Benjamin (Deutsche Version) - Elias J. Connor - E-Book
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Elias J. Connor

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Beschreibung

Dies ist die Lebensgeschichte von Benjamin Foster, einem einstigen Alkoholiker, dessen Weg von Turbulenzen und Dramatik gezeichnet ist. Begleite ihn auf seiner Reise, die von seiner treuen Patentochter Crystal und seiner unerschütterlichen Liebe zu Jane, einer autistischen Frau, die er später in seinem Leben kennenlernt, geprägt ist. In diesem Tagebuch-Roman enthüllt der Autor Elias J. Connor zusammen mit seiner Co-Autorin Sweetie Willow eine Geschichte, die auf wahren Ereignissen beruht und kaum packender sein könnte. Durch Benjamins Begegnungen mit Grenzen, die er nie zuvor kannte, und einem tiefen Geheimnis aus seiner Vergangenheit, dem er fast zum Opfer fiel, erfahren wir von der Kraft von Menschen wie Crystal und Jane. Diese Figuren stehen als Symbole für die Hoffnung und die Möglichkeit der Erlösung für all jene, die noch im Schatten ihrer Vergangenheit verharren. Für diejenigen, die ähnliche Herausforderungen wie Benjamin erlebt haben, möchte der Autor eine Botschaft der Zuversicht übermitteln: Es gibt Menschen da draußen, die an euch glauben, die euch unterstützen und euch zeigen, dass ihr keine Angst haben müsst. Dies ist Elias J. Connors bisher schwierigstes Werk, aber auch das ehrlichste und berührendste. Es ist die wahre Geschichte von Benjamin Foster, die uns lehrt, dass selbst in den dunkelsten Zeiten das Licht der Hoffnung und Menschlichkeit scheinen kann.

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Elias J. Connor

Benjamin (Deutsche Version)

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Wer ist Benjamin?

TEIL 1

Prolog - Das Ende vom Anfang

Kapitel 1 - Mädchen, Mädchen

Kapitel 2 - Das heimliche Spiel

Kapitel 3 - Traum oder Wirklichkeit

Kapitel 4 - Benjamin hat Geburtstag

Kapitel 5 - Im Schwimmbad

Kapitel 6 - Die schlechte Note in Deutsch

Kapitel 7 - Die Nacht woanders

Kapitel 8 - Warum musst du gehen, Natalie?

Kapitel 9 - Sind so kleine Hände

Kapitel 10 - Nachtfahrt

Kapitel 11 - Verloren

Kapitel 12 - Benjamins Geständnis

Kapitel 13 - Keiner soll mich sehen

Kapitel 14 - Versuchter Neuanfang

Kapitel 15 - Die Schwester

Kapitel 16 - Silvester

Kapitel 17 - Eingeschworen gegen alle

Kapitel 18 - Das geheime Treffen

Kapitel 19 - Muss ich wieder zurück?

Kapitel 20 - Böse Erinnerungen

Kapitel 21 - Die Klinik

Kapitel 22 - Nichts als die Wahrheit

Kapitel 23 - Die Werkstatt

Kapitel 24 - Freunde auf ewig

Kapitel 25 - Der Tod der Mutter

Kapitel 26 - Unerwartete Hilfe

Kapitel 27 - Das verlorene Leben

Kapitel 28 - Wohngemeinschaft

Kapitel 29 - Die Gang

Kapitel 30 - Weggeschossen

Kapitel 31 - Warum?

Kapitel 32 - Endstation

TEIL 2

Prolog - Leise Stimmen

Kapitel 1 - Die Kälte in meinem Herzen

Kapitel 2 - Alleine im goldenen Käfig

Kapitel 3 - Ein neuer Weg

Kapitel 4 - Unerreichbar, aber du bist da

Kapitel 5 - Warum hört niemand zu?

Kapitel 6 - Jane hat Geburtstag

Kapitel 7 - Der Bruder

Kapitel 8 - Sind wir heimlich zusammen?

Kapitel 9 - Weit weg von mir

Kapitel 10 - Sie ist wieder da

Kapitel 11 - Neues Leben

Kapitel 12 - Mauern

Kapitel 13 - Benjamins wahrhaftiges Geständnis

Kapitel 14 - Der Ausflug in den Freizeitpark

Kapitel 15 - Hoffnungslos

Kapitel 16 - Gib es auf

Kapitel 17 - Trauriger Herbst

Kapitel 18 - Jane im Nirgendwo

Kapitel 19 - Crystals Schlaflied

Kapitel 20 - Wenn ein Traum Wahrheit wird

Kapitel 21 - Das erste Date

Kapitel 22 - Pandemie

Kapitel 23 - Janes Offenbarung

Kapitel 24 - Crystals Abschied

Kapitel 25 - Das Ende vom Regenbogen

Über den Autor Elias J. Connor

Impressum

Widmung

Für Jana.

Mein Fels in der Brandung.

Mein Licht. Mein Leben.

Danke, dass es dich gibt.

Wer ist Benjamin?

Der Raum strahlt eine ruhige Eleganz aus, mit seinen sanft grau gestrichenen Wänden, die eine beruhigende Atmosphäre schaffen. Ein Hauch von Grün durch Zimmerpflanzen verleiht dem Raum Frische und Leben.

Der Schreibtisch, ein Kunstwerk aus dunklem Holz, steht im Zentrum des Raumes und bietet eine makellose Oberfläche für den PC und andere Arbeitsutensilien. Der PC selbst ist ein schlankes Meisterwerk der Technologie, mit einem großzügigen Bildschirm, der die Arbeit des Mannes erleichtert. Die Tastatur ist leise und reaktionsschnell, während die Maus präzise und leicht zu handhaben ist.

Der Mann sitzt in einem ergonomischen Bürostuhl, der ihn unterstützt und für langanhaltenden Komfort sorgt. Seine Körperhaltung ist aufrecht und konzentriert, während seine Augen intensiv auf den Bildschirm gerichtet sind. Die Tasten klacken leise, während seine Finger über sie gleiten, und er tippt mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit.

Ein paar persönliche Gegenstände zieren den Schreibtisch und geben einen Einblick in das Leben des Mannes. Eine Tasse dampfenden Kaffees steht griffbereit, um ihm Energie zu spenden, während er arbeitet. Ein Notizbuch und ein Stift liegen neben dem PC, bereit, wichtige Gedanken und Ideen festzuhalten. Ein Bilderrahmen mit einem Foto seiner hübschen, liebenswerten Freundin erinnert ihn daran, was wirklich wichtig ist, während er sich in seiner Arbeit vertieft.

Eine moderne Schreibtischlampe wirft ein warmes Licht über den Schreibtisch und beleuchtet sein Gesicht, während er seine Gedanken in die digitale Welt überträgt. Die Stille des Raumes wird nur gelegentlich von dem leisen Summen des PCs unterbrochen.

Trotz der Stille und des scheinbaren Stillstands des Raumes ist die Energie des Mannes spürbar. Er ist vollkommen fokussiert und engagiert, während er seine Ideen in die Tat umsetzt und seine Gedanken in Worte verwandelt. Jeder Tastenanschlag ist ein Schritt vorwärts auf dem Weg zu seinem Ziel, und er arbeitet mit einer Entschlossenheit, die beeindruckend ist.

Die unglaublich schöne Frau auf dem Foto ist meine Freundin Jana. Das gerahmte Bild hängt direkt über meinem Schreibtisch, und jedes Mal, wenn ich am PC sitze, blicke ich es an. Ihr Lächeln ist so bezaubernd. Oh, wie ist es mir nur gelungen, sie zu erobern? Das hätte ich mir Jahre lang, wenn nicht Jahrzehnte lang nicht in meinen kühnsten Träumen vorstellen können.

Kennen gelernt habe ich sie 2017. Das ist jetzt auch schon eine ganze Weile her. Wir waren uns von Anfang an sympathisch, aber wir mussten einen langen Weg gehen und einen harten Kampf kämpfen, bevor wir uns endlich unsere Liebe gestehen konnten und diese auch von all unseren Mitmenschen in unserem nahen Umfeld akzeptiert wurde. Das war wahrlich nicht einfach, denn Jana und ich sind zwei ganz besondere Menschen.

Warum das so ist, das wird im Laufe dieser Geschichte noch erklärt werden. Auch den Weg, den jeder von uns gegangen ist, bevor wir an unserem heutigen Tag, im Hier und Jetzt, ankamen, werde ich in dieser Geschichte erzählen.

Ich bin Benjamin. Natürlich heiße ich nicht wirklich so. Ich heiße in Wahrheit Elias. Und Jana trägt in dieser Geschichte ebenfalls nicht ihren wirklichen Namen. Ich nenne sie Jane, gekommen zu mir, um nach Jahren der Ungewissheit meine Zukunft zu ändern.

Jetzt lehne ich mich zurück, voller Hoffnung, Freude und Kraft für all die Dinge, die nun in der weiteren Zukunft auf mich zukommen sollten. Voller Dankbarkeit für eine liebevolle Freundin wie Jana.

Auch wenn sie da ist – die Endstation... Benjamin Foster hat noch lange nicht seine Endstation gefunden, denn mit jeder erkämpften und erreichten Endstation kommen neue Aufgaben, neue Lebensabschnitte und neue Zeiten auf ihn zu. Neue Endstationen. Denn dort, wo mit jeder verlorenen oder gewonnenen Aufgabe etwas zu Ende gehen mag, beginnt stets etwas Neues.

Ich bin Benjamin – von besonderen Menschen Finn gerufen, von einer sehr liebevollen, ganz besonderen Freundin Harry gerufen – und dies ist meine Geschichte. Das wahre Leben des Benjamin Foster.

