bisher waren fast alle Ausgaben entweder Auswahlen, deren Lese und Ordnung der Geschmack und die persönliche Absicht des Wählenden bestimmte, oder sie ordneten sich als Gesamtausgaben jener Gruppierung der Ausgabe letzter Hand nach, die im wesentlichen noch von Goethe selbst herstammt. Dort war die gewaltige Zahl der Gedichte um einzelne Kreise, einzelne Begriffe methodisch gereiht, deren Überschriften »Natur «, »Kunst«, »Antiker Form sich nähernd«, »Gott und Welt« Goethe selbst mit prägnanten Denksprüchen begleitete. Wie ein Blumenstrauß waren dort die Verse zusammengebunden um einen inneren Begriff, das ungeheure lyrische Reich aufgeteilt in einzelne Provinzen der Seele und der Sinne. Hier nun ist die künstlerische Einordnung zerstört, um der Übersicht willen das Organische nicht der Kunst, sondern des Lebens erstrebt. Zum erstenmal in einer Gesamtausgabe erscheinen hier Goethes Gedichte chronologisch geordnet, einzig gereiht nach dem bunt-bedeutsamen Durcheinander ihrer Entstehung. Die kunstvollen Blumensträuße sind wieder aufgebunden und von sorglicher Hand jede einzelne wieder eingesenkt in das Erdreich, in die Landschaft seines zeugenden Lebens, das ordnende Prinzip nicht in der Kunst Goethes, sondern in seiner Existenz gefunden, die wir längst gewohnt sind, selbst als ein Kunstwerk zu betrachten und zu verstehen. Es sind eigentlich nicht Goethes Gedichte mehr, die diese neue Ausgabe uns genießen läßt, sondern Goethes Leben im Gedicht.
Bei jedem anderen Dichter wäre die Zulänglichkeit und Ersprießlichkeit eines solchen Unternehmens, das unscheinbar und bescheiden eine kaum übersehbare Fülle philologischen Fleißes in sich schließt, in Diskussion zu ziehen. Bei Goethe aber, der seinem schöpferischen Werk die Formel fand: »Poetischer Gehalt ist Gehalt des eigenen Lebens«, dient in wunderbarer Wechselwirkung jede Biographie zum Begreifen seines Kunstwerkes, jedes Kunstwerk zum Erfassen seiner irdischen Natur. Bei keinem so sehr wie bei ihm steigert sich das Genießen des Gestalteten so durch die Beziehung auf sein Leben, erklärt sich Bedeutsamstes der inneren Welt so sehr durch äußeren Anlaß. Alles, auch das Entfernteste, hat ja bei ihm Bezug auf Tatsächlichkeiten, und niemand hat es deutlicher als er selbst bekannt, damals im denkwürdigen Gespräche mit Eckermann: »Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte: sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden«, und mit diesem Bekenntnis uns berechtigt, diesen Bezug immer wieder aufs neue zu suchen. Liest man die Gedichte nun zum erstenmal in dieser neuen Ordnung, ganz so wie sie vor einem Jahrhundert Tag um Tag, Jahr um Jahr seiner steigenden und allmählich wieder erstarrenden Schöpfungskraft entquollen sind, so erlebt man sie in einem neuen und viel persönlicheren Sinn als je zuvor, denn alles hat nun Beziehung auf sein Schicksal, spiegelt in leichten oder starken Reflexen fremde Gestalten, Frauen und Landschaften, Stadt und Reisen bis ins einzelne Gedicht hinein. Gleichsam ein Hintergrund ist hinter jedes einzelne gestellt, ein Rahmen jedem Bilde umtan, der seine Farben seltsam verstärkt, und mancher Klang in einem oft gelesenen Vers hat mit einem Male seltsam bewegte Resonanz von verklungenem Leben. Was früher ein Beisammensein war von Gedichten, ist nun eine einzige Wanderschaft durch die gesegneten siebzig Jahre seiner schaffenden Existenz, durch die Landschaft seines unvergleichlichen Lebens.
