Benutz es! - Alex Burkhard - E-Book

Benutz es! E-Book

Alex Burkhard

4,9

Beschreibung

"Ich fühle selten etwas, ohne dass eine Stimme in mir sagt: Benutz es! Mach was draus!" Alex leidet an der Künstlerkrankheit, alles verarbeiten zu müssen, was er erlebt. Seine Nachbarn legen ihm ein Büschel Hundehaare vor die Tür – er muss darüber schreiben. Seine eigenen Haare fallen ihm aus – er muss darüber schreiben. Seine Angebetete will sich nicht festlegen – er muss darüber schreiben. Und dann steht auch noch ein Umzug an, im Zuge dessen natürlich zahlreiche Dinge auftauchen, die mit Erinnerungen und Emotionen behaftet sind. "Benutz es!" ist der Versuch, Sinn zu finden in dem, was uns alltäglich umgibt und diese Sinnsuche ironisch zu überspitzen. Denn wenn man immer nur nachdenken würde, hätte man irgendwann keinen Spaß mehr. Alex hat auch das probiert.

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Seitenzahl: 180

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Alex Burkhard

BENUTZ ES!

Von der Kunst, es unnötigkompliziert zu machen

Geschichten

ALEX BURKHARD (Jahrgang 1988) ist Slampoet, Autor und Kabarettist. Er wuchs im Westallgäu auf und lebt in München. 2013 wurde er mit dem Kulturförderpreis der Internationalen Bodensee-Konferenz ausgezeichnet, seit 2014 hat er jährlich die Münchner Stadtmeisterschaft im Poetry Slam gewonnen. Er lehrt kreatives Schreiben an Schulen im Auftrag des Literaturhauses München, des Lyrik Kabinetts und der Stadt München. Zudem steht er mit seinem zweiten literarischen Kabarettprogramm »… und was kann man damit später mal machen?« auf der Bühne. Von Alex Burkhard im Satyr Verlag erschienen:

–»… und was kann man damit später mal machen?«(Geschichten, 2013)

–»Die Zeit kriegen wir schon Rom«(Reiseerzählung, 2015)

E-Book-Ausgabe März 2017

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2017www.satyr-verlag.de

Cover: Tino Bomelino (nach einer Idee von Katrin Freiburghaus und Julia Kubik)Co-Lektorat und Korrektorat: Katrin Freiburghaus und Jan FreunschtAudioaufnahmen: Vredeber Albrecht (www.audiofenster.de)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-ISBN: 978-3-944035-90-1

Inhalt

Vor meiner Tür

H

Ich weiß jetzt, dass ich nichts weiß

Nine Million Bicycles

Kent Nagano hätte das nicht akzeptiert

Aber architektonisch beeindruckend

Man kennt das ja (That’s not my beer)

Thomas Müller

Es ist wie es ist

Zu emotional

Die Regionalliga in den Neunzigern

Meine Familie und ich

New York

Über Lautstärken

Drum herumkommen

Nicht meine

Von Professoren für Professoren

Der Autor als Einsiedler

Ich hätte diesen Text auch geschrieben, wenn du dir das Buch nicht gekauft hättest

Im Getränkemarkt

Benutz es!

Alex & Emma

Der Autor als Bösewicht

Vorübergehend unfreundlich

Dem Schindler seine Liste

Die Hand in der Jackentasche

Schlüsselmomente

Die Prinzessin und der Löwe

Der Tod in der Bar

Santa Lucia in Freiburg

My mammoth is your mammoth

Gegen die Unverbindlichkeit

Erstveröffentlichungsnachweise

Vor meiner Tür

Meine Nachbarn haben mir ein Büschel Haare vor die Tür gelegt. Es sind Hundehaare, um genau zu sein, und vermutlich stammen sie von meinem Hund. Manchmal verliert er welche, wenn er durch den Hausflur läuft oder ich ihn vor der Wohnungstür abtrockne. Einer meiner Nachbarn hat diese nun anscheinend gesammelt oder zusammengekehrt und vor meiner Tür platziert. Ich vermute, dass die betreffende Person gerade keinen Pferdekopf zur Hand hatte.