TEIL 1

DIE FRÜHEN JAHRE

Prolog - Das Ende vom Anfang

Der nasse Regen plätscherte auf sein Gesicht. Seine Kleidung war dreckig und vom Wasser durchtränkt. In seiner Jeans war ein Riss, aus dem Blut austrat. Seine Jacke war offen, trotz der Kälte, und hing ihm halb vom Körper herunter.

Er lag da, mitten auf der Straße, regungslos und ohnmächtig. Sein Kopf befand sich mitten in einer großen Blutlache, die bereits auch schon seine Haare rot färbte. Das Blut lief langsam den Bordstein herunter, in einen nah gelegenen Kanal hinein.

Er bewegte sich nicht. Würde man genauer hinsehen, könnte man allerdings merken, dass seine Lippen leicht bebten.

Ein anderer Mann hechtete plötzlich aus einem Kiosk heraus, der keine zehn Schritte von der Stelle entfernt war, wo der Mann lag. Sofort packte er einen seiner Arme und versuchte, ihn anzuheben.

„Hallo?“, fragte er. „Können Sie mich hören?“ Der Mann reagierte nicht.

„Hallo“, sagte der andere Mann wieder, der offenbar in dem Kiosk arbeitete.

Dann nahm er das Handy aus seiner Tasche und wählte die Nummer des Notrufs.

„Ja“, sagte er schließlich ins Telefon. „Ich bin gerade vor meinem Kiosk in der Nähe vom Bahnhof. Hier liegt ein unbekannter Mann, vielleicht Mitte bis Ende 30, verletzt auf dem Bürgersteig. Er ist wahrscheinlich gestürzt und hat eine ziemlich schwere Kopfverletzung. Er reagiert nicht, wenn ich ihn anspreche.“

„Wo sind Sie genau?“, fragte die Frau am anderen Ende des Telefons.

„In der Buchenstraße 120 in Solingen“, antwortete der Kioskbesitzer.

Dann sendete die Frau einen Notruf aus und wandte sich schließlich wieder dem Mann zu.

„Okay“, meinte sie. „Liegt der Mann bereits in der stabilen Seitenlage?“

Daraufhin legte der Kioskbesitzer das Handy weg und drehte den Verletzten seitlich zu sich. Dann nahm er das Telefon wieder in die Hand.

„Atmet er?“, wollte die Frau wissen.

„Ja“, stellte der Kioskbesitzer fest. „Er ist zwar ohnmächtig, aber er atmet. Er blutet aber ziemlich stark, können Sie sich bitte beeilen?“

„Wir sind in zwei bis drei Minuten da, spätestens“, sagte die Frau.

Der Kioskbesitzer lief dann in sein Geschäft rein und holte ein Handtuch. Vorsichtig versuchte er damit die blutende Stirn des Mannes abzutupfen. Währenddessen probierte er immer wieder, ihn anzusprechen, aber der Mann zeigte keinerlei Reaktion.

Eine junge Frau kam vorbei, die die Szene beobachtet hatte.

„Haben Sie den Notarzt schon gerufen?“, fragte sie. „Was ist passiert?“

„Er muss gestürzt sein“, klärte der Kioskbesitzer sie auf. „Rettungswagen ist unterwegs.“

„Er riecht nach Alkohol“, sagte die Frau.

„Ja“, stellte der Kioskbesitzer fest. „Ich meine mich zu erinnern, dass er wenige Stunden vorher bei mir zwei Dosen Bier gekauft hatte.“

„Wissen Sie, wer er ist?“

„Er muss hier in der Nähe wohnen. Ich kenne ihn vom Sehen, er kauft manchmal in meinem Kiosk ein.“

Die Frau kramte daraufhin in der Tasche des Unbekannten und fand sein Portmonee. Aber die Geldbörse war völlig leer, keine Papiere, kein Ausweis und auch kein Geld.

„Ich vermute, er ist niedergeschlagen worden“, mutmaßte die Frau schließlich.

„Glaube ich nicht“, sagte der Kioskbesitzer. „Für mich sieht es eher danach aus, als wäre er aus der Kneipe gefallen. Vielleicht konnte er dort nicht bezahlen und die haben dann seine Papiere als Pfand einbehalten. Er schien schon angeheitert gewesen zu sein, als er vorhin bei mir Bier kaufte. Ich glaube, dass er gefallen ist.“

Die Frau versuchte dann, den Puls des Fremden zu messen.

„Puls ist vorhanden“, sagte sie. „Sehr schwach, aber er ist da.“

Wenig später kam der Rettungswagen mit Blaulicht angefahren. Kaum angekommen, stiegen gleich zwei Sanitäter aus.

„Hallo“, sagte der Eine. „Können Sie mich hören? Sind Sie ansprechbar?“

„Er reagiert nicht“, erklärte der Kioskbesitzer. „Ich habe es bereits versucht.“

Während einer der Sanitäter die Wunde versorgte und desinfizierte, kam der Notarzt schließlich mit einem separaten Auto an. Die Sanitäter bereiteten eine Trage vor. „Wir werden ihn ins

Krankenhaus mitnehmen“, sagte der Eine.

Der Notarzt setzte dem Fremden eine Infusion, und zeitgleich legten die Sanitäter ihn auf die Trage.

„Puls?“, sagte einer von ihnen.

„Schwach, aber ja“, sagte der Notarzt. „Sehr schwache Atmung. Weiß man, wer er ist oder wo er wohnt?“

„Nein, keinen Schimmer. Der Kioskbesitzer, der uns gerufen hatte, kennt ihn offenbar auch nur vom Sehen“, sagte der Sanitäter.

Als die Trage mit dem Verletzten im Wagen war, setzte sich der Notarzt wieder in sein Auto und fuhr bereits vor.

„Okay, wir werden Sie benachrichtigen, wenn wir mehr wissen“, verabschiedete sich der eine Sanitäter vom Kioskbesitzer und der Rettungswagen fuhr davon.

Im Krankenwagen schlossen die Sanitäter den Fremden an Kontrollgeräte an, die seinen Herzschlag und seinen Puls maßen. Noch immer schien der Patient nicht ansprechbar und regungslos zu sein.

Einer der Sanitäter notierte sich etwas auf einem Block: „12. Juli 2016. Name: Unbekannt. Status: Schwere Kopfverletzung, komatös durch Alkoholeinfluss. Möglicherweise innere Verletzungen“, konnte man dort lesen.

Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte nur wenige Minuten. Kaum angekommen, wurde die Trage mit dem Unbekannten direkt auf die Intensivstation gebracht, in einen Raum, der nach einem OP-Saal aussah. Sofort kamen mehrere Ärzte und bereiteten sich darauf vor, die schwere Kopfverletzung zu behandeln. Die Maschine, an die der Patient angeschlossen war, zeigte, dass der Herzschlag leicht schwächer und langsamer wurde.

Schließlich kam auch der Oberarzt, den man zuvor gerufen hatte.

„Name?“, fragte er.

„Unbekannt“, antwortete einer der Ärzte. „Herzschlag unrhythmisch, wahrscheinlich ein Schock, hervorgerufen durch zu viel Alkohol.“

Der Narkosearzt setzte den Patienten unter Betäubung, und fast zeitgleich begann der Oberarzt, die Wunde mit mehreren Stichen zu nähen.

„Ich vermute, dass innere Verletzungen vorhanden sind“, stellte er fest. „Kann mir jemand sagen, was passiert ist?“

„Der Mann scheint auf der Straße zusammengebrochen zu sein“, klärte ihn einer der Ärzte auf. „Die Sanitäter sagen, ein Kioskbesitzer habe ihn gefunden, aber wir wissen nicht, wie lange er schon da lag.“

„Der Herzschlag ist unregelmäßig“, sagte der Oberarzt. „Möglicherweise müssen wir ihn in ein künstliches Koma versetzen.“

Zur gleichen Zeit betrat eine junge Frau, mittellange, dunkle Haare und eher zierlich, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, das Krankenhaus und lief aufgeregt zum Empfang. Ihr Körper schien zu zittern und einige Tränen liefen ihre Wangen herunter.

„Ist er hier? Ist er eingeliefert worden?“, fragte die Frau.

„Beruhigen Sie sich“, sagte die Dame am Empfang. „Wen genau suchen Sie?“

„Benjamin Foster“, sagte die junge Frau. „Er war nicht zu Hause, als ich heute Abend dort ankam. Ein Mann sagte mir, dass es vor seinem Haus einen Verletzten gab. Er lässt sein Handy nie zu Hause, aber es lag da, als ich kam…“

„Wie ist ihr Name?“, fragte die Mitarbeiterin des Krankenhauses.

„Jennings“, sagte die Frau. „Crystal Jennings. Benjamin ist mein Patenonkel.“

„Gut“, sagte die Frau. „Bleiben Sie ruhig. Ich sehe nach.“ Dann warf die Mitarbeiterin einen Blick in ihren Computer.

„Wir haben heute Abend nur zwei Einlieferungen. Eine ältere Frau und einen Mann, dessen Namen wir nicht kennen. Wo wohnt ihr Patenonkel?“

„In der Buchenstraße“, antwortete Crystal. „Nicht weit weg vom Bahnhof.“

„Also, der Unbekannte, der vorhin hier eingeliefert wurde…“, begann sie. „Der Notruf wurde tatsächlich von einem Kioskbesitzer in der Buchenstraße abgesetzt.“

„Oh, mein Gott“, wisperte Crystal. „Das muss er sein. Wo ist er? Wo ist er?“

„Sie können da jetzt nicht rein“, sagte die Angestellte. „Soweit ich informiert bin, befindet sich der Unbekannte mitten im OP.“

„Ich muss zu ihm“, sagte Crystal aufgeregt. „Kann ich mit jemandem sprechen?“

„Jetzt nicht“, antwortete die Mitarbeiterin fast unhöflich.

