Beim ersten Schärenlicht - Viveca Sten - E-Book
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Beim ersten Schärenlicht E-Book

Viveca Sten

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Beschreibung

Ein spannender Krimi über die dunklen Seiten des hellsten Tages im Jahr Mittsommernacht auf Sandhamn: Alle Menschen sind auf den Beinen, um den längsten Tag im Jahr mit Trinken, Essen und Tanzen zu feiern. Doch als der neue Tag beginnt, wird ein Jugendlicher tot am Strand gefunden. Wer ist der Tote? Und warum musste das Fest für ihn so enden?Nora ist endlich wieder glücklich. In Jonas hat sie nach der Trennung von ihrem Mann einen neuen Partner gefunden. Dessen frühreife Tochter Wilma wiederum bereitet ihr Kopfzerbrechen – Wie gut, dass sie für das Mädchen nicht verantwortlich ist. Wie alle schwedischen Jugendlichen möchte Wilma lieber mit ihren Freunden als mit der Familie Mittsommer feiern. Doch das Fest endet nicht gut, ein toter Jugendlicher am Strand setzt der lustigsten Nacht des Jahres ein grausames Ende, und Wilma ist verschwunden. Thomas Andreasson muss einmal mehr nach Sandhamn, um die Ermittlungen aufzunehmen …Viveca Stens neuer Roman hat alles, was das Fan-Herz begehrt: ein spannender, lebensnaher Fall, den Thomas Andreasson übernimmt, der privat gerade auf Wolke Sieben schwebt; Sandhamn zur schönsten Jahreszeit, aber auch voller Touristen, die nicht nur Gutes im Schilde führen; Sonne, Wasser, Wind.

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Seitenzahl: 499

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Viveca Sten

Beim ersten Schärenlicht

Ein Fall für Thomas Andreasson

Roman

Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Viveca Sten

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Karten zum Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Tobbe

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Ebba

Kapitel 37

Kapitel 38

Felicia

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Christoffer

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Felicia

Kapitel 66

Kapitel 67

Felicia

Kapitel 68

Tobbe

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Wilma

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Ellinor

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Harry Anjou

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Mattias

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Freitag, 19. September 2008

Dank der Autorin

Inhaltsverzeichnis

Für meine geliebte Tochter Camilla

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Ein Meer von weißen Schiffsrümpfen erfüllte den Hafen. Überall auf den Booten wurde gefeiert. Auf den Kaianlagen und den Landungsbrücken wimmelte es an diesem warmen Sommerabend von betrunkenen Jugendlichen. Aber das Mädchen, das durch die Menschenmassen vorwärts stolperte, zitterte vor Kälte.

Überall waren Leute, doch niemand darunter, den sie kannte. Alle redeten und lachten mit schrillen Stimmen. Die Geräusche taten ihr weh, und sie hielt sich die Ohren zu, um sich vor dem Lärm zu schützen.

Verzweifelt blinzelte sie in die Abendsonne, während sie nach einem bekannten Gesicht Ausschau hielt.

Eine Gruppe Teenager grillte an einem Lagerfeuer im Sand, trotz der Verbotsschilder. Ein Stück entfernt standen mehrere Polizisten in gelben Westen, weitere trafen mit einem roten Quad ein, das an der Ecke des Seglerrestaurants anhielt.

Das Mädchen auf dem Kai bemerkte sie nicht. Ihre blonden Haare waren zerzaust, die Augen starr und weit aufgerissen. Sie hinkte leicht, an einem Fuß fehlte der Schuh.

Jemand rempelte sie an, und sie taumelte gegen einen Abfallkorb.

Ihr Blick irrte ziellos umher. Sie schluchzte auf und hielt sich an einem Hydranten fest. Aber niemand nahm Notiz von ihr, das Stimmengewirr um sie herum wogte auf und ab, die laute Musik übertönte das Wimmern, das aus ihrer Kehle kroch.

»Muss das Boot finden«, weinte sie.

Wieder wurde sie angerempelt, und diesmal fiel sie auf die sonnenwarmen Holzplanken. Erschöpft blieb sie sitzen, unfähig, wieder aufzustehen. Tränenstreifen zogen sich über ihre schmutzigen Wangen, und sie murmelte etwas, das niemand außer ihr verstand.

Sie erschauerte und schlang die Arme um den zitternden Leib, um sich zu wärmen.

»Geht es dir nicht gut?«

Ein älteres Paar war vor ihr stehen geblieben.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte die Frau und legte ihr freundlich die Hand auf den Arm.

Das Mädchen sprang auf und lief davon, hinaus auf den langen Pier, der an den Kai grenzte, weit weg von dem älteren Paar.

»Muss Victor finden«, murmelte sie.

Die Musik war lauter geworden.

Auf einer großen Motorjacht wummerte monotoner Technobeat aus riesigen schwarzen Lautsprecherboxen. Der Lärm war ohrenbetäubend, und die Schallwellen ließen den Boden unter den Füßen des Mädchens erzittern. Auf dem Achterdeck der Jacht stand ein niedriger Mahagonitisch, auf dem sich halb volle Gläser, Flaschen und überquellende Aschenbecher drängten. Auf einem breiten weißen Ledersofa saß ein braun gebrannter Typ mit nacktem Oberkörper und einer Zigarette zwischen den Fingern. Sein Blick taxierte den Körper des Mädchens.

»Fühlst du dich einsam, Süße?«

Er grinste und ließ die Zunge im Mund kreisen.

»Da könnte ich helfen.«

Sie blieb abrupt stehen, dann machte sie kehrt, lief wieder in die andere Richtung, zurück an Land.

Vor ihr ein Wald aus weißen Masten. Verwirrt starrte sie auf die Boote.

»Victor«, flüsterte sie, und die Tränen begannen wieder zu fließen. »Wo bist du?«

Dann knickten ihre Beine ein, und sie brach im Sand zusammen.

Inhaltsverzeichnis

Montag, 16. Juni 2008

Kapitel 1

»Es wird bestimmt nett, Mittsommer bei den Larssons zu feiern, meinst du nicht?«

Madeleine Ekengreen drehte sich zu Victor um, aber er machte sich nicht die Mühe, seiner Mutter zu antworten.

Es war kurz vor neunzehn Uhr. Motorengeräusch vor dem Fenster verriet, dass der Jaguar des Vaters in die Garageneinfahrt bog. Madeleine betrachtete ihr Spiegelbild in der chromglänzenden Kühlschranktür und zupfte ihre blonde Frisur zurecht.

Was glaubst du eigentlich, wem du damit etwas vormachen kannst?, dachte Victor. Mit deinen Strähnchen im Haar und dem Botox in der Stirn. Keiner hält dich mehr für fünfunddreißig, da kannst du dich noch so sehr anstrengen.

»Victor?«

»Ich komme nicht mit.«

»Aber wir feiern Mittsommer doch immer bei den Larssons«, sagte Madeleine, und ihr Blick wurde unsicher, so als verstünde sie nicht ganz, welche Richtung die Unterhaltung nahm.

Sie stellte eine Schüssel mit grünem Salat auf den Esstisch und mischte ihn gut durch.

»Was willst du denn sonst machen?«

Victor starrte auf seinen Teller.

»Ich fahre mit Tobbe und ein paar anderen nach Sandhamn. Christoffer kriegt das Motorboot von seinem Vater, das ist ein saugeiles Teil.«

»Du sollst nicht ›saugeil‹ sagen«, erwiderte Madeleine automatisch. »Das ist so ein hässliches Wort.«

Es war offensichtlich, dass sie von der Vorstellung, er könnte den Mittsommerabend ohne seine Eltern verbringen, alles andere als begeistert war.

»Kommt Tobbes Vater auch mit?«, fragte sie nach einer Weile.

Victor schüttelte den Kopf.

»Nein. Der muss nach Falsterbo, glaub ich.«

»Und Felicia?«

Jetzt nickte er.

»Klar kommt sie mit.«

»Und was sagen ihre Eltern dazu?«

Madeleine klang misstrauisch, aber Victor wusste, dass sie seine Freundin mochte.

»Die sehen das ganz easy.«

Genau genommen hatte Felicia gesagt, dass sie mit Ebba aufs Land wollte. Und Ebba hatte ihren Eltern gesagt, dass sie mit Felicia wegfuhr.

Madeleines Blick war immer noch skeptisch, aber sie drehte sich um, ging zur Kücheninsel und holte eine Platte mit Grillhähnchen. Die Tür zwischen Garage und Vorflur fiel krachend ins Schloss.

Jetzt kommt der große Johan Ekengreen, dachte Victor.

»Und das ist ganz sicher, dass Felicias Eltern damit einverstanden sind?«, fragte Madeleine und stellte die Hähnchenplatte auf den Tisch.

»Mann, du nervst!«

Victor griff nach dem Milchkarton, der mitten auf dem Tisch stand, und füllte sein Glas.

Madeleine sagte nichts. Victor wusste, dass sie gekränkt war, aber er hatte keine Lust, sich zu entschuldigen. Sie hatte doch sowieso nie Zeit, wieso musste sie gerade jetzt anfangen zu quaken, wo er ausnahmsweise mal eigene Pläne hatte?

Als du mit Papa in den Herbstferien nach Paris abgehauen bist, hast du nicht so ein Theater gemacht, dachte er. Da durfte ich sehen, wo ich bleibe.