An der Installation stört mich weniger die Tatsache, dass meine Nachbarn sich offenbar von einigen Hundehaaren in ihrer Lebensqualität unheimlich eingeschränkt fühlen, sondern vielmehr die Art, wie sie mir diesen Umstand mitzuteilen versuchen. Vor einiger Zeit stand deshalb schon einmal die Blockwartin samt Hausmeister vor meiner Tür und bat mich, in Zukunft weniger Hundehaare zu produzieren; einige Mieter hätten sich beschwert. Ich fragte sie, wie ich, der ich selbst ohnehin keine Hundehaare produziere, das abstellen solle. Ob sie sich vorstelle, dass ich den Hund in Zukunft mit einem Flaschenzug an der Flanke des Gebäudes herabließe. Ich bot ihr jedoch an, den Bereich vor meiner Tür fortan öfter mal zu saugen. Der Rest, da solle sie mir nicht böse sein, falle unter allgemeinen Schmutz, den zu beseitigen, da solle er mir nicht böse sein, man schließlich einen Hausmeister bezahle. Sie schien mit diesem Angebot nicht vollends zufrieden, faltete ihre Flaschenzugpläne aber wieder zusammen und grummelte etwas, auf das näher einzugehen ich mich dadurch weigerte, dass ich sanft die Tür schloss.

Etwas später klingelte der Hausmeister und sagte, er habe kein Problem mit mir oder meinem zu behaarten Tier, möge Hunde im Gegenteil sehr gerne und habe sich einfach nicht wehren können, als die ältere Dame ihn im Treppenhaus energisch aufgelesen und sehr bestimmt vor meine Wohnung gezerrt hätte. Im Übrigen habe er nichts gegen die paar Härchen einzuwenden, die zu beseitigen, da wären wir uns also alle einig, man ihn schließlich bezahle. Ich weiß nicht, ob er nur den »Good Cop« spielen wollte, aber er hat mich damit ein wenig beruhigt. Ich saugte ab und zu die Hundehaare vor meiner Wohnung auf und dachte, die Sache wäre erledigt. Doch nun haben mir meine Nachbarn ein Büschel Haare vor die Tür gelegt.

Als Kind vom Land bin ich eigentlich ein Freund guter Nachbarschaft. Die alte Frau Haber von direkt gegenüber kannte ich genauso gut wie Familie Riens über uns, den grantigen Hausmeister Vochezer aus dem Erdgeschoss und das alte Ehepaar Kugel aus der anderen Haushälfte, dessen männlicher Teil mir seinerzeit beibrachte, eine Krawatte zu binden.

»So, der Herr Kugel zeigt dir jetzt, wie man eine Krawatte bindet«, hatte mein Vater gesagt, und anschließend war ich durch den Keller marschiert, der die beiden Haushälften verband, und ließ mir einen Windsorknoten zeigen. Als ich fünf Jahre später das erste Mal eine Krawatte tragen sollte, hatte ich vergessen, wie man den Knoten bindet, und schaute im Internet nach.

Zugegeben: In meinem aktuellen Haus gibt es ungefähr dreimal so viele Wohnungen wie im Haus meiner Kindheit, aber auch zu der Zeit, als ich mit sechs Parteien eine Doppelhaushälfte in München-Freimann bewohnt habe, hatte ich nie das Gefühl, wirklich Nachbarn zu haben. Es waren immer irgendwelche Menschen, die irgendwelchen Tätigkeiten nachgingen und mir einen fast lautlosen Gruß entgegenbrachten, wenn ich ihnen einen guten Morgen wünschte.

Natürlich habe ich auch in der Stadt Ausnahmen kennengelernt: meinen ehemaligen Tür-an-Tür-Nachbarn Ralph zum Beispiel, mit dem und dessen Hund wir eine harmonische Symbiose bildeten (ich hatte die Hunde tagsüber, wenn er an der Uni war – er hatte die Hunde abends, wenn ich auftrat), oder das Pärchen von schräg gegenüber, das mir hilfsbereit seinen Staubsauger lieh, als meiner kaputt und der Nachfolger noch nicht eingetroffen war. Dem Pärchen stelle ich seitdem, wenn ich zu einer Lesetour aufbreche, diverse Lebensmittel vor die Wohnungstür, die die Dauer meiner Abwesenheit nicht überleben würden, und bekomme manchmal ein Dankeschön dafür, zumindest aber ein offenes Lächeln, wenn ich einem der beiden im Gang begegne.