Aber Crystal ließ sich nicht davon abbringen, es zu versuchen. Ohne eine Genehmigung abzuwarten, lief sie den Flur entlang und ging in Richtung des Aufzugs.

Sie wusste nicht, wohin sie sollte, aber instinktiv drückte sie das Stockwerk an, in dem sich der OP befand.

„Herz?“, fragte der eine Arzt.

„Schwach“, sagte ein anderer.

Die Wunde war versorgt, aber es schien dem Unbekannten weitaus schlimmer zu gehen, als sie dachten.

„Ist die Blutuntersuchung fertig?“, fragte der Oberarzt.

Und zugleich kam ein Assistenzarzt mit einem Schreiben rein.

„Starker Alkoholkonsum, wahrscheinlich über drei Promille“, sagte er.

„Gott“, meinte der Oberarzt. „Das überlebt ja fast keiner. Wir werden ihn ins Koma versetzen müssen.“

„Doktor, draußen ist eine junge Frau“, begann der Assistenzarzt dann. „Sie vermutet, den Unbekannten zu kennen.“

„Sie soll warten“, sagte der Oberarzt, während er eine Infusion vorbereitete.

Plötzlich wurde der Herzton der Maschine immer unregelmäßiger.

„Herzrhythmus-Störungen“, stellte der Arzt fest. „Bereiten Sie den Defibrillator vor.“

Eilig machten sich zwei Ärzte daran, das Gerät anzuschalten.

„Geht das nicht schneller?“, fragte der Oberarzt.

Und dann auf einmal kam ein eintöniges Piepsen aus der Maschine.

„Wir verlieren ihn“, sagte der Oberarzt. „Herzstillstand. Schnell, den Defibrillator.“

Die beiden Assistenzärzte hielten die Enden der Maschine aneinander und legten sie dem Patienten auf die nackte Brust.

„Jetzt“, sagte der Oberarzt. Ein Stromschlag.

Nichts. Das Geräusch war nach wie vor monoton.

„Noch mal!“ Sie setzen das Gerät ein zweites Mal an.

Draußen kam ein Pfleger zu Crystal und setzte sich zu ihr.

„Was ist passiert? Ist er es?“, fragte sie aufgeregt.

„Nun“, sagte der Pfleger. „Wir wissen nicht, wer er ist. Und es sieht nicht gut aus. Sie beleben ihn gerade wieder.“

„Nein…“, hauchte Crystal. „Er darf nicht sterben.“

„Wir wissen ja nicht genau, ob es auch Ihr Bekannter ist.“

„Mein Onkel“, sagte Crystal. „Ich habe keine Familie mehr, nur noch ihn.“

„Sind Sie verwandt?“, wollte der Pfleger wissen.

„Nein“, antwortete Crystal. „Nicht blutsverwandt. Aber er ist mein Patenonkel.“ Sie holte das Handy, welches sie mitgebracht hatte, und welches ihm gehören musste, heraus und zeigte dem Pfleger ein Foto von ihrem Patenonkel. „Das ist er. Ist das der Mann, der eingeliefert wurde?“

Der Pfleger sah sich das Foto an.

„Ja“, sagte er schließlich. „Das Bild ist identisch mit dem Verletzten.“

„Ich muss zu ihm.“, stammelte Crystal.

Daraufhin kam der Oberarzt aus dem OP und ging auf Crystal zu.

Kapitel 1 - Mädchen, Mädchen

Blöd. Alles doof.

Aber ich hielt meine Klappe. So wie immer. Ich stand einfach an dieser kargen, hellen Wand, meine Hände vor mein Gesicht haltend. Ich war stumm, weil ich es nicht anders kannte. Und weil ich nichts sagen wollte.

Die Rufe meiner Klassenkameraden hallten lauter. Sie kamen näher, und ich konnte ihr Lachen hören.

Still. Augen zu, Hände verdeckten mein Gesicht. Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen.

Was mir in diesem Moment durch den Kopf ging – ich wusste es nicht. Ich hatte Angst, ja. Aber ich wollte sie nicht zeigen. Nicht deswegen, damit ich mich stärker fühlen durfte, sondern deswegen, weil ich es nicht konnte. Weil ich auch einfach gehofft hatte, dass es niemand merkt.

Aber sie merkten es.

„Benjamin, das Mädchen!“

Die Rufe der Klassenkameraden – das waren auch noch die stärksten und beliebtesten Jungs in der Klasse – hörten nicht auf.

Wann würde es denn endlich zur ersten Stunde klingeln? Wann dürfte ich mich auf meinen Platz in der letzten Reihe am einzigen Einzeltisch setzen? Dort sah mich niemand. Dort nahm mich niemand wahr.

Sie kamen näher. Die Zeit musste still stehen. Ich wollte einen Blick auf die Uhr erhaschen, die über der Tafel hing, aber ich konnte mich nicht umdrehen. Ich war wie gelähmt, stand einfach da, unmerklich zitternd und bebend vor Angst.

„Benjamin, du Mädchen!“

„Schwul, oder?“

„Schwuchtel!“

„Guck sie dir an, die Arme Kleine...“

Das Gelächter wurde größer, wurde lauter. Die Klassenkameraden kamen näher. Sie haben es längst gesehen, das wusste ich. Man konnte es ja auch von hinten erkennen. Aber von vorne erst recht.

Plötzlich spürte ich forsch eine Hand auf meiner Schulter. Jemand packte mich. Jemand drehte mich um.

Meine Augen waren geschlossen, mein Gesicht verzerrt und ich sah nichts. Aber ich hörte dieses laut schallende Lachen. Ungefiltert drang es an mein Ohr und ließ mich meine Angst, meine Verzweiflung und meine Scham nur noch mehr spüren.

Der Blick dieses Jungen, der mir gegenüber stand, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, als ich meine Augen öffnete.

Da waren die anderen Kinder, die um ihn herum standen und mich anstarrten. Alle so in meinem Alter – 8 Jahre, manche von ihnen vielleicht 9.

Ich wollte raus laufen. Ich wollte wegrennen. Aber ich konnte nicht. Sie standen um mich und starrten auf meine weiße, mit Blumen verzierte Mädchenbluse, die ich gestern eigens gekauft bekommen habe – angeblich, weil ich sie unbedingt haben wollte.

„Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“

Dieser Satz des einen Mädchen, die unmittelbar neben mir stand, ließ mich einige Tränen weinen.

Scheiße. Weinen wollte ich erst recht nicht. Jetzt hatten die es wieder geschafft. So oft haben sie mich schon zum Weinen gebracht – aber das jetzt, das war glaube ich der schlimmste Moment bisher.

Gott sei Dank – es klingelte, bevor irgendwer der anderen Klassenkameraden etwas sagen konnte. Und da kam auch schon die Lehrerin herein.

Ich lief zu meinem Platz in der letzten Reihe, wischte mir mit dem Handrücken die Tränen ab und setzte mich schweigend hin.

Die Lehrerin sah mich fragend an. Ich streifte mir durch meine schulterlangen, dunklen Haare und versuchte, mein Gesicht mit ihnen zu verdecken.

„Benjamin Foster“, sprach die Lehrerin. „Hast du noch etwas anderes zum Anziehen bei dir? Ein T-Shirt vielleicht?“

Stille. Alle starrten mich an.

Ich zitterte, brachte kein Wort heraus. Wie sehr hätte ich jetzt vor Scham im Erdboden versinken können.

Ich hörte, wie die Lehrerin den Klassenkameraden erklärte, dass es durchaus mal passieren kann, dass man morgens beim Anziehen versehentlich ein falsches Kleidungsstück aus dem Schrank nahm, das eigentlich der Schwester gehörte, und dass dies kein Grund sei, einen Mitschüler auszulachen. Ich verstand nicht genau, was sie sagte, aber ich wusste, die nächste Pause würde ich nicht überleben.

Die Zeit verging gar nicht. Immer wieder diese Blicke der anderen. Immer wieder das Tuscheln und Flüstern. Es hörte nicht mehr auf.

Schließlich klingelte es zur Pause. Alle liefen hinaus auf den Schulhof. Am Schluss war ich alleine in der Klasse, saß da und bewegte mich nicht.

„Du musst keine Angst haben“, hörte ich eine Stimme leise zu mir sagen.

Ich drehte mich um. Aber da war niemand.

„Hab keine Angst, Benjamin Foster“, hörte ich die helle Stimme.

Merkwürdig – eigentlich kannte ich die Meisten meiner Klassenkameraden und Klassenkameradinnen an der Stimme. Im Unterricht machte ich oft die Augen zu, und wenn jemand sprach, ordnete ich in meinen Gedanken heimlich die Stimme zu.

Aber diese Stimme – wahrscheinlich die eines Mädchens – habe ich noch nie gehört. Zumal sie sehr nett klang – denn eigentlich redete keiner meiner Mitschüler so nett zu mir.

Zögernd drehte ich mich um mich selbst und sah in alle Ecken, aber hier war niemand.

„Bejnamin“, hörte ich sie wieder sagen. Und kurz darauf erklang ein freundliches Lachen.

„Wo bist du?“, flüsterte ich. „Wer bist du?“

Das fremde, für mich noch immer unsichtbare Mädchen lachte wieder. Aber es war kein Auslachen, es war mehr das Lachen eines spielenden Kindes.

Plötzlich wurde es wieder ruhig.

Ich hörte Schritte. Die Türe des Klassenraums öffnete sich. Ich wollte mich verstecken, aber die Lehrerin sah mich und kam direkt zu mir neben den Tisch.