»Ich bin sechzehn, ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte er. »Außerdem sind wir sauviele, die dahin fahren.«

Victor wusste, dass er sie mit dem Wort »sauviele« ärgerte, und blickte sie herausfordernd an.

Madeleine gab auf.

»Du brauchst nicht ausfallend zu werden«, sagte sie. »Ich verstehe gar nicht, warum du so gereizt bist. Egal was ich sage, du bist immer gleich so aufbrausend.«

»Dann hör auf zu nerven«, wiederholte Victor.

Die Tür ging auf, und Johan Ekengreen kam in die Küche. Er pfiff gut gelaunt vor sich hin und schien nicht zu bemerken, wie angespannt die Stimmung war.

Victors Vater wurde demnächst dreiundsechzig. Er war braun gebrannt und ging mehrmals die Woche ins Fitnessstudio. Er hatte noch fast volles Haar, Victor wusste, dass er es heimlich färbte, um zu verbergen, dass er inzwischen grau war.

»Hallo zusammen.«

Mit breitem Lächeln stellte er den Aktenkoffer ab und lockerte die Krawatte. Dann zog er sein Jackett aus und hängte es über die Rückenlehne seines Stuhls.

»Victor will Mittsommer nicht mit uns verbringen«, sagte Madeleine und sah ihren Mann eindringlich an, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass er ein ernstes Wort mit dem Sohn reden musste.

»Und warum nicht?«

Johan Ekengreen wandte sich Victor zu, aber bevor der antworten konnte, fuhr Madeleine fort:

»Er will mit seinen Freunden nach Sandhamn, anstatt bei den Larssons zu feiern.«

Der Vater lachte, ungeachtet der steinernen Miene von Madeleine.

»Der Junge wird langsam erwachsen. Er will auf Sandhamn Party machen wie alle anderen. Das hätte ich in seinem Alter auch vorgezogen.«

Johan griff nach der offenen Weinflasche auf dem Tisch und schenkte sich ein Glas ein. Automatisch schnupperte er am Wein, ehe er einen Schluck nahm.

»Nicht übel«, sagte er und studierte das Flaschenetikett.

»Johan, jetzt hör doch«, sagte Madeleine und wischte mit schnellen, gereizten Bewegungen die Spüle ab.

»Darf ich, Papa?«, fragte Victor, noch ehe Johan etwas sagen konnte.

Mann, er würde eingehen, wenn sie es schaffte, seine Sandhamn-Pläne zu durchkreuzen. Er hatte genug Geld, sein Vater hatte ihm einen Umschlag mit mehreren Tausend Kronen als Belohnung für sein Abschlusszeugnis zugesteckt, das wider Erwarten richtig gut ausgefallen war.

Damit konnte er für Mittsommer ein paar echt geile Sachen organisieren.

»Er ist noch viel zu jung«, protestierte seine Mutter ein letztes Mal. »Gerade erst sechzehn geworden. Das ist viel zu früh, um ihn allein losziehen zu lassen.«

»Ich nehme an, Felicia fährt mit?«, fragte Johan.

»Ja.«

Victor nickte, ohne aufzublicken. Na los, Papa, dachte er, nun sag schon Ja.

»Also gut.«

Johan Ekengreen wandte sich an seine Frau.

»Lass ihn ruhig. Man ist im Leben nur einmal jung.«

Er trank noch einen Schluck. Der Wein schimmerte blutrot im dünnen Glaskelch.

»Es sind doch nur ein paar Tage im Schärengarten.«

Inhaltsverzeichnis

Samstag

Kapitel 2

Nora Linde schnappte unwillkürlich nach Luft, als Wilma Sköld aus dem oberen Stock der Brand’schen Villa herunterkam.

Die Vierzehnjährige hatte ihre Augen mit dunklem Kajal umrandet, und die Wimpern waren dick getuscht und zu Fliegenbeinen verklebt. Der Jeansrock war so kurz, dass er eher aussah wie Shorts, und durch das dünne weiße Top konnte man den BH schimmern sehen.

Nur mit Mühe verkniff Nora sich einen Kommentar. Wilma war erst in der achten Klasse, aber die Schminke machte sie älter und ließ sie viel zu abgeklärt aussehen. Nora musste sich mit Gewalt in Erinnerung rufen, dass es Jonas’ Sache war, etwas dazu zu sagen. Sie waren erst acht Monate zusammen, und sie konnte jetzt nicht anfangen, Wilma wie ihr eigenes Kind zu erziehen.

Während des gesamten Abendessens hatte das Mädchen wie auf glühenden Kohlen gesessen, so als wäre jede Minute, die sie noch länger von ihren Freunden trennte, eine Qual. Kaum hatte sie die Erlaubnis erhalten, vom Tisch aufzustehen, war sie im Bad verschwunden, um sich zurechtzumachen.

Wilma ging an Nora vorbei durch die Küche ins Esszimmer, wo Jonas noch mit Adam und Simon zusammensaß. Adam hatte aufgegessen, aber Simon stocherte noch in seinen Kartoffeln. Er liebte die ersten neuen Kartoffeln, die im Juni kamen, und hatte sich eine dritte Portion auf den Teller geschaufelt.

»Papa«, sagte Wilma. »Ich geh dann jetzt. Ich bin schon echt spät dran.«

Nora war ihr gefolgt, blieb aber auf der Schwelle stehen und lehnte sich an den Türrahmen. Es war unübersehbar, dass Jonas ebenfalls zusammenzuckte, als er seine Tochter sah. Manchmal hatte Nora das Gefühl, als wollte er nicht begreifen, dass aus Wilma langsam eine Frau wurde.

»Willst du nicht wenigstens eine Jacke mitnehmen?«, fragte Nora vorsichtig. »Die Nacht wird bestimmt kühl. Du weißt, wie das hier draußen im Schärengarten ist.«

Für Wilma schien Nora nicht anwesend zu sein. Sie ging ein paar Schritte auf Jonas zu.

»Kannst du mir ein bisschen Geld geben?«, bettelte sie.

»Hast du nicht erst dein Taschengeld bekommen?«

»Ja, schooon.« Wilma druckste ein bisschen herum. »Aber das ist alle.«

Jonas zog die Augenbrauen hoch, griff aber trotzdem nach seinem Portemonnaie in der Gesäßtasche. Er öffnete es, hielt dann aber inne, so als überlegte er, ob es wirklich klug war, seiner Teenagertochter einen Extrazuschuss zu geben.

»Och bitte, Papa, das macht sonst keinen Spaß.«

Wilma hing über der Stuhllehne und hörte sich plötzlich an wie ein quengelndes Kind. Für einen Moment konnte Nora sich vorstellen, wie sie als kleines Mädchen ausgesehen haben musste, mit Zöpfchen und Zahnlücke.

Wie zu erwarten kapitulierte Jonas. Er zog drei Hundertkronenscheine hervor, legte sie auf den Tisch und schob sie seiner Tochter hinüber.

»Aber den Rest will ich wiederhaben«, sagte er.

Seinem Tonfall und Wilmas zufriedenem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ging keiner der beiden davon aus, dass es einen Rest geben würde.

Adam sah von seinem Teller auf und warf Wilma einen langen Blick zu.

Die beiden trennte nur ein Jahr, aber bisher hatte Adam kein großes Interesse daran gezeigt, abends wegzugehen. Er saß stattdessen zu Hause und spielte Computerspiele, ob mit oder ohne Kumpels. Nora wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er auch lieber ausgehen und mit Freunden feiern würde, aber sie war froh, dass es noch nicht so weit war. Ihre Trennung von Henrik war ungefähr mit dem Beginn der Pubertät bei Adam zusammengefallen, und weder das eine noch das andere war einfach gewesen.

»Gibt’s wenigstens noch eine Umarmung, bevor du verschwindest?«, fragte Jonas, während er sein Portemonnaie zurücksteckte.

Wilma ging um den Tisch herum und beugte sich hastig vor. Dann richtete sie sich auf, trat einen Schritt zurück und sagte mit verdächtig nonchalanter Stimme: »Reicht es, wenn ich um zwei zu Hause bin?«

Jonas runzelte die Stirn.

»Mitternacht, hatten wir doch gesagt. Du weißt, dass deine Mutter und ich das so vereinbart haben.«

»Och nööö … Heute ist doch Mittsommer. Alle anderen dürfen viel länger, wieso soll ich die Einzige sein, die schon so früh nach Hause muss? Das ist echt blöd.«

Gib jetzt nicht nach, dachte Nora und war froh, dass nicht sie es war, die diesen Kampf ausfechten musste. Sie hatte genug damit zu tun, sich bei ihren eigenen Söhnen durchzusetzen.

Nora stand immer noch in der Tür und wartete auf Jonas’ Antwort, ohne sich einzumischen. Sogar Simon war ausnahmsweise einmal still, er widmete sich ganz seinen Kartoffeln auf dem Teller.

»Bitte, Papa …«

Wilma legte den Kopf schräg und sah jetzt noch flehender aus als vorher.

Jonas schob seinen Teller weg.

»Also gut, dann um eins. Aber nur dieses eine Mal! Ich will für den Rest des Sommers kein Gequengel über Uhrzeiten mehr hören.«

In Wilmas Gesicht spiegelten sich widerstreitende Gefühle. Sollte sie weiter betteln und riskieren, dass Jonas ärgerlich wurde, oder sich mit dem halben Sieg zufriedengeben?

