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Schon in der Antike genutzt und heute wissenschaftlich bestätigt: Kraut und Wurzel des Beinwells wirken schmerzstillend, wundheilend und entzündungshemmend. Sie helfen bei Prellungen, Wunden, Knochenbrüchen und Rheuma. Aber nicht nur das: Dank Kieselsäure, Allantoin und Schleimstoffen pflegt und regeneriert die vielseitige Heilpflanze auch die Haut. Als nährstoffreicher Dünger verhilft sie schliesslich dem Garten zu neuem Schwung. Höchste Zeit also, sich die Fähigkeiten dieser Pflanze, die auch als Wallwurz bekannt ist, zunutze zu machen. Regine Ebert stellt in ihrem detaillierten Pflanzenporträt verschiedene Beinwell-Arten vor – von der Wildform über den Comfrey bis hin zum »Feinschmecker-Beinwell«. Sie präsentiert Rezepte für Hausapotheke, Küche und Garten. Und sie gibt Tipps und Anleitungen, um diese erstaunliche Pflanze zu sammeln, selbst anzubauen, zu verarbeiten und sicher anzuwenden. Entdecken Sie mit diesem Buch den Beinwell für sich.
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Seitenzahl: 271
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Regine Ebert
KNOCHENHEILER AUS DER PFLANZENWELT
Anwendung in Heilkunde, Küche, Kosmetik und Garten
Hinweis
Die in diesem Buch aufgeführten Behandlungsmethoden können und sollen weder eine ärztliche Konsultation noch die individuelle Beratung durch ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten ersetzen. Die Einnahme der beschriebenen Heilmittel und Rezepturen sowie das Befolgen der Therapieempfehlungen geschieht auf eigene Verantwortung. Bei Unklarheiten ist das Vorgehen unbedingt mit der behandelnden Ärztin oder dem Therapeuten zu besprechen. Sämtliche Informationen in diesem Buch sind nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben; dennoch übernehmen weder Autorin noch Verlag die Haftung für Schäden jedweder Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier vorgestellten Anwendungen ergeben könnten.
© 2022
AT Verlag AG, Aarau und München
Lektorat: Stefanie Teichert
Layout: Giorgio Chiappa
Bildbearbeitung: Vogt-Schild Druck, Derendingen
ISBN E-Book 978-3-03902-142-0
www.at-verlag.ch
Der AT Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Vorwort
Botanik, Inhaltsstoffe, Heilkunde
Ein Jahr mit dem Beinwell
Winter
Frühjahr
Sommer
Herbst
Beinwell in der Medizingeschichte – von der Antike bis heute
Sein Name ist Programm
Vertrauen in den Knochenheiler
Hildegard von Bingen
Heilung für den Wundenmann
Stärkung für die Lunge
Magen, Darm und Hämorrhoiden
Wallwurzwasser – ein frühes Hydrolat des Beinwells
Beinwell im 20. und 21. Jahrhundert
Beinwell oder Comfrey? Unterscheidung der wichtigsten Arten
Der Raue – Symphytum asperum
Der Wilde – Symphytum officinale
Der Vielfältige – Symphytum uplandicum (Comfrey)
Der Fremde – Symphytum peregrinum
Der Knoten-Beinwell – Symphytum tuberosum
Der Knollen-Beinwell – Symphytum bulbosum
Der Sumpf-Beinwell – Symphytum officinale ssp. uliginosum
Der Kaukasus-Beinwell – Symphytum caucasicum
Der Bodendecker – Symphytum grandiflorum
Inhaltsstoffe
Kieselsäure