„Benjamin, wie ist das geschehe, dass du eine Mädchenbluse an hast?“

Ich hörte sie, aber ich antwortete nicht. Verschämt sah ich zu Boden.

„Du musst dich umziehen, Benjamin. Hast du wirklich nichts anderes dabei?“

Ich schüttelte verschämt mit dem Kopf, meinen Blick noch immer zu Boden gesenkt.

„Dann gehe bitte nach Hause“, bat mich die Lehrerin. „Hole dir ein vernünftiges T-Shirt, ziehe es an und komme anschließend wieder.“

Wie sollte ich das denn machen? Mutter war bestimmt zu Hause und würde merken, wenn ich zur Türe herein käme. Was sollte ich nur tun? Wegrennen? Aber wohin?

Ich war am Zittern vor Angst. Es darf niemand merken, dachte ich leise. Es darf bloß niemand merken.

Ich lief los.

Ich konnte es doch nicht sagen. Die Klamotten, die ich tragen sollte, wurden mir jeden Abend zurecht gelegt, und ich musste immer genau das anziehen, was mir abends zurecht gelegt wurde. So war es seit ich denken konnte. Und Mutter hatte sie ausgesucht, hatte sie für mich gekauft. Schon seit einiger Zeit kündigte sie immer wieder an, ich sähe als Mädchen viel besser aus. Und gestern hatte sie es wahr gemacht und eine der Blusen für mich heraus gelegt, die ich dann am nächsten Tag anziehen sollte.

Ich wollte ein Mädchen sein, hatte sie immer gesagt. Mein richtiger Name wäre Erika. Ich war eigentlich ein Mädchen.

Langsam lief ich in die Straße hinein, an dessen Ende unser Haus lag. Zitternd, bebend vor Angst, rot im Gesicht vor Scham, stumm, taub und blind.

Kapitel 2 - Das heimliche Spiel

Das Licht hier im Raum war matt. Die große Klappe, die das Kellerfenster abdeckte, war nur auf kipp, da man sie gar nicht ganz aufmachen musste. Man hätte dafür die beiden großen Haken in der Wand öffnen müssen, und ich wusste nicht, wie das geht. Auch die Glühbirne erhellte den Raum nicht sonderlich, ein richtiges Licht oder eine Lampe gab es hier nicht.

Spielkeller nannte ich es. Meine Schwester sagte dazu immer Partykeller oder Hobbyraum – denn schon mehrfach feierte sie hier mit ihren Freunden und Freundinnen Feten, zu denen sie mich explizit niemals eingeladen hatte.

Ich feierte natürlich keine Feten. Das hätte ich mit knapp 11 Jahren eigentlich sowieso nicht gedurft.

Carina durfte es in jedem Fall. Und sie war zwei Jahre jünger als ich, also erst 9. Egal. Ich wollte eigentlich sowieso nie bei ihren Feten dabei sein. Was die da machten, das nervte mich irgendwie. Nicht, dass ich es wirklich gewusst hätte, aber Carina machte mehrmals solche Andeutungen, dass dort langsame Lieder laufen würden und dabei ganz eng getanzt würde. Sei man dann in der richtigen Stimmung, ginge es über zu irgendwelchen Spielchen wie Flaschendrehen oder so etwas. Und was die dabei dann machten, daran mochte ich nicht denken. Ich fand es eklig, so oder so.

Wenn ich alleine hier im Keller war – so wie fast jeden Nachmittag, wenn Carina Freunde bei sich hatte und ich die Wohnung verlassen sollte, um sie nicht zu nerven – dann war das MEIN Keller. Es war der Spielkeller, denn ich hatte hinter dem riesigen Vorhang versteckt im Regal all meine Spielsachen, meine Stofftiere, welche ich schon als ganz kleines Kind geschenkt bekam, einige elektronische kleine Konsolen und so weiter – eben all das Zeug, was modern war und was eigentlich alle hatten.

Der Großteil von den Spielsachen gehörte eigentlich meiner Schwester Carina. Aber schon mit 7 oder 8 Jahren änderte sie komplett ihre Interessen und behauptete standfest, keinerlei kindisches Spielzeug zu besitzen. Das sei alles meins, stellte sie irgendwann klar.

Statt mich zu beschweren, was das sollte, hielt ich meinen Mund. Zuerst wollte ich natürlich ihr Spielzeug nicht in Anspruch nehmen, aber nach einiger Zeit dachte ich: „Was ich hier unten mache, das bekommt sowieso niemand mit.“ Also begann ich irgendwann, mit ihren Sachen zu spielen. Nach einiger Zeit hatte ich eigentlich fast schon vergessen, dass die meisten Spielsachen ihr gehörten. Sogar das Puppenhaus nahm ich als Junge als mein Spielzeug an, und gerade das wurde irgendwann zu meiner Lieblingsspielsache. Eigentlich war es ja meins.

Ich schob den Vorhang zurück und kramte das viereckige, längliche altmodische Puppenhaus hervor. In der Kiste lagen die Puppen, in der Größe und Art zu den Möbeln passend.

Ich platzierte eine der Puppen am Esstisch. Die beiden anderen – eine Jungen- und eine Mädchenpuppe, legte ich in den Nachbarraum in das Bett. Akribisch deckte ich sie zu, nachdem ich sie entkleidet habe.

„Schlafenszeit“, hörte ich mich rufen.

Eine kleine Pause. Ich schnaufte aus.

„Ich will nicht schlafen“, sagte ich mit verstellter, sehr heller Stimme.

„Ich auch nicht“, warf ich nach.

Das Knarren der grauen Stahltür, die den Flur mit dem Keller verband, nahm ich in diesem Moment nicht wahr. Auch das anschließende leise Tapsen von Füßen auf dem Teppichboden musste ich überhört haben. Das matte Licht wurde plötzlich für eine Sekunde etwas verdunkelt, da ein Schatten über mich und das Puppenhaus geschlichen kam – aber auch diesen bemerkte ich nicht.

Ich war total vertieft in mein Spiel. Eine Weile sah ich die Puppen an. Der Puppenvater saß noch immer am Esstisch. Ich spielte, dass er etwas aß und daraufhin aufstand, um das kleine Geschirr wegzuräumen. Fein säuberlich stellte ich den Mini-Teller und die Mini-Tasse in den dafür vorgesehenen Schrank.

Daraufhin wandte ich mich wieder den beiden Puppen im Schlafzimmer zu.

„Ich bin nicht müde“, ließ ich das Puppenmädchen sagen. Und gleich darauf ließ ich sie davon hüpfen. Ich schmiss sie in die Ecke, aber ich spielte, dass sie einfach abgehauen wäre.

Ich ließ den Puppenjungen die Bettdecke ganz hochziehen, so dass er komplett bedeckt war.

Für einen Moment blickte ich in die neben mir liegende Kiste, wo noch andere Utensilien für das Puppenhaus aufbewahrt waren. Ich holte eine erwachsene weibliche Puppe hervor – die Puppenmutter dieser Familie, die ich jedoch sehr, sehr selten in meinem Spiel verwendete.

Ich legte ohne ein Wort die Puppenmutter in das Bett des Puppenjungen. Für einen Moment hielt ich inne.

„Was machst du da?“, hörte ich jemanden plötzlich sagen.

Ich erschrak. Schnell nahm ich die Puppen und warf sie in die Kiste neben mir.

Langsam drehte ich mich um, dorthin, wo die Stimme herkam. Voller Scham blickte ich in ihre Augen.

„Was machst du da?“, wiederholte das mir bekannte Mädchen daraufhin. „Spielst du mit deinem Puppenhaus?“

Claudia. Sie war die beste Freundin meiner Schwester Carina und war etwa ein Jahr älter als sie.

Sie war auch manchmal diejenige, die versuchte, mich in das Spielen mit meiner Schwester einzubinden, was jedoch meist darin ausartete, dass meine Schwester noch aggressiver mir gegenüber wurde. Claudia war okay, eigentlich noch diejenige der Freunde meiner Schwester, die am Ehesten noch okay waren. Sie war nicht so abgedreht wie Carina und nicht so cool wie ihre anderen Freunde. Das mochte ich irgendwie, denn cool sein war nichts für mich.

„Schon gut“, meinte Claudia, ohne eine Antwort von mir abzuwarten. „Ich sag's keinem, dass du mit dem Puppenhaus spielst.

Verschämt sah ich zur Seite.

„Ehrlich“, bekräftigte sie.

Ohne dass ich mich getraut hätte, ein Wort zu sagen, holte ich die Puppen wieder aus der Kiste. Ich setzte den Puppenvater wieder an den Esstisch und den Puppenjungen in das Bett im Nebenzimmer. Die Puppenmutter ließ ich weg. Aber das Puppenmädchen holte ich wieder hervor und stellte sie unten vor dem Haus auf.

„Sie ist vorhin weggelaufen“, erklärte ich leise. „Aber jetzt ist sie wieder da.“

Claudia setzte sich neben mich und nahm die Mädchenpuppe in die Hand.

„Wer sind die?“, wollte sie wissen.

„Nur irgendeine Familie“, sagte ich.

„Sicher?“, meinte Claudia.

Claudia tapste dann mit dem Puppenmädchen in das Zimmer des Jungen.

„Wir sind Geschwister“, meinte sie im Spiel. „Das da ist unser Vater“, ergänzte sie, auf den am Esstisch sitzenden Vater zeigend.

„Nein“, rief ich aus. „Lass uns lieber Freunde sein. Du bist meine Freundin, und du bist bei uns über Nacht.“

Claudia lachte. „Cool“, sagte sie. „Also – dann bist du der Junge, ich das Mädchen... und wer ist der Vater?“

Ich blickte den Puppenvater an. Dann nahm ich ihn und schmiss ihn in die Kiste.