Offenbar war ein Uhr besser als nichts, denn sie machte einen kleinen Tanzschritt und sagte:

»Versprochen. Danke, Papa, du bist der Beste.«

Wilma beugte sich vor und umarmte ihren Vater wieder. Diesmal war die Freude echt. Jonas versuchte, ihr übers Haar zu streichen, aber sie entwischte ihm rasch.

Selbst Nora bekam ein Lächeln ab.

»Tschüss dann, bis morgen!«

»Pass auf dich auf. Hast du dein Handy dabei?«

»Ja, ja, klar.«

Ihre Stimme war ungeduldig, der schmale Teenagerkörper schon in Bewegung.

»Es muss immer eingeschaltet sein«, sagte Jonas. »Vergiss das nicht. Versprich mir, dass du drangehst, wenn ich anrufe.«

Wilma war schon halb aus der Tür und drehte sich nicht um.

»Okay, okay. Ich verspreche es. Hör auf zu nölen.«

Nora seufzte. Wilma wickelte Jonas um den kleinen Finger, und Nora fand es nicht gut, dass sie so leicht damit durchkam. Es war wohl doch besser, dass sie noch getrennt wohnten, sie mit den Jungs in ihrer neuen Wohnung in Saltsjöbaden und Jonas in seiner Dreizimmerwohnung in der Stadt.

Hier auf Sandhamn wohnte er in Noras altem Haus. Sie war vergangenes Jahr mit ihren Söhnen in die Brand’sche Villa umgezogen, das schöne alte Jahrhundertwende-Haus, das sie von ihrer Nachbarin und Nenntante Signe geerbt hatte. Durch die Vermietung hatten sie und Jonas sich kennengelernt.

An diesem Wochenende wohnten sie alle zusammen bei Nora, da Jonas wegen einer defekten Stromleitung drüben keinen Strom hatte. Der nette Insel-Elektriker hatte versprochen, sich gleich am Montag um das Problem zu kümmern.

Die Haustür knallte zu, und Wilma war weg.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3

Wilma lächelte zufrieden, als sie das Grundstück verließ, ohne die Gartenpforte hinter sich zuzumachen.

Ihr Handy piepste.

Kommst du bald? Bin schon im Hafen / Malena

Schnell tippte sie eine Antwort ein.

Klar, bin unterwegs / W

Sie hatte überhaupt keine Lust gehabt, Mittsommer mit Papa und Nora auf Sandhamn zu feiern, aber als sie erfuhr, dass ihre Freunde aus der Stadt auf die Insel kommen würden, hatte sie sich plötzlich auf das Mittsommerwochenende gefreut, trotz Nora und ihren Kindern. Simon konnte ja ganz süß sein, er hatte sie gern dabei, wenn er sich Comicfilme anguckte. Aber Adam war ein Langweiler, er saß dauernd am Computer und spielte irgendwelche blöden Spiele, entweder allein oder mit seinen ebenso blöden Kumpels.

Papa und Nora waren noch schlimmer, ständig hingen sie zusammen und knutschten, wenn sie dachten, keiner würde es sehen. Das war echt obernervig. Ätzend. Wieso musste er die bloß kennenlernen?

Das Handy piepste wieder.

Hast du was dabei?

Wilma klopfte zufrieden auf ihre Tasche. In Noras altem Kartoffelkeller standen mehrere Kisten Wein, die hatte sie per Zufall entdeckt, und zwei Flaschen aus einem Karton in der hintersten Ecke hatte sie für heute Abend mitgehen lassen.

Die ganze Woche lang hatte sie überlegt, was sie anziehen sollte, und immer wieder all ihre Sachen anprobiert. Schließlich hatte sie sich für einen kurzen weißen Jeansrock entschieden, kombiniert mit einem schlichten Trägertop. Das sah stylish aus, ohne übertrieben zu wirken.

Bei H&M hatte sie eine neue Mascara entdeckt, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte. In einem unbeobachteten Moment hatte sie das Teil in ihrer Tasche verschwinden lassen. Sie wusste, dass es falsch war, aber wenn die in dem Laden das nicht merkten, waren sie selber schuld.

Seit dem Frühjahr hing sie mit der neuen Clique ab. In ihrer Klasse waren alle so kindisch, die hatten nur dummes Zeug im Kopf. Die Jungs waren picklig und albern und fast alle im Stimmbruch. Mal redeten sie mit tiefer Stimme und mal krächzten sie im Falsett.

Ihre neuen Freunde waren viel interessanter. Vor allem Mattias, der Halbbruder ihrer Freundin Malena aus der Parallelklasse. Er war zweieinhalb Jahre älter als Malena und ging auf ein Gymnasium in der Innenstadt.

Mattias war groß und hatte seine dunklen Haare lang wachsen lassen. Er hatte die Angewohnheit, sie hinter die Ohren zu streichen, sodass sie sich im Nacken lockten. Wilma sehnte sich danach, ihm mit den Fingern durch die Haare zu fahren. Er trug eine silberne Halskette und abgewetzte Jeans und dazu Loafers aus Wildleder. Echt stark. Er war viel cooler als die Jungs aus ihrer Klasse mit ihren hässlichen Kapuzensweatshirts und Sneakers. Verglichen mit ihm waren sie eine Horde Affen.

Wilma hatte nicht lange gebraucht, um sich in Mattias zu verlieben, aber bisher sah es nicht so aus, als hätte er etwas gemerkt. Er redete kaum mit ihr, obwohl sie immer versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen, wenn er dabei war.

Jedes Mal, wenn sie sich getroffen hatten, saß Wilma anschließend stundenlang da und ging alles durch, was er gesagt hatte. Sie analysierte jeden Satz und die Art, wie er ihn ausgesprochen hatte, und wie er sie angesehen hatte, wenn er etwas sagte.

Sie wusste, dass sie nicht die Einzige war, die auf Mattias stand. Er hatte dauernd was mit irgendwelchen Mädchen, und ständig piepste sein Handy. Ab und zu lachte er dann und zeigte den anderen Jungs die SMS. Manchmal machte er auch eine ironische Bemerkung.

Wilma fuhr sich mit der Zunge prüfend über die Lippen, ob der Lipgloss noch drauf war. Er hieß Spring Blossom und war orange-rosa. Den hatte sie auch bei H&M mitgehen lassen, und sie fand, er ließ sie älter und erfahrener aussehen.

Heute Abend würde Mattias sie bemerken. Wilma spürte es am ganzen Körper. An diesem Abend würde er begreifen, dass sie gar nicht so jung war, kein kleines Schulmädchen, das seine Schwester angeschleppt hatte.

Die Weinflaschen in ihrer Umhängetasche waren ihr Trumpf. Er sollte sehen, dass sie wusste, worauf es ankam. Und dass sie auch dazugehörte.

Sie war bereit, alles Mögliche zu tun, um bei ihm sein zu können.

 

»Wollen wir den Kaffee am Steg trinken?«, fragte Nora und sah Jonas an.

Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, obwohl es schon auf acht Uhr abends zuging. Es war lange her, dass an Mittsommer so schönes Wetter geherrscht hatte, und nach dem langen, dunklen Winter war die Wärme einfach herrlich.

Jonas zog sie an sich. Er strich mit dem Mund über ihr Haar und murmelte: »Wir sind ganz allein im Haus.«

Nora lehnte den Kopf an seine Stirn und genoss es, ihm so nah zu sein.

»Die Jungs sind bei ihren Freunden, und Wilma kommt noch lange nicht nach Hause«, raunte er ihr ins Ohr.

Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Nora spürte, wie sie auf die Einladung reagierte, ein warmes Gefühl breitete sich unterhalb ihres Bauchnabels aus, und ein Kitzeln durchzog ihren Körper. Mit leicht geöffnetem Mund hob sie den Kopf und begegnete Jonas’ Lippen.

Sie hielt inne.

»Und wenn Adam und Simon jetzt zurückkommen? Das könnte peinlich werden.«

Nora wand sich aus seiner Umarmung, ohne Rücksicht auf die Enttäuschung in Jonas’ Augen.

»Dafür haben wir später noch genug Zeit«, sagte sie und bückte sich, um ein Tablett aus dem Unterschrank zu nehmen. Darauf stellte sie zwei Becher, eine Dose Zucker und ein Kännchen Milch.

»Möchtest du noch etwas dazu?«, fragte sie. »Einen Mittsommer-Kognak vielleicht?«

Er schien es ihr nicht übel zu nehmen, vielmehr lächelte er sie so verführerisch an, dass sie beinahe schwach wurde. Sie konnte nicht anders, sie musste einfach innehalten und ihn ansehen, wie er da an der Küchenanrichte lehnte, in Jeans und grünem Pullover mit V-Ausschnitt und Segelschuhen an den nackten Füßen. Aber der Gedanke an ihre beiden Söhne hielt sie zurück.

»Mir genügt der Kaffee«, sagte Jonas. »Aber du kannst gerne einen trinken, wenn du willst.«

Nora horchte in sich hinein. Hatte sie Lust auf Kognak?

Warum nicht. Sie hatten zum Essen eine Flasche Rotwein getrunken, aber ein Gläschen zum Kaffee konnte nicht schaden. Sie holte eine Flasche Armagnac hervor und goss einen Schluck in den Kognakschwenker. Dann nahm sie das Tablett, durchquerte die Glasveranda und ging die lange Treppe hinunter, die zur Sitzecke am Wasser führte.