Allantoin
Schleimstoffe
Gerbstoffe und Phenolsäuren
Chlorophyll
Proteine
Cholin
Vitamine
Mineralstoffe und Spurenelemente
Weitere Inhaltsstoffe
Pyrrolizidinalkaloide
Inhaltsstoffe, ganzheitlich betrachtet
Wesen und Signatur des Beinwells
Signaturen – die Zeichensprache der Pflanzen
Saturnsignaturen in Pflanzen
Beinwellsignaturen lesen und verstehen
Die Vier-Elemente-Lehre
Beinwell auf der Seelenebene
Wahrnehmungsübung
Heilwirkung
Beschwerden des Bewegungsapparats
Wundheilung
Weitere Anwendungen
Vorgaben für den medizinischen und therapeutischen Gebrauch
Anwendung bei Kindern
Nebenwirkungen
Beinwell in der Homöopathie
Herstellung der homöopathischen Heilmittel
Urtinktur zur äußeren Anwendung
Globuli zur inneren Anwendung
Symphytum bei der Einnahme von Hochpotenzen
Praktische Anwendung in Heilkunde, Kosmetik, Küche und Garten
Beinwell sammeln und verarbeiten
Wurzelernte: Vom richtigen Zeitpunkt
Blatternte: Nur die schönsten Blätter pflücken
Wurzeln und Blätter trocknen und aufbewahren
Ölauszüge
Tinkturen
Abkochungen/Tee
Salben und Cremes
Bäder
Auflagen, Kompressen und Wickel
Beinwellgips
Schüttelemulsion
Hydrolat
Beinwellrezepte für die Gesundheit
Ölauszüge
Tinkturen
Salben und Cremes
Auflagen, Kompressen und Wickel mit Beinwellwurzel
Emulsionen
Beinwell in der Kosmetik
Erholung für gestresste Haut
Mund- und Zahnpflege
Kulinarisches mit Beinwell
Vom Kriegsgemüse zur Sterneküche
Eiweiß in Mengen
Beinwell küchenfertig zubereiten
Rezepte
Magischer Beinwell
Wurzel-Amulette
Magische Bräuche
Märchen und Sagen
Räuchern mit Beinwell
Auf dem Stövchen
Auf der Kohle
Beinwell für Tiere
Futter für Esel und Elefanten
Heilt Bänder, Sehnen und Gelenke
Beinwell im Garten
Aussaat und Vermehrung
Standort
Insektenbesuch
Gartendünger aus Comfrey-Blättern
Wachstumshelfer für Stecklinge und Baumbast
Nährstoffe für den Nährstofflieferanten
Nachweise
Literatur
Dank
Die Autorin
Stichwortverzeichnis
Zugegeben, es war nicht unbedingt Liebe auf den ersten Blick. Als ich ihn kennenlernte, kam mir der Beinwell viel zu rau und sperrig vor. Beeindruckend war jedoch das Geräusch, das die Wurzel macht, wenn man sie ausgräbt: »Knacks« – wie ein brechender Knochen. Als ich dann noch erfuhr, dass er einen gebrochenen Knochen wieder heilen kann, hatte er mein Herz gewonnen.
Heute weiß ich aus eigener Erfahrung, dass Beinwell schnell und zuverlässig bei fast allen Beschwerden des Bewegungsapparates helfen kann. Er ist immer da, wenn er gebraucht wird, denn er wächst üppig und nimmt auch häufiges Ernten nicht übel. Und er ist ein nährstoffreicher Dünger für den Garten, der Gemüsepflanzen kräftig und widerstandsfähig macht.
Doch gleich ein ganzes Buch über Beinwell? Die Idee dazu entstand durch ein Projekt meiner ersten Kräuterlehrerin Doris Grappendorf. Sie hat eine Ausbildungsreihe ins Leben gerufen, bei der man sich jedes Jahr intensiv mit einer Pflanze beschäftigt. Neun Pflanzen sind es insgesamt. Seit einigen Jahren unterrichte ich nach diesem Konzept, und es ist immer wieder faszinierend zu sehen, welch tiefe Verbindung zu einer Pflanze auf diesem Weg entstehen kann.
