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Sich selbst finden in den Bergen: Klettern mit Viktor Frankl Klettern als Parabel für das Leben: Wir werden mit unseren Ängsten konfrontiert, überwinden äußere und innere Hindernisse, trainieren unseren Körper und unseren Willen und lernen, absolut zu vertrauen – unseren eigenen Fähigkeiten, aber auch unserem Seilpartner. Der weltberühmte Psychiater Viktor Frankl stärkte über das Klettern seine innere Ressource, die er »Trotzmacht des Geistes« nannte. Gegen seine eigene Höhenangst. Gegen die Nazis. Für das Überleben in vier Konzentrationslagern. »Berg und Sinn – im Nachstieg von Viktor Frankl« zeigt die große Liebe des Begründers der Logotherapie und Existenzanalyse zu den Bergen und zum Klettern – und ist gleichzeitig eine Hommage an einen Alpinisten, der dem Sinn des Kletterns eine Sprache gab. - Die Berge als Ort der Inspiration: Portrait eines Vordenkers und Bergfreundes - Umgang mit Stress: Psychohygiene in der Kletterwand - wie eine Auszeit in der Natur unsere Resilienz stärkt - Im Nachstieg Frankls: Schneeberg, Rax, Peilstein und Große Zinne - alle Bergtouren zum Nachklettern - »… trotzdem Ja zum Leben sagen« – wie Viktor Frankl dank mentaler Stärke das KZ überlebte Stärker als die Angst: Wie wir über uns selbst hinauswachsen Der Alpinismus verlangt viele mentale Kompetenzen, die auch im Leben nützlich sind: Risikobereitschaft, Mut, Konzentration, Zentrierung, Zielfokussierung, Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz. Beim Klettern lernen wir, dass wir unsere innere Einstellung frei wählen können: »Man muss sich ja nicht alles von sich gefallen lassen. Man kann auch stärker sein als die Angst«, schreibt Frankl. Michael Holzer und Klaus Haselböck verbinden biografische Verweise mit fundiertem Hintergrundwissen zum Bergsteigen. Elisabeth Lukas, Psychotherapeutin und Schülerin von Frankl, ergänzt logotherapeutische Grundlagen. So entsteht nicht nur ein Bild von Viktor Frankl als Bergfreund und Naturliebhaber, sondern eine Anleitung zum Leben: Nehmen Sie wertvolle Strategien mit, um die Bergtour des Lebens in jeder Etappe zu meistern!
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Seitenzahl: 196
MICHAEL HOLZERKLAUS HASELBÖCK
Im Nachstieg von Viktor Frankl
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
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Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage
© 2019 Bergwelten Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Gesetzt aus der Palatino, Quan, Clarendon
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:Red Bull Media House GmbHOberst-Lepperdinger-Straße 11–155071 Wals bei Salzburg, Österreich
Zitat S. 87f.: Frankl V.E. (1961) Psychologie und Psychiatrie des Konzentrationslagers.