Der Garten lag immer noch in vollem Sonnenschein, und vom angrenzenden Grundstück, wo mehrere Segelboote von Besuchern am Steg vertäut lagen, klang fröhliches Gelächter herüber. Die Nachbarn hatten ein üppiges Büfett aufgebaut, und der Grillgeruch hing noch in der Luft. Ein Stück entfernt ertönte ein Trinklied, das mit einem kräftigen »Skål« endete.

Nora lächelte, als sie das klingende Geräusch von Schnapsgläsern hörte. Es war genau so, wie ein typischer Mittsommerabend auf Sandhamn sein sollte, wenn alle bei leckeren Speisen und Getränken in ihren Gärten saßen.

Nora setzte das Tablett auf dem weißen Holztisch ab, und während Jonas den Deckel der Thermoskanne aufschraubte, stellte sie die Becher auf den Tisch und brach eine Tafel dunkle Schokolade in kleine Stücke.

Ein spitzes »Kri! Kri!« durchschnitt die Luft, und als sie aufblickte, flog ein Schwarm Schwalben hoch über ihrem Kopf dahin. Die Vögel waren ein sicheres Zeichen für stabiles Hochdruckwetter, hoffentlich hielt sich die Wärme wenigstens noch für die nächsten paar Tage.

Zufrieden setzte Nora sich auf einen Stuhl und griff nach ihrer Kaffeetasse. Das hier war fast zu schön, um wahr zu sein, dachte sie.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4

Elin lag auf dem Rücken, den kleinen Mund fest um einen Schnuller geschlossen, der sich im Takt mit ihren Atemzügen bewegte. Die winzigen Hände, vorhin noch wütend zu Fäusten geballt, lagen jetzt entspannt auf der dünnen Decke. Ein Teddy saß in einer Ecke des Gitterbetts, und ein kleines Mobile mit bunten Schmetterlingen hing an einem Plastikarm über dem Kopfkissen.

Kriminalkommissar Thomas Andreasson stand neben dem weißen Gitterbett in seinem Sommerhaus auf Harö und betrachtete seine Tochter. Ein schmaler Streifen Licht sickerte durch den Verdunklungsvorhang, den sie ihretwegen angebracht hatten. Das genügte ihm, um die feinen Gesichtszüge seiner Tochter unterscheiden zu können. Ihre Augenbrauen waren so hell, dass sie kaum zu erkennen waren, und über den Ohren ringelten sich zarte Löckchen.

Vorsichtig berührte er ihre kleine Hand. Die Nägel waren glatt und rosa, unvorstellbar winzig verglichen mit seinen eigenen. Der Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, und Thomas spürte, wie seine Anspannung nachließ.

Seine Tochter schlief, und es ging ihr gut.

Als ihre große Schwester im Alter von drei Monaten starb, war sein Schmerz so groß gewesen, dass er fast daran zugrunde gegangen wäre. An dem Verlust des Kindes war seine Ehe mit Pernilla zerbrochen. Die Unfähigkeit, mit der tiefen Verzweiflung umzugehen, hatte sie auseinandergerissen, und erst im vergangenen Jahr hatten sie wieder zueinandergefunden.

Pernilla war es gewesen, die sich bei ihm gemeldet hatte und ihn wiedersehen wollte. Thomas hatte gezögert, die Angst, dass alte Wunden wieder aufbrechen könnten, saß tief. Aber als sie sich dann wiedersahen, erinnerte er sich nur an die schönen Zeiten: den Sommerabend in Stockholm, an dem sie sich ineinander verliebt hatten, Pernillas Lächeln bei der Trauung in der Kirche von Djurö, das Glück, als Emily geboren wurde. Es war, als wären sie nie getrennt gewesen.

Sie hatten eine neue Chance erhalten.

Nach dem schweren Unfall im letzten Winter, als er draußen vor Sandhamn im Eis eingebrochen war, hatte Pernilla ihm geholfen, zurück ins Leben zu finden. Er war wie gelähmt gewesen, hatte alles nur noch Grau in Grau gesehen und nicht mehr gewusst, ob er seinen Beruf als Polizist weiterhin würde ausüben können. Zu übermächtig erschien ihm die Herausforderung, die Arbeit im Ermittlungsdezernat wieder aufzunehmen, wo sich die Aktenberge stapelten und an allen Ecken und Enden Personal fehlte.

Die Folge waren Gewissensqualen und nagende Zweifel an seinen eigenen Fähigkeiten.

Aber wenn er aufhörte, Polizist zu sein, was war er dann?

Die große Wende kam mit Elin. Als er erfuhr, dass er wieder Vater wurde, entließ ihn die Depression endgültig aus ihrem Klammergriff. Und als Elin im März auf die Welt kam, erwachte er aus seiner langen Lethargie, so als hätte jemand eine graue Schmutzschicht von einem Fenster gewischt, das nun wieder klar und durchsichtig war.

In sieben Tagen würde Elin genauso alt sein wie Emily in jener Nacht, als sie im Schlaf gestorben war, ohne dass Thomas und Pernilla irgendetwas hatten tun können.

Das Bild vom toten Körper seiner Tochter an jenem Morgen würde er immer mit sich herumtragen.

»Thomas, wo bleibst du?«

Pernillas Stimme drang von der Veranda draußen herein.

»Der Kaffee wird kalt.«

Thomas merkte, dass seine Hände sich unbewusst um den Rand des Kinderbetts geklammert hatten. Mühsam löste er den Griff und strich behutsam über Elins zarte Wange. Sie verzog greinend den Mund, sodass der Schnuller herauszufallen drohte. Schnell schob Thomas ihn zurück, und glücklich begann sie wieder daran zu nuckeln.

Mit einem letzten Blick auf seine Tochter ging Thomas nach draußen zu Pernilla.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 5

Adrian Karlsson rückte den schweren Koppelgürtel zurecht, an dem Sprechfunkgerät, Schlagstock und die Dienstpistole im Holster hingen. Allein schon der Gürtel wog über fünf Kilo, insgesamt brachten Kleidung und Ausrüstung mehr als fünfzehn Kilo auf die Waage.

Als er den Gürtel das erste Mal umgelegt hatte, war er unter dem Gewicht fast in die Knie gegangen, aber inzwischen schätzte er das Gefühl, alles, was er brauchte, in Griffweite zu wissen. Heute allerdings trug die Ausrüstung nur dazu bei, dass er in seiner dunkelblauen Polizeiuniform noch mehr schwitzte. Die Uniform war dazu gedacht, den Körper zu wärmen, nicht zu kühlen.

Es war nicht das erste Mal, dass man ihn über das Mittsommerwochenende nach Sandhamn abkommandiert hatte, aber bei so schönem Wetter war er noch nie hier gewesen. Es war der reinste Hochsommer, dabei war heute erst der 21. Juni. Sein Pullover war schon seit Stunden klitschnass, und der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Die Kopfhaut unter seinen stoppelkurzen hellbraunen Haaren glänzte feucht.

Er stand zusammen mit seiner Kollegin Anna Miller auf der Strandpromenade, vor der falunroten Reihe der Büdchen und Läden. Es war schon nach acht Uhr abends, und sie waren seit zehn Uhr vormittags im Dienst. Ein schnelles Mittagessen und ein später Nachmittagskaffee im PKC – dem Kontaktcenter der Polizei, das sie übers Wochenende nutzen durften – war alles, was sie zu sich genommen hatten.

Anna war Polizeiassistentin und erst vor ungefähr einem Jahr von der Polizeihochschule gekommen. Sie war siebenundzwanzig, fünf Jahre jünger als Adrian, und knapp zwanzig Zentimeter kleiner als er mit seinen einsfünfundachtzig. Ihre koreanische Abstammung zeigte sich in schmalen Augen und schnurglatten schwarzen Haaren, die sie zum Pferdeschwanz gebunden trug.

Trotz ihrer jungen Jahre hatte sie sich schnell eingelebt. Mit ihrem entwaffnenden Lächeln besänftigte sie selbst die aggressivsten Typen, und sie steckte gutmütig so manchen bissigen Kommentar weg, der ihr an den Kopf geworfen wurde.

Jedes Mal, wenn sie jemanden entdeckten, der mit einer offenen Flasche herumlief, bekam die betreffende Person die Anweisung, den Inhalt auszugießen. Auf Sandhamn war es verboten, am Mittsommerwochenende Alkohol an öffentlichen Plätzen zu trinken. Adrian und Anna waren freundlich und höflich, kannten aber kein Pardon: Der Flascheninhalt musste weggeschüttet werden. Sofort.

Die Jüngsten, die ihnen in die Hände liefen, waren erst dreizehn, vierzehn Jahre alt. Es war ein trauriger Anblick, wie sie durch die Gegend torkelten.

Aus irgendeinem Grund war es für die Stockholmer Jugend zur Tradition geworden, das Mittsommerwochenende im Schärengarten zu verbringen. Ihr Ausflug hatte nur einen Zweck: sich möglichst schnell und möglichst heftig zu betrinken, entweder an Bord eines Schiffes oder irgendwo auf der Insel.

Freitags, am Mittsommerabend, fuhr man nach Möja im nördlichen Schärengarten. Am darauffolgenden Mittsommertag ging es nach Süden, nach Sandhamn.

Wie ein Schwarm Heuschrecken, der eine Insel nach der anderen heimsuchte.