Der Rest der Hausbewohner macht sich jedoch rar, und so habe ich keine Ahnung, was in meiner unmittelbaren Umgebung so alles abgeht. Theoretisch könnte die WG aus dem Vierten Mafiagelder waschen und der Mann vom Ende meines Flurs ihr Kontaktmann nach Neapel sein, es könnten Axtmörder und Zuhälter in meinem Haus wohnen, ich würde es kaum mitbekommen. Was ich mitbekomme, sind die Hinterlassenschaften meiner mysteriösen Mitmenschen, die ich täglich auf dem Weg nach draußen vorfinde. Ich möchte hier keine Wertung vornehmen oder irgendeine Rangliste erstellen; die Geschmäcker sind schließlich verschieden, und jeder soll für sich selbst entscheiden, was ihn in unserem Haus am meisten stört.

Nach reiflicher Überlegung habe ich jedenfalls beschlossen, nicht in den nächsten Scherzartikelladen zu laufen und künstliche Kotze aus Gummi zu kaufen, nur um sie am Wochenende als subtilen Hinweis in der Ecke an unserem Hauseingang zu platzieren; ich werde meine gesichtseigenen Körpersäfte nicht sammeln und großzügig an den Aufzugspiegeln verteilen, egal wie pickelausdrückfreundlich das Licht dort auch sein mag; und ich werde auch nicht dreihundert Bierflaschen öffnen und sie an versteckten Punkten im Haus verteilen, damit es überall zuverlässig nach Alkohol riecht.

Ich werde einfach weiterhin Hundehaare vor meiner eigenen Tür aufsaugen und versuchen, mich so zu verhalten, dass niemand das Bedürfnis verspürt, mir wirklich mal einen Pferdekopf davorzulegen.

Diesen Text anhören:http://satyr-verlag.de/audio/burkhard1.mp3

H

»Wie immer?«, fragt mein Friseur und bricht in schallendes Gelächter aus.

Ich hasse es, zum Friseur zu gehen, obwohl ich dort eine ziemliche Berühmtheit bin. An der Wand hängen gephotoshopte (oder photogeshopte) Bilder mit der Unterschrift »Heimliche Zwillinge«, die mich neben Jürgen Vogel, Meister Proper, Gollum oder diversen Neugeborenen zeigen. Jedes Mal, wenn ich zu Gast bin, ist die Reihe um ein Bild erweitert worden. Heute jedoch haben sie mich mit einem »Garantiert keine Zwillinge«-Foto überrascht, auf dem ich neben meinem Hund stehe.

»Wie immer«, sage ich resigniert und lasse mich mit einem Seufzer auf den unbequemen Stuhl fallen.

Ich bin ihnen nicht böse, denn sie haben recht. Wenn man reale Fotos von mir aus den letzten zehn Jahren chronologisch hintereinanderschneidet, könnte man meinen, man sähe die Zeitrafferaufnahme eines Gezeitenwechsels: Mein Haarmeer zieht sich zurück und gibt den Blick frei auf einen von den abschwappenden Wellen zerfurchten Stirnstrand; man könnte freigelegte Ohrmuscheln sammeln gehen; es fehlt eigentlich nur noch, dass permanent Möwen über mir rumfliegen und mir vergammeltes Treibholz ins Gesicht geschwemmt wird.

Ich hänge offenbar so sehr an meinen wenigen verbliebenen Haaren, dass ihre bevorstehende Kürzung eine Art Nahtoderlebnis hervorruft, während dessen die unterschiedlichen Stadien des haupthaarigen Verfalls wie ein sehr grausames Daumenkino vor meinem inneren Auge ablaufen. Als ich wieder zu mir komme, beschließe ich, dass es heute endlich an der Zeit ist, meinen Friseur einzuweihen in meine von auffällig ausfallenden Haaren geprägte Vergangenheit.