Wunderbar, wie man sie fühlt, diese Landschaft seines Lebens, geführt vom Gedicht, denn nicht still und kalt liegt sie da, gleichsam in seinem warmen Blute wandern wir hin und spüren nachfühlend die Jahreszeiten des Lebens. Frühling, Sommer, Herbst und Winter ist darin, mit allen Mysterien des Überganges, und gleichzeitig schließt jenes andere Geheimnis sich auf, das Erwachen der Kunst, das Blühen und Erstarren des bildnerischen Triebes mit dem blühenden und wieder erkaltenden Blute. Das erste Blatt gleich das Gelegenheitsgedicht des Achtjährigen an seine Großeltern ›Bey dem erfreulichen Anbruch des 1757. Jahres seinen hochgeehrten und herzlichgeliebten Großeltern von derselben treugehorsamsten Enkel gewidmet‹. Es tut die Frankfurter Kinderstube rührend auf, zeigt wie ein kleines Pastell den Knaben im heimischen Kreis. Ungelenk, starr wie die Schrift auf dem gelblichen Blatt, das im Hause am Hirschgraben zu Frankfurt zu sehen ist, plagt sich der Ausdruck mit vorgezeichneten Formen: wie die Feder der kindischen Hand, so wehrt sich das Wort noch dem Reim. Ein paar Seiten weiter und wir blättern seine Knabenjahre mit, an denen die spielerischen Versuche immer mehr Gelenkigkeit gewinnen, französische und deutsche, englische Gedichtlein fließen flink und sauber von der leichten Schülerhand. Dann plötzlich eine Überschrift: Leipzig, der muntere Vogel ist flügge geworden und aus dem Nest. Mit einmal ist er nun der junge Student, der an der Pleiße zwischen Spaß und Spiel, Kolleg und Tanzen, Reiten und Fechten modische Verslein macht, Verse, die sich bald in Alexandrinerfloskeln verschnüren, mit bunten Schäferbändern behängen, bald wieder im burschikosen Übermut den Mummenschanz sich abreißen und mit derben Reimen wie mit der Peitsche knallen. Unwillkürlich blättert man sich dazu das Silhouettenbildnis des damaligen Studenten Johann Wolfgang auf, das zierliche Bürschchen mit Zopf, Puderquaste und Spazierstock, aus dessen Profil noch ganz der spielerische Knabe lugt, der sich vergnüglich in Klein-Paris die Zeit vertreibt. Man blättert weiter in diesen lyrischen Tändeleien, blättert weiter vorbei an der neuen Jahreszahl, dem neuen Orte Straßburg, um plötzlich in wundervoller Überraschung zu erschrecken. Denn da ist plötzlich ein Gedicht, ein wirkliches Gedicht, das vollendete herrliche Gedicht mit dem strömenden, stürmenden Anfang: »Es schlug mein Herz; geschwind zu Pferde!« Staunend spürt man, hier hat aus losem Spiel plötzlich das ewig-unbegreifliche Wunder in diesem Menschen begonnen, das nicht mehr endet für ihn und nicht mehr für uns, hier ist in diesen Friederiken-Liedern zum erstenmal das deutsche lyrische Gedicht geschaffen und vollendet zugleich. Und von diesem Blatte an, von diesem ersten wahrhaften Gedicht, das den lyrischen Menschen in ihm gleichsam aufgesprengt hat, strömt's dahin, strömt's, ein ungeheurer rauschender Bach diese ganzen anderthalbtausend Seiten mit einer Fülle, die immer unbegreiflicher wird an jedem erneuten Erleben. Die wundervollen Jahre kommen, die Jahre von Wetzlar, Frankfurt und Weimar, die frühlingshaft-triebstarken Jahre, die der Alternde dann voll erhabener Wehmut in dem Vorspiel zum ›Faust‹ wieder heraufbeschwor als jene:
Da sich ein Quell gedrängter Lieder Ununterbrochen neu gebar.