„Egal“, stammelte ich daraufhin. „Wir haben keine Eltern. Wir wohnen alleine hier.“

„Na, gut“, meinte Claudia.

Es entstand ein Puppenspiel, das im Laufe der nächsten Minuten und Stunden immer intensiver wurde. Schon bald waren wir ganz in unseren Rollen drin. Ich war das irgendwie nicht gewohnt, mit jemandem so intensiv zu spielen, da ich ja keine Freunde hatte. Es wollte ja auch nie jemand mit mir spielen.

Aber das mit Claudia, das machte irgendwie Spaß. Es ließ mich für einen Moment meine Einsamkeit vergessen.

Während unseres Spiels legte Claudia dann plötzlich die Mädchenpuppe auf die Jungenpuppe drauf und begann, beide hin und her zu bewegen.

„Was machst du da?“, wollte ich wissen.

Claudia – noch tief ins Spiel vertieft – meinte dann: „Wir machen Sex.“

Mein starrer Blick ging Richtung Tür. Es fühlte sich auf einmal ganz komisch an, so als wäre ich bei etwas ertappt worden.

„Wie kannst du wissen, wie das geht?“, wollte ich von ihr wissen.

Ich hatte keine Ahnung, ob ich es wusste. Ich hatte auch noch nie in einem Film zum Beispiel so etwas gesehen. Aber Claudia grinste mich an. Sie schien es offenbar zu wissen, auch wenn sie erst knapp 10 war, knapp ein Jahr jünger als ich.

Dann schmiss sie die Puppen wieder in die Kiste und wich auf einmal auf ein ganz anderes Thema ab.

„Kennst du Jan? Den aus deiner Klasse?“, wollte sie wissen.

Ich nickte. „Warum? Was ist mit ihm?“

„Carina ist in ihn verliebt. Sie will ihn sich angeln, hat sie gesagt.“

„Oh“, machte ich eher desinteressiert.

„Ich bin auch in ihn verliebt. Aber ich glaube, dass ich ihn nicht bekomme. Hab einfach keine Chance gegen Carina.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Sie weiß das nicht“, meinte Claudia zu mir. „Wenn sie es erfährt, will sie bestimmt nicht mehr meine Freundin sein.“

„Okay, ich sage nichts“, versprach ich Carinas bester Freundin. „Sie glaubt mir das wahrscheinlich sowieso nicht.“

Fragend blickte Claudia mich an.

„Ich meine, dass ich mit dir geredet habe. Das glaubt sie sicher nicht. Und dass ich mit dir gespielt habe, erst recht nicht.“

„Gut“, sagte Claudia.

„Ich wünschte sowieso, ich wäre gar nicht Carinas Bruder. Ich wünschte, ich wäre irgendjemand anderes. Vielleicht jemand mit einem ganz anderen Leben.

„Ja“, pflichtete Claudia mir bei. „Das habe ich auch oft, dass ich mir das wünsche.“

Ich zitterte. Keine Ahnung, warum, aber mir lief in diesem Moment ein kalter Schauer über den Rücken.

„Stimmt es, dass du in der Schule Mädchenklamotten tragen musstest?“, stellte sie mir dann die Frage.

Ich hielt mir die Augen zu.

„In der dritten und vierten Klasse war es so“, sagte ich leise. „Jetzt auf dem Gymnasium, wo ich seit diesem Jahr bin, ist es nicht mehr so.“

„Warum?“, hakte sie nach. „Wolltest du ein Mädchen sein?“

Ich schüttelte mit dem Kopf.

Langsam stand ich auf und setzte mich auf ein breites Sofa, das am Kellerfenster stand. Claudia kam schließlich zu mir. Sie merkte wohl, dass ich sehr nachdenklich zu sein schien, aber sie ging nicht darauf ein.

„Ich habe eine Idee“, begann sie daraufhin. „Lass uns spielen, wir wären jemand anderes.“

Fragend sah ich sie an.

„Wer magst du sein?“, ergänzte sie.

Wieder zuckte ich mit den Achseln.

„Okay“, setzte sie das Spiel fort. „Du bist Jan.“

„Und du? Wer bist du?“, wollte ich wissen.

„Ich bin deine Freundin“, antwortete sie. „Also, Jans Freundin. Du kannst dir einen Namen aussuchen, wie ich heißen soll.“

Ich musste nicht lange nachdenken. Warum mir gerade dieser eine Name in den Sinn kam, wusste ich nicht. Aber ich wusste, es sollte dieser Name sein und kein anderer.

„Natalie“, sprach ich leise.

„Okay“, sagte Claudia. „Du bist Jan, ich bin Natalie, deine Freundin.“

Auf einmal kuschelte Claudia sich an mich. Sie legte einen Arm um mich und bat mich daraufhin, es auch bei ihr zu machen. Dabei legte sie ihren Kopf in meine Schulter.

Berührungen.

Ich mochte niemals gerne Berührungen. Ein einziges Mal hatte ich es zugelassen, das war damals in der zweiten Klasse mit einer Klassenkameradin, zu der ich seinerzeit einen relativ engen Kontakt hatte. Wir besuchten uns ab und zu gegenseitig. Wir durften manchmal sogar zusammen mit dem Bus irgendwohin fahren. Ihre Eltern trauten ihr mit damals sieben Jahren schon einiges zu, und ab und zu nahm sie mich mit in den Nachbarort. Ich erinnerte mich dunkel, dass sie wahrscheinlich diejenige war, bei der ich es sogar zuließ, dass sie mich nicht nur umarmte, sondern sogar einmal küsste. Auf den Mund.

Aber daran hatte ich nicht mehr gedacht. Bis heute nicht.

„Jan“, flüsterte Claudia. „Sag, liebst du mich?“

Ich strengte mich an, das Spiel mitzuspielen, auch wenn es mir irgendwie schwer fiel.

„Ja“, antwortete ich ihr.

„Ich dich auch“, sagte sie im Spiel. „Ich habe mich nur die ganze Zeit nicht getraut, es zu sagen.“

Wir spielten dann, der Keller sei unsere Wohnung. Claudia – also, Natalie – sei bei mir, Jan, eingezogen. Ich hätte Abendessen gemacht, wir hätten dann gegessen und viel geredet. Am späten Abend hätten wir noch etwas fern gesehen – wobei unser Fernseher, so wie fast alle anderen Gegenstände, imaginär war – und anschließend seien wir ins Bett gegangen.

Nur in Unterhose bekleidet lagen wir jetzt auf dem Sofa. Es ist mir gar nicht aufgefallen, dass wir uns entkleidet hatten, so vertieft waren wir in unser Spiel. Das heimliche Spiel selbst begann ich auch nach einer Zeit zu mögen. Seltsam – mit Claudia spürte ich diese Abneigung zu Berührungen nicht, auch dann nicht, als wir unter einer realen Decke auf dem Sofa kuschelten.

„Jan, ich liebe dich und möchte dich heiraten“, sagte sie im Spiel.

Ich blickte sie an. „Ja, Natalie“, sagte ich. „Das möchte ich mit dir auch.“

Wir spielten noch so lange, bis wir sahen, dass es draußen dunkel wurde. Dann zogen wir uns wieder an, und Claudia lief nach Hause.

Unser heimliches Spiel, in denen wir in die Rollen von Jan und Natalie eintauchten, nahm in den folgenden Tagen immer mehr Form an. An jedem Nachmittag verkrümelte ich mich in den Keller – das merkte offenbar niemand von meiner Familie – und Claudia kam heimlich zu mir, und dann spielten wir unser heimliches Spiel. Es wurde nach einer Zeit sogar so intensiv, dass wir uns gar nicht mehr mit unseren realen Vornamen anredeten. Sobald sie zur Türe herein kam, war sie Natalie, und ich war Jan.

Es war kurz vor den Sommerferien, als es geschah. Unser Spiel dauerte mittlerweile schon beinahe vier Monate. Und an diesem Nachmittag – als wir wieder die abendliche Zu-Bett-Gehen-Szene spielten, entkleidete sich Claudia nicht nur bis auf die Unterhose, so wie sonst, sondern ganz.

„Du auch, Jan“, sagte sie. „Es wird Zeit, dass wir Kinder kriegen. Und heute machen wir eins.“

Ich verstand nicht ganz, was sie meinte. Und als sie mich dann aufforderte, sich auf sie zu rollen, nachdem ich ebenfalls vollkommen entkleidet war, bekam ich ein ganz merkwürdiges Gefühl. Plötzlich machte mir das Angst.

Aber Claudia hielt mich einfach sanft im Arm. Mein Zittern ließ nach einiger Zeit nach.

„Ich habe das bei meinen Eltern gesehen“, erzählte sie dann leise. „Als ich meinen Vater danach gefragt habe, hat er es mir ganz genau gezeigt.“

Ich erschrak. Ich wollte es mir nicht anmerken lassen, aber ich erschrak total. Warum, das wusste ich nicht.

„Natalie?“, fragte ich nur.

„Nein“, sagte Claudia. „Claudia hat das gesehen. Und Claudias Vater macht das mit ihr.“

Meine Lippen bebten.

„Benjamin muss das auch machen, nicht wahr?“, wollte Claudia wissen. „Sagst du mir, mit wem?“

Ich wusste nicht, ob Claudia mich weinen sah. Ich versuchte, die Tränen aus meinem Gesicht zu wischen. Aber Claudia sah es, und sie hielt mich einfach fest. Wir lagen einfach aufeinander und hielten uns fest.