Wir sammeln altes und neues Wissen über die jeweilige Pflanze, erleben sie vom Frühjahr bis zum Herbst. Wir sehen den Boden, auf dem sie wächst, den Standort, an dem sie sich wohlfühlt, schauen uns die Pflanzengemeinschaft und die Tiere an, die sie besuchen. Wir erfahren, wie sich Geschmack, Geruch und Aussehen im Jahreslauf verändern. Jede Jahreszeit hat ihre eigene Qualität, und die Heilmittel, die wir herstellen, spiegeln genau das wider.
Es ist ein Weg, der wieder zu einem ganzheitlichen Verständnis einer Heilpflanze führen kann und der uns zeigt, dass wir selbst Teil dieses Prozesses sind. Gerade beim Beinwell ist es wichtig, ihn wirklich gut zu kennen, nicht nur aus Büchern, sondern durch eigene Anschauung und Erfahrung, um ihn im richtigen Maß nutzen zu können. Er ist und bleibt eine wertvolle und starke Heilpflanze, auf die wir nicht verzichten können.
Als ich mit den Recherchen für dieses Buch begann, habe ich eine Arbeitsgruppe gegründet, die mit mir genau diese Entwicklung durchlaufen hat. Die Ideen und die Faszination der Teilnehmerinnen und ihre Erlebnisse mit der Pflanze haben mich immer wieder überrascht und begeistert. Sie sind in das Buch als Rezepte, Fotos, teilweise auch als Erfahrungsberichte mit eingeflossen. Sie haben es reicher gemacht.
Rau und sperrig? Ja, das ist er, der Beinwell. Doch gleichzeitig von einer überbordenden Vitalität und Lebenskraft, die er freigiebig verteilt. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Freude beim Kennenlernen dieser ganz besonderen Pflanze.
Regine Ebert
September 2021
Zwei grüne Beinwellspitzen schauen aus dem Schnee heraus. Es ist Januar, ein kalter Tag im Taunus. Ich stehe auf einer versteckten Waldlichtung, die für das Wild freigehalten wird. Von meinen früheren Besuchen weiß ich, dass dieser Platz ein Paradies für Kräuter ist – für Huflattich, Johanniskraut, Wilde Möhre, Dost, Beifuß, Kreuzlabkraut und viele andere Arten. Am Rand der Lichtung hat der Beinwell ein großes Feld erobert. Vielleicht wurde dort einmal ein Wurzelstückchen zusammen mit Gartenabfällen abgeladen, denn es ist kein wirklich typischer Standort für das Raublattgewächs. Normalerweise siedelt er gerne auf Feuchtwiesen, in Auenlandschaften, an Bachsäumen und Uferböschungen. Er mag nährstoffreichen, humosen Lehmboden. Aber er hat genug Kraft, sich auch an weniger günstigen Standorten zu behaupten.
Im Winter zieht er sich komplett unter die Erde zurück. Doch dieser Winter war recht mild, und so sind die ersten Spitzen schon wieder zu sehen, lange vor der Zeit. Vorsichtig berühre ich einen Austrieb. Ganz leicht bricht er direkt über dem Boden ab, fast so, als hätte er eine Sollbruchstelle eingebaut. Die eingerollten Blättchen fühlen sich frisch und saftig an und schmecken genauso, wie sie aussehen – ein bisschen schleimig außerdem, ein typisches Kennzeichen dieser Pflanze.
Die meisten Triebe, die ich entdecke, sehen schon ein wenig abgenagt aus. Da scheinen noch andere auf den Geschmack gekommen zu sein. Viele Tiere sind hier unterwegs, der Boden ist uneben und voller Löcher. An einem dieser Trittlöcher hat das Wild einen Teil der Beinwellwurzeln freigelegt. Geschadet hat es ihnen nicht, sie wachsen weiter, als sei nichts geschehen.
Ein paar Tage später besuche ich den Beinwell in meinem Garten. Es ist ein Comfrey, der so genannte Garten- oder Futterbeinwell. Auch er schiebt schon die ersten Spitzen durch die halb verrotteten Blätter vom Vorjahr. Dazwischen, fast hätte ich sie übersehen, liegen zwei Wurzelstückchen. Sie müssen den ganzen Winter über dort gelegen haben, ich habe sie beim Wurzelgraben wohl vergessen. Wie alte Ästchen sehen sie aus – braun, nass und modrig. Aber sie fühlen sich immer noch fest und lebendig an.