Als ich zum Beispiel mit fünfzehn über den Schulflur lief, wurden die kleinen Fünft- und Sechstklässler immer schlagartig still, weil sie dachten, ich wäre ein Lehrer.

Als wäre es Winter in der russischen Ebene, begannen meine Haare bereits damals, sich an den Flanken zurückzuziehen, wie einst Napoleons zerrüttete Armee nach dem Brand von Moskau: Meine Haarinfanterie flüchtete Kopf über Hals und gab den Blick frei auf von plündernden Soldaten geschändete Ruinenlandschaften.

Meine Französischlehrerin sagte immer: »Nein, Alexander, der passé composé von avoir ist nicht avu, sondern eu«, aber alles, was ich verstand, war: »Alexander, wenn du über deine Haare sprichst, brauchst du die Vergangenheitsform.«

Oder als ich mit zwanzig in der Berufsberatung war und der gesetzte Mann am anderen Ende des kleinen Tischs bei meinem Anblick jovial auflachte und mir empfahl, Geheimrat zu werden. Auch wenn besagten Ecken in dieser Zeit immer mehr ihr Dasein entzogen wurde, einfach weil es rundherum immer weniger gab, das für den Kontrast zuständig gewesen wäre.

Als wäre es Herbst auf einem tschechischen Weizenfeld, fuhr der Mähdrescher der Zeit über die goldgelb wogenden Ähren meines Kopfes und gab den Blick frei auf die Überbleibsel aus Stoppeln und zerklüfteten, brachliegenden Ackerlandschaften.

Meine damalige Freundin sagte immer: »Ich mag dich gerne«, aber alles, was ich verstand, war: »Du hast keine Haare!«

Jetzt bin ich achtundzwanzig, und jede neue weibliche Bekanntschaft hält mich für Ende dreißig. Die sagen dann immer: »Aber du hast doch keine Haare mehr!«, aber alles, was ich verstehe, ist – nun ja, genau das.

Und jede neue männliche Bekanntschaft hält mich für irgendeine Art von Verbündetem und sagt mit belegter Stimme: »Oh nein, ich habe ein graues Haar«, aber alles, was ich verstehe, ist: »Oh ja, Bitch, ich habe mehr graue Haare, als du jemals dunkelblonde hattest!«

Doch inzwischen bin ich abgehärtet: Heute weiche ich nicht zurück, heute hebe ich meine Stimme, stelle mich auf den nächsten Tisch, wie Keatings Schüler im Club der toten Dichter, und verkünde jedem, der in Rufnähe weilt: »Nein! Wir geben uns nicht geschlagen. Selbst wenn uns bald Menschen für den Augustinermönch auf dem fucking Bieretikett halten: Wir werden bestehen; jedes meiner Haare werdet ihr mir einzeln abringen müssen; vereint stehen wir, Scheitel an Scheitel; wir kämpfen, bis wir endgültig besiegt sind, wir kämpfen, bis niemand mehr übrig ist, wir kämpfen bis zum letzten Haar!«

»Oh captain, my captain«, sagt eine Auszubildende.

»Sie können jetzt wieder von unserer Theke steigen«, sagt mein Friseur.

»Entschuldigung«, sage ich und klettere wieder auf den Boden, »ich habe mich wohl etwas zu sehr reingesteigert.«

»Ach, wir sind das gewohnt«, lächelt die Auszubildende. Sie hängt ein weiteres Foto an die Wand, auf dem ich neben Klaus Kinski zu sehen bin.

Diesen Text anhören:http://satyr-verlag.de/audio/burkhard2.mp3

Ich weiß jetzt, dass ich nichts weiß

Immer wenn ich mich auf den Boden der Tatsachen holen will, mache ich bei einem Pubquiz mit.

Ich glaube die meiste Zeit meines Lebens, dass ich halbwegs intelligent bin und Dinge weiß. Ich habe zehn Sprachen mindestens ein Semester lang gelernt, ich habe einen Uni-Abschluss, Mathe-Abi und Internet. Ich gefalle mir in dem Gedanken, dass ich nicht völlig dumm bin und eines Tages ein Fünfundsechzigjähriger sein werde, zu dem die Enkel gelaufen kommen, wenn sie etwas wissen wollen und das Internet gerade nicht funktioniert. Sehr bedächtig würde ich mich zurücklehnen, mir mit den Fingern durchs Haar fahren, meine Pfeife anstecken und alle Fragen beantworten, die sie hätten, weil ich im Laufe meines Lebens so viel Wissen angesammelt hätte, dass mich nichts in Verlegenheit bringen könnte.