In: Cruickshank E.K. et al. (Hrsg.) Soziale und angewandte Psychiatrie. Psychiatrie der Gegenwart (Forschung und Praxis), vol 3. Springer, Berlin, Heidelberg
Satz: b3K design, Andrea Schneider, diceindustriesUmschlaggestaltung: b3K design, Andrea Schneider, diceindustriesLektorat: Arnold Klaffenböck, Maria-Christine LeitgebIllustrationen: Artur Bodenstein/carolineseidler.comCoverbild: Frankl beim Klettern in den Stubaier Alpen, um 1948.Viktor Frankl Archiv/Imagno/picturedesk.comAlle Fotos: Viktor Frankl Archiv/Imagno/picturedesk.com,außer: Bergführerabzeichen S. 81: Viktor Frankl Zentrum Wien;Postkarten S. 90/91: ÖAV Archiv Nachlass Rudolf Reif und S. 129: Viktor Frankl ArchivAutorenfoto S. 180: Felix Tschurtschenthaler
ISBN 978-3-7112-0004-4
eISBN 978-3-7112-5011-7
Vorwort
1. KapitelIn der Mizzi-Langer-Wand oder die Trotzmacht des Geistes
2. KapitelAuf dem Peilstein oder die Selbstermächtigung
3. KapitelAuf der Hohen Wand oder die Seilschaft als Verantwortung
4. KapitelDie Rax oder der Sinn des Lebens
5. KapitelDer Schneeberg oder die Weltsicht der Wirklichkeit
6. KapitelDer Dachstein oder die Ambivalenz der Aussöhnung
7. KapitelAuf die Große Zinne oder der letzte Sinn
EpilogFrankl und die Berge. Ein Beitrag von Elisabeth Lukas
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Steigbuch
Dank
Unsere erste Route führt uns 57 Stufen durch das Stiegenhaus einer berühmten Wiener Adresse. Mariannengasse 1, neunter Bezirk: Hier wird der geistige Nachlass einer wissenschaftlichen Weltkarriere verwaltet, die ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einer der Altbauwohnungen begann. Damals hausten 28 Menschen – Ausgebombte, Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge – in den Zimmern und blickten durch zerborstene Fenster mit Scheiben aus Pappkarton in das Antlitz einer zerbombten Stadt. Eine Frau wohnt noch immer hier: Es ist Elli Frankl, 94, die Witwe des großen Österreichers, an den eine Gedenktafel am Eingang erinnert. Das »Viktor-Frankl-Zentrum« und das »Viktor-Frankl-Museum« sind im ersten Stock des Hauses untergebracht und bewahren dem geistigen Vermächtnis ihres Namensgebers ein sinnvolles Andenken.
Heute sind wir der Besuch der alten Dame. Elli Frankl erwartet uns an der Wohnungstür: »Hereinspaziert, meine Herren! Bitte, schauen Sie sich gern überall um.«
»Frau Frankl, sollen wir die Schuhe …?« »… anlassen, bitte. Ich tu heute noch staubsaugen«, winkt sie ab und freut sich über die Blumen. Diese Verschmitztheit in ihrem Lächeln, diese Leichtigkeit in ihren Bewegungen, die Festigkeit ihrer Stimme lässt die Frau um gut zwei Jahrzehnte jünger wirken. Als sie uns durch all die Räume der weitläufigen Mietwohnung führt, erfasst uns diese besondere Schwingung, die man an geschichtsträchtigen Plätzen spürt: Man ist zum ersten Mal hier und trotzdem kommt einem alles vertraut vor. Andächtig stehen wir in Viktor Frankls Arbeitszimmer mit dem Erker, den er gelegentlich »Halbkreissaal« nannte, weil er hier so viele Gedanken, große Gedanken, zur Welt gebracht hat. Der Schreibtisch, die Wand mit den 29 Ehrendoktoraten renommierter Universitäten, das volle Bücherregal – hier ist noch immer alles so wie immer, das Ambiente, das wir von Fotos kennen, die vom Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten von Wien aus um die Welt gingen.
Elli Frankl bittet uns ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch hat sie Brötchen und Orangenlimonade als »kleinen Imbiss« schön drapiert. Der Philodendron neben der offenen Flügeltür im angrenzenden Durchgangszimmer hat über die Jahrzehnte den Plafond erreicht: »Unser einziges Hochzeitsgeschenk, in einem ganz kleinen Blumentopf«, sagt Frau Frankl über das immergrüne Symbol einer Liebe, die nie zu wachsen aufgehört hat. »Uns hat man hier im Haus ja nicht die Frankls genannt, sondern die siamesischen Zwillinge. Viktor und ich haben alles gemeinsam gemacht. Es war eine wunderbare Ehe, getragen von einer großen Liebe. Eh unglaublich eigentlich, weil bei uns ja alles auf verschiedenen Ebenen war. Angefangen vom Altersunterschied, über die Bildung – Liebe hat ja keinen Intelligenzquotienten.« Ein großer Satz. Frau Frankl bringt die Dinge auf den Punkt, genauso wie ihr Mann es konnte.