Jan und Natalie zu sein, das war wie in einer anderen Welt. Dort gab es nichts Böses. Dort durften wir alles, denn wir gehörten nur uns und unserem heimlichen Spiel. Dinge, Personen aus dem realen Leben – nichts spielte mehr eine Rolle, wenn wir unser Spiel machten. Nichts konnte mehr Weh tun, alles fühlte sich gut an. Jan und Natalie – das war ein anderes Leben. Und wir tauchten in dieses Spiel noch so oft ein, wie wir es konnten. Es blieb geheim. Aber es war ein gutes Geheimnis, das wir damit teilten. Es war kein böses, so wie die anderen Geheimnisse, die sie und mich umgeben mussten.

Als ich 12 wurde, wanderte Claudia mit ihren Eltern nach Amerika aus. Ich habe sie seitdem nie wieder gesehen. Ob wir uns voneinander verabschiedeten, weiß ich nicht mehr.

Ich hatte daraufhin begonnen, alles aus dem realen Leben irgendwie von mir wegzustoßen. All die Dinge, von denen ich negative Gefühle bekam. Die Gedanken an unser heimliches Spiel bewirkten, dass ich mich weg träumen konnte. Irgendwie nahmen sie mir all die schlimmen Gedanken und vertrieben die Monster. Erklären konnte ich mir das damals nicht, aber ich wusste, es war so.

Die Augen zu machen und weg träumen. In meine eigene Welt flüchten und dort ein anderes Leben haben, jemand anderes sein als ich in Wahrheit war. Das konnte ich jetzt. Und ich glaube, das hatte damals mein Leben gerettet.

Kapitel 3 - Traum oder Wirklichkeit

Der Junge stand am Abgrund eines riesigen Berges. In der Ferne hörte er, wie ein Gewitter heran rauschte. Der Horizont war verhangen von Wolken, und Blitze zuckten aus ihnen heraus.

Er hatte keine Angst. Normalerweise hatte er Angst vor dem Donner, weil der so laut war. Aber Benjamin stand einfach da und sah zu, wie das Gewitter langsam näher kam. Er hatte keine Ahnung, warum es ihn nicht bange machte.

Wieder zuckte ein Blitz aus den Wolken. Diesmal war es deutlich näher, denn der Donner hallte kaum 4 Sekunden danach durch die Gegend.

Benjamin stand da uns atmete aus. Als er an sich herunter sah, sah er, dass er nichts trug als eine Schlafanzughose. Er fuhr sich mit der Hand durch seine braunen Locken und schüttelte seinen Kopf.

Und eine Brise umspielte Benjamin’ Haut.

„Benjamin“, machte plötzlich eine sanfte Stimme.

Benjamin drehte sich um.

Aber da war niemand.

Wieder ein Blitz und darauf gleich ein Donner. Jetzt war das Gewitter direkt über ihm.

Aber Benjamin hatte noch immer keine Angst. Mochte der Blitz noch so stark sein. Mochte der Donner noch so laut sein.

Auf einmal bebte die Erde. Benjamin merkte, dass der Berg, auf dem er stehen musste, anfing zu wackeln. Einige Steine bröckelten den Abgrund hinunter, vor dem Benjamin stand.

Benjamin sah hin.

Aber er hatte noch immer keine Angst.

„Flieg, Benjamin, flieg“, sagte wieder diese Stimme, die er eben schon hörte.

Benjamin drehte sich erneut um… und dann sah er auf einmal in das Gesicht eines Mädchens. Sie hatte lange, braune Haare, trug ein weißes Nachthemd und hatte große, braune Augen, mit denen sie Benjamin lächelnd ansah.

„Flieg, Benjamin, flieg“, hauchte sie wieder.

Und dann mit einem Mal krachte es gewaltig, und ein Blitz schlug in den Berg ein, der daraufhin in tausend Teile zersprang, und ehe sich Benjamin versehen konnte, schwebte er mit dem Mädchen zusammen in der Luft, und unter ihnen erstreckten sich die Ausläufer von Frankfurt, der Stadt, in der Benjamin wohnte.

„Was geschieht hier?“, fragte Benjamin. „Träume ich?“

„Wer weiß?“, meinte das Mädchen.

Und dann nahm sie Benjamin an die Hand, und beide flogen wie Superman über die Stadt.

„Warum können wir fliegen?“, wollte Benjamin wissen.

„Wir können alles, was du dir wünschst“, sagte das Mädchen ruhig.

„Wohin fliegen wir?“, fragte Benjamin.

„Wohin möchtest du?“, fragte das Mädchen zurück.

Benjamin blickte über die Dächer der Häuser.

„Da vorne ist meine Schule“, sagte er dann auf einmal.

„Gut“, sagte das Mädchen. „Sehen wir sie uns mal an.“

Benjamin und das Mädchen landeten dann schließlich auf einem großen Hof, in dessen Mitte eine alte Eiche stand, um diese mehrere Sitzbänke angebracht waren. Das Gebäude war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Es war geformt wie ein U und erstreckte sich um den Hof herum und war offen nach der Seite, wo die Parkplätze waren.

„Wer bist du?“, fragte Benjamin dann das Mädchen.

Das Mädchen lächelte ihn an, aber sie wollte nicht auf seine Frage eingehen. „Es ist niemand hier“, sagte sie stattdessen. „Sollen wir mal reingehen? Ich würde gerne mal deinen Klassenraum sehen.“

Benjamin lief dann mit dem Mädchen zum Eingang, der in den hinteren Trakt des Gebäudes führte. Als er versuchte, die Türe, die er abgeschlossen vermutete, zu öffnen, ging sie tatsächlich auf.

„Es ist so dunkel hier“, sagte Benjamin. „Ich sehe nichts.“

„Kein Problem“, sagte das Mädchen. „Ich kann machen, dass es morgens ist.“

Mit einem Mal… ging in Sekundenschnelle die Sonne auf. Das Unwetter, welches längst schon verschwunden war, war nicht mehr zu spüren, und das Tageslicht leuchtete in den großen Innenraum, der zu den anderen Fluren führte, wo die Klassenräume waren.

„Wie hast du das gemacht?“, wollte Benjamin wissen. „Es war doch eben noch Nacht…“

Das Mädchen lächelte.

„Du musst eine Fee sein oder so was“, stellte Benjamin fest.

„Vielleicht deine Fee“, hauchte das Mädchen.

Und auf einmal ertönte die Schulglocke. Es war große Pause.

Und dann, in der nächsten Sekunde… huschten zig Kinder – sicher Hunderte – aus den Klassenräumen heraus in den großen Flur.

Benjamin zitterte, denn er hatte ja nur eine Schlafanzughose an. Was, wenn die anderen ihn so sehen würden?

„Hab keine Angst“, sagte das Mädchen, als sie Benjamin an die Hand nahm. „Sie können uns nicht sehen. Zeigst du mir jetzt deine Klasse?“

„Es ist die 6 a“, sagte Benjamin.

Dann führte er das Mädchen in den unteren Flur. Dort gab es drei Türen. Die hinterste, das war der Klassenraum von Benjamin’ Klasse.

Er und das Mädchen gingen hinein.

Im Raum waren zwölf Tische so gestellt, dass sie alle zum Schreibtisch und der Tafel zeigten. Schultaschen standen unterhalb der Tische. Und Mäppchen und Schreibhefte lagen auf den Tischen.

„Wo sitzt du?“, sagte das Mädchen.

Benjamin lief zu seinem Platz in der vorletzten Reihe.

„Sitzt jemand neben dir?“, fragte das Mädchen dann.

Und Benjamin schüttelte seinen Kopf.

Und schließlich entdeckte das Mädchen etwas, was an der Tafel stand. Sie las: „Benjamin Foster ist eine Schwester. Keiner vermisst dich, also verpiss dich.“

„Benjamin, was bedeutet das?“, wollte das Mädchen wissen.

Und mit einem Mal klingelte es wieder… und in der nächsten Minute kamen die Kinder wieder herein in den Klassenraum.

„Komm“, sagte das Mädchen.

Und gerade, als sie zur Türe gehen wollten… sah Benjamin sich selbst. Er und das Mädchen schienen nur Beobachter zu sein, und der richtige Benjamin lief langsam mit gesenktem Kopf zu seinem Platz und setzte sich hin.

„Mädchen“, sagte ein Junge zu ihm. „Alice im Wunderland“, sagte ein anderer Junge, der Benjamin gleich darauf ins Gesicht schlug.

Benjamin wehrte sich nicht. Er blieb still sitzen und schaute nach unten.

„Ich bin ein Außenseiter“, flüsterte der Benjamin in Schlafanzughose zu dem Mädchen, mit dem er hier war. „Sie mobben mich.“

„Das dachte ich mir“, sagte das Mädchen mitfühlend. „Komm, gehen wir nach draußen.“

In der Morgensonne war es relativ warm, fast zu warm für Ende Juni.

„Morgen ist mein Geburtstag“, sagte Benjamin traurig. „Keiner von ihnen wird kommen.“

„Bist du sicher?“

Benjamin schnaufte aus. „Vielleicht kommt Alexander“, sagte er. „Er ist neben mir der Zweit-Unbeliebteste der Klasse. Aber er wusste noch nicht, ob er kommen kann.“

„Wer kommt sonst noch?“, fragte das Mädchen.

„Meine Schwester hat noch ein paar ihrer Freundinnen eingeladen“, antwortete Benjamin. „Aber eigentlich hab ich gar keine Lust auf eine Feier.“

„Komm“, sagte das Mädchen. „Sehen wir uns mal dein Zuhause an.“

Daraufhin nahm sie Benjamin wieder bei der Hand, und sie flogen hoch in die Lüfte. Sie flogen über die Dächer der Innenstadt hinweg, flogen über die Hügel von Seckbach, bis sie an Benjamin’ Wohnsiedlung in Bergen-Enkheim ankamen. Dort gab es an den Hängen ein seltsam geformtes, gelbes Terrassenhaus.