Sobald ich jedoch das Vereinsheim betrete, diese Kneipenoase im club- und restaurantlastigen München, habe ich zugleich alles vergessen, was ich jemals wusste, und das sichere Gefühl, nie etwas gewusst zu haben. Zumindest wenn dort Quiznacht ist.

»Des kriang ma scho!«, sagt mein Freund Michi zu Beginn immer, aber meistens kriag ich es nicht.

Denn das Internet nutze ich nicht, um mich zu bilden, das Mathe-Abi habe ich vor allem geschafft, weil ich mit Leistungskurs-Laura drei Tage lang durchgelernt hatte, einen Uni-Abschluss kriegen mittlerweile gefühlt siebzig Prozent der Bevölkerung, und was die Sprachen angeht: Von den zehn Sprachen habe ich Latein und Französisch in der Schule ge- und mittlerweile wieder verlernt. Spanisch habe ich mir mit Eva Waltner, der Empfängerin meines ersten Liebesgedichts, selbst beigebracht und kann heute nicht mehr fragen als »¿Donde está la catedral?«, Altisländisch musste ich fürs Studium lernen und habe es in dem Moment wieder vergessen, als ich die Edda nach der Zwischenprüfung final zugeschlagen habe. Die Kurse in Jiddisch und Isländisch besuchte ich ein Semester lang, kam aber nie darüber hinaus zu sagen, dass das neben mir am Boden mein Hund sei. Bleiben Schwedisch (kann ich, wenn ich leicht angetrunken bin, noch ganz gut), Italienisch (lerne ich gerade: »È il mio cane«) und Englisch (die einzige Sprache, die ich wirklich sehr gut beherrsche). Die zehnte Sprache ist Deutsch, und allein, dass ich meine Muttersprache in die Aufzählung oben eingeschlossen habe, zeigt, wie sehr ich Wissen zu Profilierungszwecken benutze, vor allem mir selbst gegenüber.

»Jetz hock di her da«, sagt Michi und stellt mir ein Bier auf den Tresen. »Verstärkung kimmt glei.«

»Was ist, wenn ich wieder nichts weiß? Es war schon letztes Mal so peinlich.«

»Du hast doch eh was gwusst.«

»Ja, unsere Spieleranzahl.«

»Und unsern Teamnamen hast dir au ausdenkt.«

Es ist süß, wie Michi mich aufmuntern will.

»Wer kommt denn eigentlich noch?«, frage ich.

»A junge Dame, die ich kennenglernt hab. Und ihre Freundin.«

»Oha! Na, die sollen mal sehen, wie viel ich weiß! Im Alleingang werd ich uns das Ding heute gewinnen!«

Ich nenne es Wissens-Borderline. Als der Quizmaster Andi uns einige Minuten später begrüßt, bricht mir wieder der kalte Schweiß aus.

Dabei bin ich normalerweise niemand, der Prüfungsangst hat. Ich habe sowohl in der Schule als auch an der Uni immer durchschaut, was die Aufgaben von mir wollten, und ihnen genau das gegeben. Meistens habe ich betont langsam und schön geschrieben, um eine saubere Arbeit abzugeben. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich mit Anzug und teurem Füller zu den Klassenarbeiten aufgekreuzt wäre, aber das habe ich nur bei der Abiturprüfung gemacht. Wenn in der Mittelstufe die typischen Aufgabenblätter zurückgegeben wurden, diese A4-Bögen mit dem gemeinen weißen Korrekturrand, erwartete ich, dass mir in der rechten oberen Ecke, über meinem akkurat geschriebenen Namen, eine gute Note entgegenstrahlte. Ich habe kaum je vor einer Prüfung schlecht geschlafen, und am Tag meines Grundkursabiturs bin ich nur deshalb so früh aufgewacht, weil mein Vater und meine Schwestern auf die Arbeit mussten und mir vorher noch ein Frühstück und einen Glücksbringerzettel ans Bett bringen wollten, diese süßen Menschen. Und weil ich noch mein Hemd bügeln musste.