Ein bettelarmes Kind aus Wien-Kaisermühlen sei sie gewesen, das ab dem zehnten Lebensjahr immer mehrere Jobs gleichzeitig hatte. »Ich war Klofrau am Wiener Trabrennplatz, habe Taschen geflochten, bis die Finger blutig waren, und in der Mariahilfer Straße Fenster geputzt. Das mach ich heute noch, Fensterputzen, warum auch nicht, wenn ich mich sicher fühle?« »Sie putzen Ihre Fenster auch von außen?« »Sicher, wer denn sonst? Ich steig aufs Fensterbrett und putze. Früher habe ich bei anderen geputzt, jetzt putz ich meinen eigenen Dreck!« Wieder dieses erfrischende Kichern. »Sind Sie gesichert?« »Geh! Ich hätte zwar noch irgendwo ein Seil vom Klettern, aber es ist ja nur der erste Stock, früher war ich auch nie angebunden …«
KLETTERN. Jetzt ist das Stichwort gefallen, dessentwegen wir hier sind und warum uns Elli Frankls Schwiegersohn Franz Vesely den Besuch bei der alten Dame ermöglicht hat. »Ich glaube, ohne das Klettern wäre Viktor nicht am Leben geblieben. Er hat das gebraucht, nach allem, was er erlebt hatte. Es war schön zu sehen, dass er wieder lachen, sich wieder freuen kann. In den Bergen war er ein anderer Mensch. Dort war er glücklich und einfach nur der Viktor. Sonst war er ein gehetzter Mann, der den ganzen Tag hier hinter seinem Schreibtisch gesessen ist und gearbeitet hat«, erzählt sie. Dass sie auch sehr viel gemeinsam geklettert sind, war Teil ihrer Seelenseilschaft. Und ein Geschenk aus Liebe: »Allein wäre ich nie auf die Idee gekommen. Ich konnte mir unter Klettern gar nix vorstellen, ich war nie auf einem Berg, bevor ich ihn kennenlernte. Ich bin ja an der Alten Donau aufgewachsen und war immer nur im Wasser.«
Diese Frau verströmt mit ihren 94 Jahren noch immer den mädchenhaften Charme von wild, frech und wunderbar. »Ihr Mann war Bergführer: Hat er Ihnen erklärt, worauf es beim Klettern ankommt?« »Ja, ja, alles ganz genau. ›Elli, das musst du so machen und das so.‹ Ich war sehr frech und hab gesagt: ›Halt den Mund!‹ Und auch in der Wand habe ich gekeppelt wie nur, die ganze Zeit. Er hat nie in einen Zirkus gehen müssen, den hat er mit mir gehabt. Aber wenn ich oben war – dann war ich jedes Mal stolz. Es war eine schöne Zeit. Kletterer sind besondere Menschen.« Viktor und Elli Frankl haben gemeinsam die Welt gesehen, und die Berge natürlich, die in der Nähe der Metropolen waren, in denen er Vorträge hielt.
Die weise Welt des Viktor Frankl bestand nicht nur aus hoher Geistigkeit. »Es ist schon ein Geschenk, mit einem Mann beisammen zu sein, der nicht nur ein Hirn hat, sondern auch ein Herz«, sagt Elli Frankl, macht eine Pause und fügt hinzu: »Und das hatte Viktor.« Hirn und Herz: Er dozierte an der Eliteuniversität in Harvard und scherzte derb mit Kletterkumpanen nach einer gelungenen Tour. Er dinierte mit Staatschefs und servierte Getränke in der Neuen Seehütte auf der Rax. Er war ein Wissenschaftler von Weltruf und liebte doch die Einfachheit in den Bergen am allermeisten. Viktor Frankl kannte das Leben in all seinen Facetten. Es war ein volles Leben, dessen Zeitlinie sich über mehr als neun Jahrzehnte durch das 20. Jahrhundert und über alle Kontinente der Erde erstreckte. »Der größte noch lebende Österreicher«, hatte Rudolf Kirchschläger, der einstige österreichische Bundespräsident einmal über ihn gesagt – und das war er wohl auch, gemessen an seiner Erfahrung, seiner Lebensleistung und dem, was davon geblieben ist. Die Monarchie, zwei Weltkriege und den Holocaust hat Frankl überlebt, und über die Freiheit des Willens und den Willen zum Sinn für Millionen Menschen Wege zum Sinn des Lebens aufgezeigt.