„In der obersten Etage wohne ich“, sagte Benjamin.

Sie landeten auf Benjamin’ Balkon. Die Türe zum Inneren von Benjamin’ Zimmer stand offen, und er und das Mädchen gingen hinein.

In Benjamin’ Zimmer standen ein Einzelbett, ein Schreibtisch, und ein Nachtschrank, auf dem eine kleine Musikanlage war. An der Wand waren zwei Regale mit Büchern und Disney-Comicheften, die Benjamin so gerne las.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte das Mädchen schließlich, nachdem es den Raum ansah. „Aber ich komme gerne wieder.“

Daraufhin legte die Fremde ein kleines Buch auf den Schreibtisch, bevor sie sich zum Balkon begab.

„Warte“, sagte Benjamin. „Ich weiß doch nicht, wie ich dich nennen soll. Wie ist dein Name?“

Das fremde Mädchen lächelte und flog dann los.

Und in der nächsten Sekunde wurde es Benjamin kurz schwarz vor Augen. Als er seine Augen wieder öffnete, merkte er, dass er in seinem Bett lag.

Er atmete heftig.

Er sah auf die Uhr, die auf seinem Nachtschränkchen stand. Sie zeigte den 24. Juni an, morgens um halb sieben.

Benjamin zitterte.

„Heute habe ich Geburtstag…“, flüsterte er leise zu sich selbst.

Langsam stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch… und dort lag das kleine, schwarze Buch, welches das fremde Mädchen eben dort hingelegt hatte.

Benjamin schlug es auf…

Und er las, was drin stand: „Alles Gute zum Geburtstag wünscht dir deine Freundin Natalie.“

„Natalie“, flüsterte Benjamin leise. „Dann war es kein Traum…“

Kapitel 4 - Benjamin hat Geburtstag

Benjamin klappte das Buch zu und legte es in seine Tasche, die für die Schule schon fertig gepackt war. Dann stapfte er langsam die Treppe hinauf, die zum Esszimmer führte. Als er die Türe aufmachte, saßen seine Mutter Mutter und sein Vater Alfred schon am Esstisch. Carina, seine Schwester, war noch im Badezimmer und blockierte es, wie jeden Morgen, bis fünf Minuten vor der Abfahrt in die Schule, so dass Benjamin nur Minuten hatte, sich zu waschen, zu bürsten und die Zähne zu putzen.

„Herzlichen Glückwunsch, Benjamin Foster“, sagte Alfred.

„Oh, mein Kleiner hat Geburtstag“, sagte Mutter und stürmte auf Benjamin zu. Dann begann sie, ihn im ganzen Gesicht abzuknutschen und überhäufte ihn mit Küssen. Angewidert wandte Benjamin sich ab.

„Nicht!“, rief er aus.

„Du bist jetzt 13 Jahre alt“, sagte Mutter. „Aber du wirst nie groß. Du musst mir versprechen, dass du für immer mein kleiner Junge bleibst, und dass du für immer hier wohnen bleibst. Weißt du, deine Schwester ist 11, und sie zieht sicherlich in einigen Jahren aus. Aber du bleibst für immer hier bei Mama wohnen, mein Kleiner.“

Benjamin schnaufte aus.

Es wunderte ihn schon nicht mehr, dass sein Vater nichts gegen die Attacken seiner Mutter machte. Vielleicht hatte er sie schon aufgegeben. Benjamin wusste, dass seine Mutter sehr sonderbar war, seit sie immer diese Tabletten nahm. Er wusste auch, dass sie ihn immer schlug, wenn er nicht parierte oder sich gegen seine anscheinend überfürsorgliche Art stellte. Und er wusste, dass Mutter ihm die Schuld dafür gab, dass sie so war wie sie war.

Carina.

Immer war es Benjamin, wenn Carina weinte oder ihn ärgerte oder ihn sonst wie drangsalierte. Carina drehte es immer so, dass Benjamin am Ende als der Schuldige da stand. Und dass seine Mutter sich dann überfordert fühlte und Tabletten nahm und Benjamin schließlich dafür die Schuld gab.

In seiner Familie – weder bei seinem Vater, noch bei seiner Schwester oder bei seiner sowieso überforderten Mutter, die ihn grenzenlos an sich binden wollte, so sehr, dass es Benjamin Weh tat – hatte er einen Ansprechpartner. Bei keinem konnte er sagen, wenn ihm etwas nicht passte oder er Probleme hatte. Und das war so, seit seine Familie vor sieben Jahren nach Deutschland zog und sein Vater dieses Haus kaufte, in dem sie jetzt wohnten. Seit sie hier waren, war der Vater nicht nur der Vermieter von allen anderen Wohnungen in diesem Terrassenhaus am Hang in Bergen-Enkheim, er war auch noch ein angesehener Geschäftsmann, der von morgens um Sieben bis weit in den Abend herein im Büro war. Und Benjamin fragte such manchmal, ob er überhaupt mitbekam, was hier in der Familie tagtäglich passierte. Benjamin glaubte manchmal sogar, dass er wirklich Schuld an allem hatte – Schuld daran, dass seine Mutter Tabletten nehmen musste, Schuld daran, dass seine Schwester ihn bis aufs Blut drangsalierte und mobbte.

Aber das war ihm heute egal. Denn er hatte ein Geheimnis. Und dieses Geheimnis stand in seinem kleinen, schwarzen Buch.

Als Carina raus kam, machte sie keine Anstalten, Benjamin zu gratulieren. Sie setzte sich wortlos an den Tisch und aß das Marmeladenbrötchen, was ihr Vater ihr zuvor schmierte.

„Ich hab doch gesagt, keine Butter“, sagte Carina dann.

Benjamin lief daraufhin ins Badezimmer und machte sich schnell fertig. Als er wieder herauskam – so nach fünf oder zehn Minuten – standen der Vater und Carina bereits abfahrbereit.

„Was trödelst du so lange?“, sagte er zu Benjamin.

Benjamin packte wortlos seine Schultasche.

„Mama bereitet einen süßen Kindergeburtstag vor“, sagte Mutter. „Carina hat ein paar Freunde eingeladen. Du hast ja keine. Du brauchst ja keine. Es wird ein schöner Geburtstag, du wirst sehen.“

„Ha!“, frotzelte Carina. „Mamas Liebling.“ Sie stieß Benjamin in die Seite. „Wenn ich 12 werde, werde ich eine rauschende Party mit Jungs und ohne Eltern machen, und zwar bei meiner Freundin, die sturmfrei haben wird an dem Tag.“

„Du bist ja auch schon erwachsen“, sagte Mutter zu Carina. „Aber Benjamin ist ein kleiner Junge.“

„Hallo?“, wollte Benjamin sagen. „Ich bin zwei Jahre älter als Carina. Sie ist 11, ich bin 13, sieht das denn keiner?“

Aber er sagte nichts.

Im Auto holte Benjamin das kleine geheime Buch aus seiner Tasche. Und dann holte er einen Stift heraus. Und dann schrieb er etwas.

Ich weiß nicht, was letzte Nacht geschehen ist, aber es ist etwas ganz Besonderes geschehen. Und heute ist ein ganz besonderer Tag. Denn es ist der erste Tag, an dem ich eine Freundin habe. Ich hatte noch nie eine Freundin. Aber heute habe ich eine.

Ihr Name ist Natalie. Sie ist mir gestern Nacht das erste Mal begegnet. Und ich dachte erst, es war ein Traum, aber es war wahr. Ich habe dieses Buch – das hat sie mir gegeben – auf meinem Schreibtisch gefunden. Wenn es nicht wahr gewesen wäre, dann wäre das Buch ja nicht da. Aber es war da.

Natalie, wo immer du bist, ich hoffe, du kommst bald wieder.

Benjamin klappte das Buch dann zu und tat es in seine Schultasche zurück.

Zuerst ließ Alfred Carina an ihrer öffentlichen Schule heraus, dann fuhr er Benjamin zu seiner. Zur privaten Beklopptenschule, wie Carina und ihre Freundinnen immer sagten.

Die Schule, in die Benjamin ging, war keineswegs eine Sonderschule, nur war neben der Schule ein Haus angeschlossen, in dem nach dem Montessori-System unterrichtet wurde, welches für lernschwache und behinderte Kinder gedacht war. Aber die Schule, in die Benjamin ging, war eine ganz normale Privatschule. Diese hatte nach außen hin aber wegen der angeschlossenen Sonderschule den Ruf einer ebensolchen.

Benjamin stieg aus dem Auto und schlenderte über den Hof zum Eingang des Gebäudes, in dem seine Klasse war. Als er vor der Klasse ankam, wurde er schon von zwei Jungs angeraunt.

„He, da kommt Alice im Wunderland“, sagte der eine Junge.

„Na, wo ist denn dein Kleidchen, Schwuchtel?“, fragte der andere.

Sie stießen Benjamin etwas herum, bis dann der Biologielehrer, Dr. Fabian, ankam.

„Schluss jetzt!“, rief Dr. Fabian. „Wir gehen in den Filmraum. Aus gegebenem Anlass will ich euch heute einen Film zeigen.“

„Stark“, sagte ein Mädchen, das ebenfalls zur Klasse gehörte und auf der Fensterbank saß. „Film. Kein Unterricht.“

Die Klasse ging dann geschlossen in den Filmraum, und dann stellte sich Dr. Fabian vorne hin.

„Wer von euch raucht bereits oder hat schon einmal geraucht?“, fragte er.