Im Vereinsheim gibt es zusätzlich zu den Allgemeinwissensfragen immer Schwerpunktthemen, die sich das Verliererteam des letzten Abends aussuchen darf. Dieses Mal heißen diese »Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans«, »Physik«, »Kochen/Küche« und »Musicals«. Ich bin auf einmal hellwach und hoch motiviert; schließlich weiß ich, in welchem Département Le Mans liegt, habe Physik in der Schule gehabt, koche ab und zu und habe schon mal West Side Story gesehen. Meine Unsicherheit ist verflogen, ich hole meine Pfeife aus der Jackentasche und klopfe sie an meinem Schuh aus, mache zwei Kniebeugen und fühle mich top vorbereitet – dann kommt die erste Fragerunde.

Die Basiseinheit für die absolute Temperatur will Andi wissen, was der sogenannte Le-Mans-Start ist, wie irgendein Song heißt. Mir wird schwarz vor Augen. Michi, sein Date und deren Freundin beantworten kurz die Fragen, dann holen sie ein feuchtes Tuch für meine Stirn und legen mich auf die Bar.

»Ohne mich könnt ihr es schaffen«, wispere ich.

Das Problem ist immer, dass ich die Leute beeindrucken will. In der Schule hatte jeder die gleiche Chance, den Stoff zu können, was meinen Ehrgeiz nicht anstachelte. Ich passte im Unterricht auf, wiederholte zu Hause kurz den Hefteintrag, und damit hatte sich die Sache. Interessant ist ja nur, etwas zu wissen, das der oder die andere im Grunde nicht wissen kann. Wer kennt schon Kelvin, der den FC Porto 2012/13 zur portugiesischen Meisterschaft geschossen hat? Beim Pubquiz hätte ich die Chance, der ganzen Welt zu zeigen, wie viel ich auf dem Kasten habe. Leider vergesse ich oft, wie wenig das ist. Und je mehr ich nicht weiß, desto mehr vergesse ich zusätzlich, weil ich immer denke: »Jetzt aber, jetzt zeigst du’s ihnen endlich!« Und so höre ich mich irgendwann sagen, dass der Song »I feel pretty« aus My Fair Lady stammt, obwohl man mich nachts um drei Uhr wecken könnte und ich dann nicht nur die Mitternachtsformel korrekt runterbeten könnte (x eins zwei gleich eins durch zwei a mal Klammer auf minus b plus minus Wurzel aus b Quadrat minus vier a c Klammer zu), sondern auch wüsste, dass Maria das Lied singt, während sie in der West Side Story, von den Kolleginnen gefoppt, völlig verzückt durch den Brautladen hüpft, weil sie noch nicht weiß, dass ihr neuer, wundervoller Liebhaber ihren Bruder getötet hat, die hübsche, kleine Latina-Prinzessin!

Es ging noch nie gut aus, wenn ich jemanden beeindrucken wollte. Eines Tages in der Kollegstufe sollten wir im Sportunterricht einen Parcours mit mehreren Kästen absolvieren, um unsere Sprungkraft zu trainieren. Gegen Ende der Stunde kamen einige Mädchen in unsere Halle, weil sie etwas brauchten; einen Schlüssel, einen Ball, die Mitternachtsformel – ich weiß es nicht mehr. Unter ihnen war auch Lisa Buchmann, in deren hellblaue Augen ich seinerzeit unglücklich verliebt war, und so sprang ich möglichst spektakulär von meinem nächsten Kasten hinunter und riss mir bei der Landung an beiden Füßen gleichzeitig die Außenbänder, wodurch ich die Abschlussfahrt nach Berlin auf Krücken erlebte, während Lisa auf ihrem Skateboard die Stadt erkundete. Manchmal baute sie extra für mich einen Stunt ein oder fuhr irgendwelche Geländer runter. Währenddessen wurde ich durch den Hamburger Bahnhof, ein Museum für zeitgenössische Kunst, sogar im Rollstuhl gefahren, nachdem eine Mitarbeiterin meinte, ich solle mich doch nicht »unnötig quälen«.