Mit Kälte kann er gut umgehen: Frische Beinwelltriebe zeigen sich sogar im Winter.
Beim Anschneiden zeigt sich das weiße Innere der Wurzel, und fröhlich teilt mir der Beinwell mit: »Hey, ich liege zwar seit Monaten hier auf dem kalten, nassen Boden herum, aber ich bin voller Kraft. Und wenn du mir jetzt ein bisschen Erde gibst, dann lege ich richtig los!« Es gibt wohl kaum eine Pflanze, die so voller Vitalität steckt wie der Beinwell. Die Wurzel ist verletzt? »Kein Problem, ich wachse trotzdem.« In der Mitte durchgebrochen? »Umso besser, ich verdopple mich.« Selbst kleinste Wurzelstückchen, in die Erde gesteckt, werden fast immer eine neue Pflanze hervorbringen.
Bei der Beschreibung der Wurzel sind manche Autoren fast poetisch geworden: kohlschwarz von außen – weshalb die alten Kräuterkundigen ihn auch »Schwartzwurz« nannten –, im Inneren aber »lilienweiß« (Kölbl 1961, S. 36). Auf solche Gegensätze werden wir beim Beinwell noch häufiger stoßen.
Der Wurzelstock einer älteren Pflanze ist kräftig und stark verzweigt. Einzelne Wurzeln können bis zu drei Zentimeter dick werden und über einen Meter in die Tiefe reichen, bei manchen Beinwellarten bis zu vier Metern. Eine ältere Pflanze ganz auszugraben, ist deshalb kaum möglich. Nur bei den jungen, ein- bis dreijährigen Pflanzen kann es gelingen, sie komplett aus der Erde zu ziehen.
Ein Teil der Wurzel liegt frei, dem jungen Trieb schadet das nicht.
Ein Ausbund an Vitalität: Schon unter der Erde zeigt sich neues Leben.
Eine Pflanze voller Gegensätze: außen schwarz, innen weiß wie eine Lilie.
Beinwell gehört zur Familie der Raublattgewächse (Boraginaceae), zusammen mit Borretsch, Lungenkraut, Natternkopf, Ochsenzunge und einigen anderen. Auch das Vergissmeinnicht zählt dazu. Raublatt – das ist ganz wörtlich zu nehmen. Die älteren Blätter und Stängel des Beinwells fühlen sich fast wie Schmirgelpapier an. Sie sind mit stabilen Borsten besetzt, je nach Art mehr oder weniger.
Im Frühjahr, wenn die ersten Blätter sprießen, wird er in der Wiese oft übersehen. Kein Wunder, eine Schönheit ist er in diesem Stadium nicht. Meist sieht er ein bisschen unordentlich aus, kreuz und quer stehen seine Blätter durcheinander. Ganz im Gegensatz übrigens zum giftigen Fingerhut, der im frühen Stadium zwar ähnliche Blätter hat, sie aber wohl sortiert in einer ordentlichen Rosette anordnet. Zudem sind die Blätter des Fingerhuts samtweich und am Rand gekerbt – noch ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal zum Beinwell. Eher ähneln die Beinwellblätter denen des Alant, mit denen sie auch früher hin und wieder verglichen wurden.
Wer ist wer? Eine wohl geordnete Rosette und gekerbte, weiche Blätter kennzeichnen den Fingerhut.
Beinwellblätter sind rau, ganzrandig – und wirken immer ein bisschen unordentlich.