Dem publizistischen Gesamtwerk mit zahllosen Titeln, die Viktor Frankl gewidmet sind, möchte dieses Buch eine Nahaufnahme aus einer neuen Perspektive hinzufügen. Es geht um seine große Liebe zu den Bergen und zum Klettern – nicht um wissenschaftliche oder therapeutische Interpretationen. Dazu ist schon viel geschrieben worden und dafür gibt es auch Berufenere, wie Professor Elisabeth Lukas, seine berühmte Schülerin, die freundlicherweise einen Beitrag für unser Buch verfasst hat. Dieses Buch ist auch keine Biografie im engeren Sinne, vielmehr haben wir mehrere Stränge miteinander verknüpft, um einen neuen Bezugsrahmen für Viktor Frankls große Passion zu schaffen.
Plateauwanderung: Elli und Viktor Frankl auf ihrem Lieblingsberg, der Rax, 1976.
In den folgenden sieben Kapiteln binden wir uns in eine Seilschaft mit ihm ein, überbrücken Zeit und Raum, steigen durch Felslinien, die er vor vierzig, sechzig oder neunzig Jahren geklettert ist. Wir folgen seinen Spuren in sieben Destinationen – von der Mizzi-Langer-Wand, einem mittlerweile verwaisten Klettergarten im Süden Wiens, bis auf die Große Zinne, dem Herzstück der Dolomiten. Über den gemeinsam berührten Fels, ein denkbar archaisches Speichermedium, und bei langen Wanderungen etwa über sein geliebtes Rax-Plateau haben sich seine Erlebnisse mit unseren verwoben. Große Themen seines Lebens, die verblüffend eng mit den alpinen Orten verbunden sind, haben wir nach Jahren intensiver Beschäftigung mit seinem Werk und Wirken neu erkannt, verstanden und in den sieben Kapiteln zusammengeführt. In seinem biografisch-alpinistischen Nachstieg haben wir Touren gewählt, die ihm wichtig und – jede auf ihre Art – für ihn charakteristisch waren. Im Anhang zu jedem Kapitel gibt es einen kurzen Steckbrief von diesen und weiteren Routen, die zu Frankls Zeit passen.
Über das Klettern sind wir ihm sehr nahe gekommen. Denn die Berge scheinen die Inspiration seiner Besucher über die Äonen zu bewahren und sie jederzeit abrufbereit zu halten für jeden, der sich ihrer Resonanz öffnen will. In dieser gemeinsamen Seilschaft sind wir tiefer in Frankls Leben und Lehre eingestiegen und seinen Sehnsüchten und Träumen gefolgt. Gespräche mit Zeitzeugen, mit seiner Witwe Elli Frankl, mit seinem Freund Giselher Guttmann, mit seinem Enkel Alexander Vesely waren ein wertvoller Beitrag, um das Kolorit seiner Persönlichkeit und seines Menschenbildes noch fassbarer zu machen. Es sind schöne Farben, und es war alles dabei auf dieser langen Reise entlang seiner langen Sinnspur: Wir atmeten die Verbundenheit unter Bergsteigern, genossen wie er die Momente großer Glückseligkeit auf stillen Zustiegen, in den Wänden oder auf den Graten und den innigen, geselligen Austausch danach.