Das hier war für Sandhamn der schlimmste Tag des Jahres.

 

Die wummernde Popmusik vom Hafen drang leise bis zu Noras Bootssteg. Seit dem frühen Nachmittag hatte ein ununterbrochener Strom von Motorbooten, die meisten überfüllt mit Jugendlichen, den Sund durchquert, der die Einfahrt nach Sandhamn bildete. Jedes Mal, wenn Nora von ihrem Buch aufgeblickt hatte, war es ihr vorgekommen, als seien immer mehr Boote unterwegs.

Wenn es nur keinen Ärger gab. Im letzten Jahr war eine wüste Schlägerei ausgebrochen, und ein junger Halbstarker war mit einem Lungenriss ins Krankenhaus geflogen worden. Die Ärzte hatten ihn in letzter Minute retten können.

Das Bild von Wilma tauchte vor Nora auf. Ihre Jacke hing immer noch an der Flurgarderobe. Wilma war nur in ihrem dünnen Hemdchen unterwegs und hatte nichts zum Überziehen dabei. Hoffentlich passte sie auf sich auf.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Jonas:

»Findest du, dass ich bei Wilma zu leicht nachgebe?«

Nora griff nach ihrer Kaffeetasse, ehe sie antwortete. Sie suchte nach den richtigen Worten, um die entspannte Atmosphäre nicht zu zerstören.

»Du gibst ihr sehr viel Spielraum«, sagte sie schließlich.

»Ich verwöhne sie, meinst du?«

Jonas lehnte sich auf dem Stuhl zurück und lächelte leicht, als sei er sich bewusst, dass er nicht streng genug mit seiner Tochter war.

»Jaaa«, erwiderte Nora gedehnt. »Das kann man wohl sagen.«

Sie ließ den Blick übers Wasser schweifen. Die Sonne näherte sich Harö, wo sie in ein paar Stunden hinter dem Wald untergehen würde. Einige Möwen kreisten auf der Jagd nach Beute über den Bootsstegen. Vom Nachbargrundstück schallte wieder ein donnerndes »Skål« herüber.

»Wilma weiß genau, welche Knöpfe sie drücken muss, um ihren Willen durchzusetzen. Sie ist …« Nora suchte nach dem passenden Wort, »ziemlich frühreif.«

Eigentlich hatte sie »frech« sagen wollen, aber sie wollte nicht provozieren. Dann wurde ihr bewusst, dass es nicht Henrik war, der ihr gegenüber saß, ihr Exmann, dessen Laune von einer Sekunde auf die andere umschlagen konnte. Mit Jonas war es einfacher. Ihr fiel auf, dass sie sich unbewusst verspannt hatte, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. Alte Gewohnheiten waren nur schwer abzulegen.

Jonas unterbrach ihre Gedanken.

»Du hast natürlich recht, aber es ist nicht so einfach, die Zügel ständig kurz zu halten. Besonders jetzt.«

Er beugte sich zu Nora, nahm ihre Hand und drehte die Handfläche nach oben. Mit dem Zeigefinger zeichnete er sanft ihre Handlinien nach. Seine Fingerkuppe fühlte sich weich an.

»Sie braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Sie muss so viel Neues verarbeiten, jetzt, wo du ein Teil meines Lebens bist.«

Nora betrachtete Jonas in der Abendsonne. Seine mittelbraunen Haare waren im Nacken etwas länger, und in den braunen Augen leuchtete in dem warmen Licht eine Nuance Grün auf. Sein Gesichtsausdruck war offen, bei ihm war alles so unkompliziert. Der Altersunterschied hatte ihr zuerst Sorgen gemacht, Jonas war sieben Jahre jünger als sie mit ihren bald einundvierzig Jahren, aber inzwischen dachte sie nicht mehr sehr oft daran.

Die kreisende Berührung in ihrer offenen Hand wurde schneller, und sie spürte ein Kitzeln im Bauch. Wieso hatte sie darauf bestanden, dass sie Kaffee trinken sollten? Sie hatten vorhin die perfekte Gelegenheit gehabt, aber sie musste ja immer so verdammt vernünftig sein.

Bei drei Kindern im Haus sollte man jede Gelegenheit nutzen.

»Das hier ist eine große Umstellung für sie«, fuhr Jonas fort.

»Das ist es für meine Jungs auch.«

Nora hörte, dass ihre Antwort schärfer klang als beabsichtigt.

In weicherem Tonfall fügte sie hinzu: »Alle brauchen ein bisschen Zeit, das verstehe ich ja. Dieses Jahr war in vielerlei Hinsicht überwältigend. Aber es wäre schon gut, wenn wir ungefähr die gleiche Einstellung bei bestimmten Dingen hätten, die die Kinder betref-fen.«

»Wie meinst du das?«

Jonas legte Noras Hand vorsichtig wieder auf ihren Schoß und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Nora wollte aufrichtig sein, ohne ihn zu verletzen. Das Thema »meine Kinder« und »deine Kinder« war nicht so einfach, das hatte sie während des Winters einsehen müssen.

»Adam ist nur ein Jahr jünger als Wilma«, sagte sie nach einer kleinen Pause. »Bald wird er auch anfangen zu betteln, ob er abends ausgehen darf. Aber ich wäre nicht damit einverstanden, dass er bis ein Uhr nachts unterwegs ist. Dazu ist er noch viel zu jung, und ich würde die ganze Zeit wach liegen und mir Sorgen machen.«

Nora unterbrach sich, aber da Jonas nichts sagte, fuhr sie fort:

»Ich möchte einfach nicht, dass wir den Kindern unterschiedliche Signale senden …«

Jonas richtete sich auf. Die Unbekümmertheit, die er noch vor wenigen Minuten ausgestrahlt hatte, war verschwunden, so als hätte ihn eine plötzliche Unruhe überfallen. Nora bereute, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.

Vor dem Steg raste ein Motorboot vorbei und bog in den Sund, ohne sich um die Geschwindigkeitsbegrenzung von fünf Knoten zu kümmern. Eine kleine Segeljolle geriet durch die Bugwelle beinahe ins Kentern. Sie neigte sich zur Seite, und der einsame Segler hatte alle Hände voll zu tun, die Wellen zu parieren. Es hörte sich an, als riefe er dem rücksichtslosen Raser ein paar wütende Flüche nach.

Jonas wandte den Blick von dem Segler ab, zog sein Handy aus der Tasche und tippte darauf herum. Auf dem Display erschien Wilmas Gesicht, braun gebrannt und lachend. Die blonden kinnlangen Haare umspielten in weichen Strähnen ihr Gesicht, und sie blinzelte leicht in die Sonne.

»Du hast recht«, sagte Jonas unerwartet. »Ich hätte ihr nicht erlauben dürfen, so lange wegzubleiben.«

Mit einem letzten Tastendruck verschwand Wilmas Bild, und Jonas steckte das Handy wieder in die Hosentasche. Dann lächelte er entwaffnend, beinahe spitzbübisch, wie ein kleiner Junge, der bei einem Streich erwischt worden war.

»Ich werde mich bessern, ich verspreche es.«

Er zwinkerte und griff wieder nach Noras Hand, hob sie sanft an seinen Mund und küsste sie. Sie spürte seinen Atem heiß an ihren Fingerspitzen. Seine Lippen liebkosten ihre Haut.

»Bist du wirklich sicher, dass wir jetzt Kaffee trinken müssen?«

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Kapitel 6

Adrian stand mit Anna auf der Strandpromenade und beobachtete die Umgebung. Schräg rechts, auf dem breiten Steg vor dem Seglerhotel, wimmelte es von Menschen mit Gläsern in den Händen. Eine knappe halbe Stunde zuvor war der traditionelle Pistolenschuss gefallen, der das Niederholen der Flagge ankündigte. Sie wurde genau um neun Uhr abends eingeholt.

Es war immer noch warm, geradezu mediterran. Adrian sehnte sich nach einer erfrischenden Dusche, aber bis seine Schicht zu Ende war, würde es noch dauern.

Ein Paar in mittleren Jahren mit Hund an der Leine näherte sich.

»Entschuldigung?«, sagte die Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur.

Ein besorgter Ausdruck lag in ihren Augen, die von feinen Lachfältchen eingerahmt wurden. Der etwa gleichaltrige Mann neben ihr hatte den Blick auf etwas gerichtet, das sich ein Stück entfernt befand.

»Ja?«, erwiderte Adrian abwartend.

»Sehen Sie das Mädchen dahinten?«, sagte die Frau und zeigte in die Richtung, in die der Mann blickte. »Es scheint ihr nicht gut zu gehen. Wir sind ein bisschen besorgt.«

Adrian suchte die Menge ab. Dann begriff er, was sie meinte.

Ein junges Mädchen in rosafarbenem Pullover war auf die Knie gesunken, genau neben dem langen hölzernen Kai, der parallel zur Strandpromenade verlief. Sie kniete zusammengekauert im Sand, die Arme um den mageren Oberkörper geschlungen.

»Könnten Sie mal nach ihr sehen?«, fuhr die Frau fort. »Wir haben sie vor ungefähr einer Stunde angesprochen und gefragt, ob sie sich nicht wohlfühlt. Da ist sie einfach weggelaufen. Und jetzt bei unserer Rückkehr ist sie immer noch da. Wir haben einen Abendspaziergang mit unserem Tequila gemacht.«

Sie zeigte auf den hübschen Golden Retriever, der an der Leine zerrte. Die Frau musste sich anstrengen, um ihn zurückzuhalten.