Drei oder vier Wochen nach den ersten Blättern schiebt der Beinwell dann die Blütenstängel in die Höhe. Fährt man mit dem Finger daran entlang, so fühlen sie sich entweder rau und borstig an oder fein und weich – je nachdem, ob man von oben nach unten streicht oder umgekehrt. Jetzt muss die Lupe her, und beim genauen Hinschauen sehen wir: Die Borstenhaare zeigen allesamt nach unten, zum Boden hin. »Diese stechenden Gebilde sind mehr oder weniger rückwärts gerichtet und von doppelter Form«, heißt es dazu in Schmeils Leitfaden der Botanik von 1909, »neben sehr großen, mehr geraden finden sich kleinere von der Gestalt eines Gemshornes«. Das ist ein wichtiges Detail, denn es kann dabei helfen, die unterschiedlichen Beinwellarten auseinanderzuhalten. Doch davon später mehr.
Borstenhaare in Form eines Gemshorns – so sahen die Botaniker um 1900 den Beinwell.
Und sie hatten recht: Ob lang oder kurz, alle Borsten zeigen nach unten.
Auch Schnecken lieben den Beinwell, besonders die Sorte ‘Bocking No. 4’.
Es ist vor allem die Kieselsäure, die seine Borsten so rau und widerspenstig macht. Unsere Vorfahren haben sich das zunutze gemacht und Beinwellblätter über Nacht als Ungezieferfallen ausgelegt, in denen Wanzen und Flöhe hängenblieben und am Morgen entsorgt werden konnten (Bock 1577/1964, S. 88).
Botaniker gehen davon aus, dass sich der Beinwell durch sein raues Äußeres gegen Tierverbiss und Insektenfraß schützt. Auch den Schnecken falle es schwer, am Stängel emporzukriechen: »Die langen, scharfen Borsten dringen […] wie Lanzenspitzen in die weiche ›Kriechsohle‹«, heißt es dazu im Schmeil. Doch Beinwellblätter schmecken gut, und Schnecken finden immer einen Weg. Junge Pflanzen des wilden Beinwells und auch der Comfrey, der eine etwas weichere Behaarung hat, sind nicht vor ihnen sicher. Meine Beobachtung ist, dass sich Schnecken zielsicher für die Sorte ‘Bocking No. 4’ entscheiden, wenn sie die Auswahl haben. Es ist die Art, die unter Kräutergärtnern als »kulinarische Sorte« gilt.
Der Beinwell blüht im »Brachmonat« und im »Heumonat« – so steht es in den alten Kräuterbüchern, gemeint sind Juni und Juli. Doch das hat sich ein wenig verändert. Schon im Mai beginnt die Blütezeit, und wenn er geschnitten wird, dauert sie bis Ende August, je nach Lage auch bis in den September hinein.
Fast wie ein Schneckenhaus sehen die eingerollten Knospenstände aus, manche vergleichen sie mit einem Skorpionschwanz. Der Fachbegriff dafür ist zweistrahliger Wickel oder auch Wickeltraube. Sie stehen in den Blattachseln der oberen Stängelblätter. Sogar die Knospen und die fünfzipfeligen Kelchblätter sind dicht behaart, so wie ein schlecht rasierter Bart. Doch sobald sich die ersten Blüten zeigen, ahnt man, dass noch eine andere Seite im Beinwell steckt. Plötzlich kommt Farbe ins Spiel, ein zartes Violett, ein Cremeweiß oder Rot in verschiedenen Schattierungen. Mit jeder Blüte, die sich öffnet, entrollt sich der Wickel etwas mehr, und der Beinwell zeigt sich in einer Schönheit, der sich kaum jemand entziehen kann. Vielleicht ist es gerade dieser Gegensatz zwischen ruppig und zart, verletzlich und widerspenstig, der die Menschen so berührt, wenn sie sich Zeit nehmen, einen blühenden Beinwell genauer zu betrachten.
Wenn sich die aufgerollten Knospenstände langsam öffnen, zeigt sich der Beinwell von seiner zarten Seite, wie hier der Comfrey.
Beim blau blühenden Wilden Beinwell sind auch die geschlossenen Knospen dunkelviolett gefärbt.