Was haben wir gelernt, erfahren und was davon bleibt wichtig? Nun: Das reduzierte Leben in den Bergen, das Viktor Frankl über alle Maßen geschätzt hat, wartet dort oben immer auf uns. Es beschenkt uns mit einem Reichtum, der stets da, aber nie selbstverständlich ist. Es bringt uns Sinnerfahrungen und neue Perspektiven auf die großen Fragen des Lebens. Da ging es uns bei all den Touren nicht anders als unserem prominenten Vorsteiger. Auch selbst als es dann irgendwann galt, all das auf Papier zu bringen, fühlten wir uns ihm tief verbunden: Es waren viele, viele Stunden bei bestem Sommerwetter, die wir mit Schreiben, Zweifeln, Umschreiben vor dem Schreibtisch verbracht haben. Wie der brillante Rhetoriker zu seinen Lebzeiten, der immer von sich sagte, er habe leicht reden, aber schwer schreiben. Es ist einfacher, den Sinn des Bergsteigens zu erleben, als ihm eine Sprache zu geben. Unser Glück war, dass Viktor Frankl schon sehr viel Vorarbeit geleistet hat. Wir sind ihm nur nachgestiegen. Wenn daraus auch für andere Menschen eine Inspiration für die Berge entsteht, dann war es jede Minute und jeden Schweißtropfen dieses Weges wert. Oder wie Elli Frankl über unsere Idee zu diesem Buch sagt: »Der Viktor hätt eine Riesenfreude.«
In diesem Sinn verabschieden wir uns von ihr.
»Sie haben ja gar nicht gegessen oder getrunken, meine Herren.«
»Weil es so spannend war mit Ihnen, Frau Frankl.«
»Wo kann ich mir denn dieses Buch kaufen?«
»Wir bringen Ihnen persönlich eines vorbei, wenn wir dürfen.«
»Man muss sich ja nicht alles von sich gefallen lassen.Man kann auch stärker sein als die Angst.«
Viktor Frankl
Vor uns liegen steile Wege und Orte des Gedenkens. Für gewöhnlich wird uns bei gemeinsamen Autofahrten die Zeit zu kurz, weil wir immer viel zu bereden haben. Diesmal ist das ganz anders – wir sind still, gesammelt, gespannt. Es fühlt sich nicht an, als wären wir einfach nur unterwegs zum Klettern wie schon so oft. Eher, als wären wir zu einer Testamentseröffnung geladen, weil der letzte Wille eines Menschen ein Auftrag an uns ist, den wir zu erfüllen haben. Hier und jetzt beginnt eine Reise, die nicht nur ein Ziel, sondern auch eine Widmung hat.
Bei Rodaun, einem Stadtteil des 23. Gemeindebezirks, hört Wien auf, Großstadt zu sein. Im nahen Wienerwald, der das Urbane aus grüner Lunge lüftet, beginnen die Alpen. Flankiert von der Pannonischen Tiefebene im Osten, schichten sich zaghaft erste Hügel auf. Je weiter man nach Süden kommt, desto markanter durchfurchen Täler die liebliche Landschaft, die Maler wie Ferdinand Georg Waldmüller erschaffen haben könnten. Hier hat die Natur schon einen Hauch von Schroffheit. Drei Tagesmärsche wären es bis zum ersten richtigen Berg, dem 2076 Meter hohen Schneeberg. Klettern kann man jedoch, man möchte es kaum glauben, auch schon hier, am Rande der Stadt. Hier, zwischen Blumenwiesen und Föhrenwäldern, zwischen Heurigenlokalen, Parkanlagen und einem Netz von Straßen, das bald schon in eine der großen Verkehrsschlagadern des Landes, die Südautobahn, mündet.
Die Mizzi-Langer-Wand, an sich ein unscheinbar und verlassen wirkender Steinbruch, galt über weite Strecken des 20. Jahrhunderts als Epizentrum der Wiener Kletterszene. Einst war sie einen Tagesausflug mit der Straßenbahn von Wien entfernt, heute parken wir das Auto in der nahen Willergasse, oberhalb der Kaltenleutgebner Straße. Wir wohnen im Westen des Wienerwalds. Der Digitalanzeige entnehmen wir: 24 Minuten haben wir für die 21 Kilometer bis zum ersten Originalschauplatz auf unserer Spurensuche gebraucht, die uns in den kommenden Wochen und Monaten von hier aus bis nach Südtirol, in die Sextener Dolomiten, führen wird.