Es ist übrigens keineswegs besser, wenn ich mich selbst beeindrucken möchte. Mit dreizehn oder vierzehn kaufte ich mir ein neues Mountainbike, weil ich zu viel Tour de France geschaut und mir anschließend vorgenommen hatte, demnächst öfter mal den Mont Ventoux hochzufahren. Ich streifte mir also ein enges T-Shirt über, zog mir Radhandschuhe an und raste los. Nach ungefähr zwei Kilometern, in denen es hauptsächlich bergab gegangen war, spürte ich meine Oberschenkel hämmern. Ich ging aus dem Sattel und fuhr hoch motiviert in den nächsten Berg hinein, während ich »Da ist der Angriff von Burkhard« rief. Nach dreihundert Metern wollte ich mich nicht mehr unnötig quälen, stieg ab und schob das Rad den Berg hinauf, während das Hauptfeld der Autofahrer an mir vorbeizog.

Das Ding beim Pubquiz ist vor allem: Michi mag mich auch, wenn ich nicht weiß, welches Rennteam 2015 in Le Mans gewonnen hat, sein Date interessiert sich ohnehin eher für ihn als für mich, und deren Freundin hat vorhin schon Tobi, dem Chef, schöne Augen gemacht. Warum mache ich mir also so einen Stress?

»Hey, ihr müsst den Alex langsam vom Tresen nehmen, Hygiene und so«, sagt Tobi. Sonntags spiele ich immer mit ihm, Andi und den anderen Vereinsheim-Jungs Fußball, jetzt hätte ich Probleme, seinen Nachnamen zu nennen, so blockiert bin ich. Als Andi auf der Bühne fragt, welche Größe zum Formelzeichen »a« gehört, hebe ich kurz den Zeigefinger, sacke dann aber wieder in mich zusammen. Es ist doch erst elf Jahre her, dass ich das letzte Mal Physik hatte, im großen Hörsaal unserer Schule, der mir heute wahrscheinlich unendlich klein vorkommen würde. Im Nebenraum standen die Instrumente und Versuchsmaterialien, und einmal baute unser Physiklehrer sogar einen Automotor mit uns auseinander. Ich hätte schwören können, er hätte dabei irgendwann mal »a« gesagt.

»So, jetzt beschleunigen wir das Ganze mal ein bisschen«, sagt Andi und spielt ein Lied in doppelter Geschwindigkeit vor. Ah, das kenne ich doch, denke ich. Das ist doch dieses eine, hier, das hat der Dings gesungen, das läuft doch grad dauernd im Radio. Mann!

Als Nächstes zeigt uns Andi ein Foto von Grünzeug und will wissen, welche Schneideart an ihm angewandt wurde. Welche Schneideart! Ihr wollt mich doch verarschen! Eine angemessene Küchenfrage wäre: »Bei wie viel Grad kocht Wasser?« Da wäre Physik auch gleich noch abgedeckt, mit so was könnte ich arbeiten, da könnte ich mich clever fühlen.

Wie damals, bei diesen ganzen Intelligenztests, die man eine Zeit lang parallel zu irgendwelchen Fernsehsendungen und einige Jahre später im Internet machen konnte. Da habe ich mich auch clever gefühlt; niemand aus meiner Familie konnte mit mir mithalten, so überragend war ich. Was ich nicht kapierte, war, dass diese Tests nichts mit Wissen zu tun haben, sondern mit der potenziellen Denk- und Abstraktionsfähigkeit, was die ganze Sache extrem frustrierend macht. Mein Gehirn wäre demnach in der Lage, krass abzuliefern, ist aber gleichzeitig zu faul, diese Fähigkeit zu trainieren.

Heute Nachmittag habe ich zur Vorbereitung mal wieder einen IQ-Test gemacht: 138. Und jetzt sitze ich hier und weiß nicht mehr, welches Buch mit den Worten »Call me Ishmael« beginnt. Es wäre die perfekte Gelegenheit, meinem prätentiösen siebzehnjährigen Ich zu sagen, dass es bei Wer wird Millionär?