»Sitz, Tequila!«, befahl sie mit strenger Stimme, und nach einigen Wiederholungen setzte der Hund sich gehorsam neben sie. »So ist’s brav«, lobte die Frau. »Du bist ein feiner, braver Hund.«

Adrian betrachtete das Mädchen in der Abendsonne.

Etwas an ihrer Körperhaltung erregte seine Aufmerksamkeit; es war, als befände sie sich in einer Art Blase, abgeschirmt von der Umgebung. Adrian hatte genügend Volltrunkene gesehen, um die Zeichen zu erkennen.

Niemand schien Notiz von ihr zu nehmen, trotz der Menschenmassen um sie herum. Er konnte keine Clique oder einen Freund entdecken.

Sie war ganz allein.

»Ich sehe mal nach«, sagte er zu dem Paar. »Danke, dass Sie Bescheid gesagt haben.«

»Hoffentlich ist es nichts Schlimmes«, sagte die freundliche Frau. »Sie sieht noch so jung aus.«

Sie tätschelte den Hund.

»Ich habe selbst Söhne in dem Alter. Man will ja nicht, dass ihnen etwas passiert, besonders nicht an einem solchen Abend.«

Adrian nickte Anna zu und machte sich auf den Weg zu dem jungen Mädchen. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, brach sie zusammen. Es war eine langsame, beinahe unwirkliche Bewegung, wie in extremer Zeitlupe. Der Körper verlor jeden Halt, und das Mädchen kippte mit ausgestreckten Beinen zur Seite.

Ein Betrunkener stolperte über ihre Füße, ging aber einfach weiter, ohne stehen zu bleiben.

Das Mädchen lag reglos direkt neben dem Kai, die linke Gesichtshälfte auf den Sand gepresst. Ihr blondes Haar umrahmte ihren Kopf wie der zerfetzte Glorienschein eines Engels.

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Sonntag

Kapitel 7

Nora drehte sich im Bett um, irgendetwas hatte sie geweckt. Sie streckte die Hand nach Jonas aus, aber er war nicht da. Durch den Spalt zwischen Rollo und Fensterbank sah sie, dass es draußen dunkel war.

Sie drehte den Kopf zum alten Uhrenradio, das auf dem Nachttisch stand. Die Digitalziffern leuchteten weiß. Es war Viertel nach eins, und Wilma hätte jetzt zu Hause sein müssen.

Nora machte die Augen wieder zu und horchte auf Geräusche im Haus. War Wilma nach Hause gekommen? Es waren keine Stimmen zu hören.

Sie blieb noch einige Minuten so liegen, dann stand sie auf und griff nach ihrem Morgenrock. Barfuß tappste sie zur Treppe und lauschte wieder.

Nichts.

Die Tür zu Simons Zimmer stand halb offen, und sie hörte seine leichten Atemzüge. Wie immer hatte er seinen Teddy fest im Arm. Im Dunkeln konnte sie seine immer noch runden Wangen erahnen; er wurde im Oktober neun.

Rasch warf sie einen Blick in Adams Zimmer. Er schlief ebenso tief, aber auf dem Rücken, die Bettdecke bis auf Bauchhöhe zurückgeschoben. Er hatte aufgehört, einen Pyjama zu tragen, und schlief in Unterhose.

Gegenüber von Adams Zimmer lag das Gästezimmer, aber noch bevor sie hineinschaute, wusste sie, dass es zwecklos war.

Nora ging die Treppe hinunter und warf einen Blick in die leere Küche. Sie ging weiter zur Veranda und fand Jonas in einem der Korbstühle sitzend. Er starrte aufs Meer hinaus, das Kinn in die Hand gestützt. Am Horizont waren die Konturen einer flachen Wolkenbank zu erkennen, weit entfernt blinkte das Leuchtfeuer von Getholmen.

Nora blieb auf der Schwelle stehen und zog den Morgenrock fester zusammen.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Wilma ist nicht nach Hause gekommen.«

Nora ging zu ihm und hockte sich neben ihn. Sie strich ihm leicht über den Arm.

»Sie hat bestimmt die Zeit vergessen. Das passiert schnell, wenn man sich amüsiert.«

Jonas rieb sich den Nacken. Er trug Jeans und T-Shirt. Sie roch seinen Duft und dachte daran, wie sie sich vor wenigen Stunden geliebt hatten.

»Sie sollte doch längst zu Hause sein«, sagte er, und auch im Dunkeln konnte Nora sehen, wie angespannt sein Gesicht war.

»Hast du versucht, sie anzurufen?«

»Sie geht nicht ran. Ich habe es mindestens fünf Mal versucht.«

»Vielleicht hat sie ihr Handy irgendwo liegen gelassen.«

»Wilma macht keinen Schritt ohne ihr Telefon.«

»Vielleicht ist der Akku leer?«

Nora hörte selbst, wie das klang. Sie verstand sehr gut, was in ihm vorging. Wenn es Adam gewesen wäre, hätte sie sich genau solche Sorgen gemacht.

»Ausgerechnet heute Abend?« Jonas schlug mit der Hand auf die Rattanlehne. »Das hier ist nicht okay. Die kriegt was zu hören, wenn sie nach Hause kommt!«

In Noras Beinen begann es zu kribbeln, und sie erhob sich. Die Nachtluft ließ sie frösteln.

»Soll ich uns eine Tasse Tee machen? Du wirst sehen, sie ist schon unterwegs.«

»Leg dich nur wieder hin.« Seine Stimme wurde weicher. »Du musst nicht die halbe Nacht mit mir aufbleiben und auf meine ungehorsame Tochter warten.«

Nora strich ihm über die Wange.

»Keine Sorge. Ich bleibe bei dir. Sie kommt bestimmt jede Minute zur Tür herein.«

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Kapitel 8

Aus der Entfernung betrachtet, wogte die Menschenmenge im Hafen hin und her wie eine unförmige Amöbe. Ab und zu breitete sie sich aus, zog sich dann aber wieder rasch zusammen, als könnten ihre Teile nicht längere Zeit getrennt sein, sondern müssten sich immer wieder zusammenfinden.

Es war deutlich kühler geworden, eine Erinnerung daran, dass erst Frühsommer war. Eine dünne Nebelbank war hereingezogen, und die Luft war klamm und feucht. Durch das Scheinwerferlicht des Seglerhotels zogen schmale Nebelstreifen.

Die Musik der Freiluftdisco schallte durch die Frühsommernacht. Die Bässe hämmerten und ließen mit ihren harten Rhythmen die ganze Umgebung erzittern. Eine lange Schlange von immer noch Hoffnungsvollen drängte sich vor dem Eingang, an dem zwei bullige Türsteher das abgesperrte Areal bewachten.

Adrian und Anna waren mittlerweile seit über fünfzehn Stunden im Dienst. Nachdem sie das junge Mädchen im PKC abgeliefert hatten, wo eine Frau von »Mütter in der Stadt« sich um sie kümmerte, hatten sie sich wieder ins Getümmel begeben.

Die Polizei patrouillierte mit Doppelstreifen im Hafengebiet zwischen Värdshuset und dem Klubhaus der Königlich Schwedischen Seglergesellschaft KSSS. In den vergangenen Stunden waren Adrian und Anna die Strandpromenade auf und ab gegangen. Ihre Anwesenheit hatte eine dämpfende Wirkung, und so wanderten sie die knapp fünfhundert Meter lange Strecke von einem Ende zum anderen.

Adrian blieb stehen und rückte den schweren Koppelgürtel zurecht. Die lange Schicht machte sich körperlich bemerkbar, seine Hüften schmerzten.

Anna bemerkte sein Manöver.

»Alles okay?«, fragte sie.

»Mhm.«

Er ließ den Gürtel sein, und sie setzten sich wieder Richtung Värdshuset in Bewegung.

Ständig kamen Jugendliche zu ihnen und stellten Fragen: Wann geht das letzte Boot in die Stadt? Ist das sicher, dass um zwei noch eine Extrafähre geht? Wo sind die Toiletten?

Sie waren gerade beim Kiosk am Dampfschiffkai angekommen, als es in ihren Ohrhörern knackte. Adrian warf einen hastigen Blick zum Seglerhotel und drehte sich um.

»Feindselige Auseinandersetzung auf zwei Booten«, sagte er laut, obwohl Anna dieselbe Durchsage gehört hatte. »Am ersten KSSS-Anleger.«

Im Laufschritt nahmen sie Kurs aufs Seglerhotel.

 

Schon von Weitem hörte Adrian lautes Gebrüll, es schien von zwei Booten zu kommen, die nebeneinander auf der Westseite des langen Stegs lagen. Eine Gruppe Jugendlicher befand sich achtern auf einem großen Außenborder. Auf dem Nachbarboot saß eine Biker-Gang in schwarzen Lederjacken, viele von ihnen mit rasierten Schädeln.

Aus den Lautsprechern der beiden Boote dröhnte laute Musik, und Beschimpfungen flogen hin und her. Als Adrian näher kam, sah er zwei Männer, die auf dem Steg standen und sich anstierten.