Wir tasten uns einen stillen, dicht verwachsenen Waldweg entlang – und sehen zunächst einmal die Wand vor lauter Bäumen nicht. Die bis zu vierzig Meter hohen Felsen am Südabhang des Zugbergs können wir bloß erahnen, ihre Präsenz nur von der weithin sichtbaren Abbruchkante ableiten. Irgendwo dort müssen sie sein. Außer unseren Schritten, unserem Atem und den gedämpften Geräuschen unserer Ausrüstung im Rucksack hört man hier nur das Flüstern der Natur.
Die Klettergenerationen vor uns haben den Klettergarten im Süden der Stadt gänzlich anders erlebt. Wer zwischen den Weltkriegen und in den Jahren danach zu den Routen unterwegs war, hat spätestens hier, auf dem kurzen Waldweg, das Johlen und Scherzen der Freunde, die Geräusche, wenn Ledersohlen am Fels reiben, und die Seilkommandos vernommen. Es war ein buntes Treiben rund um die Felswand, die sich wie ein grau schattiertes Band über die Wiese zieht und als Drachenrücken in den Himmel sticht. Das »Anklettern« im Frühjahr galt bis weit in die Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts als Pflichttermin für alle, die die Vertikale liebten. Die Touren waren der Tanzboden der Wiener Kletterer. An der »Akademikerplatte« zu bouldern, bodennah ohne Seilsicherung die Bewegungskombinationen des Kletterns zu üben, oder den »Pfeilerweg« zu durchsteigen, war die Pflicht, ehe es zur Kür hinaus an die Wände des Peilsteins, an die Rax oder ins Gesäuse und zum Dachstein ging. Hier wurde nicht nur geklettert – hier lief der Wiener Schmäh, hier lebte man, im Gras liegend, essend und trinkend, den Gemeinschaftsgeist unter Gleichgesinnten, hier wurden kühne Pläne für immer neue Kletterabenteuer geschmiedet.
Dass Viktor Emil Frankl an der Mizzi-Langer-Wand die allerersten alpinistischen Erfahrungen gemacht und damit den Grundstein für eine lebenslange Passion gelegt hat, war alles andere als vorgezeichnet. Zum ersten Mal kam er als Schüler der siebenten Klasse des Sperlgymnasiums im zweiten Wiener Gemeindebezirk im Jahr 1923 zu den Felsen der Vorstadt. Frankl begleitete einen seiner Freunde nur deshalb, weil dieser sonst niemanden gehabt hätte, der ihn hätte abseilen können. Die Absicht, selbst zu klettern, hatte Viktor anfangs gar nicht. Sie stellte sich vermutlich auch nicht ein, als er beim Sichern seines Kameraden – das machte man damals von oben – ganz bis an die Kante einer der senkrecht abfallenden Wände gelangte und zum ersten Mal in seinem Leben aus einer solchen Höhe in die Tiefe blickte. Denn in der Beklemmung des Augenblicks wurde ihm bewusst, dass er offensichtlich an Höhenangst litt.
Diese grenzwertige Situation war ein Schlüsselerlebnis in Frankls Leben. Nicht nur, was seine alpinistischen Ambitionen betraf, sondern auch seinen weiteren Lebensweg als Arzt, Therapeut und Wissenschaftler von Weltruf, den er im Jahr darauf schon einschlagen sollte. Dieser Blick in den Abgrund der Mizzi- Langer-Wand, die Konfrontation mit seinen eigenen Ängsten, brachte den siebzehnjährigen Gymnasiasten erstmals mit jener höheren geistigen Essenz in Kontakt, die uns Menschen zu Menschen macht. Mit der Freiheit nämlich, unsere innere Einstellung zu äußeren Bedingungen des Lebens in jeder Situation wählen zu können, mit der Freiheit des Willens selbst: Sie wurde zu Frankls Lebensmaxime, zum bestimmenden Grundton seines Menschenbilds, zum zentralen Postulat seiner Logotherapie und Existenzanalyse, als deren Begründer er dann später in die Geschichte eingehen sollte. Diese Freiheit des Willens versetzt uns erst in die Lage, den mentalen Reflex in uns zu aktivieren, den Viktor Frankl »Trotzmacht des Geistes« nannte. »Man muss sich ja nicht alles von sich gefallen lassen. Man kann auch stärker sein als die Angst.« So reflektierte er später sein eigenes »… trotzdem Ja zum Klettern sagen« als Sinnbild für die uns allen innewohnende Fähigkeit, inneren Widerständen und äußeren Schwierigkeiten die Stirn zu bieten.