Wie kleine Glocken zeigen die Blüten mit der Öffnung zum Boden hin. Auf diese Weise sind die Pollen und das Blüteninnere vor Regen geschützt. Weil sich die Blüten erst nach und nach öffnen, finden Insekten über viele Wochen hinweg Nahrung. Unsere Vorfahren haben vom Beinwell-Weibchen, der weiß blühenden Art, und dem Beinwell-Männchen, der blauviolett blühenden Art, gesprochen (Flamm et al. 1949, S. 41). Bei den Gartenformen sind vielfältige Schattierungen möglich, und manchmal sind auch sie schon verwildert zu finden.
Auffällig ist, dass bei der dunklen Variante die Blütenfarbe von rötlich bis zum dunklen Blau wechseln kann. Ein wunderschönes Farbenspiel, das auch bei anderen Vertretern der Raublattgewächse, etwa dem Lungenkraut, zu beobachten ist. Verantwortlich dafür sind Pflanzenfarbstoffe, die – je nach pH-Wert der Blüten – von sauer (rot) zu basisch (blau) changieren und den Insekten Auskunft über den Reifezustand der Blüten geben: Ist schon genug Nektar vorhanden? Lohnt sich der Anflug überhaupt?
Beim Beinwell ist das eine wichtige Frage, denn er macht es den pollen- und nektarsuchenden Insekten nicht leicht. Er hat einen Mechanismus entwickelt, der nur langrüsseligen Hummeln Zugang gewährt und der sicherstellt, dass die Besucher beim Abflug auch genügend Pollen mitnehmen. »Schlundschuppen« nennt man diese raffinierte Vorrichtung im Inneren der Blüte.
Bienen wählen den einfachen Weg: Sie nutzen die von Hummeln in die Blüte gebissenen Löcher und holen sich auf diesem Weg den Nektar.
Die Schlundschuppen – fünf Einbuchtungen im Innern der Blüte – verengen den Zugang zum Nektar, wie hier beim Wilden Beinwell.
Sogar diese Schlundschuppen sind mit Borsten besetzt, wie hier in der Comfrey-Blüte.
Stacheliges Innenleben: Deutlich sind die fünf Staubblätter mit den Pollenkörnern und dazwischen die fünf Schlundschuppen zu sehen. Das Bild zeigt eine Blüte des weiß blühenden Wilden Beinwells.
Vom Kelchrand aus stülpen sich an fünf Stellen kleine Einbuchtungen nach innen und verengen den Zugang. Sogar diese Schuppen sind mit Borsten besetzt, sodass die Hummeln den Kontakt damit möglichst vermeiden. Sie führen ihren langen Rüssel genau mittig zwischen den Schlundschuppen hindurch und drücken dabei die Staubblätter auseinander, um zum Nektar vorzudringen. Dabei fällt ihnen Blütenpollen auf den Kopf, den sie dann zur nächsten Blüte mitnehmen.
Weil das auf Dauer richtig anstrengend ist, bietet ihnen der Beinwell eine Einstiegshilfe: Die fünf Zipfel der Blütenkrone sind nach außen zurückgebogen, sodass sich die Hummeln dort gut festhalten können. Übrigens sind auch die Schlundschuppen ein Unterscheidungsmerkmal, je nach Beinwellart können sie länger oder kürzer als die Blütenkrone sein.
Kurzrüsselige Hummeln lassen sich davon jedoch nicht abhalten. Sie beißen einfach von außen ein Loch in die Blütenröhre, durch das sie den Saugrüssel direkt zum Nektar führen. So lässt sich täglich das gleiche Schauspiel beobachten: Hummeln, die zielsicher ihre vorgebohrten Löcher ansteuern, neben vielen Bienen, die diesen einfachen Einstieg nutzen.
Wenn die Samen reif werden, fällt die Blütenkrone zu Boden und gibt den Blick in den Kelch frei. Auffällig ist der lange Griffel, der wie eine Antenne aus dem Kelch herausragt. Und noch etwas fällt ins Auge: Der Blütenwickel rollt sich so weit auf, dass der Kelch mit den reifenden Samen direkt nach oben zeigt – ein besonderer Moment, und der einzige, in dem diese so sehr der Erde zugewandte Pflanze sich ganz dem Himmel zu öffnen scheint.