»Du lausige Ratte«, schrie der eine, ein etwa Dreißigjähriger mit abgewetzten Jeans und nacktem Oberkörper. Seine schwarzen Haare waren im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Sein Gegenüber war bedeutend jünger, um die zwanzig, wenn überhaupt. Er stand breitbeinig da, die Fäuste erhoben, als sei er es gewohnt zu boxen. Sein Körper war angespannt, bereit, sich zu verteidigen.

Gerade als Adrian den Anleger erreichte, durchschnitt eine gellende Mädchenstimme den Lärm.

»Schluss jetzt, ihr Idioten. Hört ihr nicht, was ich sage! Ihr sollt aufhören!«

Immer mehr Neugierige strömten herbei, plötzlich war den beiden Polizisten der Weg versperrt. Da machte der Zwanzigjährige einen Ausfallschritt. Kühl täuschte er mit der Linken an, schien die Wucht des Schlages zu berechnen – und landete stattdessen einen Schwinger mit der Rechten.

Die Finte überrumpelte seinen Gegner, und der Schwinger traf genau auf dessen Kinnspitze. Der Mann mit dem Pferdeschwanz sackte zusammen und schlug so hart auf den Boden, dass der ganze Ponton schwankte.

»Hältst du jetzt endlich die Fresse, oder was!«

Der Zwanzigjährige drehte sich um und grinste das Mädchen, das so besorgt gerufen hatte, zufrieden an. Siegessicher schüttelte er die Fäuste in Richtung seiner Kumpels, die ihn jubelnd beklatschten.

»Assi-Pack«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab.

Der andere Mann lag immer noch flach mit der Nase auf den Boden gepresst da. Dann kam langsam Bewegung in den Körper, er rappelte sich auf die Knie und schüttelte den Kopf, als würde ihm das helfen, klarer zu sehen. Er spuckte einen blutigen Schleimklumpen aus. Trotz der kühlen Nachtluft glänzte seine Haut von Schweiß.

Eine Sekunde später hielt er ein Messer in der Hand. Mit einem wütenden Hieb, immer noch auf Knien, schlug er nach dem jüngeren Mann. Ehe dieser reagieren konnte, hatte das Messer seine Hose zerfetzt. Im Nu färbte sich der weiße Jeansstoff rot.

Der Getroffene drehte sich um, im Gesicht ein ungläubiger Ausdruck, als verstünde er nicht ganz, was los war.

Adrian merkte, wie seine Muskeln sich anspannten.

»Aufhören! Polizei!«, brüllte er aus Leibeskräften und versuchte, die vor ihm Stehenden beiseitezustoßen.

Er zog seine Waffe, obwohl er sich mitten in der Menge befand, und rammte seinen Ellbogen in die Rippen eines Mannes, der ihm den Weg versperrte.

Der Messerstecher holte erneut aus und zielte auf den linken Arm des Zwanzigjährigen. Die scharfe Klinge schnitt durch die Luft und traf ohne einen Laut genau dort, wo der kurze Ärmel des T-Shirts endete.

Der junge Mann starrte auf seinen Arm. Instinktiv presste er die Hand auf die Wunde, um das Blut zu stoppen, aber es quoll ihm durch die Finger und tropfte dunkelrot auf den Boden.

Just als Adrian es geschafft hatte, sich durch die Menschenmenge zu drängen, hob der Mann mit dem Pferdeschwanz wieder das Messer. Adrian machte einen Satz nach vorn und packte ihn an der Schulter.

»Messer weg!«, brüllte er. »Polizei, lassen Sie sofort das Messer fallen! Haben Sie verstanden?«

Er presste die Pistole an die nackte Schulter des Mannes und merkte, wie ihm der Schweiß auf die Oberlippe trat.

»Sie lassen jetzt sofort das Messer fallen!«, brüllte er dem Mann ins Gesicht und umschloss den Pistolenkolben fester.

Eine Sekunde verstrich, noch eine, dann hörte man den Laut von Metall, das auf dem Boden aufschlug.

Im nächsten Moment stand Anna neben ihm und packte den Messerstecher von der anderen Seite. Gemeinsam zwangen sie ihn in die Knie, und kurz darauf lag er flach auf dem feuchten Betonpier.

Außer Atem packte Adrian die Hände des Mannes und fesselte sie ihm mit Handschellen auf dem Rücken.

»Alles okay?«, fragte Anna leise.

Adrian nickte, obwohl ihm ein bisschen schwummerig war. Seit der Funkdurchsage konnten nicht mehr als ein paar Minuten vergangen sein, aber ihm kam es viel länger vor. Er richtete sich auf und ging zu dem verletzten jungen Mann, der ganz grün im Gesicht war und am ganzen Körper zitterte.

»Setzen Sie sich hin, damit Sie nicht zusammenklappen«, sagte Adrian. »Und halten Sie den Arm hoch.«

Der Typ nickte stumm. Aus der Nähe war jetzt deutlich zu erkennen, wie jung er noch war.

Zwei weitere Kollegen waren inzwischen am Schauplatz angekommen und leuchteten mit starken Taschenlampen die Partygäste auf den beiden Booten ab.

Adrian wollte den Übeltäter möglichst schnell abführen, bevor einer seiner Kumpel noch auf dumme Gedanken kam. Mit so einer Rockerbande war nicht zu spaßen, einer von denen konnte durchaus versuchen, das zu Ende zu bringen, was dem Messerstecher nicht gelungen war.

Er zwang den Mann wieder auf die Beine, packte ihn am Arm und führte ihn Richtung Kai.

»Ich bringe ihn ins PKC«, rief er Anna zu.

Am landseitigen Ende des Stegs war es erstaunlich ruhig, die Menge der Schaulustigen hatte sich noch nicht wieder zerstreut. Adrian blieb einen Moment im Halbdunkel stehen.

»Das war ja wohl verdammt unnötig«, sagte er und gab dem Rocker einen harten Stoß in den Rücken.

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Kapitel 9

»Wo kann sie nur sein? So sehr hat sie sich noch nie verspätet.«

Jonas’ Stimme war heiser vor Sorge. Er erhob sich aus dem Korbstuhl und trat an das große Fenster, das aufs Meer hinaus zeigte.

Nora sah wieder auf die Armbanduhr. Die Zeiger hatten sich seit ihrem letzten Kontrollblick kaum bewegt. Die Zeit kroch im Schneckentempo voran, während die Unruhe wuchs.

Der Himmel war heller geworden, im Osten färbte er sich einen Hauch rosa. Die Boote, die am Nachbarsteg festgemacht hatten, lagen reglos im spiegelglatten Wasser.

»Ich halte das nicht länger aus. Ich gehe sie suchen.«

Jonas fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Er war sonst immer die Ruhe selbst, aber als er sich jetzt vom Fenster abwandte, spürte Nora seine Angst.

»Dann komme ich mit. Ich ziehe mir nur schnell was an.«

Adam und Simon schliefen oben in ihren Zimmern. Einen Dreizehn- und einen Neunjährigen konnte sie auch mal eine halbe Stunde allein lassen. Der Ort war so klein, und sie blieb ja ganz in der Nähe, wäre kaum mehr als zehn Minuten entfernt. Es konnte nicht lange dauern, das Hafengelände abzusuchen.

Jonas schüttelte den Kopf.

»Besser, du bleibst hier, falls sie plötzlich auftaucht. Dann kannst du mich anrufen, wenn sie nach Hause kommt.«

»Bist du sicher?«

Er nickte nachdrücklich, und sie willigte ein.

»Okay. Aber vergiss dein Handy nicht.«

Nora streckte die Hand aus und strich ihm über die Wange. Sie wusste, dass es dort jetzt von betrunkenen Jugendlichen wimmelte. Die meisten Einwohner von Sandhamn blieben der Hafengegend in dieser Nacht fern.

Falls Wilma Alkohol getrunken hatte, konnte es sein, dass sie zu betrunken war, um auf sich achtzugeben. Dasselbe galt für ihre Freundinnen. Sie waren erst vierzehn, auch wenn sie versuchten, sich älter zu machen.

Um sich selbst und Jonas zu beruhigen, sagte sie:

»Bestimmt ist sie auf irgendeinem Boot und hat die Zeit vergessen. Du weißt ja, wie Teenager sind.«

Sie merkte, dass ihre Worte keinen Unterschied machten.

»Willst du die Polizei informieren?«, fragte sie hastig. »Ich kann Thomas anrufen. Er ist ja auf Harö.«

»Nein, es ist mitten in der Nacht. Du hast wohl recht, sicher ist sie auf einem Boot und feiert.«

Ohne noch etwas zu sagen, ging er in die Diele und nahm seine Jacke vom Haken. In der Stille hörte Nora, wie die Haustür ins Schloss fiel.

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Kapitel 10

Adrian überprüfte den Sitz seines Ohrhörers, während er auf den großen Wohnwagen zuging, der als mobile Polizeistation diente. Er stand an der Ecke zum Seglerhotel, an der Einmündung der Allee, die parallel zur Strandpromenade verlief. Von diesem Wohnwagen aus wurde die Polizeiarbeit während des Mittsommerwochenendes geleitet.

Anna war auf der Toilette, es würde einige Minuten dauern, bis sie zurückkam. Er hoffte, dass drinnen heißer Kaffee bereitstand. Irgendwas, das ein bisschen munterer machte.