Als wir vor dem »Großen Dreieck« stehen, einer markanten, nachgerade künstlich anmutenden Felsformation, ist wieder diese Stille auffällig. Vom einstigen Treiben – heute sind wir die Einzigen hier, und es ist ein Sonntag im Mai mit idealem Kletterwetter – zeugen noch die Haken, die erst ab den Siebzigerjahren zu Sicherungszwecken in den Felsen getrieben worden sind und die er nun nach und nach wieder auszuspucken scheint. Im Gras beim Wandfuß finden wir ein solches rostiges Eisenteil, wie zur Ruhe gebettet.
Das kleine Kletterrevier ist benannt nach der 1872 geborenen Maria Langer-Kauba. Die Wienerin war selbst ambitionierte Bergsteigerin, nahm 1905 als einzige Frau beim ersten Skirennen der Welt in Lilienfeld teil und führte das erste Sportgeschäft in der Hauptstadt der Monarchie. Heute wirkt die Mizzi-Langer-Wand wie ein verlassener Ballsaal, in dem in den goldenen Epochen ausgelassen getanzt und gefeiert worden ist. Jetzt sind die Räume leer. Die illustre Gesellschaft ist weitergezogen an Peilstein-Ausläufer wie den Thalhofergrat bei Alland in Niederösterreich oder die Nasenwand nahe Dürnstein in der Wachau. Wer es noch anspruchsvoller will, zeigt sein Können heute in den Adlitzgräben im Süden des Bundeslandes. Die Community ist nicht nur leistungsfähiger und braucht einen immer höheren Grad an Schwierigkeit, um an ihre Grenzen zu kommen – sie ist auch mobiler geworden. Das Zillertal in Tirol, Routen in Arco in Italien oder die Sinterfelsen von Kalymnos in Griechenland gelten mittlerweile als gut erreichbare Kletterziele. Auch das Material hat sich verändert: Statt der genagelten Lederschuhe von einst nehmen wir heute Kletterschuhe mit Hightech-Gummisohlen aus dem Rucksack, die wie Socken am Fuß anliegen und selbst auf ganz schmalen Leisten und kleinsten Tritten sicheren Halt geben. Wir legen einen extraleichten, anatomisch geschnittenen Sportkletter-Sitzgurt an. Und anstelle eines Hanfseils, das von den Vorgängern in unserem Sport um den Oberkörper geschlungen wurde und weiten Stürzen kaum standhalten konnte, binden wir uns in ein Neun-Millimeter-Seil mit einem dynamischen Kunststoffkern ein. Schlingen mit Leichtmetallkarabinern werden wir als Zwischensicherung in die Bohrhaken einklinken, um uns ganz aufs Klettern konzentrieren zu können.
Wir sind im Nachstieg Frankls unterwegs, jedoch die Ausrüstung und damit auch der Grad des Risikos ist nicht mehr vergleichbar mit dem zu seiner Zeit. Den Sport auszuüben, bedeutet heute nicht mehr, in latenter Lebensgefahr zu sein. Kletterer in unseren Tagen sind Ausrüstungskaiser, eine ganze Industrie hat sich der Inspiration von »raus und rauf« verschrieben.
Nicht einmal die Touren an sich sind dieselben geblieben: Denn die Trotzmacht des Geistes – von Viktor Frankl und seinen Klettergefährten hier schon vor rund einem Jahrhundert tausende Male ausexerziert – hat auch den Kalkstein in der Mizzi-Langer-Wand geprägt. Wir erleben das unmittelbar, als wir uns das »Große Dreieck«, einen Uralt-Klassiker, hinauftasten. Schon unten wartet die Schlüsselstelle in Form eines schmierigen Griffs, bei dem ein Weiterkommen fast undenkbar erscheint. Zunächst, denn all die Kletterer, die die Route vor uns durchstiegen haben, bürgen dafür, dass es eine Möglichkeit geben muss, um nach oben zu kommen.