Um die Griffelspitze herum entwickeln sich die sogenannten Klausenfrüchte. Sie heißen so, weil sie während der Reife in mehrere Nüsschen oder Klausen zerfallen. Das ist typisch für die Raublattgewächse. Im Fall des Beinwells entstehen vier Klausen pro Blüte, jede bis zu fünf Millimeter lang und schwarz-glänzend gefärbt. Nun verlängern sich die borstigen Kelchblätter noch ein wenig und legen sich bis zur endgültigen Samenreife schützend über die Nüsschen. Denn diese bergen ein kleines Geheimnis: Manche Samen tragen an der Seite ein Ölkörperchen (Elaiosom), der ein Leckerbissen für Ameisen ist, die sie deshalb gerne wegschleppen und damit zur Verbreitung des Beinwells beitragen. Zusätzlich enthalten die Samen eine Luftblase, sodass sie auch auf dem Wasserweg reisen können, ohne unterzugehen (Lüder und Lüder 2017, S. 132).
Als hätten sie ihre Arbeit nun getan, neigen sich die Blütenstängel zur Seite und fallen schließlich einfach um. Die Blätter sind unansehnlich geworden und haben ihre kräftige Farbe verloren. Jetzt legt der Beinwell eine kurze Ruhepause ein. Doch schon ein paar Wochen später schiebt sich aus dem Gewirr der verrottenden Blätter die nächste Blattgeneration aus der Erde, während die alten Blätter rundum für gute Düngung sorgen.
Sobald die Blütenkrone abgefallen ist, streckt sich der Kelch nach oben, dem Himmel entgegen. Wie eine Antenne ragt der lange Griffel heraus.
Gleich nach der Blüte zeigt sich in der Mitte der Beinwellstaude schon ein neuer Austrieb.
In vielen Gärten und auf den meisten Wiesen kommt es jedoch gar nicht so weit, denn oft wird schon kurz vor oder während der Blüte gemäht oder geschnitten. Schaden tut das dem Beinwell nicht. Nach jedem Schnitt hält er kurz inne, um dann umso kräftiger wieder auszutreiben. Beim Comfrey sind mehrere Schnitte im Jahr möglich – ob man nun das Blattmaterial als Dünger für den Garten braucht oder ob man einfach nur möchte, dass er das ganz Jahr über hübsch aussieht und mehrmals blüht.
Irgendwann zwischen September und Oktober – je nach Wetter – geht dann auch die Blütezeit zu Ende. Der Beinwell bereitet sich auf den Winter und seine Ruhepause vor. Die Blätter werden langsam braun und löchrig und verlieren an Lebenskraft. Bis zum ersten Frost halten sie durch und versorgen den Wurzelstock mit Nährstoffen. Doch dann machen auch sie schlapp, werden matschig und unansehnlich. Dennoch erfüllen sie weiterhin ihren Zweck: Sie schützen die bodennahen Wurzeln und später die frühen Austriebe vor dem Frost. Sie dienen Kleinstlebewesen in der kalten Jahreszeit als Unterschlupf. Und in ihrem langsamen Vergehen geben sie immer noch Nährstoffe an die Erde ab. Deshalb sollten sie am besten einfach rund um die Pflanze liegenbleiben, selbst wenn es zwischendurch nicht so schön aussehen mag.
Nur ein paar vertrocknete Blütenstängel bleiben noch eine Weile aufrecht stehen. Während die Fasern nach und nach weicher und biegsamer werden, scheint die Zeit an den rauen, nach unten zeigenden Kieselsäureborsten fast spurlos vorüberzugehen. Noch weit bis ins nächste Frühjahr sind sie deutlich zu erkennen und zeigen den Standort des Beinwells an.
Die rauen Stängel überdauern den Winter. Noch im Frühjahr sind die Borstenhaare gut erkennbar.