Die Müdigkeit drückte auf die Augenlider, obwohl das Adrenalin von der Messerstecherei noch nicht wieder aus seinem Körper verschwunden war. Es hatte eine knappe Stunde gedauert, die Nachwirkungen der tätlichen Auseinandersetzung zu bearbeiten. Adrian und Anna kamen gerade von der Zollbrücke, wo sie den Messerstecher an eines der Polizeiboote übergeben hatten, das ihn nach Söder in die Untersuchungshaft bringen würde. Das Arztboot war glücklicherweise zur selben Zeit gekommen, die Besatzung war jetzt dabei, den Verletzten zu versorgen. Zwei betrunkene Minderjährige waren an den Sozialdienst übergeben worden, und außerdem hatte man die Namen und Personennummern aller bei dem Vorfall Anwesenden aufgenommen.

Die Bereitschaft, eine Zeugenaussage zu machen, war wie üblich gering, und die Fähigkeit, sich an etwas Wichtiges zu erinnern, womöglich noch geringer, aber wenigstens hatten sie die notwendigen Angaben für die kommende Untersuchung des Vorfalls aufgenommen. Um alles Weitere sollten sich andere kümmern.

Noch konnte Adrian keine Anzeichen dafür erkennen, dass die Feierstimmung abflaute. Die Lokale würden erst in einer Viertelstunde schließen, um zwei Uhr. Die letzte Fähre in die Stadt legte zur selben Zeit ab, und für gewöhnlich wurde es turbulent, wenn die Gäste aus den Kneipen strömten und gleichzeitig Hunderte betrunkener Jugendlicher versuchten, sich zur Fähre durchzukämpfen.

Danach würde es ruhiger werden, zumindest für dieses Mal. Zum Glück dauerte es ein ganzes Jahr bis zum nächsten Mittsommerfest.

Er wollte gerade in den Wohnwagen steigen, als hinter seinem Rücken eine helle Stimme erklang.

»Entschuldigung?«

Adrian nahm den Fuß von der untersten Treppenstufe und drehte sich um.

Ein zierliches dunkelhaariges Mädchen von etwa sechzehn Jahren stand einen Meter hinter ihm. Sie trug eine Jacke aus blauem Jaquardstoff mit glatten Revers und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als sei ihr kalt.

»Ja?«

»Ich suche meine Freunde«, sagte das Mädchen unsicher. »Ich kann sie nirgends finden. Können Sie mir helfen?«

Ohne Vorwarnung brach sie in Tränen aus. Sie presste die Hand auf den Mund, wie um die Kontrolle zu behalten, und stieß schluchzend hervor: »Ich suche sie seit Stunden. Erst dachte ich, sie wären schon weg, aber jetzt mache ich mir wirklich Sorgen. Keiner von ihnen ist ans Handy gegangen, ich habe immer wieder angerufen, und jetzt ist mein Akku leer.«

Adrian verdrängte seine Müdigkeit.

»Ganz ruhig«, sagte er. »Komm mit rein und erzähl, was passiert ist.«

Er zeigte auf den Wohnwagen, und das Mädchen stieg vor ihm die Treppe hoch.

»Setz dich«, sagte er freundlich und zeigte auf das lange braune Ledersofa unter dem Fenster.

Es war ein funktioneller Raum, schlicht, aber mit allem Notwendigen ausgestattet. Gegenüber des Sofas stand ein Schreibtisch mit zwei Laptops. An einer weißen Tafel hatte jemand die Anzahl der im Laufe der Nacht festgenommenen Personen notiert, außerdem die Zahl der in Gewahrsam genommenen Personen gemäß LOB – dem Gesetz zur Inobhutnahme Betrunkener. Im Moment waren das mehr als ein Dutzend.

Der Einsatzleiter dieses Wochenendes, Jens Sturup, saß am Schreibtisch und telefonierte leise, während er vor sich auf dem Laptop eine Personennummer kontrollierte. Er wandte den Blick nicht vom Bildschirm, als sie hereinkamen, hob aber grüßend die Hand.

Adrian riss ein Blatt von der Küchenrolle neben der Kaffeemaschine und reichte es dem Mädchen.

»Willst du Kaffee?«, fragte er und goss sich selbst eine Tasse ein. Der Kaffee roch ein bisschen angebrannt, wahrscheinlich stand er schon lange auf der Platte.

Das Mädchen schnäuzte sich und schüttelte den Kopf.

»Lieber ein Wasser?«

Sie nickte, und Adrian füllte einen Plastikbecher und gab ihn ihr.

»Wie heißt du?«

»Ebba«, kam es leise. »Ebba Halvorsen.«

»Wie alt bist du, Ebba?«

»Sechzehn. Ich habe gerade die neunte Klasse abgeschlossen.«

Adrian setzte sich auf den einzigen freien Stuhl.

»Was ist passiert, Ebba?«

Das Mädchen kämpfte immer noch mit den Tränen, schaffte es aber, einige Schlucke Wasser zu trinken.

Leise sagte sie: »Wir sind gestern hierhergekommen, am Mittsommerabend. Mit dem Boot.«

»Wessen Boot? Deinem?«

»Nein, Christoffers. Eigentlich gehört es seinem Vater. Wir durften es übers Wochenende leihen. Zuerst war alles ganz toll, wir sind gestern zum Mittsommerbaum gegangen und haben getanzt und ein Picknick im Gras gemacht.«

Ebba umklammerte den Wasserbecher.

»Danach haben wir den ganzen Abend gefeiert, aber nicht übermäßig. Das war echt ziemlich cool. Jedenfalls eine Zeit lang.«

Adrian betrachtete sie nachdenklich. Sie hatte ein Bein unter den Po gezogen, ihre offenen Haare waren ein wenig zerzaust.

»Wann hörte es auf, cool zu sein?«

»Heute. Am Nachmittag. Die Jungs haben gleich nach dem Aufwachen angefangen zu trinken. Immer und immer mehr, sie haben gar nicht mehr aufgehört, man konnte überhaupt nicht mit ihnen reden. Irgendwann hatte ich es satt und bin gegangen.«

»Wie spät war es da?«

Ebba wandte den Kopf ab.

»Ich weiß nicht genau, vielleicht sechs oder sieben.«

»Wohin bist du gegangen?«

»Zum Strand, nicht zu dem in Trouville, zu dem anderen, der näher am Ort ist.«

»Fläskberget«, warf Adrian ein.

»Mhm. Ich hab eine Weile da gesessen, und irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich aufgewacht bin, wollte ich am liebsten nach Hause, aber die nächste Fähre ging erst in ein paar Stunden. Also bin ich zurück, um nach meinen Freunden zu sehen, aber da war keiner. Das Boot war verlassen und verschlossen.«

Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.

»Was hast du dann gemacht?«, fragte Adrian.

»Ich habe mich aufs Achterdeck gesetzt und gewartet, aber nach einer Weile bin ich los, um sie zu suchen. Ich habe immer wieder angerufen, aber keiner ist drangegangen, und am Ende war mein Akku leer.«

»Wie spät war es da?«

»Nach elf, glaube ich. Die Sonne war schon untergegangen.«

»Was ist dann passiert?«

»Ich bin zu den Aufpassern vor dem Festzelt gegangen, um zu fragen, ob sie meine Freunde gesehen hatten, aber sie wollten mir nicht helfen, und reingehen und nachsehen durfte ich auch nicht. Die letzten Stunden bin ich immer wieder alle Stege abgelaufen, um sie zu finden.«

Ebba begann wieder zu schluchzen. Adrian stand auf und holte mehr Küchenpapier.

»Danke«, sagte sie leise.

»Wie viele seid ihr?«, fragte Adrian. »Wie heißen deine Freunde?«

»Wir sind zu fünft.«

Sie verstummte und machte ein Gesicht, als wüsste sie nicht, ob sie weiterreden sollte.

»Christoffer und sein jüngerer Bruder Tobbe«, sagte sie nach einer Weile. »Und Felicia, das ist meine beste Freundin, und ihr Freund Victor.«

Adrian überlegte.

Die Freunde des Mädchens waren vermutlich auf einem anderen Boot und feierten, vielleicht zusammen mit ein paar neuen Freunden. Unter Alkoholeinfluss schloss man schnell neue Freundschaften, und es war leicht, an einem ganz anderen Steg zu landen als dem eigenen. Oder vielleicht waren sie auch zum Strand von Skärkarlshamn gegangen, das war ein beliebter Aufenthaltsort der Jugendlichen, nicht zuletzt der Camper. Die Polizei schaute dort regelmäßig vorbei, aber in diesem Jahr hatte es dort keine Vorfälle gegeben.

Falls sie stark betrunken waren, hatten sie vielleicht nicht gehört, dass ihre Handys klingelten, ganz egal, wo sie sich befanden. Aber merkwürdig war es doch, dass anscheinend alle auf einmal verschwunden waren.

Anna tauchte vor der offenen Wohnwagentür auf.

»Das hier ist Ebba«, sagte Adrian. »Ihre Clique ist verschwunden. Sie hat sie seit mehreren Stunden nicht mehr gesehen, ungefähr seit achtzehn Uhr.«

Ebba wischte sich mit dem Handrücken eine Träne ab.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Anna. »An diesem Wochenende ist hier der Teufel los, da kann man sich leicht aus den Augen verlieren, besonders jetzt, wo es dunkel ist.«

Sie lehnte sich an den Türrahmen.

»Kannst du deine Freunde ein bisschen näher beschreiben? Vielleicht sind wir ihnen heute Abend begegnet.«