Die Trotzmacht des Geistes im Sinne Frankls hat eine andere Qualität als der Trotz, den wir umgangssprachlich meinen. Sie ist eine höhere, zentrierte Kraft in uns, der wir uns überantworten können, die uns die erforderlichen mentalen Ressourcen bereitstellt. Als Beharrlichkeit, Stärke und Wille verordnet sie unserem Körper in der Senkrechten, sich nicht der Schwerkraft zu beugen, sich nicht von Zweifeln oder Ängsten lähmen zu lassen, sondern sich auf den nächsten Griff, den nächsten Tritt, den Weg nach oben zu beziehen.
Der Schweiß, der in all den Dekaden hier geflossen ist, manifestiert sich im Gestein der Mizzi-Langer-Wand. Jedes Mal Zupacken hat die scharfen Kanten ein kleines bisschen gerundet und dem Kalk die Rauigkeit genommen. Glänzend poliert wirkende Stellen im Gestein zeugen von der ewigen Faszination, sich im Fels selbst zu überwinden.
Für uns Nachkommende wird die Route durch den »Speck« in der Wand zwar nicht einfacher, wir haben jedoch das Wissen, dass das Hinauf möglich ist. Der Berg oder vielmehr die Wand ist ein Synonym für die Herausforderung, die es zu überwinden gilt: Damals wie heute gibt der Geist die Linie vor, und der Körper steigt sie nach. Gerade dort, wo es aufs erste Hinsehen gar keine Haltepunkte zu geben scheint, wo man maximal Eidechsen einen Weg durch die Vertikale zutrauen würde, braucht es die Kreativität, machbare Routen zu erkennen, aber auch das Können, sich Zug um Zug, Tritt für Tritt am Fels hinaufzuarbeiten.
Wiener Kletterkarrieren haben nicht nur an der Mizzi-Langer-Wand begonnen. Schräg vis-à-vis, fast in Steinwurfweite, liegt die um ein gutes Drittel niedrigere Lutterwand. Eine weitere geschichtsträchtige Oase am Rande der Großstadt inmitten einer Wiese, die wie geschaffen für Familienpicknicks ist. Ein rothaariges Mädchen, höchstens sieben, acht Jahre alt, steigt mit behänder Leichtigkeit in Turnschuhen den gut strukturierten Felsen hinauf. Sein Vater, der von unten sichert, gibt Tipps für Griff- und Schrittkombinationen. Er bestärkt seine Tochter, dass das Klettern in erster Linie ein Steigen aus den Beinen ist und erst in zweiter Linie ein Ziehen mit den Armen. Nach ein paar Versuchen schafft sie auch eine knifflige Stelle, an der sie vollkommen darauf vertrauen muss, dass ihre Schuhsohle sie für einen Moment lang nur durch Reibung am Fels halten wird – für diesen einen, kleinen, aber entscheidenden Schritt nach oben. Eine wichtige Erfahrung, als Kletterer fast eine Initiation: Das Kind strahlt vor Glück, als es den obersten Haken berührt, an dem das Seil umgelenkt wird. »Super, Große«, ruft Papa mit hörbarem Stolz in der Stimme seiner Tochter zu. Ein kleiner Gipfelsieg, ein großer Moment der Selbstüberwindung und Selbstermächtigung. Sie tänzelt die Wand nach unten, als der Vater sie abseilt. Frei von Angst und voller Lebendigkeit.
»Noch einmal!?«
»Jaaa, bitte noch einmal, Papa!«
Für uns als Beobachter ist diese für Klettergärten heute so typische Szenerie ein inspirierender Moment. Sie zeigt ein Miteinander der Generationen, wie es sein kann – wie geteilte Hingabe die doppelte Begeisterung erzeugt.