Natürlich zeigte keiner auf. Alle wussten, dass Tom, der Insider der Klasse schlechthin und der beliebteste Junge, schon rauchte. Aber keiner verpetzte ihn.

„Ich meine, ich hätte Benjamin neulich auf dem Hof mit einer Zigarette gesehen“, stellte Dr. Fabian fest.

Plötzlich gab es ein Riesengelächter. Alle lachten Benjamin aus.

„Herr Fabian“, meinte Tom dann lakonisch. „Da müssen Sie sich irren. Benjamin würde nie rauchen, so mutig ist er nicht. Er ist viel zu schwach, um so cool zu sein.“

Die Klasse lachte weiter.

Natürlich hatte Fabian sich geirrt. Benjamin hatte nie geraucht, und tatsächlich hätte er sich das nie getraut.

„Nun, wie auch immer, dies ist genau der Grund, warum ich euch den folgenden Film zeigen will. Viele meinen, Rauchen sei cool. Aber in Wahrheit ist es der Gruppenzwang, der Jugendliche zu Rauchern macht. Und wie gefährlich Rauchen ist, das sehen wir jetzt.“

Der Lehrer machte dann den Film an, und die Klasse erfuhr alles über die Gesundheitsrisiken des Rauchens und über den Gruppenzwang.

Aber es schien ihnen auch nach dem Film egal zu sein. Rauchen war cool, und wer in war, der rauchte. So wie Tom.

Benjamin hasste Tom.

Als am Mittag die Schule zu Ende war, wurde Benjamin von seinem Vater abgeholt. Alexander, der Junge, der auf Benjamin’ Fete kommen sollte als Einziger aus seiner Klasse, fuhr tatsächlich mit.

Zu Hause hatte die Mutter die große Tafel im Wohnzimmer bereits gedeckt. Carina und drei ihrer Freundinnen aßen bereits Kuchen.

„Ihr hättet wenigstens warten können, bis ich da bin“, maulte Benjamin dann.

„Sie hatten Hunger“, stellte Mutter klar. „Hier, sieh mal, was ich meinem Kleinen zum Geburtstag schenke.“

Benjamin machte ein Päckchen auf – und drin war eine echte Digitaluhr, so wie man sie in den Achtzigern trug.

„Wow“, machte Benjamin. „Danke.“

Er hatte sich diese Uhr schon lange gewünscht. Eine richtige Digitaluhr, überhaupt nicht modern, ganz nach Benjamin’ altmodischem Geschmack.

Benjamin bekam noch CDs von seiner Lieblingsband ABBA geschenkt – auch eine Gruppe aus den späten 70ern und frühen 80ern. Dass Benjamin auf so altmodischen Kram stand, das war mit einer der Gründe, warum er in der Schule und von seiner Schwester so gehänselt wurde.

„Abba!“, machte Carina. „Schwuchtelmusik. Ich höre Bushido und Sido“, sagte sie.

Nachdem Benjamin und die anderen dann Kuchen gegessen hatten und Kakao getrunken hatten, schlug der Vater vor, dass sie einen kleinen Spaziergang machen sollten. Also gingen sie dann los über einen Weg, der in ein nahe gelegenes Waldstück führte.

„Benjamin“, sagte dann Kerstin, eine von Carinas Freundinnen. „Hast du schon mal geküsst?“

„Sie meint ein Mädchen“, sagte Carina. Dann wandte sie sich ihrer Freundin zu. „Benjamin ist viel zu unreif. Er hat noch nie geküsst. Er kriegt nie eine Freundin.“

„Du hast aber“, sagte Kerstin zu Carina.

Carina nickte. „Ich hab sogar schon mehr als das. Und das mit meinen elf Jahren.“

„Wow, du bist echt cool“, meinte Kerstin zu Carina.

„Viel cooler als Benjamin. Der ist gar nicht cool“, meinte Carina, so dass Benjamin es hören konnte. „Baby, Baby, Baby“, sang sie dann. „Benjamin ist ein Baby.“

Daraufhin sangen ihre drei Freundinnen mit. „Baby, Baby, Baby. Benjamin ist ein Baby.“

Auf einmal drehte Benjamin sich um. Er stürmte auf seine Schwester zu und schlug sie ins Gesicht.

„Benjamin, Schluss!“, sagte Alfred und ging dazwischen.

„Sie hat mich Baby genannt“, weinte Benjamin.

„Niemand hat dich Baby genannt“, mahnte der Vater ihn. „Carina ist nun mal reifer als du.“

Benjamin war wütend. Er war so wütend, dass er seine nagelneue Uhr vom Arm nahm und sie auf den Steinboden schmetterte. Sie zerfiel zugleich in tausend Teile.

„Benjamin, was tust du?“, schrie ihn Mutter an. Sofort packte sie ihn am Arm und schüttelte ihn heftig. „Musst du mich immer zur Weißglut bringen? Du bist Schuld. Was tust du mir an?“

Dann schlug sie ihn in die Rippen und lief dann weg. „Wegen dir muss ich Tabletten nehmen“, rief sie hinterher. „Du hast die Uhr kaputt gemacht. Du machst die Familie kaputt. Immer ärgerst du deine Schwester. Du bist Schuld.“

Mutter lief dann den Weg zurück und ging dann ins Haus, wo sie sich direkt ins Badezimmer begab und ihre Drogen nahm.

Alfred packte Benjamin am Arm und ließ ihn nicht mehr los, bis sie zu Hause ankamen.

„Geh auf dein Zimmer und mache dir Gedanken über das, was du angerichtet hast“, sagte Alfred dann, und Benjamin ging zugleich auf sein Zimmer.

Nach kurzer Zeit kam Alexander herein.

„Tut mir leid das mit eurem Streit“, sagte er.

Benjamin nickte nur.

„Dein Vater sagte, er bringt mich jetzt nach Hause. Also, wir sehen uns morgen in der Schule“, warf Alexander hinterher.

Dann verließ er das Zimmer.

Benjamin setzte sich auf sein Bett und weinte leise. Er weinte nicht um die Uhr. Nun, das war schade, dass er sie kaputt machen musste. Aber er weinte nicht um die Uhr. Er weinte, weil sein Geburtstag so verhunzt geworden ist. Und weil seine Schwester es wieder so hat aussehen lassen, dass er Schuld an allem hatte. Schuld daran, dass der Tag so wurde wie er wurde.

Benjamin saß da und weinte.

Auf einmal streichelte ihn jemand über seinen Kopf.

Benjamin schaute auf…

„Natalie“, hauchte er.

Natalie umarmte ihn.

„Ich hab so gehofft, dass du wieder kommst“, flüsterte Benjamin.

„Ich habe es dir ja gesagt“, meinte Natalie dann.

„Du weißt nicht, was heute los war“, hauchte Benjamin leise.

„Doch, ich weiß es“, sagte Natalie. „Warum gehen sie nur so mit dir um? Du kannst doch gar nichts dafür, wie deine Schwester zu dir ist. Und deine Mutter gibt dir die Schuld für ihre Tablettensucht.“

„Bin ich Schuld, Natalie?“, fragte Benjamin.

Natalie schüttelte den Kopf.

„Eines Tages gehen wir weg“, sagte sie leise. „Und dann nehme ich dich mit.“

„Können wir irgendwohin fliegen, so wie letztens?“, fragte Benjamin.

„Heute nicht“, sagte Natalie dann. „Komm, wir feiern deinen 13. Geburtstag.“

Daraufhin holte sie eine Kerze heraus, die sie dann in einen leeren Kerzenständer steckte, der bei Benjamin auf dem Schreibtisch stand. Dann zündete Natalie die Kerze an.

„Erzähl mir mehr von dir“, forderte sie Benjamin dann auf. „Jetzt, wo wir Freunde sind, möchte ich alles von dir wissen.“

Benjamin kuschelte sich mit Natalie auf dem Bett zusammen.

„Nun“, sagte er. „Ich bin in Amerika geboren. Vor Jahren sind wir nach Deutschland ausgewandert.“

„Nicht das“, unterbrach ihn Natalie. „Ich möchte etwas von deinen Gefühlen hören.“

Benjamin schaute traurig. „Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich alles Schuld bin“, begann er dann. „So wie alle zu mir sind. So wie sie in der Schule sind. So wie meine Familie zu mir ist. Ich hab doch keinen, mit dem ich reden kann. Manchmal denke ich, ich bin wirklich ein Spasti. Ein Idiot. Ein Spinner oder Träumer, der schwach ist, ein Weichei und sich nichts traut.“

„Oh, Benjamin“, sagte Natalie. „Du traust dich viel mehr, als du vielleicht derzeit denkst.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Denk doch nur an den Berg, der explodiert ist. Und an das Gewitter. Du hattest keine Angst.“

„Aber das bin ich nicht, Natalie“, widersprach Benjamin. „Das war wahrscheinlich nur ein Traum. Aber im echten Leben habe ich Angst. Im echten Leben muss ich mir bei Gewittern die Ohren zu halten. Im echten Leben bin ich ein Weichei.“

„Wetten, dass nicht?“, lächelte Natalie.

Benjamin sah sie fragend an.

„Na, los, küss mich“, sagte sie leise. „Auf den Mund.“

„Ein richtiger Kuss?“, hakte Benjamin nach.

„Traust du dich?“, fragte Natalie ihn.

Und dann gab Benjamin Natalie einen Kuss auf den Mund.

„Siehst du? Ich habe es dir gesagt“, meinte Natalie lächelnd.

„Das war so… so ganz…“, flüsterte Benjamin… doch als er sich umdrehte, war Natalie nicht mehr da.

Und Benjamin atmete tief aus.

Er ging zu seinem Schreibtisch, holte das kleine, schwarze Buch aus seiner Tasche und schrieb: